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Achtsamkeit in der stationären Jugendhilfe: Wie kann ethische Achtsamkeit Beziehungen subjektorientierter gestalten?

©2013 Bachelorarbeit 65 Seiten

Zusammenfassung

Eingeforderte Achtsamkeit gilt in Hochglanzprospekten von Institutionen meist nur der Adressatenseite. Dabei ist ethische Achtsamkeit ohne Selbstsorge für Sozialarbeitende auf die Dauer nicht möglich. Das Thema Achtsamkeit in der stationären Jugendhilfe ist kein Vorwurf der Unachtsamkeit an die Erziehenden, sondern ein Reflexionspunkt. Vorliegendes Buch möchte Mut machen, sich neu als Akteur einer Praxisethik zu verstehen, die beide Seiten berücksichtigt und einfordert. Alle Beteiligten im Jugendhilfeprozess kommen hierfür aus ihrer Sicht zu Wort. Als Teamkonzept ist eine dauerhafte Verwirklichung achtsamer Praxis möglich und kann als ein Qualitätsmerkmal sozialer Arbeit im stationären Alltag angewandt werden. Die differenzierte Ausarbeitung verschiedener Achtsamkeitsauffassungen möchte dazu beitragen über das Thema Achtsamkeit sprachfähiger zu werden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


3 Achtsamkeit als ethischer Begriff (Carefulness)

In gleicher Weise wie Jantzen, Volz oder Huber versteht Conradi die Achtsamkeit als ethische Haltung. Scheinbar zwangsläufig greift ethische Achtsamkeit hierzu weitere Begriffe auf, die ihr Handeln näher beschreiben. So heißt es, wie oben gezeigt, etwa bei Huber, Achtsamkeit sei „ein Umgang miteinander, in dem sich die Liebe zum Nächsten, wie zu sich selbst spiegelt, oder Jantzen nennt es „Zivilcourage“. Conradi beschreibt in zwölf Statements die wesentlichen Elemente der Achtsamkeit. So heißt es dort z.B., „die Achtsamkeit ist eine Vorgabe und ein Geschenk, sie ist nicht an eine Gegengabe gebunden“ (Conradi 2010, S.95). Warum aber sind dies Kennzeichen der Achtsamkeit, ließen sich nicht viele weitere, andere Beispiele finden?

Conradi führt die Achtsamkeit an einen Ursprung zurück: Wenn zwei Menschen sich begegnen, einer der beiden Hilfe braucht und der andere sich nicht abwendet (Gilligans „not to turn away from someone in need“ (s.o.)), besteht die Möglichkeit Achtsamkeit zu entwickeln. Das Hinwenden und nicht Wegsehen sind der Beginn in einer gemeinsamen „Bezogenheit“ (Conradi 2001, S.179) aus Begegnung und Verlässlichkeit, zwischen Care giver und Care receiver, der Care Interaktion, Achtsamkeit zu entwickeln (vgl. ebd., S.238). An dieser Stelle, die mit dem `stehen bleiben` beginnt und an der eine Begegnung für mindestens zwei Menschen Bedeutung gewinnt, kann Achtsamkeit entstehen und meint damit zunächst, ich bin da und höre dir zu, bzw. ich will dich verstehen oder andersherum ich sage dir, bzw. gebe mich zu verstehen. Ähnlich zur Freundschaft ist sie völlig freiwillig und doch wiederum auch nicht, sie wächst oder verkümmert. Wenn sie fehlt wird sie vermisst, befehlen kann man ihr nicht.

Von diesem Ursprung der Begegnung aus kann auch überlegt werden, wie gehen wir miteinander um, verstehe ich dich richtig oder behandle ich dich etwa so, wie du es gar nicht haben willst? Hier werden mitgebrachte Haltungen reflektiert, ein besseres Verständnis des anderen gesucht (Kompetenz und Empowerment), das Haushalten mit den eigenen Kräften abgewogen oder dadurch Verantwortung übernommen, dass Hilfe an z.B. professionelle Dienste weitervermittelt werden muss. „Kritik und Veränderung“ finden durch die „konkrete Situation“ (ebd., S.197) oder durch die „aktuelle Begegnung“ (ebd., S.200) statt. Dies beschreibt eine Ethik der Praxis. Der Prozess dieser gemeinsamen Achtsamkeitserfahrung kann von hier aus durch weitere Begriffe beschrieben werden.

In der Jugendhilfe wirft dieses `Verstehen` zunächst eine Menge Fragen auf: Wie empfinden Kinder ihre Heimsituation, warum reagieren Jugendliche so oppositionell, warum arbeiten Herkunftseltern scheinbar so wenig mit oder etwa, warum wird mein Handeln kaum wertgeschätzt? Auf der Beziehungseben ist die Suche nach Distanz und Nähe, Privatem und Professionellem schwierig. Es scheint notwendig, von hier aus alle `zu Wort` kommen zu lassen.

3.1 Die Freiwilligkeit der Achtsamkeit

Zunächst soll überlegt werden, welchen Stellenwert Achtsamkeit in der professionellen Arbeit, überhaupt einnehmen kann.

Geschieht, wie es der Volksmund beschreibt, etwas aus Unachtsamkeit, so wird meist nicht Absicht unterstellt: Etwas wurde nicht beachtet, was mehr oder weniger berücksichtigt hätte werden können oder müssen. Unachtsamkeit erscheint demnach als maximal fahrlässig, Achtsamkeit im Kontrast dazu als eine Art Zugabe zum Gewöhnlichen. Ist Achtsamkeit generell lediglich ein Zusatz?

Huber ruft zu ihr auf und Jantzen fordert Zivilcourage gegen Missstände. Conradi bezeichnet sie als „Vorgabe und als Geschenk“ (s.o.). Das Anhalten zur Achtsamkeit betrifft die Grenze zwischen dem, was gefordert werden kann, was bezahlt wird, was das Beste sei und ist andererseits ohne an die eigene Motivation anknüpfen zu können und ohne Wertschätzung auf Dauer unmöglich. Achtsamkeit entsteht wie gezeigt, im Beginn und Fortgang einer Gegenseitigkeit von mindestens zwei Personen und besteht ähnlich wie im Freundschaftsbild in der Freiwilligkeit des Hinwendens und der Freiwilligkeit der Annahme. Conradi spricht, wenn sie Achtsamkeit mit Professionalität in Beziehung setzt, vom einem „extra“, das auch „im Rahmen bezahlter Tätigkeiten stattfinden kann“… „selbst dann, wenn sie dringend notwendig erscheint“ (Conradi 2001, 45-46).

Anders kann es empfunden werden, wenn Achtsamkeit zur allgemeinen Forderung erhoben wird und etwa in Hochglanzprospekten von Institutionen unter dem Aushängeschild Achtsamkeit als Jargon zur pauschalen Pflicht wird und nicht alle an Prozessgeschehen beteiligte Akteure mit einbezieht. Forderungen an dieser Stelle ohne Wertschätzung werden zur Last und übersehenes Engagement zur Zumutung. Erst im Umfeld der momentanen Anforderungen und erschwerten Bedingungen in der Jugendhilfestruktur wird klar, dass Subjektorientierung (zum Anderen) als das Ziel der Achtsamkeit hier nur in der Spannung zur Freiwilligkeit erreichbar ist.

Das Unterlassen von erhöhter Achtsamkeit bedeutet nicht zwingend Achtlosigkeit, sondern gegebenfalls Standard, vielleicht etwas weniger Suche nach Kompetenz oder nach vorausschauendem Nachdenken (Antizipation). Diesen Zustand der Ungenauigkeit bewusst zuzulassen ist nicht das, was Sozial Arbeitende im Grunde wollen. SozialarbeiterInnen meinen, „dass es ihnen wichtig ist, sich in dem komplexen Arbeitsfeld der Erziehungshilfe sicher, professionell und ressourcenorientiert“ zu verhalten (Hagen/ Wittschorek 2011, S.83). Unachtsames Handeln ist meist ein Ausdruck von fehlendem Verstehen, falscher Deutung und standardisiertem Handeln. Erhöhte Achtsamkeit ist eine Leistung.

3.2 Take Care (engl.):

´Machs gut´ oder pass auf dich auf, meint auch, pass auf den anderen auf, nimm Rücksicht oder passt aufeinander auf.

Elisabeth Conradis Buch „Take Care, Ethik der Achtsamkeit“ knüpft gedanklich an die englischsprachige Care- (was etwa Sorge oder Fürsorge bedeutet) Debatte an. Die Diskussion, die als „Genderdiskurs“ (vgl. Thiersch 2011, S.976) hauptsächlich für ihren Kampf wahrgenommen wird, dass Sorgetätigkeit nicht natürliches „Frauenschicksal“ sei (Heite 2008, S.59), und deshalb ein sozialpolitischer Anspruch lange auf sich warten lässt (vgl. Brückner 2011, S.207), beschäftigt sich inhaltlich mit asymmetrischen Beziehungen, dem Verhältnis von Autonomie und Fremdbestimmung oder auch, wie die Abgrenzungen zu „Normierungen und Standardisierungen“ (vgl. Brückner, www.reinhardt-verlag.de, v.14.04.2013) begründet werden können. Einen Beitrag wie dies ethisch aufzufassen und besser gelingen könnte, liefert die „Take Care“(2001).

Conradi stellt eine Ethik vor, die auf Sorge und Pflegetätigkeiten eingeht. Ihr Ethikkonzept bezieht sie nicht allein auf Pflegeberufe, sondern z.B. auch auf Soziale Arbeit oder auf die Politik und Gesellschaft (Conradi 2010).

In 9 Thesen beschreibt sie die Begegnung der Hinwendung, ihre Verwobenheiten als „Interrelationalität“ (Conradi 2001, S.23), das Geben und Annehmen von Care, ihr Problem mit Macht und Autonomie, die Erwartungen (Reziprozität) und die Möglichkeiten (ebd. 2001, S.45- 59). Conradis Ausführungen haben eine Nähe zur Achtsamkeit in allgemeinen (unprofessionellen) Hinwendungen, sind aber auch auf die bezahlte Arbeit (vgl. ebd., S.45-46) übertragbar.

3.3 Achtsamkeit als Care und Resonanz

Das Schenken von Achtsamkeit ist nicht an Reziprozität gebunden“ (Conradi 2001, S.56).

In der „Take Care“ stellt Conradi den ethischen Zugang zu Menschen her, die sich in Care- Beziehungen (Sorge oder Fürsorge) befinden. Dabei ist sich die Debatte um Care ihrer Nähe zum besetzten Fürsorgebegriff bewusst (vgl.ebd., S.239). Zuwendung kann Menschen erdrücken, sowohl im ´Wissen, was für andere das Beste sei´ oder im Sinne einer Normierung, von der sich etwa die Jugendhilfe spätestens im Paradigmenwechsel (8. Jugendbericht 1990) der Lebensweltorientierung (Hans Thirsch) von Ab- und Ausgrenzungstiteln wie unerziehbar, schwachsinnig oder idiotisch befreit hat. Care sucht nicht ´das Beste´ aus Sicht des Care givers, sondern sieht den Care receiver in einer für den sich Zuwendenden aufeinander bezugnehmenden (reziproken) Position. Beide zusammen gestalten `das Bessere´. Der Umsorgte gibt die Erlaubnis, gestaltet die Praxis mit, wird befähigt und befähigt wiederum. „Achtsamkeit bedeutet ferner die Antwort auf die Unterstützung abzuwarten. Zu hören, wie die Zuwendung angekommen ist und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen“ (Conradi 2008, S.4). Die Begriffspaare, die hier in Beziehung stehen, sind Care und Resonanz (vgl. Conradi 2001, S.225) und nicht Aktion und Reaktion. Die Begrenzung der Begriffe Aktion und Reaktion schließen eine Begegnung zum anderen in seinem Vorgang nahezu ab und Handlungen werden nebeneinander gestellt. Dagegen lassen Care als „rezeptive“ Zuwendung (Conradi 2010, S.93) und Resonanz als mitgestaltende Antwort für die Beteiligten eine aufeinander bezugnehmende Wechselwirkung zu. Der Care reciever wird nicht erst zum Akteur (sein) bewogen, er wird grundsätzlich bereits als solcher erkannt und dazu weiter befähigt.

In Beziehungen der aufsuchenden sozialpädagogischen Familienhilfe spricht Astrid Woog etwa von der Wichtigkeit einer Erlaubnis zur Hilfe aufgrund des Annehmens einer Gegengabe (vgl. Woog 2010, S.190-191). Dies entspringt der Haltung ihrer Suche nach Anknüpfungspunkten: „Ich bin ähnlich einer „Wünschelrutengängerin“ (Thirsch mündlich) ständig auf der Suche nach Gelegenheiten, das Wachsen und Werden der Familienmitglieder zu unterstützen und der mäeutischen Verfahrensweise entsprechend darauf bedacht, ihnen das Vergnügen des Findens von Lösungsmöglichkeiten nicht zu nehmen“ (Woog 2010, S.194). Woogs Ziel ist „gelingenderes“ (ebd., S.203), nicht gelingendes Leben. Dies kommt dem Wunsch nach Ambiguitätsverständnis, dem Anerkennen von Widersprüchlichkeiten, sehr nahe. Das Verständnis von Woog, durch eine annehmende Sozialarbeit auch gebende sein zu können, schließt, wenn dies nicht nur als Technik aufgefasst wird, an die Haltung einer Care aus Resonanz an.

In der Praxis lässt sich beides darstellen, einerseits kann die Achtsamkeit den Spielraum der unmittelbaren Antwort auf Aktionen neu vermessen, vor allem im Bewusstsein, dass in asymmetrischen Erwachsenen - Kind Beziehungen der Care giver Mitgestalter der Resonanz (z.B. durch gewaltfreie Kommunikation) ist. Andererseits treffen in stationären Jugendhilfesituationen offene Angebote manchmal auf `harte Reaktion` (nicht „Resonanz“). Hier nicht mit Gegenaktion zu reagieren, sondern die Situation offen zu halten, kann als ein Spielraum der Care gelten.

Gleichzeitig kann aber auch ein Angebot, das mit einem Angebot von Seiten der AdressatInnen beginnt, im Jugendhilfealltag ein Einstieg zur Annahme von Unterstützung sein (In Woogs Fall –oben- entschied sie sich aus einer unsauberen Tasse Espresso zu trinken (vgl. 2010, S.188)). In der Jugendhilfe nehme ich angebotene Hilfeleistungen evtl. ebenso an.

Für beide Situationen gilt: Das Schenken von Achtsamkeit kann ein Ungleichgewicht von Geben und Nehmen sein: Das Schenken von Achtsamkeit ist nicht an Reziprozität gebunden“ (Conradi 2001, S.56). „Achtsamkeit ist Vorgabe und Geschenk“ (ebd., 238).

3.4 Achtsamkeit zwischen Autonomie und Fremdbestimmung

Was Conradi weiter als wichtig für ein Achtsamkeitsverständnis aufgreift, wird am Verhältnis von Achtung und Autonomie deutlich: In ihrer sechsten These formuliert Conradi: „An Care-Interaktionen beteiligte Menschen sind unterschiedlich autonom“ (Conradi 2001, S.55).

Um dies zu erklären grenzt sie ihre These von verschiedenen anderen Vorstellungen ab: „Nach Immanuel Kant, …, kommt einem "Lebewesen" Würde zu, sofern es sich in Freiheit mittels der Vernunft gemäß den Forderungen des allgemeinen Sittengesetzes selbstbestimmt" (Eibach 2005, S.12). Achtung begründet sich nach Kants Verständnis auf Autonomie, der Fähigkeit für sich selbst sprechen oder sorgen zu können, wo diese fehle, fehle auch der Grund für die Achtung: "Die Achtung der Menschenwürde fällt faktisch mit der Achtung der Autonomie zusammen. Dem Leben an sich kommt keine Würde zu, sondern nur insofern, als es Bedingungen der Möglichkeit von Autonomie ist“ (ebd., S.13).

Für Conradi dagegen ist Autonomie überhaupt keine Voraussetzung für Achtung, ihre sechste These endet entsprechend: „Achtung ist nicht an eine Unterstellung von Autonomie angewiesen“ (Conradi 2001, S.55).

Dass diese Gedanken durchaus weitreichend sind zeigt Noller, die Menschenwürde zudem trotz Täterschaft betont: „Würde besitzt der Mensch im Paradox der Antastbarkeit und Verletzlichkeit. Würde besitzt der Mensch im Paradox seiner Fehlbarkeit“ (Noller 2007, S.29).

3.5 Achtsamkeit berücksichtigt Differenzen der Macht und der Möglichkeiten

Grundsätzliche Autonomie ist die Basis für die weitere Feststellung Conradis, „Achtsamkeit berücksichtigt Differenzen der Macht und der Möglichkeiten“ (Conradi 2001, S.238). Um dies zu verstehen zeigt Niehoff, dass es sich bei der „Idee >>Care<< um eine hilfreiche und konstruktive Diskussion in Großbritannien handelt, die auf die Gefahren der Überbetonung der Freiheit und Unabhängigkeit hinwies“ (2008, S.8). Da der Fürsorgebegriff in Deutschland mit Recht besonders aufgrund der nationalen Geschichte in die andere Richtung diskutiert wurde, also von einer Unterbetonung von Freiheit und Unabhängigkeit, Fürsorge aber heute auf mündige Kunden oder Leistungsberechtigte trifft , bleibt die Kritik an der Unmündigkeit durch Fürsorge erhalten. Paternalistisches Sorgen bezieht sich immer auf die normative Vorstellung, wir wüssten, ´was für den anderen am besten sei´.

Andererseits darf die Befreiung von Paternalismus (vgl. Thiersch 2011, S.976) nicht zum Zulassen eines anderen Extrems führen: „Autonomie als absolute Unabhängigkeit kann Realität nicht vollständig abbilden“ (Niehoff 2008, S.8- 9). So geht es in erster Linie nicht um die Befreiung von der Norm, sondern um die Befähigung von Übergangenen. Wie auch Lebensweltorientierung nicht orientierungsloses Leben abbildet, so stellt die Selbstbestimmung nicht völlige Unabhängigkeit dar. An dieser Stelle muss sich Subjektorientierung von Idealen lösen, um „zum Anderen“ zu gelangen, denn Erziehen, Lenken und Leiten sind bereits Ausdrücke der Fremdbestimmung, die dem Herausführen aus der Abhängigkeit zur Mündigkeit dienen sollten. Thiersch sieht die Realisierung „pädagogischen und helfenden Handelns“ in der professionellen Sozialarbeit als „strukturell asymmetrisch“ (Thiersch 2011, S.976). Einem Jugendlichen zu sagen was er werden muss, ist genauso unsinnig, wie ihm ohne weiteres Engagement zu sagen: „Werd doch was du willst!“ Dem Kind unter Fremdaufsicht die volle Verantwortung für seine Entwicklung zu übertragen blendet die eigene Verantwortung aus. Auch können Probleme, etwa von Herkunftseltern, nicht individualisiert betrachtet werden, sie sind mitunter Betroffene gesellschaftlich nicht benannter Konflikte. (vgl. Entnennungsbegriff und Individualisierung bei Bitzan 2000, S.343)

4 Kurzer Zwischenstopp

Der Beginn der Carefulness ist durchaus so gemeint: Bleiben Sie doch einfach einmal stehen, schenken Sie jemandem ihre Zeit und geben ihm Achtsamkeit und schauen, was sich daraus entwickelt. Drehen Sie sich nicht weg, aus Unsicherheit, ob es etwa korrekt ist, einem Menschen mit Assistenzbedarf die Tür aufzuhalten oder nicht, ob der Asylsuchende doch eigentlich vom Staat versorgt werden müsste oder nicht. Lassen Sie der Situation mit ihren Menschen ihre eigene Bedeutung gewinnen. Bleiben Sie einfach stehen und vielleicht gelingt eine Begegnung, die beiden Wert bringt und weitere Achtsamkeit zur Folge hat. Lassen Sie ihre Berufsrolle einmal beiseite und `bleiben wider stehen`, weil Sie das selbst wollen. Fragen nach Macht, Asymmetrie oder Autonomie bleiben zunächst beiseite. Die Korrektur ermöglicht die aktuelle Begegnung, die Bereitschaft im Prozess bleiben zu wollen und die Hoffnung zwischen Fremd- und Selbstsorge genügend Balance zu bekommen. Somit ist der Prozess:

- Frei von reziproken Erwartungen (Care und Resonanz)
- Frei von der Unterstellung der Autonomie
- Frei von Paternalismus
- Frei trotz Asymmetrie und Ungleichgewicht der Macht (S.54)

5 Subjektorientierung

„Idealerweise gibt es eine Balance der Selbstsorge und der Sorge für andere“ (Conradi 2010, S.96).

Selbstsorge und Sorge für andere scheinen auf den ersten Blick in die entgegengesetzte Richtung zu führen, formulieren jedoch ein Paradox, das einerseits in Balance zu halten ist, sich genseitig bedingen kann, andererseits aber auch sich ganz auf das eine oder ganz das andere beziehen kann.

Den Begriff der Subjektorientierung schließe ich zunächst an den lebensweltorientierten Komparativ des „gelingenderen“ an (vgl. Woog, S.203 und Keupp 2011, S.637). Es geht somit nicht um gelingendes Leben, da ein solches Ideal als Norm kategorisch bestimmt und anderes ausgrenzt. Relativität als Ideal („gelingenderes“ statt „gelingendes“), ist das Gegenteil von Normierung und kann zur Pluralität, etwa zu der Vielfalt einer Lebensweltorientierung befreien. Ebenso ermahnt der Komparativ „subjektorientierter“ (siehe Fragestellung) zunächst zum neuen Zuhören und zur Mühe der Suche nach dem Gegenüber.

5.1 Du als Subjektorientierung

Ähnlich der Relation von Care und Resonanz zu Aktion und Reaktion, verhält es sich mit „Ich und Du“ zum Subjekt. Rosenthal zitiert Buber „ das Du gehört nicht in den Bereich des Gegenständlichen“ (Objekt) und „wo aber Du gesprochen wird ist kein etwas. Du grenzt nicht“ (Rosenthal 1970, S.38). Auch Ich und Du betonen, ähnlich wie Care und Resonanz, eine Offenheit, wohingegen Subjekt als eine „begrenzte“ und damit erfassbare oder festgelegte Einheit verstanden werden könnte und dies in der Geschichte auch so geschehen ist. Als „erfasstes“ Subjekt wird schnell aus einer schwierigen Erziehung ein Schwererziehbarer, ein hoffnungsloser Fall. Subjekt als „eine spezifisch normative Vorstellung von der Person“ (Keupp 2011, S.633) kann so zur `Schublade` werden. Konfliktverantwortung wird individualisiert.

Subjektorientierte Beziehung muss sich demnach im Klaren sein, dass das Verstehen und Wissen über den anderen zeitlich begrenzt, nur bruchstückhaft und immer unter dem Aspekt der Korrektur zu sehen ist (vgl. ebd., S.637. Identität als Prozessgeschehen). Subjektorientierung als Komparativ „subjektorientierter“ betont ebenso die Offenheit, das Unbekannte, das sich auf die Suche machende, die Neugier, den Respekt... Somit bleibt der andere ein ständig zu entdeckendes „Du“ und nicht meine Idee von „Dir“.

In der Jugendhilfesituation hat die Subjektorientierung zum `Du` eine Schlüsselfunktion. An dieser Stelle kommen verschiedene Ansätze unter dem Ziel zusammen einen Zugang zum Kind und Jugendlichen zu finden. Während die Philosophie hier etwa fragt, welche ethischen Voraussetzungen es zur Begegnung benötigt, stellt die Pädagogik die Frage aus der Richtung, was das Kind tun soll, wie Beziehung entstehen kann oder was ihm nützt. Die Kinder- und Jugendlichen Therapie schließlich fragt danach, welche Wirkfaktoren ihrer Interventionen beim `Patienten` erfolgreich sind. Alle Antworten beinhalten große Themen wie Beziehung, Motivation, Sicherheit, Ressourcenorientierung und Empowerment. Während die Therapie unter der Problemaktualisierung (vgl. die „therapieformunabhängigen Wirkfaktoren“ (Grawe 2000, S.21 ff)), nach Beziehungsaufbau, Schaffung von Motivation und Abklärung von Erwartungen, neue Wege mit dem Patienten ergründet und einübt, findet die Pädagogik im Heim die aktualisierten Probleme täglich sozusagen vor der Haustür. Zu beiden Schnittstellen, das `Du suchen` (philosophische Perspektive), sowie unter erschwerten Bedingungen richtige Resonanz erzeugen zu können (diagnostische Perspektive), benötigt die Sozialarbeit unter der Achtsamkeitsperspektive entweder Vernetzungs- oder zusätzliche Eigenkompetenz.

Subjektorientierung `zum Du` beschreibt mitunter eine kreative, fast liebenswerte Suche nach Eventualitäten, die in der Zukunft stattfinden könnten. Schickt man etwa ein Kind mit der Bahn zu den Herkunftseltern und bedenkt nicht, dass auf der Reise Unerwartetes eintreffen und damit ein Ankommen erschwert werden kann, könnte aus der Situation, die das Kind ursprünglich schaffen würde, eine Überforderung werden. Hierzu müssen Vorkehrungen oder Absicherungen getroffen werden. Ebenso gibt es auch eine Suche nach Zielen, nach Förderung, nach Erwartungen. Zusätzlich auf einer weiteren Suche zu sein, nach Ängsten, Hoffnungen, oder Erwartungen die jenseits der Ausdrucksfähigkeit des Kindes liegen, ist ein kreativer Prozess der an die Qualität liebvoller Eltern heranreicht.

Als Ziele der Subjektorientierung der professionellen Jugendhilfearbeit als repolitiserende Forderung, nennt Scherr etwa: „Zweitens befähigt das Paradigma Subjektorientierung dazu, ein gemeinsames, für alle Arbeitsformen und Arbeitsbereiche der Jugendarbeit relevantes Grundverständnis zu formulieren: Die Fragen, was die Selbstachtung und das Selbstwertgefühl Jugendlicher beschädigt, wie ihre Möglichkeiten der eigensinnigen Lebensgestaltung gesellschaftlich eingeschränkt werden und was zur Erweiterung ihrer Möglichkeiten selbstbewussten und selbstbestimmten Handelns zu tun ist, etablieren eine Perspektive, die für die offene und aufsuchenden Jugendarbeit ebenso relevant ist wie für die politische und kulturelle Jugendbildungsarbeit und die Jugendsozialarbeit“ (2003, S.148 ).

Auch schließt die Subjektorientierung `zum Du` die Herkunftseltern, die Kollegen oder etwa die Loyalität zum Arbeitgeber mit ein.

5.2 Ich als Subjektorientierung

Titel wie „Time out statt burn out“ (Löhmer/Standhardt 2012) oder „wirksame Selbsthilfe bei Stress“ (Silverton 2012) rücken das „Ich“ in den Mittelpunkt der Subjektorientierung. Conradi nennt dies „Selbstsorge“ (Conradi 2001, S.45).

Geht man, wie oben beschrieben, davon aus, dass Achtsamkeit im gemeinsamen Prozess entsteht und hält gleichzeitig fest, dass Achtsamkeit in asymmetrischen Beziehungen stark von einem Gefälle ausgeht, in dem nahezu nur der Care giver subjektorientiert handeln soll, frei von der Unterstellung eines Selbstzwecks, so muss man sich der Frage stellen, wie dies gelingen kann?

Im Pioneer House Detroit hat Redl das therapeutische Milieu im Zusammenleben mit „schwierigen Kindern“ (1987, S.3) verwirklicht und (zusammen mit Bettelheim et.al.) oben angesprochene Vernetzung (Professionen) in Inselgruppen umgesetzt. Bei der Lektüre seiner Bücher (Redl 1987 oder Redl/ Wineman: „Kinder die hassen“ 1970) gewinnt man den Eindruck, dass der Autor selbst durch die Einnahme seiner Rolle als Forscher oder Therapeut (z.B. vgl. ebd., S.72 ff) immer wieder eine Distanz zu den Herausforderungen legen kann. Er behält dabei eine Beobachtungsposition ein, mit einer auf seine Berufsrolle reziproken Frage, was `kann ich jetzt am besten tun?` Inhaltlich kreist das Problem um die Möglichkeit des richtigen „life space interviews“ (Redl 1987, S.52 ff), einer Technik, die „Problemaktualisierung“ durch den Alltag sofort im Gespräch aufgreift und unter den verschiedenen Gesichtspunkten der Ressourcenorientierung, der Erwartungsklärung oder etwa der Motivation dem Kind einen „Gewinn“ (ebd., S.55) verschafft. Die Distanz zur eigenen Verstrickung in den Resonanzprozess wird dabei durch ein klares Rollenverständnis innerhalb seiner Profession beibehalten.

Die Profession der Sozialen Arbeit ist gekennzeichnet von der Allzuständigkeit („ alles was das (Alltags-) Leben an Problemen hergibt, kann zum Gegenstand sozialpädagogischer Interventionen werden“ (Galuske 2011, S.933)). Aus dieser Zuständigkeit ergibt sich die Alltagsorientierung. In der Außenwirkung ist dies durchaus problematisch: „Daraus resultiert für die soziale Arbeit die Schwierigkeit, „Kompetenzansprüche in Bezug auf Probleme durchzusetzen (…) Für ein Laienpublikum ist es schwer einsehbar, dass es hier besondere Fähigkeiten oder eines „Experten“ bedarf“ (ebd., S.933). Aus Allzuständigkeit und Alltagsorientierung ergibt sich ein Professionsverständnis, das den Sozialarbeitenden eine wenig konkrete Forschungsfrage mit auf den Weg gibt. So ergibt sich durch mangelnde Wertschätzung und gewollter Alltagsorientierung der Konflikt, sich gegebenenfalls nicht genügend distanzieren zu können. Im Heim braucht die Soziale Arbeit ihr deutlich dargestelltes Thema, um Distanz und Nähe eigenständig formulieren zu können.

Wertschätzung von Institutionen, Anerkennung von der Gesellschaft, Mitarbeit von Herkunftseltern oder ein sich Einlassen von Jugendlichen, beschreiben bereits ein Erwartungsgefälle, das in der Realität nicht immer vorzufinden ist. So bleiben zunächst die Supervision, ein kollegiales Achtsamkeitsverständnis oder etwa der professionelle Selbstschutz (vgl. Schierer 2012, S.26), um die Balance herstellen zu können.

Subjektorientierung zum Anderen hin kann nur unter Beachtung der eigenen Würde gelingen: Die Resonanz auf Care muss nicht Dank- oder Mitarbeit bedeuten, Care kann auch abgelehnt werden, aber Resonanz muss die Würde lassen. Gerät die Balance zu stark ins Ungleichgewicht, ist die Gefahr groß, gerade unter den manchmal zu ertragenden Beschimpfungen, der mangelnden Wertschätzung von Seiten der Gesellschaft (bzw. Institutionen) oder etwa einer empfundenen Hilflosigkeit in Gruppendynamiken, Dankbarkeit oder Würde durch Macht erzwingen zu wollen. Stellt man sich im Umfeld der Sozialarbeitenden in der stationären Jugendhilfe diesen Fragen nicht, so sind Kündigung, Burn out, Wegsehen oder Reaktionen im Affekt mögliche Konsequenzen. Achtsame Selbstsorge formuliert demzufolge Grenzen, engagiert sich auf institutioneller oder politischer Ebene für eigene Belange, sucht und schafft kollegiale Rahmenbedingungen für ein erforderliches Arbeitsklima. Das `Ich` in der Subjektorientierung muss als Akteur und wichtiger Bestandteil gelingender Sozialbeziehungen wahrgenommen werden.

5.3 Subjektorientierung als Bereitschaft zu teilen

Das von Bischof Huber (s.o. 2.1) angesprochene „liebe deinen Nächsten, wie dich selbst“ (z.B. Galater 5,14) ist eine Formulierung, die keinen Teiler, keine Balance, sondern die Qualität („so wie dich selbst“) des Sorgens um den Anderen oder für sich selbst, beschreibt. Geteilt („liebe!“ als Aufforderung) wird im eigentlichen Sinne die Bereitschaft dazu.

Subjektorientierung als Paradox ist auf der Suche nach der richtigen Balance, zwischen Selbst- und Fremdsorge, beschreibt aber nicht eine statisch eingehaltene Mitte.

So darf etwa der Ausgleich zur erhöhten Achtsamkeit nicht vom Kind erwartet werden und Care ohne fördernde Resonanz muss häufig ausgehalten werden. (Eine Grenze wäre etwa die oben beschriebene Würde)

Die Kompetenz der Sozialen Arbeit ist deshalb die Fähigkeit, vor allem in der stationären Jugendhilfe, vorübergehende Ungleichgewichte auszuhalten. In der aktuellen Situation konkurrieren Werte, wie Wahrheit und Vertrauen oder Loyalität und Solidarität. So kann es vorkommen, dass sich ein Erziehender oder eine Erziehende trotz einer, als gut empfundenen Beziehung, vom Jugendlichen, der unter dem Druck der Gruppensolidarität (z.B. die Jugendlichen müssen darstellen, „wie xxx die Erzieher sind“) die ErzieherIn beschimpft, verraten fühlt. Während eigene Gefühle nun unterdrückt werden müssen, werden übergeordnete Ziele dennoch nicht aus dem Blick verloren. Dies stellt eine hohe Kompetenz für die Sozialarbeitenden dar.

Die Fähigkeit überhaupt zu teilen, als Kennzeichen von Sozialarbeitenden vorschnell als Helfersyndrom oder Selbstzweck, wie Pfeiffer – Schaupp (s.o.) sagt, auszulegen, kann hier nicht gelten. Die Jugendhilfe kann ein Ort sein, an dem im Bild gesprochen, `der Samariter überfallen´ und unfreiwillig `geteilt` wird. In Anbetracht dieser Härte die Bereitschaft zu teilen nicht zu verlieren, ist herausfordernd und kann dauerhaft nur gelingen, wenn diese zumindest bemerkt wird. Solche gelebte Haltung stiftet vielen Sozialarbeitenden den Sinn ihrer Motivation und ist besonders wertzuschätzen. Die Bereitschaft hierzu ist bereits Teil einer achtsamen Haltung.

Auf der anderen Seite kann die Jugendhilfe aber auch der Ort sein, an dem der Sozialarbeitende zum Täter wird, wie die Aufarbeitung um Gewalt und Missbrauch in Einrichtungen zeigen. Unter der Fragestellung wird Subjektorientierung so zur Achtsamkeit unter Kollegen, zur Einforderung von institutionellen Notwendigkeiten oder zum Wahrnehmen von Zeichen der Überforderung.

5.4 Subjektorientierung als Verständnissuche (Zuhören, um zu verstehen)

Achtsamkeitsentwicklung innerhalb einer Praxisethik bezieht alle Akteure (Du und Ich) mit ein. Aktuelle Situationen können neu erfahren und bewertet werden. Ein nicht eingrenzendes Subjektverständnis ermöglicht Freiräume für neue Erfahrungen.

Das Hauptmotiv der Achtsamkeit „verstehen zu wollen, um besser handeln zu können“ greife ich hier noch einmal auf:

Aus Sicht asymmetrischer Sozialbeziehungen sucht Subjektorientierung zuerst nach Anschlussfähigkeit: Ronny Lindner untersucht im Rahmen der Definition niederschwelliger Sozialer Arbeit die Anschlussfähigkeit von sogenannten `Nicht – Fällen`. So wurden etwa Obdachlose erst dann zum Fall sozialarbeiterischer Kommunikation, sobald sie sich in den Rahmen einer Hilfestruktur begaben. Suchten sie Notunterkünfte, zum Beispiel aus Gründen der Scham oder Entwürdigung nicht auf und erfroren in kalten Wintern, waren sie demzufolge nicht im System erfasst (von Seiten der Sozialen Arbeit nicht angekoppelt). Aufgabe seiner erweiterten Definition von Niederschwelligkeit war demnach die Suche nach Anschlussfähigkeit zugleich mit einer Entscheidung zur Fallseite. Soziale Arbeit als aufsuchende Struktur, die lediglich die Bereitschaft einer Klientel im Auge hat, Hilfsangebote hinterfragt und Hilfe vor Ort subjektgebunden gestaltet, ist schwer vor dem Finanzgeber zu begründen.“ (Lindner 2008 passim, S. 578-588).

Übertragen bedeutet dies, dass auch die Subjektorientierung in der Jugendhilfe auf der aktiven Suche nach Kopplungsbereitschaft sein muss. In der Wohnungslosen- Hilfe müssen die Sozialarbeitenden die Nähe ihrer Klientel aufsuchen und führen sie, wenn die Signale dazu kommen, in das erweiterte System der Sozialen Arbeit ein. In die Jugendhilfe kommen Kinder und Jugendliche, die sich nicht selbst geschickt haben und sollen in Systeme wie Beziehung, Erziehung oder Bindung `übergeführt` werden.

Unter dem Begriff der „Interrelationalität“ zeigt Conradi zudem, dass in Kommunikation und Beziehungen zwischen Personen mehr zum Tragen kommt, als das, was momentan beschreibbar wäre (Conradi 2001, S.23). Menschen reagieren nicht singulär auf den anderen, sondern sie sind ´verstrickt` in unterschiedliche „Bezüge“ (ebd., S.203) und Motive. Konkret meint dies, dass sowohl Sozialarbeitende in Teams in multiple Erwartungen oder Motivationen „verstrickt“ sind, als auch die Kinder/ Jugendlichen in Erwartungen der Eltern, Ansehen in der Gruppe, Loyalitäten und Solidaritäten etc.. Achtsame Sozialarbeiterische Kommunikation berücksichtigt die Verwobenheit in Lebenslagen als Ursprung möglicher Deutungs- und Handlungszusammenhänge. Zuschreibungen von Verantwortung für Lebenssituationen können in einem größeren Zusammenhang stehen und sollten hinterfragt werden.

6 Berufsethos - Berufswahl

Hier geht es noch einmal um den Moment des Stehenbleibens und des Abwartens (s.o.). Menschen bleiben aus vielerlei Gründen beim anderen stehen. Sozialarbeitende haben bereits mit ihrer Berufswahl in professioneller Hinsicht die Bereitschaft getroffen, sich dem praktischen Diskurs des Helfens und des Zulassens der Hilfe zu stellen.

Kreft/ Mielenz verweisen in ihrem Wörterbuch Soziale Arbeit (Kapitel Berufsethik) auf die in den letzten Jahren wieder neu angeregte Suche nach einem Bezugspunkt der Sozialen Arbeit. Hier werden unterschiedliche Ethikformen vorgestellt. Diskursethik etwa meint, dass `helfen wollen`, als alleiniges Motiv an der Realität einer Sozialen Arbeit mit einem mindestens doppelten Mandat scheitere, `helfen wollen` im Diskurs dagegen, also unter der Anerkennung der Betroffenenforderungen, möglicher sei (vgl. Kreft/ Mielenz 2008, S.269). Eine Verantwortungsethik, die über die fachliche Dienstleistung hinaus sogar Verantwortung für ihre Wirkungen übernehmen und die Selbstreflexion, „in der ethische Probleme als prinzipiell offene Fragen dargestellt werden“ (ebd., S.269), wird als weitere Alternative erwähnt. Meiner Meinung nach können solche Forderungen das „wie soll ich handeln“ (Kant) begründen, beschreiben aber nicht die Pluralität von Motiven.

Bezahlung (und eine im sozialen Sektor vergleichbar niedrige) allein zum Beispiel, ist als Motivationsforderung nicht ausreichend und wird zur Zumutung für beiderlei Parteien - für die Sozialarbeitenden und die AdressatInnen. So wird die Soziale Arbeit anerkennen müssen, dass unterschiedliche Motivationen und Vorstellungen von Ethik sein dürfen und diese den Diskurs mit den Adressatinnen, von verschiedener Stelle aus beginnen. Die Facetten sind unterschiedlich - hier kommen Verschiedenheiten unter dem Dach einer Profession, die das Motiv vertritt, andere Menschen zu fördern, zusammen. Das gemeinsame Motiv `fördern wollen` (welches der Gesetzgeber als „fördern sollen“ ausweist) bezeichne ich als Berufsethos.

Ein notwendiges Korrektiv (spezifischer Diskurs) beschreibt Thiersch dadurch, dass Soziale Arbeit die „…Sicherung durch kollegiale Beratung, Supervision und Evaluation, vor allem aber auch durch Fort- und Weiterbildung“ (2011, S.977) braucht, andererseits sind auch das Jugendhilfegesetz § 1 SGB VIII etc. und die Leistungsbeschreibungen der Einrichtung die Rahmenbedingungen der Tätigkeit.

In der Ausübung der Berufstätigkeit, geht jedoch oft die Sicht für die einstmalige Motivation verloren (vgl. Poulsen 2012, S. 110 ff.). Engagement wird übersehen und `Helfen` wird allein zur Pflicht. Beruf an sich verbaut somit den Zugang zur eigenen Leistungsmotivation.

Achtsames Handeln benötigt im Weiteren für die allgemeine Care der Kompetenz (know how) oder der Weitervermittlung an professionelle Dienste (vgl. Conradi 2006, S.254). Hier wird klar, dass allgemeine Care diese Unterstützung braucht und geradezu das professionelle Element, mit seinen Kompetenzen, Achtsamkeit in vielen Fällen erst verwirklichen kann. Professionelle Soziale Arbeit kann Achtsamkeit entwickeln helfen. Die grundsätzliche Entscheidung (allgemeine Bereitschaft) sich sozial, etwa in der Jugendhilfe, zu engagieren zeigt die Bereitschaft, stehen zu bleiben und sich zuwenden zu wollen.

Das Berufsethos stellt durch den spezifischen Diskurs, dem Vermögen zu verstehen um daraus kompetent Handeln zu können, sowie der grundsätzlichen Bereitschaft sich zuwenden zu wollen, die Soziale Arbeit als eine Achtsamkeitsprofession dar.

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Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2013
ISBN (PDF)
9783956846380
ISBN (Paperback)
9783956841385
Dateigröße
3.7 MB
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,3
Schlagworte
Subjektorientierung Freiwilligkeit Praxisethik Burn Out Jargon
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Titel: Achtsamkeit in der stationären Jugendhilfe: Wie kann ethische Achtsamkeit Beziehungen subjektorientierter gestalten?
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