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Förderung der Autonomieentwicklung im Umgang mit Kinderliteratur in der Grundschule

©2012 Bachelorarbeit 41 Seiten

Zusammenfassung

Autonomie hat in den vergangenen Jahrzehnten als Erziehungsziel zunehmend an Bedeutung gewonnen und spielt besonders im westlichen Kulturraum eine wichtige Rolle. Sie ist nicht von Natur aus gegeben, sondern muss in einem langen Prozess, der das ganze Leben durchzieht, entwickelt und erprobt werden. Diese Entwicklung von Autonomie spielt im Jugendalter eine besondere Rolle, beginnt aber schon viel früher.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit Kinderliteratur über Potential verfügt, um die Autonomieentwicklung von Kindern im Grundschulalter zu unterstützen. In diesem Zusammenhang soll darauf eingegangen werden, ob und warum der Umgang mit Kinderliteratur eine unterstützende Wirkung für die Autonomieentwicklung haben kann.
Im vorletzten Kapitel der Arbeit geht es um das Kinderbuch "Ronja Räubertochter" (1982) von Astrid Lindgren. Die Autonomieentwicklung Ronjas im Laufe der Geschichte wird mit der Entwicklungsaufgabe Autonomie aus entwicklungspsychologischer Sicht verglichen, um auf Grundlage der vorausgehenden Kapitel Schlussfolgerungen über die mögliche Wirkung von Kinderliteratur auf die Autonomieentwicklung zu ziehen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


3.2 Die Bedeutung der Autonomieentwicklung im Lebenslauf

Die Lebensspanne des Menschen lässt sich in verschiedene Phasen einteilen, grob unterschieden wird zwischen Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter (vgl. Berk 2011, S. 8). Eine genaue Einteilung dieser Phasen ist nicht einheitlich festgelegt. Des Weiteren ist es nicht möglich, ihnen ein festes Alter zuzuordnen, da die Entwicklung eines jeden Menschen ein hoch individueller Vorgang ist.

Die vorliegende Arbeit orientiert sich bezüglich der Unterteilung in Lebensphasen an Berk sowie Grob und Jaschinski (vgl. Berk 2011, S. 8; Grob / Jaschinski 2003, S. 19). Mit Eintritt in die Grundschule endet die frühe und beginnt die mittlere Kindheit (ca. 6 bis 10 Jahre). An diese Phase schließt sich die Jugend an (etwa 10 bis 18 Jahre), wobei die ersten Jahre der Jugend auch als späte Kindheit bezeichnet werden können. Auch das junge Erwachsenenalter (etwa 18 bis 21 Jahre) kann zur Jugend (späte Jugend) gezählt werden. Es sei nochmals betont, dass die Altersangaben lediglich der groben Orientierung dienen und keine festen Zuschreibungen sind.

Autonomieentwicklung beginnt bereits im Kleinkindalter. In Erik H. Eriksons psychosozialer Entwicklungstheorie[1] heißt sogar der zentrale Konflikt, den der Mensch in seiner frühen Kindheit bewältigen muss, „Autonomie vs. Scham, Zweifel“ (Erikson 1995, S. 73). Bereits Kleinkinder möchten eigene Entscheidungen treffen und wünschen sich ein gewisses Maß an Selbstbestimmung. Im Laufe der Zeit können Kinder in zunehmend mehr Bereichen Entscheidungen selbst treffen: Sie wählen ihre Freunde selbst und dürfen beispielweise entscheiden, was sie für Kleidung tragen oder was sie essen möchten. Es wirkt sich positiv auf die Entwicklung aus, wenn Eltern angemessene Freiräume gewähren, so dass Kinder sich von klein auf erproben und Eigenständigkeit lernen können (vgl. Berg 2011, S. 243-244; Hofer 2003, S. 11).

Ein besonderer Fokus der psychologischen Forschung zur Autonomieentwicklung liegt auf der Lebensphase Jugend, in welcher aus Kindern zunehmend Erwachsene werden, denn „Autonomie zu erlangen ist [...] ein Marker für das Erreichen des Erwachsenenalters“ (Perren 2011, S. 183).

Auch im hohen Alter ist Autonomie noch ein wichtiges Thema, wenn im Laufe der Zeit mit wieder wachsender Abhängigkeit umgegangen werden muss (vgl. Hofer 2003, S. 11).

3.3 Das Eltern-Kind-Verhältnis

Eltern-Kind-Verhältnis im Kindesalter

Kinder im Kleinkindalter streben bereits nach gewisser Autonomie, gleichzeitig ist die Bindung an die Eltern aber von großer Bedeutung. Bindung ist bindungstheoretisch definiert als „[i]maginäres Band, das in den Gefühlen einer Person verankert ist und das sie [...] an eine andere Person, die als stärker und weiser empfunden wird, bindet“ (Grossmann / Grossmann 2012, S. 75). Fürsorge, Zuwendung und Unterstützung der Eltern versorgen das Kind sowohl mit materieller als auch mit „psychischer Sicherheit“ (Grossmann / Grossmann 2012, S. 70). Diese ist wiederum grundlegend für eine gesunde Entwicklung (vgl. Grossmann / Grossmann 2012, S. 70). Kinder sind folglich überwiegend zufrieden mit und angewiesen auf eine asymmetrische Beziehung zu ihren Eltern.

Veränderung des Eltern-Kind-Verhältnisses: Phasenmodell nach Hofer

Im Jugendalter kommt es zu einer „Transformation der Eltern-Kind-Beziehung“ (Hofer 2003, S. 285). Dieser Prozess kann schon in der Vorpubertät einsetzen (vgl. Hofer 2003, S. 290). Hofer veranschaulicht die Entwicklung in einem idealtypischen Phasenmodell (vgl. Hofer 2008, S. 410-412):

Die Umgestaltung der Beziehung wird ausgelöst durch ein verändertes Verhalten auf Seiten der Jugendlichen, welche beginnen, das bestehende Machtverhältnis zu hinterfragen (Phase 1). Die Eltern nehmen das veränderte Verhalten wahr, welches nicht länger ihren Erwartungen entspricht (Phase 2), und reagieren darauf zumindest in einigen Bereichen mit Vorschriften und Einschränkungen (Phase 3). Diese führen wiederum zu einer Unzufriedenheit der Jugendlichen (Phase 4), die sich vermehrt eine durch Symmetrie und Gleichheit geprägt Beziehung wünschen (Phase 5). Es kommt immer häufiger zu Konflikten (Phase 6), in welchen „Vorstellungen über Verantwortlichkeit weiter gebildet, entwickelt und ausgehandelt werden“ (Hofer 2008, S. 411). Diese Aushandlungen sind von zentraler Bedeutung für die Autonomieentwicklung, sie führen zu einer Neudefinition der bisherigen Verantwortungsbereiche. Im Laufe der Zeit übernehmen die Jugendlichen in mehr Bereichen selbst Verantwortung (Phase 7). Gehen sie mit diesen neuen Freiheiten verantwortungsbewusst um, so geht die elterliche Kontrolle zurück (Phase 8). Die Beziehung zeichnet sich mehr und mehr durch ein ausbalanciertes Machtverhältnis aus (Phase 9). Aus Bindung wird Verbundenheit (vgl. Gerhard 2005, S. 24). Einen festen Endpunkt hat die Autonomieentwicklung nicht, eine gewisse Hierarchie bleibt in der Eltern-Kind-Beziehung in der Regel bestehen. Erst wenn die Eltern im hohen Alter auf Hilfe der Kinder angewiesen sind, werden die Rollen gegebenenfalls umgekehrt (vgl. Hofer 2003, S. 57).

Es handelt sich hierbei um ein idealtypisches Modell. Der Wunsch nach Autonomie ist bei allen Jugendlichen unterschiedlich stark ausgeprägt und Eltern gehen unterschiedlich mit diesem Wunsch um. Die Autonomieentwicklung in der Jugend verläuft folglich von Fall zu Fall verschieden und nicht immer erfolgreich (vgl. Hofer 2003, S. 285-286). Es handelt sich sowohl für Jugendliche als auch für Eltern meist um einen schwierigen Prozess (vgl. Grob / Jaschinski 2003, S. 55).

Förderung der Autonomieentwicklung durch Vater und Mutter

In Laufe der vergangenen Jahrzehnte hat in den Familien in Deutschland eine Veränderung stattgefunden, ein „Übergang vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt“ (Braun 2008, S. 111). Autonomie hat reinen Gehorsam größtenteils als zentrales Erziehungsziel abgelöst (vgl. Hofer 2008, S. 392) und Kindern wird von klein auf ermöglicht, sich selbst schrittweise immer mehr als Individuum zu erleben und als „Ursprung [...] des eigenen Handelns zu erfahren“ (Braun 2008, S. 111).

Die Autonomieentwicklung kann von den Eltern einerseits durch einen angemessenen Rückgang von Kontrolle und Hilfestellungen gefördert werden, aber auch, indem sie ihre Kinder dazu ermutigen und auffordern, eigene Meinungen zu formulieren, eigene Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen (vgl. Hofer 2003, S. 51). Als besonders entwicklungsfördernd gilt ein autoritativer Erziehungsstil, welcher sich auszeichnet durch ein hohes Maß an Nähe und Zuwendung, aber auch klare, begründete Regeln und hohe Standards der Eltern (vgl. Berk 2011, S. 448; Gerhard 2005, S. 50; Grob / Jaschinski 2003).

In einem solchen Zusammenspiel von Nähe und Autorität nehmen Mutter und Vater häufig unterschiedliche Rollen ein. Während die Mutter eher für Zuwendung zuständig ist, stellt der Vater in größerem Maße eine Autoritätsperson dar und übernimmt damit eine zentrale Rolle in der Autonomieentwicklung, denn klare Regeln ermöglichen es Kindern sich abzugrenzen und als eigenständige Individuen wahrzunehmen (vgl. Gerhard 2005, S. 33). Konflikte sind „notwendig, um sich zu einer eigenständigen Persönlichkeit zu entwickeln“ (Berk 2011, S. 566).

Wenn Jugendliche beginnen, sich von ihren Eltern zu lösen, deren Werte und Normen kritisch zu hinterfragen und sich weniger mit ihnen zu identifizieren, gewinnen gleichzeitig die Gleichaltrigen als Bezugspersonen an Bedeutung.

3.4 Die Rolle der Gleichaltrigen

Im Laufe der mittleren Kindheit wächst bei Kindern der Wunsch, mehr Zeit mit Gleichaltrigen zu verbringen. Der Einfluss der Gleichaltrigen steigt, wobei die Eltern anfangs noch „vorrangige Bindungspersonen“[2] (Grossmann / Grossmann 2012, S. 437) bleiben.

Beziehungen zu Gleichaltrigen sind im Vergleich zur Eltern-Kind-Beziehung stärker durch Symmetrie geprägt. Der Umgang mit Gleichaltrigen fördert folglich die Entwicklung sozialer Kompetenzen (vgl. Oerter / Montada 2008, S. 257). Freundschaften werden mit der Zeit intimer, Vertrautheit und Loyalität gewinnen an Bedeutung (vgl. Berk 2011, S. 568; Salisch / Schröder 2008, S. 318). Die Funktionen von Gleichaltrigen im Jugendalter fassen Grob und Jaschinski wie folgt zusammen:

„Gleichaltrige bieten den Jugendlichen emotionale Geborgenheit, neue Identifikationsmöglichkeiten, unterstützen die Ablösung von den Eltern, bieten Orientierung bei der Festlegung eigener Ziele und fördern die sozialen Kompetenzen.“ (Grob & Jaschinski 2003, S. 75)

Auch sie spielen also eine wichtige Rolle für die Autonomieentwicklung.

4. Autonomieentwicklung in der Grundschule

4.1 Autonomie als Aufgabe der Schule

Besonders in der Schule kommen Kinder viel mit Gleichaltrigen in Kontakt. Die Schule ist neben der Familie vor allem in der mittleren Kindheit von zentraler Bedeutung für die Entwicklung eines Kindes (vgl. Oerter / Montada 2008, S. 249-257). Hier begegnen Kinder unter Umständen zum ersten Mal Vorstellungen, die sich von denen ihrer Eltern unterscheiden.

An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass die Schule, ebenso wie die Eltern, Autonomie nicht lehren kann. Autonomie und Erziehung können insofern als widersprüchlich angesehen werden, als Autonomie Selbstbestimmung und Erziehung in erster Linie Fremdeinwirkung bedeutet (vgl. Löwisch 2000, S. 7-8; Oerter / Montada 2008, S. 135). Allerdings ist Autonomie zwar nicht beliebig von außen steuerbar, entwickelt sich aber immer auch in der Auseinandersetzung mit der Umwelt und ist insofern ein „soziale[r] Prozess“ (Hofer 2008, S. 398) und kein „reines Eigenprodukt“ (Speck 1997, S. 177). Autonomie lässt sich also nicht von außen lehren, der Prozess der Autonomieentwicklung kann aber durchaus unterstützt werden (siehe hierzu auch Punkt 3.3): „Die Entscheidung darüber, wie das Kind [...] sein Leben letzten Endes einrichten wird, kann ihm niemand abnehmen. Aber helfen kann man ihm bei diesem Prozeß [sic!]“ (Giesecke 1998, S. 29). Erziehung wird hier also verstanden als Einflussnahme, aber auch als „Hilfe zur Selbsthilfe und damit auch zur Autonomiebildung“ (Speck 1997, S. 177). Während bei der Erziehung die Verantwortung beim Erziehenden liegt, findet bei der Bildung ein Rollentausch statt und die Verantwortung liegt schließlich beim sich bildenden Menschen selbst (vgl. Glöckel 1988, S. 16; Löwisch 2000, S. 10). Bildung und Erziehung sind eng verknüpft und nicht klar trennbar, „insofern [Erziehung] als Voraussetzung von Bildung anzusehen ist“ (Löwisch 2000, S. 9) und Bildung gleichzeitig „ein zentrales Anliegen der Erziehung“ (Glöckel 1988, S. 14) ist.

Es ist Teil der Bildungs- und Erziehungsauftrags der Grundschule, trotz zahlreicher Vorgaben und Verpflichtungen, die eine Fremdbestimmung unvermeidlich machen, den Kindern immer auch Gelegenheiten zu geben, selbstbestimmt und eigenständig zu handeln (vgl. Fölling-Albers 2011, S. 605). Es ist Aufgabe der Schule, die Selbstständigkeit und Selbstverantwortlichkeit der SchülerInnen zu fördern und sie auf zukünftige Aufgaben und Herausforderungen vorzubereiten. Im Schulgesetz heißt es dazu unter anderem:

„Die Schule [...] ermöglicht den Schülerinnen und Schülern gemäß ihrem Alter und ihrer Entwicklung ein Höchstmaß an Mitwirkung in Unterricht und Erziehung, damit sie [...] zur Selbstständigkeit gelangen können.“ (Schulgesetz 2010, § 4 Abs. 1)

Schon die Grundschule spielt hierbei eine zentrale Rollen, denn sie „entwickelt die Grundlagen für das selbstständige Denken, Lernen, Handeln und Arbeiten“ (Schulgesetz 2010, § 20 Abs. 1) und „vermittelt eine grundlegende Bildung“ (Schulgesetz 2010, § 20 Abs, 1). Inwieweit das Vermitteln von Bildung auch die Unterstützung von Autonomie miteinschließt, soll im Folgenden aufgezeigt werden.

4.2 Autonomie im Bildungsbegriff

Eine vollständige Begriffsklärung von Bildung würde den Rahmen dieser Arbeit übersteigen. Im Folgenden wird exemplarisch auf Kant, Klafki und den aktuellen Berliner Rahmenlehrplan Bezug genommen, um zu zeigen, dass zu Bildung auch Autonomieentwicklung gehört.

Der klassische Bildungsbegriff

Bildung wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu einem zentralen pädagogischen Begriff (vgl. Klafki 2007, S. 15; Richter 2005, S. 104). Der klassische Bildungsbegriff ist geprägt vom Grundgedanken der Aufklärung, den Kant wie folgt zusammenfasst:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ (Kant 1784/1991, S. 53)

Wie bereits erläutert, ist Autonomie mit dem Begriff Mündigkeit eng verknüpft (siehe Punkt 2.1). Autonomie als Freisein von Bevormundung und Fremdbestimmung bedeutet, in der Lage zu sein, ohne die „Leitung eines anderen“ (Kant 1784/1991, S. 53) zu denken und zu handeln und ist somit grundlegend für Kants Verständnis von Aufklärung. So bezeichnet auch Klafki Autonomie als einen zentralen Aspekt des klassischen Bildungsbegriffes:

„Bildung wird also verstanden als Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmung, die die Emanzipation von Fremdbestimmung voraussetzt oder einschließt, als Befähigung zur Autonomie.“ (Klafki 2007, S. 19)

Die klassischen Bildungstheorien haben ihre Grenzen, vorgeworfen wird ihnen unter anderem eine Vernachlässigung der bildungsferneren Bevölkerungsschichten (vgl. Richter 2005, S. 104) sowie der weiblichen Mitglieder der Gesellschaft (vgl. Klafki 2007, S. 49).

Doch auch neuere Konzepte von Bildung, wie beispielweise das von Klafki, sehen Autonomie als Teil von Bildung.

Bildung nach Klafki

Klafki definiert Bildung über insgesamt neun Teildefinitionen (vgl. Klafki 2007, S. 49-77) und dabei unter anderem als „Zusammenhang von drei Grundfähigkeiten“ (Klafki 2007, S. 52). Zu Bildung gehört seines Erachtens neben „Mitbestimmungsfähigkeit“ und „Solidaritätsfähigkeit“ (beides: Klafki 2007, S. 53) auch die Fähigkeit zur Autonomie, wobei Klafki von Bildung als „Fähigkeit zur Selbstbestimmung“ (Klafki 2007, S. 52) spricht. Selbstbestimmung definiert er als „Fähigkeit eines Menschen, über seine individuellen, persönlichen Angelegenheiten, seine menschlichen Beziehungen und seine Überzeugungen aufgrund eigener Einsicht und nach eigenem Urteil entscheiden zu können“ (Klafki 2003, S. 19), was der oben erläuterten Definition von Autonomie entspricht oder zumindest sehr nahe kommt.

Der Berliner Rahmenlehrplan

Grundlegende Bildung als Aufgabe der Grundschule umfasst dem Berliner Rahmenlehrplan zufolge drei Aspekte:

- „Stärkung der Persönlichkeit,
- Anschlussfähigkeit und lebenslanges Lernen,
- Mitbestimmungs- und Teilhabefähigkeit“ (Rahmenlehrplan 2004, S. 7).

Als Teil dieser grundlegenden Bildung wird unter anderem die „Fähigkeit und Bereitschaft zur Selbst- und Mitbestimmung sowie zum solidarischen Handeln“ (Rahmenlehrplan 2004, S. 8) genannt, und somit auch Autonomie im Sinne von Selbstbestimmung.

Als „Ziel des Lernens“ (Rahmenlehrplan 2004, S. 9) in der Grundschule bezeichnet der Rahmenlehrplan darüber hinaus die Handlungskompetenz (vgl. Rahmenlehrplan 2004, S. 9).

4.3 Autonomie als Teil der Handlungskompetenz

Auch der Pädagoge Dieter-Jürgen Löwisch sieht Handlungskompetenz als die „gegenwärtig und für Zukunft bedeutsamste Bildungsaufgabe“ (Löwisch 2000, S. 168).

Als Grundlage und Teil von Handlungskompetenz nennt der Berliner Rahmenlehrplan Sachkompetenz, Methodenkompetenz, soziale Kompetenz und personale Kompetenz (vgl. Rahmenlehrplan 2004, S. 9). Dagmar Richter gibt als Erklärung für den Begriff der personalen Kompetenz „Autonomie und Selbstbestimmung“ (Richter 2005, S. 121) an. Auch Löwisch zufolge ist personale Kompetenz unter anderem gebunden „an die kognitive Entwicklung von der Heteronomie zur Autonomie“ (Löwisch 2000, S: 140). Im Rahmenlehrplan findet sich der Begriff Autonomie zwar nicht wortwörtlich, zentrale Merkmale wie Unabhängigkeit, Selbstständigkeit und Verantwortung sind jedoch insbesondere Bestandteil der personalen Kompetenz, die wie folgt definiert ist:

„Personale Kompetenz gründet auf Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl, auf wachsende emotionale Unabhängigkeit und Zutrauen in die eigenen Stärken. Zunehmend können Schülerinnen und Schüler eigene Stärken und Schwächen erkennen, eigene Erfolge wahrnehmen und genießen, aber auch Misserfolge verkraften und mit Ängsten umgehen. Es gelingt ihnen immer besser, einen Perspektivwechsel vorzunehmen und je nach Situation der Jüngere oder der Ältere, der Stärkere oder der Schwächere zu sein. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten selbstständig, planen eigene Handlungen und prüfen sie kritisch. Sie fällen Entscheidungen, begründen und verantworten sie und übernehmen Verantwortung für die eigene Gesundheit.“ (Rahmenlehrplan 2004, S. 9)

Autonomie ist demnach am ehesten der personalen Kompetenz zuzuordnen. Gleichzeitig sei angemerkt: „Keine dieser Kompetenzen ist isoliert für sich vorstellbar“ (Richter 2005, S. 117), sie sind alle verknüpft und ergänzen einander.

Autonomie als Teil der Handlungskompetenz macht die Unterstützung der Autonomieentwicklung eindeutig zu einer Aufgabe der Schule.

4.4 Selbstständiges Lernen in der Grundschule

Einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung von Selbstständigkeit, und somit auch zu Selbstbestimmung und Autonomie, kann die Schule leisten, indem sie selbstständiges Lernen ermöglicht (vgl. Klafki 2003, S. 20; Rahmenlehrplan 2004, S. 9). Die Fähigkeit, selbstständig lernen zu können ist Teil „einer reich entwickelten Persönlichkeit“ (Klafki 2003, S. 22) und besonders in einer demokratischen Gesellschaft grundlegend für eine „Mitwirkung aus eigener Einsicht, nach eigenem Urteil, in eigenverantwortlichem Handeln“ (Klafki 2003, S. 23).

Da Kinder sich schon zu Schulanfang in vielerlei Hinsicht unterscheiden (vgl. Einsiedler 1988, S. 50) und jedes Kind anders lernt, eignen sich für das selbstständige Lernen vor allem offene Unterrichtsformen wie zum Beispiel Wochenplanarbeit (vgl. Klafki 2003). Offener Unterricht ist ein „ Sammelbegriff für Reformansätze [...] mit dem Ziel eines veränderten Umgangs mit dem Lernenden auf der Grundlage eines veränderten, aktiven Lernbegriffs “ (Wallrabenstein 2001, S. 9). Das Lernen wird individueller und den SchülerInnen wird mehr Verantwortung für ihr eigenes Lernen übergeben (vgl. Wallrabenstein 2011, S. 9), denn nur durch Selbstständigkeit kann Selbstständigkeit erreicht werden.

Autonomie in der Grundschule sollte aber nicht allein auf selbstständiges Lernen beschränkt werden. Autonomie wie oben definiert umfasst noch weit mehr. Es soll nicht nur selbstständig gelernt, sondern auch selbstständig gedacht und gehandelt werden. Zur Loslösung von Fremdbestimmung hin zu Selbstbestimmung und Eigenständigkeit gehört neben allgemeiner Lernfähigkeit beispielweise auch die Fähigkeit, vorgegebene Werte und Normen kritisch zu hinterfragen und sich eine eigene Meinung zu bilden.

Zur Förderung der personalen Kompetenz heißt es im Berliner Rahmenlehrplan Deutsch unter anderem: „Im Deutschunterricht wird personale Kompetenz durch Wahrnehmung und Reflexion der eigenen, aber auch anderer Vorstellungen, Erfahrungen und Lernwege entwickelt“ (Rahmenlehrplan 2004, S. 18). Mit anderen Vorstellungen und Erfahrungen sind hier wohl in erster Linie die der anderen SchülerInnen gemeint. Doch auch im Umgang mit Literatur können die Kinder ihre eigene Erfahrungswelt erweitern und neue Welten kennen lernen. Inwieweit die Unterstützung der Autonomieentwicklung bisher ein Thema in der Literaturdidaktik ist, soll im folgenden Kapitel untersucht werden.

[...]


[1] Wenn Eriksons Theorie auch Schwächen aufweist (siehe Berk 2011, S. 18-19), so gibt sie doch einen guten Überblick über die zentralen Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung im Laufe des Lebens (vgl. Berk 2011, S. 19).

[2] Eine Bindungsperson ist eine „[p]rimäre Bezugsperson“ (Grossmann / Grossmann 2012, S. 75).

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2012
ISBN (PDF)
9783956845833
ISBN (Paperback)
9783956840838
Dateigröße
706 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,1
Schlagworte
Ronja Räubertochter Astrid Lindgren Deutschunterricht Autonomie Grundschulpädagogik
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