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Demenz bei türkischen Migranten: Darstellung einer Erkrankung, für die man sich nicht schämen muss

©2010 Diplomarbeit 43 Seiten

Zusammenfassung

Im Rahmen dieses Buches soll die Lebenssituation von in der Bundesrepublik Deutschland lebenden dementiell erkrankten Migranten türkischer Herkunft untersucht werden. Zunächst erfolgt eine Einschätzung der Epidemiologie dementieller Erkrankungen von Migranten aller ethnischen Herkünfte in Deutschland. Außerdem wird an dieser Stelle ein historischer Abriss über die politischen Beweggründe für eine Immigration nach Deutschland nach dem Ende des zweiten Weltkrieges vorgetragen. Im nächsten Abschnitt sollen dann die verschiedenen Subtypen der Demenz erörtert werden. Es werden außerdem charakteristische Symptome der Demenz, der Verlauf, die Prävalenz, die Ätiologie, medizinische und psychologische Behandlungsformen, die Pflege durch Angehörige sowie die Hospitalisierung der Erkrankten vorgestellt. Daraufhin wird ganz gezielt auf die Lage der demenzkranken Migranten und ihrer pflegenden Angehörigen eingegangen. Unter dem Oberbegriff „Sozialstruktur der älteren Migranten“ wird die Lebenssituation der älteren Migranten anhand von drei Kriterien mit der Lebenssituation älterer Deutscher verglichen: Ökonomie, Wohnsituation und Gesundheit. Des Weiteren werden Versorgungs- und Beratungsstrukturen vorgestellt. Daraufhin folgt ein eigener Entwurf eines Konzeptes zur stationären Pflege türkischer Migranten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Zur Epidemiologie dementieller Erkrankungen von Migranten in der Bundesrepublik Deutschland

3. Demenz und ihre Subtypen
3.1 Gedächtnisschwäche
3.2 Weitere Symptome
3.3 Verlauf
3.4 Prävalenz
3.5 Kategorien von Demenz und ihre Ätiologie
3.6 Weitere Ursachen für Demenzen
3.7 Physiologische Behandlungen von Demenzen
3.8 Psychologische Behandlungen von Demenzen
3.9 Realitätsorientierungstraining
3.10 Pflegende Angehörige
3.11 Hospitalisierung der Patienten

4. Zur Lage der demenzkranken Migranten und deren pflegenden Angehörigen in der Bundesrepublik Deutschland
4.1 Sozialstruktur der älteren Migranten
4.2 Versorgungsstrukturen für Demenzkranke und deren Angehörige
4.3 Institutionalisierte Beratungsstruktur
4.4. Ambulante Versorgung von demenzkranken älteren Menschen
4.5 Stationäre Versorgung von demenzkranken älteren Menschen
4.6 Eigener Entwurf eines Konzeptes zur stationären Pflege dementieller türkischer Migranten mit dem fiktiven Namen „Günesin Dogusu“ (türk. für Aufgehende Sonne)
4.6.1 Ziele
4.6.2 Wohnräume der Bewohner und Bewohnerinnen
4.6.3 Spezielle Bedürfnisse an Demenz erkrankter Bewohner und Bewohnerinnen türkischer Herkunft
4.6.4 Personal
4.6.5 Erstgespräch
4.6.6 Verpflegung

5. Interview mit dem Sozialarbeiter Melih Ahmet

6. Schluß

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Im Rahmen dieser Diplomarbeit soll die Lebenssituation von in der Bundesrepublik Deutsch-land lebenden dementiell erkrankten Migranten türkischer Herkunft untersucht werden.

Zunächst soll eine Einschätzung der Epidemiologie dementieller Erkrankungen von Migran-ten aller ethnischen Herkünfte in Deutschland gegeben werden. Außerdem soll an dieser Stelle ein historischer Abriß über die politischen Beweggründe für eine Immigration nach Deutschland nach dem Ende des zweiten Weltkrieges vorgetragen werden.

Im nächsten Abschnitt sollen dann die verschiedenen Subtypen der Demenz erörtert werden. Es werden außerdem charakteristische Symptome der Demenz, der Verlauf, die Prävalenz, die Ätiologie, medizinische und psychologische Behandlungsformen, die Pflege durch Angehörige sowie die Hospitalisierung der Erkrankten vorgestellt.

Daraufhin soll ganz gezielt auf die Lage der demenzkranken Migranten und ihrer pflegenden Angehörigen eingegangen werden. Unter dem Oberbegriff „Sozialstruktur der älteren Migran-ten“ soll die Lebenssituation der älteren Migranten anhand von drei Kriterien mit der Lebens-situation älterer Deutscher verglichen werden: Ökonomie, Wohnsituation und Gesundheit. Des weiteren werden Versorgungs- und Beratungsstrukturen vorgestellt.

Daraufhin folgt ein eigener Entwurf eines Konzeptes zur stationären Pflege türkischer Migranten.

Abschließend wird ein von mir geführtes Interview mit dem türkischen Sozialarbeiter Melih Ahmet (Name geändert) präsentiert, dessen Vater an einer dementiellen Störung erkrankt ist.

2. Zur Epidemiologie dementieller Erkrankungen von Migranten in der Bundesrepublik Deutschland

Dementielle Erkrankungen gehören zu den gravierendsten Beeinträchtigungen im Leben älterer Menschen. Da der Anteil älterer Menschen in Relation zur Gesamtbevölkerung wächst, wächst auch die Anzahl derer, die an einer dementiellen Störung erkranken. Eine Be-völkerungsgruppe, der in Europa bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, ist die der älteren Migranten. Da die Migranten, die in EU-Staaten leben, verschiedene soziokulturelle Hintergründe aufweisen und aus verschiedenen Gründen und zu unterschiedlichen Zeiten emigrierten, handelt es sich hier um eine heterogene Gruppe, die jedoch in einem Punkt Homogenität aufweist: Sie alle altern. Des weiteren bleiben die meisten von ihnen in dem Land, in das sie ausgewandert sind, auch wenn sie ursprünglich vorgehabt hatten, im Alter in ihr Heimatland zurückzukehren. So werden zum Beispiel in den nächsten Jahrzehnten in Deutschland die älteren Migranten wahrscheinlich die am schnellsten wachsende Be-völkerungsgruppe darstellen. Da hohes Alter der wichtigste Risikofaktor für neuro-degenerative Erkrankungen ist, wird auch die Häufigkeit dementieller Erkrankungen unter älteren Migranten in Europa ansteigen. Daraus resultiert eine neue Herausforderung an das bestehende Gesundheitssystem bezüglich Diagnose und Langzeitbehandlungen dementiell Erkrankter.

Für die Immigration in Länder der Europäischen Union gibt es verschiedene historische Gründe: viele Migranten kamen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aus den ehemaligen Kolonien von Ländern wie Frankreich, Holland oder Großbritannien nach Europa oder wurden in den 1950-er und 1960-er Jahren von Ländern wie Österreich, Deutschland oder Schweden angeworben, weil in diesen Ländern nicht genügend Arbeitskräfte verfügbar waren. Eigentlich war vorgesehen, daß diese Gastarbeiter nur für einen begrenzten Zeitraum bleiben sollten, die meisten entscheiden sich jedoch, sich langfristig in der neuen Heimat niederzulassen. Und obwohl die meisten westeuropäischen Länder in den 1970-er Jahren aufhörten, Gastarbeiter zu rekrutieren und offiziell einen Immigrationsstillstand beschlossen, konnten noch viele Gastarbeiter ihre Familienmitglieder aus ihren Heimatländern zu sich nach Westeuropa holen; z.B. türkische Gastarbeiter in Westdeutschland, die ursprünglich nur gekommen waren, um dabei zu helfen, Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufzubauen, dann aber in Deutschland geblieben sind und ihre Ehefrauen, Kinder und Eltern nachgeholt haben.

Wie wichtig es ist, das deutsche Gesundheitssystem den neuen Anforderungen anzupassen, erkennt man, wenn man sich in Zahlen vergegenwärtigt wie viele ältere Migranten mittlerweile in der Bundesrepublik Deutschland leben: Von den rund 81,5 Millionen Einwohnern Deutschlands haben mehr als 10 Millionen Menschen einen Migrations-hintergrund, was einen prozentualen Anteil von ca. 12,5 % ausmacht. Hierbei handelt es sich um ca. sieben Millionen Menschen, die selbst als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen oder deren Eltern als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen sind und um ca. drei Millionen Aussiedler, die nach dem Mauerfall 1989 aus der ehemaligen Sowjetunion zurück nach Deutschland gekommen sind. Insgesamt betrachtet gibt es in Deutschland ca. 12,5 Millionen Menschen, die 65 Jahre und älter sind, wovon wiederum knapp zwei Prozent Menschen mit Migrationshintergrund sind, was bedeutet, daß es in Deutschland gegenwärtig ca. 250.000 ältere Migranten gibt, die durch ihr Alter den wichtigsten Risikofaktor für die Entwicklung einer neurodegenerativen Erkrankung erfüllen (Quelle: Eurostat, national statistics offices).

Laut der Deutschen Alzheimer Gesellschaft lebten im Jahr 1997 800.000 an Demenz erkrankte Menschen in der Bundesrepublik Deutschland (leichte Stadien nicht einbezogen), von denen nach einer Studie von Cooper, B.und Brickel, H. („Prävalenz und Inzidenz von Demenzerkrankungen in der Altenbevölkerung. Ergebnisse einer populationsbezogenen Längsschnittstudie, Nervenarzt, 1989) der weitaus größte Teil dieser Menschen zwischen 90 und 94 Jahren alt war (66,7 %), gefolgt von der Gruppe der 85-89jährigen (18,1 %) und der Gruppe der 80-84jährigen (9,2 %).

(„Demenzerkrankungen bei Migranten in der EU“, A. Huismann, U. Raven, A. Geiger (Hrsg.), 2000, Verlag Hans Jacobs)

In der deutschen Studie zur „Lage der demenzkranken Migranten und deren pflegenden Angehörigen in ausgewählten EU-Ländern“ beziehen sich U. Raven und A. Huismann auf eine Modellrechnung des Statistischen Bundesamtes vom 31.12.1996, die nur die ca. sieben Millionen Migranten (inklusive deren Familien bzw. Nachkommen) einbezog, die als Gast-arbeiter nach Deutschland gekommen waren und die ca. drei Millionen Aussiedler aus-klammerte. Dieser Modellrechnung zufolge lag der Anteil der Menschen mit Migrations-hintergrund mit knapp neun Prozent an der deutschen Gesamtbevölkerung natürlich deutlich niedriger als in der Eurostat-Schätzung.

Des weitern gab es laut dem Statistischen Bundesamt im Jahr 1995 knapp 430.000 in Deutschland lebende Ausländer (exklusive der Aussiedler) im Alter von 60 Jahren und älter, was einen prozentualen Anteil an der Gesamtbevölkerung von ca. 2,5 % ausmacht. Laut einer Schätzung des Statistischen Bundesamtes wird sich dieser Anteil bis zum Jahr 2010 auf 6,4 % bzw. 1,3 Mio. Ausländer, die 60 Jahre und älter sind, verdoppeln.

Lag im Jahr 1995 der Anteil der Menschen, die 60 Jahre oder älter waren, an der deutschen Bevölkerung bei 22,5 % und an der ausländischen Bevölkerung bei 5,8%, wurde vom Statistischen Bundesamt eine Steigerung bis zum Jahr 2030 auf 36,2 % an der deutschen Bevölkerung und auf 24,1 % an der ausländischen Bevölkerung prognostiziert.

Auffallend ist, daß Ende 1995 die ausländische Bevölkerung der 60jährigen und älteren mit einem Anteil von 53,3 % Männern einen Männerüberschuß aufwies, wohingegen die deutsche Altenbevölkerung mit 61,1 % Frauen einen Frauenüberschuß aufwies. Am höchsten lag der Männeranteil bei den älteren Migranten aus Ländern, aus denen Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg Arbeitskräfte zum Wiederaufbau rekrutiert hatte. Mehr als die Hälfte der über 60jährigen Ausländer beiderlei Geschlechts (51,9 %) stammten aus ehemaligen Anwerbeländern, wobei die Gruppe der Migranten aus der Türkei mit 17,7 % die mit Abstand größte Gruppe darstellte, gefolgt von Migranten aus Italien (10,1%), dem ehemaligen Jugoslawien (9,6 %), Griechenland (7,5 %) und Spanien (4,4 %).

Unter Berufung auf eine Antwort der Bundesregierung, Bundestags-Drucksache 13/5257, geben U. Raven und A. Huismann an, daß die geschätzte Gesamtzahl der Demenzkranken in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1996 etwa 1,2 Millionen beträgt (inklusive leichter Krankheitsstadien). Laut Bundesregierung könne man bis zum Jahr 2010 mit etwa 1,7 Millionen Demenzkranken rechnen, wobei die Deutsche Gesellschaft für Alzheimer schätzt, daß etwa 60 % der dementiellen Erkrankungen auf die Alzheimersche Krankheit zurück-zuführen sind: von 1,2 Millionen Demenzkranken wären dann 800.000 Fälle der Alz-heimerschen Krankheit zuzuordnen.

Für eine Schätzung der Prävalenzrate von dementiellen Erkrankungen beziehen sich U. Raven und A. Huismann auf eine Meta-Analyse von zwölf Prävalenzstudien, durchgeführt von der EURODEM Prevalence Research Group (Hofman, A.; Rocca, W.A.; Brayne, C. et.al, „The Prevalence of dementia in Europe: a collaborative study of 1980-1990 findings, Int J Epidemiological, 1991). Die Ergebnisse dieser Meta-Analyse weichen leicht von den bereits erwähnten Ergebnissen der Untersuchung von Cooper et.al ab. Zum Beispiel in dem Punkt, daß Hofman et.al die höchste Prävalenzrate (34,7 %) in der Altersklasse von 95 Jahren und mehr finden, während es in der Untersuchung von Cooper et.al gar keine Angaben für diese Kategorie gibt.

Die zweithöchste Prävalenzrate fanden Hofman et.al mit 32,2 % in der Altersgruppe der 90-94jährigen, gefolgt von 21,6 % bei den 85-89jährigen, 13,0 % bei den 80-84jährigen, 5,7 % bei den 75-79jährigen, 4,1 % bei 70-74jährigen und 1,4 % bei den 65-69jährigen.

Diese Prävalenzraten für alle 5-Jahres-Altersgruppen ab 65 wurden daraufhin auf die aus-ländische Bevölkerung verwendet, sodaß sich eine geschätzte Prävalenz von Demenzkranken in der ausländischen Bevölkerung ab einem Alter von 65 Jahren von etwa 12.500 für das Jahr 1994 ergab (davon etwa 7.500 vom Alzheimer-Typ).

3. Demenz und ihre Subtypen

Die moderne Psychiatrie differenziert auf dem Gebiet der psychischen Störungen zwischen organisch bedingten psychischen Störungen und funktionell bedingten psychischen Stö-rungen. Zu den organischen Psychosyndromen zählt man psychopathologische Erkrankungen, deren Ursache eine krankhafte Veränderung des Gehirns bzw. des Gesamtorganismus ist, d.h. es muß eine diagnostizierbare zerebrale oder systemische Erkrankung vorliegen.

Mit funktionell bedingten psychischen Störungen sind die sog. endogenen psychischen Störungen gemeint, bei denen keine körperliche Veränderung als Ursache nachgewiesen werden kann. Klinische Beispiele sind einige affektive Störungen (z.B. die Major Depression) oder schizophrene Störungen, deren Ursachen frühkindliche Traumata sein können.

Aufgrund einer nachweisbaren krankhaften Veränderung des Gehirns zählen die dementiellen Krankheiten zu den organischen Psychosyndromen, die ihrerseits auch wieder unterteilt werden in akute organische Psychosyndrome sowie in chronische organische Psycho-syndrome. Akute organische Psychosyndrome sind charakterisiert durch eine akute organische Veränderung des Gehirns sowie durch einen plötzlichen Beginn und fluktuierende Störungen der kognitiven Fähigkeiten, der Psychomotorik und der Affektivität. Sie sind gewöhnlich reversibel, wenn die Ursache wegfällt oder erfolgreich behandelt wird. Beispiele sind die organische Halluzinose (charakterisiert durch das Vorherrschen optischer, akustischer oder taktiler Halluzinationen) oder das akute amnestische Syndrom (gekennzeichnet durch extreme Gedächtnisstörungen).

Chronische organische Psychosyndrome, zu denen die dementiellen Erkrankungen gehören, dagegen sind die Folge einer chronischen Veränderung des Gehirns und weisen einen schleichenden Beginn auf. Der Verlauf kann remittierend, stabil oder – in den meisten Fällen – progressiv sein. Charakteristisch für das Demenz-Syndrom sind eine objektiv nachweisbare erworbene Beeinträchtigung des Gedächtnisses (v.a. im Hinblick auf die Lernfähigkeit für neue Informationen und die Reproduktion von Erinnerungen) sowie ein zunehmender Verlust früherer intellektueller Fähigkeiten (v.a. bzgl. des abstrakten Denkens, des Urteilsvermögens und der Konzentrationsfähigkeit).

Eine weitere Gruppe von Symptomen betrifft Veränderungen der Persönlichkeit, z.B. Moti-vation, Psychomotorik, emotionale Kontrolle und Sozialverhalten.

(Möller, H.J.; Laux, O,; Psychiatrie und Psychiatrie, 2001, Thieme)

Die Demenz gehört also zu den hirnorganisch bedingten Störungen. Aber auch wenn die Mehrheit der älteren Menschen keine hirnorganisch bedingten Störungen aufweist, führen diese Störungen dennoch häufiger zu Einweisungen und Krankenhausaufenthalten als alle anderen geriatrischen Krankheiten.

Unter Demenz, im Volksmund auch „Senilität“ genannt, versteht man eine allmähliche, sich über Jahre hinziehende Verschlechterung intellektueller Fähigkeiten, die so weit geht, daß schließlich auch die sozialen Funktionen und die Handlungsfähigkeit beeinträchtigt sind.

3.1 Gedächtnisschwäche

Das auffälligste Symptom der Demenz ist die Gedächtnisschwäche, besonders für neue Ereignisse. Oft werden begonnene Aufgaben nicht zu Ende geführt, weil die Betroffenen nach einer Unterbrechung ihr ursprüngliches Vorhaben vergessen haben. Im Anfangsstadium werden z.B. die Namen der eigenen Kinder vergessen, im Endstadium erkennt der demente Mensch dann seine eigenen Kinder oft nicht mehr oder weiß nicht einmal, daß er Kinder hat.

Des weiteren kommt es häufig zu einer Vernachlässigung der Körperhygiene und des äußeren Erscheinungsbildes und zu Orientierungslosigkeit selbst in vertrauter Umgebung.

3.2 Weitere Symptome

Im Verlauf einer Demenzerkrankung läßt auch häufig das Urteilsvermögen nach; d.h. es fällt den Betroffenen zunehmend schwerer, soziale Interaktionen nachvollziehen und verstehen zu können. Außerdem wird es für die Erkrankten mit Fortschreiten der Demenz immer schwieriger, Pläne zu machen oder Entscheidungen zu fällen.

Auch sprachliche Defizite können sich einstellen, indem der sprachliche Ausdruck unpräzise wird. Kognitive Defizite können sich bemerkbar machen, indem die Betroffenen in einer bestimmten Situation unpassende Scherze machen. Es kann zu antisozialem Verhalten wie beispielsweise Ladendiebstählen oder sexueller Belästigung kommen. Des weiteren können neben einer Verminderung der Fähigkeit, abstrakt zu denken auch affektive Störungen auftreten, wie z.B. flacher Affekt (also die Unfähigkeit, Freude zu zeigen) oder emotionale Ausbrüche.

Obwohl zum Krankheitsbild der Demenz keine Beeinträchtigung der Motorik zählt, können alltägliche Handlungen wie Zähne putzen oder zum Abschied winken oder sich anziehen problematisch werden, wobei die Gründe dafür in dem Umstand zu suchen sind, daß die Betroffenen nicht mehr fähig sind, gemäß einem bestimmten Kontext adäquat zu handeln oder zu reagieren.

Schließlich besteht immer die Gefahr eines Deliriums, wobei es sich um einen Zustand großer geistiger Verwirrung handelt, der sich z.B. als Folge von gravierendem Nahrungsmangel einstellen kann, weil die Betroffenen schlicht und einfach vergessen Nahrung zu sich zu nehmen.

3.3 Verlauf

Eine dementielle Erkrankung kann progressiv (fortschreitend), gleich bleibend oder remittierend (zeitweilig nachlassend, zurückgehend) verlaufen. Viele Patienten mit fort-schreitender Demenz enden in einem Zustand völliger sozialer Isolierung und Apathie. Im Endstadium der Krankheit verliert die Persönlichkeit des Betroffenen dann jegliche Ausstrahlung und Integrität. Verwandte und Freunde erkennen den Betroffenen nicht wieder und der Freundes- und Bekanntenkreis des Betroffenen wird zunehmend enger, bis der Kranke seine Umgebung schließlich vollständig vergißt.

3.4 Prävalenz

Die Prävalenz der Demenz steigt mit zunehmendem Alter an; d.h. je älter ein Mensch wird, desto wahrscheinlicher wird es, daß er an einer Demenz erkrankt. Man geht davon aus, dass etwa 1 Prozent der Menschen zwischen 65 und 74 Jahren, 4 Prozent der Menschen zwischen 75 und 84 Jahren und 10 Prozent der über 84-Jährigen betroffen sind.

3.5 Kategorien von Demenz und ihre Ätiologie

Die dementiellen Erkrankungen werden in drei Kategorien unterteilt: die Alzheimer-Krankheit, die fronto-temporale Demenz und die fronto-subkortikale Demenz.

a) Die Alzheimer-Krankheit ist die insgesamt am häufigsten auftretende dementielle Erkrankung. Sie tritt bei Frauen auf Grund ihrer höheren Lebenserwartung häufiger auf als bei Männern, verursacht etwa 60 Prozent der Demenzen bei älteren Menschen und betrifft in Europa etwa 5 Millionen Menschen. Die Alzheimer-Krankheit verursacht eine irreversible Schädigung des Hirngewebes und der Tod tritt gewöhnlich zehn bis zwölf Jahre nach Beginn der Symptomatik ein. Bei der Autopsie eines Gehirns von Alzheimer-Patienten können verschiedene physiologische Veränderungen des Gehirns festgestellt werden. Die primäre physiologische Veränderung besteht in einer allgemeinen Atrophie des zerebralen Kortex, zuerst des Hippokampus, später der Frontal-, Temporal- und Parietallappen. Da Neurone und Synapsen zugrunde gehen, werden die Sulci breiter, die Gehirnwindungen enger und flacher und die Ventrikel erweitern sich. Im ganzen Kortex finden sich sog. senile Plaques (kleine runde Ablagerungen, die aus den Überresten der zugrunde gegangenen Neuronen und β-Amyloid bestehen), einer wachsartigen Substanz. Zwischen den Zellkörpern der Neurone sammeln sich verknäuelte abnorme Proteinfäden, die sog. neurofibrillären Verklumpungen, an. Sowohl die Plaques als auch die Verklumpungen sind überall im Kortex und im Hippokampus zu finden. Bei etwa 25% der Alzheimer-Patienten treten ähnliche Gehirn-schädigungen auf wie bei Patienten mit der Parkinson-Krankheit. In der Substantia nigra und dem von dort ausgehenden System gehen Neuronen zugrunde.

Zwar sind auch neurale Verbindungen, die Neurotransmitter wie Serotonin oder Noradrenalin verwenden, gestört, jedoch sind diejenigen, die Acetylcholin verwenden, besonders wichtig. Anticholinerge Substanzen können bei gesunden Menschen zu ähnlichen Gedächtnis-beeinträchtigungen führen wie bei Alzheimer-Patienten. Die Anzahl der Acetylcholin-rezeptoren in den Gehirnen von Alzheimer-Patienten ist stark reduziert.

Jedes Jahr sterben ca. 100.000 Menschen an Alzheimer. Zunächst treten Symptome wie Konzentrations- oder Gedächtnisschwierigkeiten auf und die Betroffenen wirken geistig abwesend und gereizt. Diese Defizite können mehrere Jahre lang übersehen oder ignoriert werden, wirken sich jedoch schon auf das Alltagsleben aus. Im fortgeschrittenen Stadium kann es dann passieren, daß der Betroffene anderen die Schuld für seine Fehlleistungen gibt und paranoide Wahnvorstellungen entwickelt (Verfolgungswahn). Das Gedächtnis wird immer schlechter, der Betroffene ist zunehmend desorientiert und agitiert. Die Komor-biditätsrate von Alzheimer und Depressionen beträgt ca. 30 Prozent. Ein prominentes Beispiel ist der frühere US-Präsident Ronald Reagan.

b) Die fronto-temporalen Demenzen (z.B. Pick-Atrophie) sind neben den üblichen kognitiven Beeinträchtigungen einer Demenz gekennzeichnet durch ausgeprägte Veränderungen des Verhaltens und der Persönlichkeit: Manche Patienten sind –ähnlich der Alzheimer-Krankheit – sehr apathisch und reagieren gar nicht mehr auf ihre Umgebung, während andere euphorisch, hyperaktiv und impulsiv sind. Im Gegensatz zur Alzheimer-Krankheit sind die frontal-temporalen Demenzen weniger mit dem Verlust von cholinergen Neuronen (Acetyl-cholin) assoziiert als vielmehr mit dem Verlust von Serotoninneuronen in den Frontal- und Temporallappen.

c) Die fronto-subkortikalen Demenzen schädigen die subkortikalen Hirnbereiche, die an der Kontrolle der motorischen Bewegungen beteiligt sind. Somit kommt es hier neben der Beeinträchtigung der Kognitionen auch zu einer Beeinträchtigung der Motorik. Fronto-subkortikale Demenzen sind z.B. Chorea Huntington (Hauptmerkmal sind krampfartige Bewegungen; umgangssprachlich wird Chorea Huntington auch als Veitstanz bezeichnet) und die Parkinson-Krankheit (Hauptmerkmale sind Muskelzittern, Muskelsteifheit und Akinese, also die Unfähigkeit, Bewegungen zu initiieren; der ehemalige Schwergewichtsweltmeister Muhammad Ali und der Schauspieler Michael J. Fox leiden an dieser Krankheit).

3.6 Weitere Ursachen für Demenzen

Neben den oben genannten Schädigungen des Gehirns können auch zahlreiche Infektions-krankheiten, z.B. Enzephalitis, Meningitis und Syphilis, zu einer irreversiblen Demenz führen.

Bei der Enzephalitis handelt es sich um eine Entzündung des Hirngewebes, die von Viren verursacht wird, die aus anderen Teilen des Körpers (z.B. den Nasennebenhöhlen oder den Ohren) oder durch Insektenstiche (z.B. Stechmücken oder Zecken) ins Gehirn gelangen.

Die Meningitis ist eine Entzündung der Hirnhäute, die meist durch eine bakterielle Infektion entsteht.

Und bei einer Übertragung der Syphilis ist es der Erreger Treponema pallidum, der ebenfalls in das Gehirn eindringen und eine Demenz verursachen kann.

Aber auch HIV und Aids können bei älteren Menschen zu irreversiblen Demenzen führen, die sich – wie auch jüngere Menschen – durch ungeschützten Geschlechtsverkehr infizieren.

Allerdings besteht bei älteren Menschen – im Gegensatz zu jüngeren – die Gefahr, HIV- und Aids-bedingte Symptome als Alzheimer oder andere Formen von Demenz fehlzudiagnosti-zieren, weil ihre Ärzte die Möglichkeit, daß diese Patienten noch sexuell aktiv sein könnten, gar nicht berücksichtigen. Und da das HI-Virus bei älteren Menschen doppelt so schnell zu einer Aids-Erkrankung führt wie bei jüngeren Menschen, ist die Früherkennung in dieser Altersgruppe besonders wichtig.

Weitere Ursachen für dementielle Erkrankungen können Schädeltraumata, Gehirntumoren, Nährstoffmangel, Nieren- oder Leberversagen, endokrine Störungen (z.B. eine Schilddrüsen-überfunktion), Exposition gegenüber Toxinen wie Blei oder Quecksilber sowie ständiger Drogen- und Alkoholkonsum sein.

3.7 Physiologische Behandlungen von Demenzen

Wenn eine Demenz eine reversible Ursache (z.B. eine hormonelle Störung) hat, sollte sofort eine adäquate medizinische Behandlung initiiert werden. Für die Behandlung irreversibler dementieller Erkrankungen hat man bis heute allerdings noch keine klinisch bedeutsame Therapie entwickelt. Da bei der Alzheimer-Krankheit Acetylcholin produzierende Gehirn-zellen absterben, wurden Medikamente entwickelt, die die Menge dieses Neurotransmitters erhöhen sollten. Klinische Studien haben jedoch gezeigt, daß eine Behandlung mit diesen Medikamenten entweder nur zu einer kurzfristigen Verbesserung der kognitiven Funktionen führte oder gänzlich erfolglos blieb. Außerdem haben viele dieser Medikamente schwere Nebenwirkungen, weil sie z.B. toxisch für die Leber sind.

Das Einzige, das im Rahmen einer dementiellen Erkrankung therapeutisch getan werden kann, ist zu versuchen, das Fortschreiten der Krankheit zu verlangsamen, z.B. durch die Verabreichung von Antioxidantien wie Vitamin E.

Zur Behandlung der affektiven Symptome werden Antidepressiva bei Depressionen, Benzodiazepine bei Angst und Sedativa bei Schlafstörungen appliziert.

3.8 Psychologische Behandlungen von Demenzen

Alzheimer kann zwar noch nicht medikamentös behandelt werden, man kann den Patienten und ihren Familien jedoch helfen, sich mit den Auswirkungen der Krankheit zu arrangieren. Hierfür ist es notwendig, die Verwandten von Betroffenen genau über die Erkrankung aufzuklären und sie bei der häuslichen Pflege zu unterstützen.

Des Weiteren wird versucht, durch Unterstützung der Patienten die durch deren Verhaltensänderungen verursachten Störungen möglichst gering zu halten.

Und auch eine realistische Einstellung beim Umgang mit den vielen spezifischen Problemen, die eine dementielle Erkrankung mit sich bringt, wird als hilfreich angesehen.

Es ist schwierig, die Betroffenen selbst zu beraten und verspricht, gerade bei fortgeschrittener Demenz und den damit assoziierten kognitiven Einbußen, langfristig keinen Erfolg. Manche Patienten scheinen jedoch Gespräche mit professionellen Helfern oder anderen Außen-stehenden Freude zu bereiten und sie zu beruhigen.

Im Gegensatz zu fast allen anderen psychischen Störungen scheint es bei er Demenz-Erkrankung nicht angebracht zu sein, die Patienten zu einem Eingeständnis ihrer Schwierig-keiten zu bewegen, da der Abwehrmechanismus der Verleumdung für sie vielleicht den wirksamsten Bewältigungsmechanismus darstellt.

3.9 Realitätsorientierungstraining

Bei dem Realitätsorientierungstraining handelt es sich um einen von Folsom und Taulbee entwickelten psychologischen Ansatz zum Umgang mit verwirrten, dementen alten Menschen, bei dem die zeitliche, örtliche und personelle Orientierung gefördert wird, indem gezielte Hilfen (z.B. bestimmte Symbole) gegeben werden, und bei dem ständig zur Kommunikation ermutigt wird und soziale Interaktionen unterstützt werden. Dazu werden alle mit dem Patienten arbeitenden Menschen trainiert, ihn bei jeder Gelegenheit an die Zeit, den Ort und die eigene Person zu erinnern, aktuelle Ereignisse zu kommentieren, verwirrte Äußerungen zu korrigieren und orientierte und eigenständige Äußerungen zu verstärken. Der Fokus liegt also auf den noch erhaltenen Funktionsbereichen.

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Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2010
ISBN (PDF)
9783956846670
ISBN (Paperback)
9783956841675
Dateigröße
1.7 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Fachhochschule Bielefeld
Erscheinungsdatum
2014 (Januar)
Note
2
Schlagworte
Demenz Migrant Erkrankung türkisch Alzheimer bunak Scham

Autor

Karolin Civirci hat zunächst eine Ausbildung zur staatlich anerkannten Erzieherin gemacht und in verschiedenen Einrichtungen als Gruppenleitung gearbeitet. Im Anschluss hat sie mehrere Jahre in der Altenpflege gearbeitet und daraufhin an der FH Bielefeld Sozialpädagogik studiert. Momentan arbeitet die Autorin als Diplom Sozialpädagogin im Bereich Erwachsenenbildung. Ihr beruflicher Schwerpunkt liegt in der Eingliederung von Jugendlichen in den Arbeitsmarkt. Außerdem arbeitet sie als Dozentin im Bereich Gesundheit und Soziales.
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