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Aktuelle Bestandsaufnahme und Diskussion zur Stammzellenforschung in der Volksrepublik China

©2011 Bachelorarbeit 65 Seiten

Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit beschreibt den Stand der Stammzellenforschung in der Volksrepublik China auf Basis des Jahres 2011. Den Einstieg in das Thema bildet eine Analyse und Zusammenfassung westlicher Kritikpunkte an Chinas Stammzellforschung.
Ausgehend von einem historischen Rückblick zur chinesischen Forschungspolitik, wird in der Arbeit der aktuelle Stand auf unterschiedlichen forschungsrelevanten Ebenen beschrieben.
Zunächst wird die Forschungslandschaft abgebildet, wobei der Fokus hier auf den chinesischen Forschungsreinrichtungen und dem Forschungspersonal liegt. Anschließend wird der aktuelle Stand zur Forschung mit adulten, embryonalen und induzierte pluripotente Stammzellen wiedergegeben, die sowohl vor universitärem als auch vor privatwirtschaftlichem Forschungshintergrund beleuchtet werden. Die aktuelle Sachlage der Forschung wird durch eine umfassende Analyse der rechtlichen Rahmenbedingungen unter Einbezug relevanter chinesischer Richtlinien vervollständigt. Zuletzt wird Chinas ethische Positionierung in Bezug auf die Stammzellenforschung beleuchtet, um westliche Kritikpunkte mit chinesischen Sichtweisen zu vergleichen und im Kontext zu verstehen. Dabei liegt der Fokus auf Chinas Ansicht zum Status des Embryos und Chinas Arbeit in der Bioethik.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


5.1 Forschungseinrichtungen

In Bezug auf die Forschung mit Stammzellen haben sich auf dem chinesischen Forschungsmarkt viele verschiedene Formen von Einrichtungen und Institutionen etabliert. Daher kann an dieser Stelle auch keine explizite Anzahl an Forschungseinrichtungen genannt werden. Hinzu kommt, dass wirtschaftliche Unternehmen und Akteure einen Teil an Forschungsergebnissen beisteuern und daher die forschungsspezifische Infrastruktur dementsprechend mitprägen. Es scheint an dieser Stelle sinnvoll zu sein, die verschiedenen Formen von Einrichtungen und Institutionen in drei Kategorien zu unterteilen: außeruniversitäre Forschung, universitäre Forschung und marktwirtschaftliche Forschung. In der Abbildung 1 sind in Bezug auf die Forschung mit Stammzellen die Städte mit den meisten Forschungseinrichtungen sowohl auf universitärer als auch auf außeruniversitärer Ebene eingezeichnet. Die Karte zeigt weiterhin einige wichtige Unternehmen aus der Branche auf. Da diese Abbildung auf der Basis eigener Recherchearbeiten erstellt wurde, kann sie nur einen allgemeinen Überblick verschaffen, aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Außerdem sind chinesische Institute oft mit mehreren Organisationen oder Einrichtungen verbunden, was eine strikte Einteilung erschwert.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Stammzellbezogene Forschungseinrichtungen in China

(Erstellt anhand eigener Recherche: siehe Anhang a))

Ein großer Teil der Forschungsleistungen wird im Bereich der außeruniversitären Forschung erbracht. Zu dieser Kategorie zählen akademische Institute, nationale Forschungszentren und Kliniken mit Forschungsbezug. Hochwertige und erstklassige Forschungsaktivitäten werden im Bereich der regenerativen Medizin vor allem an akademischen Instituten und an nationalen Forschungszentren, also in der außeruniversitären Forschung, durchgeführt.[1] Hierzu gehören beispielsweise die vielen Institute zum Beispiel das Institute of Zoology in Peking, das Institute of Biological Sciences in Shanghai oder das Institute of Biomedicine and Health in Guangzhou, die sich mithilfe der CAS etabliert haben. Neben den akademischen Instituten liefern auch nationale Forschungszentren wie das „National Research Centre for Stem Cell Engineering and Technology“ in Tianjin, das „Chinese National Human Genome Center“ in Shanghai oder das „National Institute of Biological Sciences“ in Peking hochwertige Forschungsergebnisse ab. Zuletzt spielen die Kliniken, in denen geforscht wird, eine nicht zu vernachlässigende Rolle, da sie an der Schnittstelle zwischen Grundlagenforschung und medizinischer Anwendung agieren. Hier zu nennen wäre zum Beispiel das „Huashan“ und „Xinhua“ Hospital in Shanghai, das „Xuanwu“ Hospital in Peking oder das „Second Affiliated Hospital“ in Guangzhou.

In Bezug auf die zweite Kategorie sind die Forschungsreinrichtungen und Departments von Universitäten, Hochschulen und Colleges wichtige Träger für die universitäre Forschung. So hat die Pekinger Universität das „Stem Cell Research Center“ im Jahr 2000 etabliert. Andere Universitäten wie die „Beijing Capital Medical University“, die „Fudan University“ und die „Jiaotong University“ in Shanghai, die „Central Southern University“ in Changsha und die „Zhongshan University“ in Guangzhou steuern auch einen beachtlichen Teil an Forschungsergebnissen bei.

Zuletzt spielen auch wirtschaftliche Interessengruppen eine große Rolle, da sie durch betriebsinterne Forschung und medizinisch anwendbare Behandlungsmethoden einen bestimmten Teil an der gesamten Forschungsleistung beisteuern und dementsprechend die chinesische Forschungslandschaft mitprägen. Dabei gibt es besonders in diesem Bereich Möglichkeiten, die Forschung mit dem Markt zu verbinden. Es kommt zu dem immer öfter vor, dass sich Institute von den Universitäten abkapseln und ihre Forschung in neu gegründeten Unternehmen fortsetzen. Ein gutes Beispiel hierfür liefert die Firma „Sino Cells“ aus Peking. Diese hat sich von dem „Stem Cell Research Center“ der Pekinger Universität abgesplittert und verfolgt nun das Ziel, Verfahren für die Kryokonservierung[2] für Stammzellen zu entwickeln.[3] Weiterhin werden Unternehmen auf der Basis von Partnerschaften gegründet. So ist die Firma „Union Stem Cell & Gene Engineering Company Ltd. (StemGene)” in Tianjin gemeinsam mit dem “Institute of Hematology and Hospital of Blood Diseases”, der “Chinese Academy of Medical Sciences”, dem “Peking Union Medical College” und der “Shanghai Wangchunhua Group” gegründet worden. Andere wichtige Unternehmen, deren Tätigkeitsfeld im Bereich der Stammzellenforschung liegt, sind die „Beike Biotechnologie“ aus Shenzhen, die „Beijing Stemcell Medengineering“ oder die Firma "Sibiono GeneTech Co. Ltd.“ aus Shenzhen. Der Nachteil dieser Forschungsform liegt darin, dass Unternehmen, die Stammzellkliniken betreiben, selten ihre Forschungsergebnisse in international anerkannten Wissenschaftsjournalen veröffentlichen „…Stem cell centers…do not publish in international scientific journals…“[4]. Das erschwert auf der einen Seite die einheitliche Forschung und auf der anderen Seite untergräbt es die Glaubwürdigkeit seriöser chinesischer Stammzellforscher.

Anhand dieser Ausführungen kann man erkennen, dass sich viele verschiedene Formen von Forschungseinrichtungen und Unternehmen im Bereich der Stammzellenforschung etabliert haben. Durch die Mannigfaltigkeit der Einrichtungen erschwert sich natürlich die Koordination der einzelnen Forschungsaktivitäten. Außerdem hat sich in China, bedingt durch den Mangel an Organisationsstrukturen und schwach ausgeprägter Aufsichten, unterhalb der Provinzebene auch eine Form von „Hinterhof- oder Garagenforschung“ ausgebildet. Dabei handelt es sich um kleine Forschungsinstitute, die ohne jegliche ministerielle Lizenzen mit Stammzellen forschen.[5] Aus diesem Grund muss der Ausbau von forschungsspezifischen Infrastrukturen vorangetrieben werden, um verbesserte Aufsichts- und Kontrollmechanismen gewährleisten zu können.

5.2 Fachpersonal

Chinas Rezept für den Erfolg in der Stammzellenforschung basiert wie im Punkt 3 bereits erwähnt, auf vier wichtigen Säulen. Eine davon konzentriert sich auf den Personalausbau hochqualifizierter Forscher. In Anbetracht der mangelnden Infrastrukturen im Bereich der Forschung ist diese Säule eine der Wichtigsten. Daher gelten chinesische Forscher als treibende Kräfte und können durch ihr Engagement die Forschungsinfrastruktur positiv mitgestalten.[6] Es ist wichtig zu erwähnen, dass die Mitgestaltung durch die chinesischen Forscher und Wissenschaftler sich vor dem Hintergrund verschiedener Generationen vollstreckt. Die alte Generation oder die „Biologen erster Stunde“[7] gelten als Schrittmacher für die biomedizinische Forschung und wirkten beispielsweise aktiv an der rechtlichen Ausgestaltung forschungsbezogener Arbeiten mit. So setzte sich die Reproduktions-medizinerin Lu Guangxiu aus Changsha mit den „…menschlichen Hintergründen und den sozialen und ethischen Folgen der modernen Reproduktionsmedizin…“ auseinander.[8] Damit schuf sie grundlegende Vorüberlegungen für das später erlassene rechtskräftige Instrument der „informierten Zustimmung“ oder auch „informed consent“. Auf diese Weise leisteten Lu und andere chinesische Forscher aus dieser Generation Pionierarbeiten, welche die chinesische Forschungslandschaft bis heute prägen.

Die darauffolgende Generation hatte mit den Auswirkungen der politischen Machtkämpfe zu kämpfen. Nach der Kulturrevolution mangelte es an qualitativen Bildungsstätten, was dazu führte, dass viele chinesische Wissenschaftler für eine Ausbildung ins Ausland gingen. Um jedoch eine durchgreifende und effektive Infrastruktur im eigenen Land aufzubauen, sind gerade diese qualifizierten Arbeitskräfte unverzichtbar. Das personelle Defizit im Forschungssektor steht daher auf der Agenda der chinesischen Regierung. Im elften Fünfjahresplan wurde dementsprechend eine auf Anreizen basierende Strategie ausgearbeitet, um die chinesischen Wissenschaftler aus dem Ausland zurückzuholen.[9] So konnte beispielsweise der Wissenschaftler Zhou Qi zurückgewonnen werden. Er betonte in einem Interview, dass viele Wissenschaftler nach China zurückkehren, weil die finanzielle Förderung und die Zusammenarbeit jetzt besser sind als zuvor: „Now, many many people go back to China to work because the funding, the collaboration really become better than before.“[10] Der Weg für den Aufbau einer qualifizierten Personalstruktur konnte demgemäß erfolgreich geebnet werden. Weiterhin bilden die internationalen Kontakte und Beziehungen, die während der Ausbildung der chinesischen Wissenschaftler im Ausland gesammelt werden konnten, ein solides Fundament für weitere Kooperationen im Bereich der Stammzellenforschung. Auf dieser Grundlage können nun die jährlich rund 400.000 chinesischen Absolventen aus dem Bereich der Medizin und Wissenschaft in der zweiten Generation ihre Mentoren finden. Eine neue Generation wird nun bald vollständig in China ausgebildet sein: “There is a younger generation of scientists being almost completely trained here; to become good professors…”[11] An dieser Stelle wird deutlich, dass die Zusammenarbeit der chinesischen Forscher und Wissenschaftler untereinander, aber auch die Förderung des Nachwuchses wichtige Komponenten sind, um die Infrastruktur und auch die Qualität der Forschung im eigenen Land aufzubauen und zu synchronisieren.

Die im Punkt 5.1 und 5.2 dargestellten Einflussfaktoren bestätigen, dass sich die chinesische Forschungslandschaft derzeit im Aufbau befindet und effiziente Infrastrukturen noch auszubauen sind. Allerdings erschwert sich die Koordinierung der Forschungsaktivitäten durch die Mannigfaltigkeit an unterschiedlichen Forschungsreinrichtungen. Hinzu kommt, dass es von Anfang an keine zentrale Stelle gab, die die Aktivitäten im Bereich der Forschung hätte organisieren und leiten können. Die Lösung dieser Problematik liegt bei den beteiligten Akteuren selbst. Demzufolge können chinesische Wissenschaftler durch verbesserte Zusammenarbeit und durch gesteigertes Engagement den Prozess des Aufbaus aktiv mitgestalten und beschleunigen. Einige Anstrengungen und Überlegungen wurden diesbezüglich schon getätigt. So berichtete der Vizepräsident der CAS Bai Chunli, dass die CAS eine erstklassige Plattform für Stammzellforschung und regenerative Medizin aufbauen will. Diese Plattform wird die vier Forschungszentren in Peking, Shanghai, Guangzhou und Kunming und weitere siebzehn Institute einbeziehen. Dabei wird sich das Forschungszentrum in Peking mit der Konstruktion von Organen beschäftigen, wobei sich die Wissenschaftler in Shanghai um die Regularien für Stammzellen kümmern. Das Forschungszentrum in Guangzhou konzentriert sich auf biologische und medizinische Komponenten und in Kunming werden Tierexperimente im klinischen Rahmen durchgeführt.[12] Mit diesem Vorhaben der CAS könnten die beschriebenen Probleme in der chinesischen Forschungslandschaft adressiert und eine solide Grundlage für den zukünftigen Ausbau des Forschungssektors geschaffen werden.

Trotz der derzeitigen Unzulänglichkeiten ist es chinesischen Stammzellforschern bereits gelungen, neuwertige und interessante Ergebnisse auf dem Gebiet der Stammzellenforschung zu erzielen. Diese werden im nachfolgenden Punkt näher betrachtet.

6 Derzeitiger Forschungsstand

Um den derzeitigen Stand chinesischer Forschungsergebnisse und -leistungen zu messen, können zwei Indikatoren herangezogen werden. Ein Anzeiger sind wissenschaftliche Publikationen. Sie geben darüber Aufschluss, in welchen einzelnen Bereichen Forschungsaktivitäten durchgeführt werden und welche neuen Erkenntnisse und Fortschritte erbracht werden konnten. Die Abbildung 2 veranschaulicht den rasanten jährlichen Anstieg chinesischer Publikationen im Bereich der Stammzellforschung.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Publikationen im Bereich der Stammzellenforschung

(McMahon et al. (2010): http://www.futuremedicine.com/doi/pdf/10.2217/rme.09.78)

Diese Untersuchung hat zu Tage gebracht, dass chinesische Forscher im Jahr 2008 insgesamt 1.116 wissenschaftliche Dokumente über stammzellspezifische Forschungsaktivitäten in internationalen Fachjournalen veröffentlicht haben. Im Jahr 2000 wurden hingegen nur 37 solcher Publikationen gezählt. Aus heutiger Sicht gilt China nach den USA, Deutschland, Japan und Großbritannien als das Land mit den meisten wissenschaftlichen Publikationen auf dem Sektor der Stammzellenforschung.[13] Der fulminante Anstieg dieser Publikationen beweist eindeutig, dass sich die biomedizinische Forschung in China in einem sehr dynamischen Entwicklungsprozess befindet. Ein weiterer Indikator ist die Erzeugung und Produktion von humanen embryonalen Stammzelllinien. Beide Indikatoren werden im Folgenden wieder aufgegriffen, um den aktuellen Forschungsstand in China darzustellen. Der Fokus wird sich hierbei auf die drei wichtigsten Stammzellarten begrenzen.

Das Forschen mit Stammzellen beschränkt sich in China und wie auch in anderen Ländern zu einem großen Teil auf den Bereich der Grundlagenforschung. Dabei verwenden chinesische Forscher hauptsächlich ES-Zellen und Knochenmarkstammzellen.[14] Ein weiteres Motiv und Ziel chinesischer Forscher und Mediziner ist es, die Grundlagenforschung rasch in die klinische Anwendung umzusetzen und auf Stammzellen basierende Behandlungen zu entwickeln. Im nachfolgenden Punkt werden zunächst chinesische Ergebnisse aus der Grundlagenforschung mit embryonalen Stammzellen (ES-Zellen) und mit induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS-Zellen) dargestellt. Anschließend werden adulte Stammzellen (AS-Zellen), die vor allem in der angewandten Forschung und in der klinischen Anwendung in China eine große Rolle spielen, eingehend betrachtet.[15]

6.1 Embryonale Stammzellen

Im Jahr 1998 veröffentlichte der Amerikaner James A. Thomson die erste wissenschaftliche Studie über die erfolgreiche Erzeugung von Stammzelllinien aus menschlichen Blastozysten.[16] Vier Jahre später gelang es auch chinesischen Forschern, embryonale Stammzelllinien zu gewinnen. Im Jahr 2002 publizierte eine Forschergruppe aus Guangzhou den ersten Bericht über die gelungene Erzeugung menschlicher Stammzelllinien mit dem Titel „Human embryonic stem cell lines preliminarily established in China“.[17] Für den Versuch befruchteten sie in der Kulturschale vierzehn Eizellen, von denen sich fünf zum Blastozystenstadium entwickelten. Chinesischen Forschern gelang es drei Stammzelllinien zu erzeugen, die weiterhin für Forschungszwecke eingesetzt wurden. Im nächsten Schritt verpflanzten sie die ES-Zellen in Extremitäten von Mäusen, die an einem schweren kombinierten Immundefekt erkrankt waren. Bereits nach sechs Wochen hatten sich bei allen Mäusen Teratome ausgebildet. Untersuchungen ergaben, dass sich diese Teratome aus verschiedenen Gewebetypen aller drei Keimblätter des Embryos zusammensetzten. Hier zeigt sich, dass auch die in China erzeugten Stammzelllinien ein Risiko zur Tumorausbildung in sich tragen. Das macht den Einsatz von ES-Zellen zu therapeutischen Zwecken am Menschen auch in China nicht verantwortbar. Das gleiche Problem hatte auch das Forscherteam von Sheng Huizhen, denen es gelungen ist, sechs Stammzelllinien durch eine In-vitro-Fertilisationsbehandlung (nachfolgend als IVF) zu gewinnen.[18] Sie beschreiben in ihrer wissenschaftlichen Arbeit „Human embryonic stem cell lines derived from the Chinese population“, dass vier von den sechs ES-Zelllinien Teratome ausbildeten – „…four of them formed teratomes with tissue types representative of all three embryonic germ layers.“[19]

Um die Probleme der Immunverträglichkeit zu adressieren, beschäftigen sich Sheng und andere Forscher mit einer alternativen Methode zur Herstellung von ES-Zellen. In ihrer wissenschaftlichen Veröffentlichung „Embryonic stem cells generated by nuclear transfer of human somatic nuclei into rabbit oocytes“[20] beschreiben sie die Methode des Zellkerntransfers. Für die Erzeugung von ES-Zellen benutzten sie die Zellkerne aus somatischem Gewebe, die von Spendern aus vier unterschiedlichen Altersgruppen bereitgestellt wurden. Anschließend pflanzten sie diese Zellkerne in entkernte Eizellen eines Kaninchens ein. Es konnten auf diese Weise aus allen vier Altersgruppen embryonale Stammzellen gewonnen werden. Daher schlussfolgerte Sheng und ihr Team, dass Zellkerne aus humanem somatischem Gewebe unabhängig von dem Alter des Spenders ES-Zellen bilden können. Außerdem weisen die so erzeugten ES-Zellen die für viele Forscher interessanten pluripotenten Eigenschaften auf. Sie sind sehr wachstumsfreudig und können sich in viele Zelltypen differenzieren. Obwohl die Methode des Zellkerntransfers den Vorteil der Immunverträglichkeit mit sich bringt, gestehen Sheng und ihre Kollegen sich ein, dass noch viele Fragen unbeantwortet bleiben „…many issues remain unanswered in this field.“.[21]

Diese Schilderungen weisen explizit darauf hin, dass sich die chinesischen Studien und Arbeiten mit embryonalen Stammzellen noch im Stadium der Grundlagenforschung befinden. Es gilt weiterhin, die vielen Mechanismen und Prozesse innerhalb der Zellen zu erforschen, um einen Einsatz von ES-Zellen am Menschen zu ermöglichen. Was die gesamte Produktion von embryonalen Stammzelllinien betrifft, so lassen sich keine genauen Zahlen auffinden. Nach einer Untersuchung der britischen Initiative „DTi Globalwatch mission” zufolge wurden bis 2005 zehn oder mehr Stammzelllinien in China hergestellt.[22] Dominique McMahon und ihre Kollegen gehen davon aus, dass sich die produzierte Menge auf mindestens 25 embryonale Stammzelllinien beläuft.[23] Ein steigender Trend ist demnach zu verzeichnen.

Fakt ist, dass China das notwendige Wissen und die erforderliche Technologie besitzt, um eigenständig embryonale Stammzelllinien zu erzeugen. Auf internationaler Ebene steht China den Industriestaaten diesbezüglich nichts nach und kann daher als ein ebenbürtiger Partner in der embryonalen Stammzellenforschung betrachtet werden.

6.2 Induzierte pluripotente Stammzellen

Im Jahr 2006 erzeugte der japanische Stammzellenforscher Shinya Yamanaka die ersten iPS-Zellen. Obwohl die Geschichte der iPS-Zellen gerade erst begonnen hat, gelang es China innerhalb kürzester Zeit, an die Erfolge aus Japan anzuknüpfen. Bereits im November 2007 verkündete die CAS, dass chinesische Forscher in der Lage sind, auf dem Gebiet der iPS-Zellenforschung Schritt zu halten - „Chinese researchers keep abreast of iPS technology“.[24] Weiterhin machte die CAS bekannt, dass die Institute South China Institute for Stem Cell Biology and Regenerative Medicine und CAS Guangzhou Instiute of Biomedicine and Health in China die Vorreiterrolle in der Forschung mit pluripotenten Stammzellen übernehmen. So gelang es Pei Duanrui und seinem Team iPS-Zellen aus embryonalen Fibroblasten einer Maus herzustellen.[25]

Da die Erzeugung von iPS-Zellen bis heute wenig effizient ist und demzufolge eine sehr niedrige Erfolgsrate mit sich bringt, konzentrieren sich die Forscher in China auf die Erkundung verbesserter Transkriptionsfaktoren. Diese sind der Schlüssel zur erfolgreichen Erzeugung von iPS-Zellen. Ein Forscherteam in Shanghai ging einen Schritt weiter, indem es iPS-Zellen aus menschlichen somatischen Zellen erzeugte. In ihrer wissenschaftlichen Studie „Enhanced efficiency of generating induced pluripotent stem (iPS) cells from human somatic cells by a combination of six transcription factors“ bewiesen sie, dass eine Kombination aus sechs anstatt ursprünglich vier Transkriptionsfaktoren eine effizientere Methode zur Herstellung von iPS-Zellen darstellt. Sie erzeugten zunächst iPS-Zellen mit den ursprünglich vier Transkriptionsfaktoren. Nach zwölf Tagen konnten sie die morphologischen Eigenschaften von iPS-Zellen feststellen. Anschließend wiederholten sie die gleiche Prozedur mit sechs Transkriptionsfaktoren. Bereits nach sieben Tagen lagen ihnen iPS-Zellen vor. Mit dieser Untersuchung bewies das Forscherteam aus Shanghai, dass sechs Transkriptionsfaktoren circa zehn Mal effizienter sind.[26] Diese chinesische Publikation zeigt auf, dass neben den USA, Japan und anderen Ländern auch China in der Lage ist iPS-Zellen aus tierischen und menschlichen Zellen herzustellen.

Wie bereits oben erwähnt, ist die Herstellung von iPS-Zellen wenig effizient. Die Gewinnung von qualitativ hochwertigen iPS-Zellen stellt bis heute noch eine große Herausforderung für Wissenschaftler dar. Markierungstechniken sind daher wichtige Instrumente, um den erfolgreichen Prozess der Zellprogrammierung durch Transkriptionsfaktoren sicherzustellen und iPS-Zellen im Zellverband später lokalisieren zu können. In Bezug darauf führten Wissenschaftler aus Shanghai ein bedeutendes Experiment durch. In ihrer wissenschaftlichen Publikation „Efficient preparation and labeling of human induced pluripotent stem cells by nanotechnology“ gaben sie im Februar 2011 bekannt, dass es ihnen mithilfe von Nanopartikeln gelungen ist, iPS-Zellen erfolgreich zu markieren. Die Nanopartikel, die sie verwendeten, besaßen sowohl fluoreszierende als auch magnetische Eigenschaften. Die Abb. 3 veranschaulicht iPS-Zellen, die durch das Einschleusen von Nanopartikeln erkenntlich gemacht werden konnten.

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Abbildung 3: Fluoreszierende iPS-Zellen nach der Markierung mit Nanopartikeln

(Ruan; Shen et al. (2011): http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3075908/figure/f6-ijn-6-425/)

Sowohl die fluoreszierenden als auch die magnetischen Eigenschaften konnten in den iPS-Zellen nachgewiesen werden. In der Kulturschale erzeugten sie dazu ein magnetisches Feld, so dass die markierten iPS-Zellen, im Gegensatz zu den nicht markierten Zellen, an der Wand der Schale hafteten.[27] Mit diesem neuen Verfahren ist es chinesischen Forschern gelungen, einen weiteren Fortschritt innerhalb der Stammzellenforschung zu leisten. Die oben aufgeführten Studien chinesischer Forscher bestätigen die Aussage der Chinese Academy of Sciences. Somit kann China auch auf diesem Gebiet als ein gleichrangiger Partner Schritt halten.

6.3 Adulte Stammzellen

Die Forschung mit adulten Stammzellen bewegt sich in China überwiegend im Rahmen der angewandten Forschung und ist daher sehr zweckorientiert. Das bedeutet, dass bei chinesischen Forschern und Medizinern die Krankheit im Vordergrund steht, für die es eine geeignete Therapie zu finden gilt. Auf diese Weise versuchen sie, die Umsetzung in klinische Behandlungen zu beschleunigen und voranzutreiben. Dieser Sachverhalt spiegelt sich vor allem in den zahlreichen Stammzellbehandlungen, die in China angeboten werden, wider. An dieser Stelle sollen zunächst jedoch nur die Forschungsergebnisse und -leistungen dargestellt werden, die sich im Rahmen klinischer Studien abgespielt haben.

Im Jahr 2004 genehmigte die chinesische Behörde für die staatliche Überwachung von Nahrungs- und Arzneimitteln / State Food and Drug Administration of China (SFDA) die erste offizielle Stammzellbehandlung. Robert C.H. Zhao und sein Team entwickelten ein standardisiertes Verfahren für die Bewertung von mesenchymalen Stammzellen[28], die aus dem Knochenmark entnommen werden. Klinische Vorstudien mit Affen zeigten, dass dieser neue Ansatz sich sowohl fördernd auf das Blutbildungssystem auswirkte, als auch immunologische Abwehrreaktionen reduzierte. Dieses Verfahren erprobten Zhao und seine Kollegen nun an Leukämiepatienten und Patienten mit anderen schweren Erkrankungen.[29] Eine andere Forschergruppe aus Nanjing testete die Wirkung von Knochenmarkstammzellen bei Patienten mit akutem Herzinfarkt. Unter 96 Patienten injizierten die Forscher entweder Knochenmarkstammzellen oder eine Salzlösung. Bei der Patientengruppe, denen Knochenmarkstammzellen eingespritzt wurden, konnten die Forscher aus Nanjing eine signifikante Verbesserung der linken Herzkammerfunktion feststellen.[30] In Guangzhou untersuchten Gao Zhiliang und seine Kollegen die kurz- und langfristige Wirkung von mesenchymalen Stammzellen bei Patienten mit Leberversagen. Von den insgesamt 527 angeworbenen Patienten wurden letztendlich 53 Patienten mit Stammzellen aus dem eigenen Knochenmark behandelt. Die Behandlung verlief zu 100% erfolgreich und es traten keine schwerwiegenden Nebenwirkungen auf. Bereits nach zwei bis drei Wochen konnten sie zunächst Verbesserungen der Genesungsphase bei den Patienten feststellen. Doch auf langer Sicht gab es keine manifestierte Heilung.[31]

Die angeführten Beispiele bekräftigen die Tatsache, dass sich ein Teil der Behandlungen mit AS-Zellen in China im Rahmen klinischer Studien vollzogen werden und das weitere Forschungsaktivitäten erforderlich sein werden, um die Sicherheit und die Effizienz der Behandlungen gewährleisten zu können. Da Forschung nur durch finanzielle Aufwendungen möglich ist, wird im nachstehenden Punkt die ökonomische Perspektive in der Stammzellenforschung betrachtet. In diesem Zusammenhang werden die zahlreich in China angebotenen Stammzellbehandlungen näher betrachtet.

7 Marktwirtschaftliche Ausrichtung der Forschung

Bedingt durch die intensive staatliche Förderung des biomedizinischen Sektors und den damit verbundenen rasanten Aufschwung haben sich auch für wirtschaftliche Interessengruppen enorme Entwicklungspotenziale aufgetan. So entwickeln sich etliche Unternehmen auf dem chinesischen Biotechnologiemarkt. Unter dem Leitgedanken „die Forschung mit dem Markt zu verbinden“, verfolgen sie das Ziel, auf Stammzellen basierende Therapien oder gentherapeutische Medikamente anzubieten. Dabei agieren und wirtschaften die chinesischen Unternehmen in den verschiedensten Produktsegmenten.

Die Firma SiBiono GenTech aus Shenzhen hat sich beispielsweise auf die Entwicklung von Medikamenten spezialisiert. Am 16. Oktober 2003 wurde das weltweit erste gentherapeutische Arzneimittel „Gendicine“ zur Behandlung von Krebserkrankungen von der SFDA für den klinischen Einsatz an Patienten zugelassen. Bei diesem Medikament handelt es sich um ein Adenovirus, der das Gen p53 in die Zellen einschleust. Dort verhindert dieses Gen das unkontrollierte Wachstum von Zellen, indem es einen programmierten Zelltod auslöst und so die Tumorbildung unterbindet.[32] Bei klinischen Untersuchungen erhielten 40 Patienten eine herkömmliche Strahlenbehandlung und 38 Patienten eine Kombination aus Gendicine und einer Strahlenbehandlung. Die Tabelle 1 veranschaulicht die klinischen Untersuchungsergebnisse aus der Phase II/III, an der insgesamt 78 Personen teilgenommen haben.

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Tabelle 1: Überlebensrate nach der Behandlung mit Gendicine

(Eigene Übersetzung aus Cancer Therapy China: Gene Therapy (Gendicine))

Bei dieser Studie betrug der durchschnittliche Beobachtungszeitraum 39,4 Monate. Aus der Tabelle wird ersichtlich, dass der durchschnittliche Überlebenszeitraum mit 38 Monaten bei den Patienten mit der kombinierten Behandlungsmethode höher liegt als bei den anderen Patienten mit der Strahlenbehandlung. Weiterhin konnte in einem Zeitraum von drei Jahren eine krankheitsfreie Überlebensrate von 74,30% bei den GS-Patienten verzeichnet werden, wohingegen diese sich bei den S-Patienten nur auf 61,70% belief. Die gesamte Überlebensrate, wenn auch nicht ganz krankheitsfrei, liegt demzufolge bei den GS-Patienten mit 78,80% höher als bei den S-Patienten mit 69,40%.

Die positiven Ergebnisse, die durch diese und andere klinischen Studien verzeichnet werden konnten, veranschaulichen, dass Gendicine ein wertvolles und wegweisendes Arzneimittel auf dem medizinischen Markt darstellt. Es zeigt sich hier, dass Unternehmen wie SiBiono GenTech ebenfalls einen Teil an Forschungsleistungen erbringen und diese auch rasch in die klinische Anwendung umsetzen können. Dennoch dürfen ökonomische Motive und Interessen in diesem Zusammenhang nicht vernachlässigt betrachtet werden, denn Unternehmen müssen auch immer nach gewinnorientierten Komponenten handeln und entscheiden. So hat Zhong Chaohan, der Chef des Stammzell-Zentrums, unter dem Leitgedanken „…Patienten zugleich auch als Kunden zu gewinnen…“[33] eine kommerzielle Nabelschnurblutbank und Firma „Union Stem Cell and Gene Engineering Company Ltd.“ in Tianjin gegründet. Ein weitaus gewinnbringenderes Produkt- oder Dienstleistungssegment stellt jedoch die Vermarktung von ungeprüften Stammzellbehandlungen dar, wofür es zahlreiche Beispiele gibt.

Dr. Poon Lee Kwee aus Singapur leidet an einer Erkrankung des motorischen Nervensystems, an Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Für eine einmonatige Stammzellbehandlung reiste er nach Guangzhou. Dort wurden ihm sechs Injektionen mit mesenchymalen Stammzellen aus Nabelschnurblut verabreicht, wofür er 155.420 Hongkong Dollar zahlte. Jedoch wurden zuvor keine klinischen Studien diesbezüglich durchgeführt „…the treatment has undergone no clinical trials…“ und dennoch rühmt sich dieses Hospital mit revolutionären Stammzelltherapien „…yet the hospital’s website claims that a wide range of conditions…are now treatable with its revolutionary stem-cell therapy…“.[34]

Ein weiterer Anbieter, der Stammzellbehandlungen im großen Umfang kommerzialisiert hat, ist die Firma Beike Biotechnology aus Shenzhen. Auf ihrer Internetseite[35] bieten sie für rund 27 verschiedene Krankheiten vielversprechende Stammzellbehandlungen an. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen sich in China behandeln lassen und unerprobte Stammzelltherapien in Kauf nehmen. Die Patienten kommen fast ausschließlich aus Ländern wie beispielsweise den USA, Kanada oder Australien. Diese Internetseite bietet das beste Beispiel für den im Punkt 2 erwähnten Stammzelltourismus. Dabei setzt die Firma Beike verstärkt auf die Vermarktung erfolgreicher Behandlungen. Videos, die vor und nach der Stammzelltherapie aufgenommen wurden, sollen dem zukünftigen Kunden ein seriöses Bild vermitteln. Die Seite ist überdies in 11 Sprachen abrufbar und jeder, der Interesse hat, kann sofort per Anfrageformular Kontakt aufnehmen. Auf diese Weise ist es Beike Biotechnology bereits gelungen, in rund fünfzig Krankenhäusern mehr als zehntausend ausländische Patienten aus über siebzig Ländern zu behandeln.[36] Die genaue Anzahl an Krankenhäusern, die diese ungeprüften Behandlungen in China anbieten, ist nicht genau bekannt. Aber man geht davon aus, dass es sich um etwa 200 Krankenhäuser handelt.[37]

Fakt ist jedoch, dass Unternehmen wie zum Beispiel Beike Biotechnology beträchtliche Gewinnmargen erwirtschaften, da günstige Rahmenbedingungen wie niedrige Personal- und Sachkosten oder Steuervergünstigungen der Branche zu Gute kommen. So können beispielsweise die Anbieter von Stammzellbehandlungen für 300 RMB Stammzellspritzen vom Hersteller beziehen und diese gewinnbringend in therapeutischen Behandlungsverfahren einsetzen.[38] Dabei sind die Barrieren für die Anwendung dieser Therapien in China durchlässiger als in anderen Ländern. Ungeprüfte Behandlungen können somit leicht Anwendung finden. Das bestätigte ein Mitglied der CAS: „But all of these stem cell therapies are still at research stage, and none of them has been approved by domestic health watchdog as effective treatment.”[39] Es liegt nun an der chinesischen Regierung, effektive Sicherheitsbestimmungen und Aufsichtsbehörden zu schaffen, damit Todesvorfälle - wie zum Beispiel in Shanghai - nicht wieder auftreten. Dort ist ein dreißigjähriger Mann, der einen Hirninfarkt erlitten hatte, vier Tage nach der Verabreichung von zwei Stammzellinjektionen gestorben.[40]

An dieser Stelle wird erkennbar, dass chinesische Unternehmen durch die Entwicklung von Produkten und Dienstleistungen einen bedeutsamen Teil an Forschungsleistungen erbringen und somit ein prägendes Glied in der chinesischen Forschungslandschaft darstellen. Dabei beschleunigt das wirtschaftliche und gewinnorientierte Leitinteresse der Unternehmen die Umsetzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in klinische Behandlungsmethoden. Die Anwendung von adulten Stammzellen ist zu einem neuen Pfeiler in der chinesischen Medizin geworden. Der Wunsch gesund zu sein und die Hoffnungslosigkeit der kranken Menschen drängt sie in die Hände von Medizinern und „Forschungsmanagern“, die die oben erwähnten ungeprüften Stammzellbehandlungen anbieten. Dennoch müssen das Wohl und die Gesundung des kranken Menschen stets vor allen anderen Interessen der Unternehmen stehen. Das ist bis heute nicht der Fall. Bei diesem Interessenkonflikt spielt der Gesetzgeber die entscheidende Rolle. Nur er kann und muss den humanistischen Stellenwert des Patienten durch gewisse Gesetze und Auflagen sicherstellen. Deshalb wird sich der nächste Themenkomplex mit den rechtlichen Rahmenbedingungen der Stammzellforschung beschäftigen.

8 Zum rechtlichen Rahmen der Stammzellforschung

Nicht nur in China, sondern auch in vielen anderen Ländern stellte man fest, dass der politische und ethische Gestaltungsprozess nicht mit den rasanten Entwicklungen in Wissenschaft und Technik einhergehen konnte. Viele Länder wie zum Beispiel auch Deutschland haben Gesetze erlassen, um der Forschung mit Stammzellen Grenzen zu setzen. „Auch die chinesische Regierung bemüht sich, dem wachsenden Regelungsbedarf in der Biotechnologie gerecht zu werden.“[41] Allerdings unterscheidet sich dabei die Ausgangslage in China im Vergleich zu anderen Nationen. Neben der rechtlichen und bioethischen Ausgestaltung forschungsbezogener Aktivitäten muss die chinesische Regierung nämlich auch soziale, institutionelle und wirtschaftliche Reformen einleiten. Ferner stehen eine Modernisierung des Bildungssystems und die Angleichung an internationale technische und legale Standards auf der Agenda der Regierung Chinas.[42] Somit erschwert sich natürlich auch der rechtliche und bioethische Gestaltungsprozess. Diese Umstände sind unter anderem dafür verantwortlich, dass „…in China…derzeit mit Bezug auf den Menschen kein gesetzlich geregelter Embryonenschutz“ existiert.[43] Wie im Punkt 5 beschrieben, müssen erst einmal grundlegende Infrastrukturen im Forschungssektor geschaffen werden, um wirksame Überwachungs- und Kontrollmechanismen einzuführen. Weiterhin sind adäquate und rechtlich durchsetzbare Instrumente in diesem Zusammenhang von Notwendigkeit. Zu beachten sind die verschiedenen regulatorischen Instrumente, die sich in China in ihrer Anwendbarkeit und Durchsetzbarkeit unterscheiden. Gesetze (fǎ法) und Richtlinien (tiáo lì 条例) sind zwei Instrumente, die rechtlich durchsetzbar und deshalb auch sanktionsbewehrt sind. Gesetze werden durch den Nationalen Volkskongress oder durch dessen Ständigen Ausschuss erlassen und können durch die zuständigen Institutionen greifen. Richtlinien werden durch den chinesischen Staatsrat bewilligt und sind ebenfalls rechtlich vollstreckbar. Technische Normen und Standards (jìshù guīfàn技术规范) und ethische Prinzipien (lúnlǐ yuánzé 伦理原则) sind hingegen nur rechtlich durchsetzbar, wenn sie ein Bestandteil von Gesetzen oder von Richtlinien sind. Zuletzt gibt es Ausführungsbestimmungen (guǎnlǐ bànfǎ 管理办法) für die Verwaltung und die Handhabung von bestimmten wissenschaftlichen und therapeutischen Anwendungen, die für diese Institutionen rechtsbindend sind.[44] Da die aktuellen Richtlinien für die Forschung mit embryonalen Stammzellen in China bisher nur durch ethische Prinzipien geregelt sind, wird hier unmissverständlich, dass diese Richtlinien keinen rechtsbindenden Charakter innehaben. Das spiegelt sich auch in dem spärlichen Gebrauch von Sanktionen wider.[45] Trotz klarer Schwachstellen dieser Richtlinien, zeigen sich Anstrengungen seitens der chinesischen Regierung, dem wachsenden Regelungsbedarf gerecht zu werden. Dabei stützt sich die Arbeit der Regierung auf den Beitrag und das Mitwirken verschiedener Interessengruppen. Diese tragen maßgeblich dazu bei, die rechtliche und auch bioethische Ausgestaltung voranzutreiben und einen Rahmen für die Stammzellen-forschung zu schaffen.

8.1 Wichtige Akteure und deren Regelungsinteressen

Für die rechtliche und ethische Ausgestaltung der biomedizinischen Forschung erwiesen sich Initiativen und Aktivitäten aus wissenschaftlichen und bioethischen Kreisen[46] als treibende Motoren. Wie bereits im Punkt 5.2 geschildert, stand für Lu Guangxiu das gute Verhältnis zu ihren Patienten im Vordergrund, was sie dazu veranlasste, profunde Vorüberlegungen bezüglich der „informierten Zustimmung“ für Patienten zu leisten. Mit dem Blick auf das Wohl der Patienten kann sie in diesem Sinne als positives Beispiel für eine Regelungsinitiative verstanden werden. Nicht nur Wissenschaftler, wie Lu Guangxiu, sondern auch andere Interessengruppen streben nach einem konstruktiven Rahmen für das rechtmäßige und ethische Agieren in Forschung und Entwicklung. So geht ein Teil der Regelungsinitiativen von Biotechnikern aus. Diese messen vor allem den technischen Standards und der Rechtssicherheit eine große Bedeutung bei, die teilweise auch mit ethischen Fragen und Problemen verbunden sind.[47] Zum Beispiel forderte Li Lingsong, der Gründer der Firma Beijing Stemcell Medengineering Co Ltd, „…eine landesweite Initiative zur Bündelung und Regulierung der Stammzellen-Aktivitäten und rechtliche Überwachung, um die Zusammenarbeit zu erleichtern.“[48]

„Das Verlangen nach normativer Klarheit ist vor allem aus den Reihen der Wissenschaft selbst zu vernehmen.“[49] Die Unsicherheit chinesischer Wissenschaftler war beispielsweise bei dem Forschungsversuch von Sheng Huizhen und ihren Kollegen aus Shanghai zu bemerken.[50] Das umstrittene Vorhaben, ES-Zellen mithilfe der Zellkerntransfermethode aus menschlichem und tierischem Material zu erzeugen, wurde durch die Formulierung eines passenden Regelungsentwurfes begleitet. In diesem Zusammenhang spielt die Autorität von Behörden auf provinzialer Ebene eine große Rolle. Sie sind in der Lage, neue Regularien anzuerkennen, insofern sie keinem Landesgesetz oder politischem Zweck widersprechen. Auf diese Weise wurde der Entwurf „Ethische Richtlinien für die Forschung mit menschlichen embryonalen Stammzellen“ des Ethikgremiums an dem Südchinesischen Humangenomforschungszentrums von der Regierung in Shanghai anerkannt und somit das Forschungsvorhaben von Sheng Huizhen legitimiert.[51] An dieser Stelle wird ersichtlich, dass eine dezentrale Genehmigung von Behörden auf provinzialer Ebene möglich war, solange sie mit dem jeweiligen Landesgesetz konform gingen. Demzufolge sind örtliche Regierungen und Behörden in der Lage, sich an dem rechtlichen und ethischen Gestaltungsprozess der biomedizinischen Forschung zu beteiligen und diesen wesentlich zu beeinflussen.

Im Zusammenhang mit den politischen Entscheidungsträgern spielen das MOST und das Ministerium für Gesundheit (MOH) eine weitere maßgebende Rolle. Beide Ministerien gehen zwar unterschiedlichen Interessen nach, sind aber in der Lage, den Bereich der biomedizinischen Forschung mitzugestalten und aktiv zu beeinflussen. So kann beispielsweise das MOST bestehende Grauzonen durch ergänzende Ministerialerlasse und Ausführungsbestimmungen auffüllen. Diese haben allerdings nur einen orientierenden Charakter und sind daher auch nicht explizit mit Sanktionen verknüpft. Das MOH hingegen kann diesen Bereich durch die Aufsicht und Zulassung ärztlicher Anwendungen und Praktiken aktiv mitgestalten. Außerdem ist es natürlich befugt, aus eigener Initiative Richtlinien und Regularien zu verfassen und zu erlassen. Trotz der ungleichen Orientierung an Gesundheit und Wissenschaft ist es beiden Ministerien gelungen, eine gemeinsame Basis zu schaffen, um nun mehr strategisch zusammenzuarbeiten. So haben beide Ministerien einen Pool ethischer Berater etabliert, der seither als Fundament für eine gemeinsame Ausarbeitung von forschungsspezifischen Regularien und Richtlinien fungiert. Auf dieser gemeinsamen Basis haben beide Ministerien im Jahr 2003 die aktuellen Bestimmungen für die Forschung mit Stammzellen in China erlassen.[52]

Der Weg zu den aktuellen Richtlinien vollzog sich durch die Anteilnahme verschiedener Interessengruppen und Initiativen, die hier in groben Zügen umschrieben wurden. Um die einzelnen Schritte bis zum heutigen Stand zu darzustellen, wird im nächsten Punkt ein Blick auf vergangene Regelungsentwürfe geworfen. Anschließend wird die aktuelle Regelbildung für die Forschung und für die medizinische Anwendung näher betrachtet.

[...]


[1] Vgl. Thorsteinsdóttir et al. 2010.

[2] Unter dem Begriff „Kryokonservierung“ versteht man die Lagerung von biologischen Proben wie Zellen und Gewebe durch Einfrieren mit flüssigem Stickstoff.

[3] Vgl. DTi Globalwatch mission 2005.

[4] Vgl. Thorsteinsdóttir et al. 2010.

[5] Vgl. Döring 2005: 4.

[6] Vgl. Döring 2005: 2.

[7] Döring 2005: 1.

[8] Döring 2005: 9.

[9] Vgl. Thorsteinsdóttir et al. 2010.

[10] Public Radio International 2010.

[11] McMahon et al. 2010: 41.

[12] Vgl. Chen; Shan (2011).

[13] Vgl. Thorsteinsdóttir et al. 2010.

[14] Vgl. Zhao et al. 2007.

[15] Die Begriffserklärung der drei genannten Stammzellarten befindet sich im Glossar.

[16] Vgl. Thomson et. al. 1998.

[17] Vgl. Zhao et al. 2007.

[18] Die Begriffserklärung für IVF befindet sich im Glossar.

[19] Sheng et al. 2005.

[20] Vgl. Sheng et al. 2003.

[21] Sheng et al. 2003.

[22] Vgl. DTi Globalwatch mission 2005.

[23] Vgl. McMahon 2010: 37.

[24] Chinese Academy of Sciences 2007.

[25] Vgl. Chinese Academy of Sciences 2007.

[26] Vgl. Liao et al. 2008.

[27] Vgl. Ruan; Shen et al. 2011.

[28] Mesenchymale Stammzellen sind Vorläuferzellen des Bindegewebes.

[29] Vgl. Zhao et al. 2007.

[30] Vgl. Zhao et al. 2007.

[31] Vgl. Peng et al. 2011.

[32] Vgl. Cancer Therapy China.

[33] Döring 2008: 120.

[34] Tam 2011.

[35] Vgl. hierzu http://www.stemcellschina.com/.

[36] Vgl. Tam 2011.

[37] Vgl. Thorsteinsdóttir et al. 2010.

[38] Vgl. Tam 2011.

[39] Tam 2011.

[40] Vgl. Tam 2011.

[41] Döring 2007: 458.

[42] Vgl. Döring 2003: 233.

[43] Döring 2008: 115.

[44] Vgl. BIONET: 8.

[45] Vgl. Döring 2008: 116.

[46] Vgl. hierzu Punkt 9.2.

[47] Vgl. Döring 2005: 14.

[48] Döring 2005: 15.

[49] Döring 2007: 458.

[50] Vgl. hierzu Punkt 6.1.

[51] Vgl. Döring 2007: 456.

[52] Vgl. Döring 2008: 122.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2011
ISBN (PDF)
9783956845857
ISBN (Paperback)
9783956840852
Dateigröße
1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule Bremen
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,2
Schlagworte
Reproduktives Klonen Therapeutisches Klonen Induzierte pluripotente Stammzelle Bioethik In-vitro-Fertilisation

Autor

Nina Kunert, B.A., wurde 1989 in Salzwedel geboren. Ihr Studium der Wirtschaftssinologie an der Hochschule Bremen schloss die Autorin im Jahre 2011 mit dem akademischen Grad Bachelor of Arts erfolgreich ab. Fasziniert von chinesischer Kultur und Sprache, verbrachte die Autorin ein Auslandsjahr in der Millionenmetropole Shanghai, um die Besonderheiten des Landes kennenzulernen und ihre Sprachfertigkeiten zu verfeinern. Ihr Interesse für neue vielversprechende Forschungsbereiche wie beispielsweise die Biotechnologie motivierte sie, sich der Thematik des vorliegenden Buches zu widmen.
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Titel: Aktuelle Bestandsaufnahme und Diskussion zur Stammzellenforschung in der Volksrepublik China
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