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Antisemitismus und die Bildungspolitik der Weimarer Republik: Exklusion jüdischer Kinder und Schüler vor dem Hintergrund der reformpädagogischen Entwicklung

©2011 Bachelorarbeit 50 Seiten

Zusammenfassung

Am Phänomen des Antisemitismus ist in vielfältiger Weise wissenschaftlich gearbeitet worden. Auch in der Gegenwart ist diese Erscheinung immer noch verbreitet. Die Anfänge und Ausprägungen des Antisemitismus reichen bis weit vor Beginn der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland zurück. Mit der Frage, wie diese Erscheinung jedoch im spezifischen Zeitrahmen der Weimarer Republik unter Berücksichtigung der damaligen schulpolitischen Gegebenheiten schon zu einer Exklusion von jüdischen Kindern und Schülern führen konnte, beschäftigt sich das vorliegende Buch. Schließlich stand die erste demokratische Deutsche Republik unter dem Zeichen des Aufbruchs und neuen reformpädagogischen Ansätzen im Bildungsbereich. Als Vertreter solcher Ansätze beleuchtet der Autor die Bildungsansätze und Theorien dreier Reformpädagogen. Doch die Neuerungen reichten anscheinend nicht aus, um rechtsnationale Kräfte und radikale Rechte mit ihren antisemitischen Feinbildern aus den Klassenzimmern dieser Ära herauszuhalten. Im Fokus der Studie steht das Ziel herauszufinden, ob schon im Bereich der Primär- und Sekundärsozialisation gedanklich sowie reale Verbindungen von antisemitischen und rechtsnationalen Vorstellungen bestanden, die letztendlich schon im Schulsystem den Ausschluss jüdischer Kinder zur Folge hatten. Gleichzeitig wird in diesem Zusammenhang der Begriff des Antisemitismus einer näheren Definition unterworfen. Damit soll veranschaulicht werden, dass dieser verschiedene Ausprägungen ausweisen kann. Die im untersuchten Zeitrahmen vorherrschenden gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen werden im Kontext der Untersuchung eingebunden und weisen auf ein ambivalentes Verhältnis zwischen althergebrachten sowie angedachten Änderungen im Schulsystem hin. Das Buch versucht die engen Zusammenhänge zwischen der Hoffnung auf neue Strukturen zwischen 1918 und 1933 sowie den aufkeimenden und erstarkenden antisemitischen Ressentiments herzustellen. Die Erkenntnisse dieser Studie sollen einen Einblick geben, wie schon im Bildungsbereich des untersuchten Zeitraums nicht nur Schuldzuweisungen an die jüdischen Mitbürger, sondern schon reale Ausgrenzungsmechanismen stattfanden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1 Einleitung
Über den historischen Zeitabschnitt der Weimarer Republik als die erste demokratische und
parlamentarische Deutsche Republik, die dem Kaiserreich unter dem Geschlecht der Hohenzollern
nachfolgte, ist in der Vergangenheit einiges an wissenschaftlicher Literatur geschrieben worden.
Befasst man sich jedoch näher mit dieser Ära kommen dabei eine Vielzahl von interessanten
Thematiken zum Vorschein, die für eine weitergehende Bearbeitung geradezu prädestiniert erscheinen,
und die gleichfalls noch nicht in allen Einzelheiten erfasst sind. Bekannt war die Weimarer Republik
sowohl für politische Umwälzungen, Gewaltausbrüche, wirtschaftliche Krisen und Antisemitismus, als
in gegensätzlicher Form
auch für eine Aufbruchstimmung und eine aufstrebende Avantgarde. Heute,
auch nach fast achtzig Jahren der Vergangenheitsaufarbeitung, sind bei weitem
noch nicht alle
(Teil)Aspekte in die Weimar-Forschung eingeflossen. Um an dieser Stelle
das Stichwort des
Antisemitismus aufzugreifen: Dieser wurde und wird oft im allgemeinen gesellschaftlichen Rahmen
betrachtet. Aber - wie verhält es sich nun mit einem speziellen Teilgebiet
,
in dem gerade zu dieser Zeit
gleichwohl starke Veränderungen und neue Ideen zur Disposition standen, der Bildungspolitik?
Können auf diesem Gebiet gedankliche oder sogar tatsächliche Verbindungen von antisemitischem und
rechtsnationalem Gedankengut bis hin zu einer eventuellen Exklusion unerwünschter
Bevölkerungsgruppen gezogen werden? Hier tut sich meines Erachtens eine kleine Lücke im Bereich
der Weimar-Forschung auf, die eine nähergehende wissenschaftliche Betrachtung in diesem zeitlichen
Kontext sehr interessant erscheinen lässt. Mit diesem Buch wird ein Blick von Aussen auf die
bildungspolitischen Realitäten der Weimar-Ära angestrebt, im Kontext der
damaligen antisemitischen
Gegebenheiten. Für neue und demokratische Ansätze schien
die Zeit gekommen zu sein, doch
erstarkten alte Ressentiments gegenüber Andersdenkenden genauso wieder wie gegenüber den
jüdischen Mitbürgern. Wie weit drang der Antisemitismus bis in die Klassenzimmer dieser Zeit hinein,
welche Zusammenhänge zwischen dem Schulsystem und neuen Idealen werden sichtbar? Inwieweit
wurde dem Antisemitismus in den Schulen Vorschub geleistet, konnte oder sollte er trotz zahlreicher
innovativer Ideen nicht gestoppt werden? Diese Fragen stellen sich im Rahmen der Thematik, und
ihnen soll hier nachgegangen werden. Schließlich ist die Schule damals wie auch in der
Gegenwartsgesellschaft ein wichtiger Drehpunkt beziehungsweise eine Schnittstelle für die junge
nachwachsende Generation einer Gesellschaft. Hier wird der Sozialisationsprozess in einer weiteren
sehr
wichtigen Phase fortgesetzt. Angereichert durch Bildungsansätze die durch Pädagogen vermittelt
werden, die eigentlich dem Prinzip einer werturteilsfreien Weitergabe von Wissen verpflichtet sind.
Das nun Antisemitismus jedoch nicht gleich Antisemitismus bedeutet und durchaus verschiedene
Ausprägungen aufweisen kann, wird dabei an entsprechender Stelle verdeutlicht und in diesem
5

Kontext eingearbeitet.
Zuerst wird dem Leser ein kleiner Überblick über den Forschungsstand des hier
behandelten Themas gegeben und aufgezeigt, wie die Theoriebildung und empirische
n
Ergebnisse
entwickelt sind. Als nächstes folgt eine Betrachtung des Schulsystems, dass in der Weimarer Republik
vorzufinden war. Auf politischer Ebene wird dabei das damalige Reichsschulgesetz erwähnt und
ausgelegt werden. Die neuen Bildungsansätze, die ihren Ausdruck in der Reformpädagogik fanden und
durch verschiedene Akteure sowie unterschiedliche Denkansätze in die neue Republik hineingetragen
werden sollten, werden im darauf folgenden vierten Kapitel behandelt. Im Anschluss daran wird für
die Thematik des Antisemitismus ein Raum geschaffen. Dort, in Kapitel fünf, wird eine genauere
Definition von Antisemitismus vorgenommen. Das dieses eine Notwendigkeit ist, wird sich anhand der
Ausführungen sowie des hier behandelten Zeitfensters der Weimarer Republik darstellen. Denn hier
gilt, wie schon weiter oben angedeutet, dass Antisemitismus eben nicht gleich Antisemitismus ist.
Danach ist ein Übergang zum sechsten Kapitel gegeben, das mit einer Abgrenzung der Begriffe
National und Rechtsnational eingeleitet wird,
um anschließend in dem Kontext die
Exklusionsbestrebungen in den Schule zu beleuchten, die zu einer tatsächlichen Ausgrenzung der
Schüler geführt haben. Das abschließende siebte Kapitel ist der Schlussbetrachtung vorbehalten. Dort
wird ein Fazit gezogen, die Frage warum der Antisemitismus in der bildungspolitischen Ära der
Weimarer Republik ein steigendes, bis hin zu exklusionsbestrebendem Ausmaß annahm wird
beantwortet, sofern es eine abschließende Antwort überhaupt geben kann. Insgesamt soll der Weg
zur
Exklusion durch die verschiedenen und zusammenhängenden
Teilaspekte, die eine wichtige Rolle
einnehmen, aufgezeigt werden. Durch die Einbringung sozioökonomischer Aspekte in Relation mit
den vorherrschenden gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen wird gleichzeitig
versucht, einen interdisziplinären Ansatz in diese Studie zu transportieren.
2 Der Forschungsstand
Die forschungsgeschichtliche Betrachtung der Weimarer Ära von über siebzig Jahren hat viele
wissenschaftliche Fragestellungen hervorgebracht, je nach zeitlichem Abschnitt dominierte eine andere
Interessenrichtung. In den 1950er Jahren [...] ,,wirkt die bis zum Kriegsende außerhalb Deutschlands
weitergeführte linke Kritik an Weimar - wie z. B. durch Arthur Rosenberg - fort." Auf der anderen
1
Seite kommen nun, als Gegenpol, einzelne Betroffene aus der Weimarer Ära zu Wort. Mit deren [...]
,,zahlreichen Rechtfertigungsversuchen [...]" hat sich die Forschung dann auseinanderzusetzen. Laut
2
Gessner schliesst die deutsche Forschung bis Ende der 1950er Jahre zur internationalen Forschung auf.
Gessner, Dieter: Die Weimarer Republik. 3., durchgesehene Auflage, Darmstadt 2009, S. 3.
1
Ebd., S. 3.
2
6

Durch ein dann von Bracher etabliertes methodisches Instrumentarium ermöglicht dies eine
Beantwortung von strukturellen Fragen nach Weimar. So geht es, laut Gessner, weiter bis in die
3
1970er Jahre, wo in der Nachfolge von Brachers Untersuchung [...] ,,methodisch anspruchsvolle
Forschungsansätze [...]" mit wirtschaftsgeschichtlichen Fragen vorherrschen. Die folgenden 1980er
Jahre stehen im Fokus einer [...] ,,Rehabilitation der politikgeschichtlichen Forschung." In den 1990er
4
Jahren ist, wie Gessner konstatiert, der klassische [...] ,,Kanon der deutschen Geschichtswissenschaft"
5
erreicht. Verbunden ist dies [...] ,,mit einem rückläufigen Interesse an der Weimarer Republik [...]."
6
Der Reformpädagogik im Speziellen und alternativen Lehr- und Lernkonzepten in diesem
Zeitabschnitt ist in der Literatur durchaus ein breiter Rahmen gewidmet. Jedoch ist in der Weimar-
Forschung das Spezialthema der Bildungspolitik zusammen mit der schulpolitischen Entwicklung, in
Verbindung mit dem Phänomen des Antisemitismus bislang noch nicht allzu umfangreich abgehandelt
worden. Moshe Zimmermann, ein israelischer Historiker und Publizist, moniert, dass die Geschichte
der Juden in der Weimarer Republik nicht in allen Einzelheiten dargestellt ist. Diese Geschichte müsste
die gesamten Brüche sowie Zusammenhänge in den Beziehungen der damaligen jüdischen Minderheit
gegenüber der Gesamtgesellschaft verdeutlichen. Damit hat er sicher nicht ganz Unrecht.
So lassen
7
sich in diesem Forschungszweig mit der Thematik Antisemitismus und Juden zur Zeit zwischen 1918
und 1933 noch kleine offene Fragmente ausmachen, die geschlossen werden sollten. Damit ergeben
sich in diesem Zusammenspiel durchaus interessante Fragestellungen, die eine explizite Betrachtung in
bildungspolitischer Rahmung lohnenswert erscheinen lässt.
2.1 Die Theoriebildung
Die Theoriebildung ist bei dieser besonderen Thematik, wie schon aus den oben angeführten
Bemerkungen deutlich wird, nicht sonderlich ausgeprägt. Ursula Büttner führt in ihrem 2008
erschienenem Werk über ,,Die überforderte Republik 1918 - 1933" an: [...] ,,Umstritten ist nach wie
vor die Bedeutung des Antisemitismus für den Aufstieg der NSDAP. Dies verweist auf eine weitere
wichtige Aufgabe: Bis heute fehlt eine Gesamtgeschichte des Antisemitismus in der Weimarer
Republik, die sich nicht nur auf die aktenkundig gewordenen, von der Polizei oder den Gerichten
Vgl. ebd., S. 3. (Gessner führt hier die Untersuchung von Bracher, Karl Dietrich: Die Auflösung der Weimarer Republik.
3
Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Königstein i. T. 1978, an).
Ebd., S. 4. (Laut Gessner zeichnen die Untersuchungen von Hildebrand, Klaus/Hillgruber, Andreas/Möller, Horst/Schulz,
4
Gerhard ein nicht sehr kritisches, jedoch materialreiches Bild der Weimarer Ära ab).
Ebd., S. 4.
5
Ebd., S. 4.
6
Zimmermann, Moshe: Besprechung von Benz, Wolfgang/Paucker, Arnold/Pulzer, Peter (Hg.), Jüdisches Leben in der
7
Weimarer Republik. In: Historische Zeitschrift 271/2, 2000, S. 524 f.
7

verfolgten Delikte konzentriert, sondern die in der Gesellschaft verbreiteten offenen und latenten
antijüdischen Vorurteile und Ressentiments beleuchtet und ihre Tragweite für die verschiedenen
sozialen Gruppen ergründet." Vielleicht lässt sich hier anknüpfen und eine Theoriebildung entwickeln,
8
die eine bestimmte
soziale Gruppe der Akteure in den Fokus rückt, welche gleichwohl unter solchen
Ressentiments und Vorurteilen zu leiden hatte wie die der übrigen Gesellschaft - die jüdischen Schüler,
obwohl möglicherweise unter anderen Vorzeichen. Denn eine Besonderheit stellt sich schon an dieser
Stelle dar: Das Alter. In dem Gefüge des Sozialisationsprozesses befinden sich die Schüler in der Phase
der Sekundärsozialisation (Berger/Luckmann, 1994, S. 141), die diese Gruppe im Gegensatz zu
Erwachsenen in einen Status rücken lässt, der sie noch um Nuancen verwundbarer macht in ihren
Empfindungen, Gedanken und Ansichten. Die Spezifizierung wird daher im Bereich des
antisemitischen Einflusses in der Bildungspolitik und seinen Folgen im schulischen Alltag angesetzt.
Einwirkungen, die als Resultat eine Exklusion der genannten Gruppe aus ihrem bis dato gesicherten
schulischen und gesellschaftlichen Umfeld zur Folge haben. Eine Hypothesenbildung könnte daher
folgendermaßen skizziert werden:
Hyp. 1
Durch einen steigenden Antisemitismus in der Bildungspolitik der Weimarer Republik,
findet in der schulpolitischen Entwicklung eine Wandlung statt, die eine Exklusion von jüdischen
Schülern bedingt.
Hyp. 2
Der stetig wachsende Antisemitismus der Weimarer Ära weitet sich auf die Bildungspolitik
aus und schließt jüdische Schüler von der weiteren Teilhabe am schulischen Leben aus.
Hyp. 3
Die steigende antisemitische Tendenz, die auch vor der Bildungspolitik keinen Halt macht,
hat in der Weimarer Republik den Ausschluss von jüdischen Schülern aus den Schulen zur Folge.
2.2 Empirische Ergebnisse zur Thematik
Eine Vielzahl von Ergebnissen aus empirischen Erhebungen findet man zur hier behandelten
Fragestellung nicht vor. Interessant ist hier die Schriftenreihe Oldenburgische Beiträge zu Jüdischen
Studien. Ein Band dieser Reihe weist explizit Berichte von Zeitzeugen aus der Epoche der Weimarer
9
Büttner, Ursula: Weimar. Die überforderte Republik 1918-1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft
8
und Kultur, Stuttgart 2008, S. 16-17.
Diese wird hg. v. Sem. Jüdische Studien an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg/i.O.Der Beitrag zur dt. und
9
europäischen Kultur soll damit nicht nur im wiss. Kontext erörtert werden. Eine breitere Öffentlichkeit soll für diese The-
matik sensibilisiert werden. Die Publikation entstand i. R. des von der Fak. f. Human- u. Gesellschaftswiss. angebotenen
Mag. bzw. M.A.-Nebenfachs Interkulturelle Jüdische Studien.
8

Republik auf. Das Material des Bandes basiert auf autobiographischen Kindheits- und
10
Jugendberichten des zeitlichen Rahmens von 1918 bis 1933 in Deutschland. Einige der Zeitzeugen
sind in der Weimarer Republik im Alter von circa vierzehn bis siebzehn Jahren zur Schule gegangen,
und schildern anhand von autobiographischen Texten ihre Erlebnisse und Erfahrungen. Dieses Buch ist
daher selbstverständlich für diese Studie von Bedeutung und wird an späterer
Stelle entsprechende
Beachtung finden. Der Band ist eine Fortsetzung der nachfolgend beschriebenen Forschungsarbeit.
Drei Wissenschaftler aus Harvard (Gordon W. Allport/Sidney B. Fay/Edward Y. Hartshorne) initiierten
1939 eine Untersuchung
,
die ,,die gesellschaftlichen und seelischen Auswirkungen des
Nationalsozialismus auf die deutsche Gesellschaft und das deutsche Volk" zur Thematik hatte. Die
11
Probanden wurden mittels Zeitungsanzeigen und Flugblätter gesucht, ein Preisausschreiben für die
besten unveröffentlichten Autobiographien wurde gleichzeitig ausgelobt. Etwa zweihundertsechzig
Texte von EmigrantInnen aus den USA (überwiegend) sowie von solchen aus Australien, England,
Frankreich, Palästina, der Schweiz, Shanghai und Südamerika wurden eingereicht. Die biographischen
Manuskripte der Emigranten wurden dabei zu Textausschnitten mit Zitaten zusammengefasst, um das
jüdische Leben der Kinder und Jugendlichen in der zeitlich benannten Rahmung widerzuspiegeln. So
wie die Verfasser es deuten, [...] ,,gibt es nur wenige elaborierte zeitgenössische narrative Berichte, die
die Lebensverhältnisse vor Beginn des Nationalsozialismus in Deutschland und Österreich
charakterisieren." Der Aussage schließe ich mich an dieser Stelle an, da ich, zumindest im Rahmen
12
meiner eigenen Studie, auf der Suche nach ähnlich differenziertem Material nicht fündig geworden
bin. Und ein weiterer wichtiger Punkt stellt sich da: [...] ,,Im heute sich vollziehenden Übergang von
der Zeitzeugenkultur zur Erinnerungskultur besitzen diese Dokumente einen besonderen Wert" ,
13
argumentieren die Autoren, einer Aussage der ich ebenso beipflichte. Denn viele Zeitzeugen sind
mittlerweile verstorben, die Kultur des Erinnerns wird tatsächlich immer wichtiger für nachfolgende
jüngere Generationen. Da sind solche Dokumente für die empirische Forschung von immenser
Bedeutung. Die biographischen Texte stammen überwiegend von EmigrantInnen mit akademischen
Das ist: Bartmann, Sylke/Blömer, Ursula/Garz, Detlef (Hg.): Wir waren die Staatsjugend, aber der Staat war schwach.
10
Oldenburgische Beiträge zu Jüdischen Studien. Schriftenreihe des Seminars Jüdische Studien in Fakultät IV der Carl von
Ossietzky Universität Oldenburg, Bd. 14, Oldenburg (Oldbg.) 2003.
Blömer, Ursula/Garz, Detlef (Hg.): ,,Wir Kinder hatten ein herrliches Leben ..." Jüdische Kindheit und Jugend im
11
Kaiserreich 1871 - 1918. Oldenburgische Beiträge zu Jüdischen Studien. Schriftenreihe des Seminars Jüdische Studien
im Fachbereich 3 der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Bd. 5, Oldenburg (Oldbg.) 2000, S. 19 f.
Bartmann, Sylke/Blömer, Ursula/Garz, Detlef (Hg.): Wir waren die Staatsjugend, aber der Staat war schwach. Oldenbur-
12
gische Beiträge zu Jüdischen Studien. Schriftenreihe des Seminars Jüdische Studien in Fakultät IV der Carl von
Ossietzky Universität Oldenburg, Bd. 14, Oldenburg (Oldbg.) 2003, S. 22.
Ebd. S. 22.
13
9

Hintergrund, [...] ,,zu deren Selbstverständnis der Umgang mit Geschriebenem gehört [...]." Bei einer
14
weiteren Differenzierung der Verfasser der Harvard-Studie ergab sich das der größte Teil der
Zeitzeugen, die diese biographischen Texte eingesandt haben, Professionelle aus Fachgebieten wie
Jura, Medizin, Theologie sowie Journalisten, Künstler und Lehrer darstellen. Dies mag vielleicht
15
wirklich, so wie es auch die Autoren sehen, dem Umstand geschuldet sein, das die Initiatoren der
damaligen Untersuchung für die Länge des eingesandten Manuskripts die Vorgabe von
zwanzigtausend Wörter (dies entspricht circa achtzig DIN A 4 Seiten, Anm. des Autors) gefordert
haben, was als Umfang für diese Gruppe wahrscheinlich kein Problem darstellt.
Eine andere Studie die hier erwähnenswert ist, ist die Dissertationsschrift von Rita Meyhöfer.
16
Meyhöfer hat ihren Schwerpunkt auf jüdische Schulen und das jüdische Schulwesen im weit
gesteckten Zeitrahmen von 1918 - 1945 gelegt und analysiert am Beispiel Berlins, wie sich der
Schulalltag der jüdischen SchülerInnen in dieser Zeitspanne veränderte, und inwieweit diese in die
Gesellschaft integriert waren. Die Arbeit konnte auf einer breiten Quellenbasis aufgebaut werden, da
sie [...] ,,in engem Zusammenhang mit den Vorarbeiten für ein Gedenkbuch Berlins der jüdischen
Opfer des Nationalsozialismus [...]" entstanden ist. So konnte dort von einer Kartei mit Angaben über
17
fast achttausend SchülerInnen profitiert werden, die von der Reichsvereinigung der Juden angelegt
18
wurde. Interessant ist meines Erachtens die Sichtweise der Autorin, dass nicht nur eine explizite
Beschränkung auf die Zeit des Nationalsozialismus die Entstehung der Differenzen von nichtjüdischen
Deutschen und Juden erklären kann [...] ,,da die Bedingungen unter einer Diktatur erheblich andere
waren als in der Demokratie der Weimarer Republik [...]." Eine Frage die Meyhöfer im
19
Zusammenhang mit dem Antisemitismus und seinen Auswirkungen einwirft, betrifft die nach einer
Differenzierung: [...] ,,Ist dieser Unterschied zwischen einem gemäßigten und einem radikalen
Antisemitismus hilfreich?" In der Tat ist solch eine Differenzierung nicht nur hilfreich, sondern
20
Ebd. S. 22.
14
Vgl. ebd., S. 22.
15
Meyhöfer, Rita: Gäste in Berlin? Jüdisches Schülerleben in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Ham-
16
burg 1996. Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1995.
Ebd., S. 26.
17
Reichsvereinigung der Juden, auch Reichsvertretung der Juden in Deutschland Zusammenfassung aller jüdischen
18
Verbände und Gemeinden (heute wohl als Dachverband bezeichnet), ,,die 1933 gegr., seit 1935 so genannte ´Reichsver-
tretung der dt. Juden`. Im Sinne der nationalsozialist. Politik wurde die R. d. J. i. D. 1939 in den Zwangsverband
´Reichs vereinigung der Juden in Dtl.` umgewandelt. (Brockhaus Enzyklopädie, 17. völlig neubearb. Aufl., Bd. 15,
Wiesbaden 1972, S. 592.)
Meyhöfer, Rita: Gäste in Berlin? Jüdisches Schülerleben in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Ham-
19
burg 1996. Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1995, S. 11.
Ebd., S. 19.
20
10

darüber hinaus (auch wissenschaftlich) notwendig. Denn - ohne den Antisemitismus insgesamt in
seiner Form und den Ausprägungen abzuschwächen, er muss mit seinen jeweils unterschiedlichen
Formen im Kontext mit den historischen Gegebenheiten gesehen werden, wie an einer späteren Stelle
dieser Studie noch sichtbar wird.
3 Das Schulsystem in der Weimarer Republik
In der Weimarer Phase finden nicht nur im gesamten gesellschaftlichen und ökonomischen Umfeld
eine Vielzahl von Umwälzungen statt, das Schulsystem ist hiervon ebenfalls ausdrücklich betroffen.
Die Kinder und Jugendlichen dieser Zeit befanden sich teils in einem ambivalenten Verhältnis.
Einerseits wurden dieser Generation nun, im Vergleich zur Kaiserzeit, größere
Entfaltungsmöglichkeiten und Freiräume dargeboten (beispielsweise Freizeitangebote wie Kino, das
Medium Radio oder sportliche Betätigung in Vereinen und der Jugendbewegung), auf der anderen
Seite erhoben sich Probleme wie eine drohende Jugendarbeitslosigkeit. Nach Beendigung der
Schulzeit wurde die Chance, im Anschluss einen Ausbildungs- oder gar Studienplatz zu erhalten,
immer geringer. Die demographische Entwicklung ist dabei als eine Ursache zu nennen. So hatten
nach Ende des Ersten Weltkrieges die heimkehrenden Soldaten gegenüber den dann aus den Schulen
kommenden Jugendlichen noch einen Vorrang, Arbeitsstellen oder Ausbildungsplätze zu besetzen. Hier
waren nun einige Neuerungen im schulischen Bereich für die Kinder und Jugendlichen eine
wesentliche und hoffnungsvolle Angelegenheit. Es wurde, für Kinder im Alter von sechs bis zehn
Jahren, die Volksschule zur Pflichtschule. Die bis dahin bestehenden privaten Vorschulen wurden stetig
aufgelöst. Diese waren ein Relikt aus der Kaiserzeit und sollten Kinder aus den so genannten "besseren
Kreisen" auf den Besuch einer höheren Schule vorbereiten. Ins Spiel kommt hierbei auch das
Reichsschulgesetz. Dieses wurde tatsächlich nie erlassen, die bis dahin existenten
konfessionsgebundenen Schulen sollten jedoch bis zu dem Erlass des Gesetzes weiterbestehen. Zum
Reichsschulgesetz erfolgt an späterer Stelle noch eine Ausführung. Jedoch - Unterschiede bestanden
trotz dieser Modernisierungsversuche weiterhin für die SchülerInnen, besonders deutlich trat dies
zwischen der Land- und Stadtbevölkerung zutage. Im Jahre 1921 besuchten rund einundvierzig
Prozent der SchülerInnen die Dorfschulen, diese hatten oft nur eine oder zwei Klassen für alle
SchülerInnen zur Verfügung. Volksschulen mit sieben oder acht Klassenstufen waren fast nur im
städtischen Raum anzutreffen. Ein Vergleich: Im Jahre 1921 wie auch 1931 wurden diese voll
ausgebauten Schulen von weniger als die Hälfte der Volksschüler besucht. Im Schulsystem waren aber
auch Ansätze vertreten, durch die auch gerade sozial benachteiligte Kinder eine größere
Bildungschance erhalten sollten: Erziehungsbeihilfen wurden gewährt, eine Lehrmittelfreiheit ist
11

eingeführt worden, das Schulgeld fiel weg, es sind Aufbauklassen für VolksschülerInnen eingerichtet
worden, die bis zur mittleren Reife weiterführten. Die Lehrerausbildung wurde verbessert und die
Reformpädagogik erhielt einen wachsenden Aufschwung. Dieser Teilbereich der Pädagogik wird im
vierten Kapitel einer weiteren Betrachtung unterzogen.
Doch auch in anderer Hinsicht zeigte sich ein ambivalentes Muster. Die neue Republik war einerseits
geprägt von einer Aufbruchstimmung, die den Befürwortern von einer neuen Bildungspolitik zugute
kam, andererseits mit alten Strukturen durchzogen und behaftet, die gerade das konservative Lager
nicht so schnell aufgeben wollte - dies zeigte ihre [...] ,,Differenz von Versprechen und Wirklichkeit,
[...] deshalb auch in der Erziehungs- und Bildungspolitik." Die vierjährige Grundschule für alle
21
Kinder war zwar nun eine eingeführte Gemeinsamkeit; dass es aber mit einer demokratischen Bildung
für die gesamte Nation sowie Erziehungsansätzen der republikfreundlich gesinnten Bürger weiter
gehen sollte
;
war letztendlich ein Wunschtraum.
22
Die Weimarer Verfassung ermöglichte nun das Eine: einen Kompromiss - und keine gesamte Öffnung
für eine [...] ,,radikale Erneuerung des Bildungswesens" [...]. Mit solch einer Option haben gerade
23
Vertreter von demokratisch und liberal eingestellten Lehrern des Deutschen Lehrervereins und die
linken Parteien gerechnet. Doch ihre Hoffnungen sind schon bei der Reichsschulkonferenz von 1920
enttäuscht worden. Im Schulkompromiss wurde gemäß Artikel 146 der Weimarer Verfassung die
Möglichkeit eingeräumt, konfessionsgebundene Schulen weiterhin bestehen zu lassen. Artikel 149 der
Verfassung gestattete es, dass Religionsunterricht als ordentliches Schulfach erhalten blieb. Somit
wurde schon an dieser Stelle deutlich, bildungspolitische Angelegenheiten werden wohl auch in
Zukunft nicht einheitlich und für alle (Länder) gleichermaßen bindend geregelt. Ob so mit den
althergebrachten Privilegien und Strukturen aus dem Kaiserreich (und dem Zeitraum davor) gebrochen
werden kann, ist natürlich fraglich. Der damalige preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker
(1925-1930) wollte eine [...] ,,Synthese des fachspezifisch zersplitterten Wissens" [...] erreichen.
24
Gleichzeitig war er engagiert, Reformen auf dem Gebiet der Hochschulen voranzutreiben, dazu noch
mehr an späterer Stelle. Jedoch zeigten sich hier ebenfalls schon Widerstände aus Richtung
antidemokratischer, national gesinnter Reformgegner, die einem tradierten Machtgefüge
(Langewiesche/Tenorth, 1989, S. 14) zugerechnet werden konnten. Im folgenden Ablauf wird auf neue
Langewiesche, Dieter/Tenorth, Heinz-Elmar (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band V. 1918-1945.
21
Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur, München 1989, S. 14.
Vgl. ebd., S. 14.
22
Ebd., S. 13.
23
Ebd., S. 14.
24
12

Ideen im schulpolitischen Umfeld hingeführt und die Schwierigkeit einer Umsetzung im
Zusammenspiel mit der Reichsschulpolitik und der Gesetzgebung beleuchtet.
3.1 Wilhelm von Humboldt und seine Ideen
Wilhelm von Humboldt wird zusammen mit seinem Bruder Alexander oft in einem Atemzug genannt,
wenn es um die Aufzählung bedeutender Entdecker oder Forscher geht. Mit Wilhelm von Humboldt
25
verbinden sich bis heute die oftmals zitierten humanistischen Ideale, die in vielen Schulen, ob staatlich
oder privat organisiert, in Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen als Vorbildfunktion
dienen. Er ging als Bildungsreformer in die Geschichte ein; hinter der Begrifflichkeit seiner
humanistischen Ideale verbirgt sich eine Reihe von liberalen, staatstheoretischen Vorstellungen die er
im Gegensatz zu den damaligen konservativ-monarchisch vorherrschenden Gedanken in Preußen
entwickelte. Diese Ideale waren für die Reformer in der Weimarer Republik ein Ansatz, der nun an
dieser Stelle fortgesetzt werden soll. Für reformorientierte Pädagogen lohnt es sich im Rahmen der nun
eintretenden Veränderungen, Humboldts Maßnahmen mit in den Fokus ihrer Wünsche und Ideen zu
rücken, die humanistischen Ansätze quasi weiterleben zu lassen und ihnen neues Leben einzuhauchen.
Das die Ideen von Humboldt selbst für Bildungsreformer mit unterschiedlichen Auffassungen aus
verschiedenen Fachrichtungen von Interesse waren, wird an späterer Stelle im vierten Kapitel
verdeutlicht. Eine Anmerkung sei hier an dieser Stelle eingefügt zu der machmal immer wieder
auftauchenden Meinung, Humboldt sei ein Antisemit gewesen. Hier muss eine differenzierte
Betrachtung erfolgen, eine die generell im Kontext bei der Thematik des Antisemitismus geschehen
sollte und die in dieser Studie zu einem späteren Zeitpunkt (in Kapitel sieben), vollzogen wird. [...]
,,Humboldt war kein Philosemit, es ging ihm nicht darum, aus Liebe zu den Juden Gutes zu tun. Der
Satz, er liebe die Juden en masse und nicht en detail, mit dem seine Kritiker antijüdische
Ressentiments belegen, ist unzweifelhaft darauf gemünzt, daß er eine allgemeine Lösung und nicht
irgendwelche Vorteile für einzelne wollte. Es sollten aus einer durch Sondergesetze diskriminierten
Gruppe, die von der übrigen Gesellschaft getrennt wurde, Staatsbürger mit gleichen Rechten
werden." Es ist daher wichtig, wie man später noch sehen wird
,
historische Trennlinien zu ziehen und
26
Sichtweisen korrekt abzugrenzen. Einen guten Bogen in die Gegenwartsgesellschaft schlägt
Rosenstrauch meiner Meinung nach mit der Erläuterung: ,,Die Vorwürfe gegen Humboldt, sei es
Wilhelm v. Humboldt wurde am 22. Juni 1767 in Potsdam geboren, er starb am 08. April 1835 in Tegel (heute Berlin).
25
Während sich sein Bruder Alexander mehr den naturwissenschaftlichen Zusammenhängen widmete, wandte sich Wil-
helm v. Humboldt den kulturellen und bildungsreformerischen Teilen der Wissenschaft zu.
Rosenstrauch, Hazel: Wahlverwandt und ebenbürtig. Caroline und Wilhelm von Humboldt, Frankfurt am Main 2009, S.
26
244.
13

Judenfeindschaft oder Rassismus, stammen aus einer anderen Welt, einer Denkweise, die von den
Erfahrungen des Holocaust geprägt wurde. Eine Verteidigung vor den Wohlgesinnten des 21.
Jahrhunderts hat Humboldt nicht nötig." Ein Satz der dazu anregt, vorschnelle pauschale und
27
verallgemeinernde Aussagen zu überdenken.
3.2 Im Kontext der humanistischen Ideale
Humboldt und seine von ihm entwickelten bildungstheoretischen Vorstellungen passten, als er 1808
die Leitung der "Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts" in Berlin übernehmen sollte, nun
genau in das Bild der geplanten Neuerungen, die im Rahmen preußischer Reformen vorgenommen
werden sollten. Er schätzte die Bildung für den Menschen sehr hoch ein
,
in Verbindung mit einem
menschenwürdigen Dasein: ,,Was verlangt man von einer Nation, einem Zeitalter, von dem ganzen
Menschengeschlecht, wenn man ihm seine Achtung und seine Bewunderung schenken soll? Man
verlangt, dass Bildung, Weisheit und Tugend so mächtig und allgemein verbreitet, als möglich, unter
ihm herrschen, dass es seinen inneren Wert so hoch steigern, dass der Begriff der Menschheit, wenn
man ihn von ihm, als dem einzigen Beispiel, abziehen müsste, einen großen und würdigen Gehalt
gewönne." Er wurde schließlich, obwohl er das Amt zuerst ablehnte, da er wohl befürchtete ihm
28
bliebe hier nicht genügend Freiraum zur Umsetzung seiner eigenen Ideen, [...] ,,am 10. Februar 1809
zum Geheimen Staatsrat und Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht im Ministerium des
Innern ernannt." Im gleichen Jahr legte von Humboldt Entwürfe für eine Neuordnung des
29
Schulwesens vor. Diese wandten sich gegen eine reine, bis dahin vorherrschende Standesbildung; es
sollte nun eine allgemeine Menschenbildung eingeführt werden. Sein Ziel war die Einführung eines
dreistufigen Schulsystems, bestehend aus Elementarschule, Gymnasium und der Universität. Bei der
(dreijährigen) Elementarschule wollte er Methoden von Pestalozzi integrieren. Das Gymnasium war
30
für Humboldt eine Institution, die auf ein Studium vorbereiten sollte. Im Sinne des neuen Humanismus
plädierte er deshalb auf eine Hegemonie der alten Sprachen zur Schulung des Geistes. Im Jahre 1810
führte er das "Examen pro facultate docendi", den Vorläufer des Staatsexamens ein. Damit war der
Beruf des Gymnasiallehrers erfunden, der durch ein Studium der klassischen Philologie erreicht
werden konnte. Diese im Kontext der Weimarer Republik vor über einhundert Jahren entstandenen
Ebd., S. 245.
27
Humboldt, Wilhelm von: Theorie der Bildung des Menschen. In: Flitner, Andreas/Giel, Klaus (Hg.): Wilhelm von Hum-
28
boldt, Werke in fünf Bänden, Bd. I, Darmstadt 2002, S. 236.
Geier, Manfred: Die Brüder Humboldt. Eine Biographie, Reinbek bei Hamburg 2009, S. 261 f.
29
Pestalozzi war ein Schweizer Pädagoge, der sich einen Namen als Schulreformer gemacht hat und als Vorreiter der schon
30
Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Reformpädagogik galt.
14

Ideale und Vorstellungen sollen nun ihren Durchbruch und ihre Fortsetzung im Rahmen von
tiefgreifenden Schulreformen finden, die, so sind sich viele sicher, nach dem Ersten Weltkrieg endlich
zu einer veränderten Struktur und (Weiter)Entwicklung des Schulwesens beitragen werden.
Gleichzeitig scheinen nun diese humanistischen Ideale prädestiniert zu sein, um eine hohe
Eigenverantwortlichkeit und im wahrsten Sinne des Wortes ein humanes Miteinander in die
Gesellschaft sowie in die Klassenzimmer zu transportieren. Das dieses Ideal leider nicht beibehalten
wurde sondern in ein inhumanes, antisemitisches Verhalten gipfelte, welches die jüdischen Schüler
benachteiligte und aus der Gesellschaft ausschloss, wird im weiteren Verlauf der Studie sichtbar
werden.
3.3 Die Reichsschulpolitik und das Reichsschulgesetz
Für die schulpolitischen Entscheidungen der Zukunft waren die Vorgänge der Revolution im Jahre
1918/1919 von großer Bedeutung. Nach Kriegsende ist in der Gesellschaft ein Bedürfnis nach einer
neuen, einheitlichen Schulgesetzgebung geweckt worden. Demokratische Strukturen sollten auch im
Schulwesen Eingang finden, die alten bürgerlichen Schulen zu moderneren Lehrinstitutionen
umgebaut werden. Doch vorerst werden dazu keine Reformen auf schulpolitischer Ebene durchgesetzt.
Dies sollte nach Willen der Sozialdemokraten, die hier die Mehrheit stellen, [...] ,,von der
Verfassungsgebenden Nationalversammlung entschieden werden." Vorschläge für die zukünftige
31
Schulpolitik im demokratischen Reich sollen von schulpädagogischen Experten eingeholt werden.
Doch es zeichnet sich in diesen Anfängen einer fortschrittsorientierten Schulpolitik schon eines ab: Ob
einheitliche, für die gesamte neue Republik gültige schulpolitische Strukturen und Reformen so
schnell durchgesetzt werden können ist fraglich. Die Schulpolitik wird in vielen Ländern der Republik
als eigenes Aufgabengebiet der dortigen "Revolutionsregierungen" angesehen. Zum Beispiel Preußen:
Die Regierung verkündet in einem "Aufruf an das preußische Volk" am 12. November 1918
Schulreformen von weitreichendem Ausmaß. So soll ein Ausbau aller Bildungsinstitutionen erfolgen,
insbesondere die Volksschule steht dabei im Fokus. Die Einheitsschule soll eingeführt werden, die
Schule von jeglicher kirchlicher Bevormundung befreit werden, bei einer gleichzeitigen Trennung von
Kirche und Staat. Jedoch muss berücksichtigt werden: Da die einzelnen Länder jeweils ihre eigenen
32
Vorstellungen von Reformen beziehungsweise Fortbestand alter Strukturen haben, [...] ,,sind auch alle
Pläne zu einem reichseinheitlichen Schulwesen und einer Reichsschulbehörde mit bedeutsamen
Langewiesche, Dieter/Tenorth, Heinz-Elmar (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band V. 1918-1945.
31
Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur, München 1989, S. 162.
Vgl. Wittwer, Wolfgang W.: Die sozialdemokratische Schulpolitik in der Weimarer Republik. Ein Beitrag zur politischen
32
Schulgeschichte im Reich und in Preußen, Berlin 1980, S. 78.
15

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2011
ISBN (PDF)
9783958207295
ISBN (Paperback)
9783958202290
Dateigröße
4.1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Hamburg
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2,3
Schlagworte
Bildungssystem Nationalismus Rechtsextremismus Reformpädagogik 1918 1933

Autor

Reiner Stöver, M.A., studierte in Hamburg Soziologie, Ökonomie und Recht, mit Schwerpunkt in der Bildungs- und politischen Soziologie sowie der Soziologie sozialer Probleme. Weitere Forschungsinteressen entstanden darüber hinaus auf den Gebieten Antisemitismus, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Rechtsextremistisches Gedankengut. Während des Studiums konnte er sich dieser Thematik in differenzierter wissenschaftlicher Form widmen, sodass sich das Interesse daran weiter entwickelte. In der vorliegenden Studie stellt der Autor eine Verbindung von antisemitischen Ausprägungen mit der spezifischen Bildungssituation in der ersten parlamentarischen Deutschen Republik her. Als freiberuflicher Texter agiert er als Ansprechpartner für die Gestaltung konzeptioneller Texte in unterschiedlichen Sparten. Zusätzlich entwickelt er im Bereich neuer Lehr-/Lernformate Konzepte für E-Learning sowie Blended-Learning-Systeme und führt als Lehrbeauftragter entsprechende medientechnische Schulungen durch.
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Titel: Antisemitismus und die Bildungspolitik der Weimarer Republik: Exklusion jüdischer Kinder und Schüler vor dem Hintergrund der reformpädagogischen Entwicklung
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