Die Krimiserie: Spannung und Entspannung zugleich?
Zusammenfassung
Als theoretische Basis dienen der Uses-and-Gratifications-Ansatz, die Kultivierungsthese von George Gerbner, sowie das Vielsehersyndrom.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
2. Theoretische Basis
2.1 Die Krimiserie und ihre Faszination
Unter dem Begriff Fernsehserie wird eine fiktionale Produktion verstanden, die für eine kontinuierlich laufende Ausstrahlung konzipiert wird.[1] Die Krimiserie stellt eine bestimmte Form der Serie dar. Compart bezeichnete den Krimi als die „Königsdisziplin der Serienkultur“.[2]
Es gibt eine Vielzahl an Krimiserien. Diese zeichnen sich nicht nur durch ihre starke Präsenz aus, sondern auch durch ihre inhaltliche Vielfalt.[3]
Zunächst wird beschrieben was in der vorliegenden Arbeit als Krimiserie verstanden wird. Boll spricht von über 2100 verschiedene Krimiserien weltweit, die inhaltlich sehr verschieden sind. Trotz dieser Vielfalt beruhen die Krimiserien auf zumeist relativ ähnlichen, stereotypen Handlungsabläufen und weisen einen hohen Grad an Standardisierung auf.[4]
Nach Boll kann eine Serie zu dem Genre Krimiserien gezählt werden, wenn zumindest folgende Kriterien erfüllt werden:
„Wenn im Mittelpunkt der Handlungen verbrecherische Machenschaften und/oder die Aufklärung von Verbrechen durch Helden bzw. einen Held stehen, wobei die Handlung nicht in der Zukunft angesiedelt ist und der Held bzw. die Helden nicht über überirdische Fähigkeiten verfügen.“ [5]
Werden diese Kriterien erfüllt, unterscheidet Boll 13 weitere Subgenres der Krimiserie:
- In Gangsterserien steht die Handlung eines Verbrechers und seiner Bande im Mittelpunkt. Aufstieg und Fall eines Gangsters, Leben und Sterben in einer Verbrechensorganisation, Auseinandersetzungen unter Gangstern oder mit der Polizei bilden die Geschichten. Beispiele für dieses Genre wären die preisgekrönte Serie „ Die Sopranos “ oder „ Crime Story “.
- Bei Gaunerserien stehen Gentlemangangster im Vordergrund. Gauner planen perfekte Diebstähle und Einbrüche, die dem Wohle der Menschen dienen sollen. Die Opfer sind meist ohnehin reich genug oder oftmals selbst Verbrecher. In einigen Gaunerserien helfen ehemalige Gauner Fälle zu lösen oder arbeiten für Versicherungen. Ein Beispiel ist die Serie „ Die Zwei mit dem Dreh “.
- In Polizeiserien ist der Polizist der Held. Dabei gibt es die unterschiedlichsten Charaktere, wie zum Beispiel den unkonventionellen Haudrauf-Typ (z. B. Kommissar Schimanski in „ Tatort “) oder den verschrobenen Taktiker (z. B. „ Columbo “ oder „ Monk “).
- Bei Detektivserien ermittelt ein Detektiv im Auftrag seines Geldgebers. Oft steht der Detektiv zwischen Polizei und Verbrechern, riskiert viel, begeht kleinere Straftaten und gerät fast bei jedem Fall in Lebensgefahr. Jeder Detektiv hat ganz persönliche Eigenschaften, die zum Markenzeichen der Serie werden. Beispielsweise zählt „ Detektiv Rockford “ oder „ Sherlock Holmes “ zu diesem Genre. Schlüpfen Journalisten in die Rolle eines Detektivs um Verbrechen zu enthüllen, spricht man von Journalistenserien.
- In Agentenserien spielen spezielle Alleskönner die Hauptrolle. Agenten handeln nach ihrem eigenen Willen, reisen durch die Welt um das Böse zu besiegen und um Staat, Volk und Freiheit zu beschützen. Ihre Fähigkeiten sind ähnlich wie die eines Superhelden – mit dem Unterschied, dass die des Agenten noch realistisch sind. Ein typisches Beispiel ist „ James Bond “.
- Bei Justizserien lösen Anwälte, Richter und Staatsanwälte Fälle. Man unterscheidet dabei zwei Formen von Justizserie: Gerichtsserien und Anwaltsserien. Bei Gerichtsserien werden Fälle im Gerichtssaal gelöst. Ein Beispiel für eine Gerichtsserie ist „ Das königlich bayrische Amtsgericht “. Bei Anwaltsserien werden die Fälle oft außerhalb des Gerichtssaales gelöst. Dabei wird der Anwalt auch in seiner privaten Umgebung gezeigt. Eine Serie, die diesem Genres zuzuordnen wäre, wäre „ Matlock “. Die Serie „ Ein Fall für zwei “ ist eine „Mischform“ zwischen Justizserie und Detektivserie, da sowohl ein Anwalt, als auch ein Privatdetektiv zu den Protagonisten zählen.
- In Thrillerserien steht weniger die Lösung eines Falles im Mittelpunkt, sondern das Verbrechen und die Angst des Opfers. Deshalb wechseln die Darsteller in Thrillerserien und die einzelnen Episoden unterscheiden sich inhaltlich voneinander. Ein Beispiel für eine Thrillerserie ist „ The Whistler “.
- In Kinderkrimiserien löst meist eine Gruppe von Kindern Kriminalfälle oder deckt abenteuerliche Geheimnisse auf. Oft werden die Kinder anfänglich von ihren Eltern oder der Polizei nicht ernst genommen. Ein Beispiel hierfür wäre die Serie „ Ein Fall für TKKG “ oder „ Die Knickerbocker Bande “.
- In Reality-Serien werden Videos von Amateuren gezeigt, die zufällig ein Verbrechen gefilmt haben oder Bilder von Kamerateams, die bei einem Einsatz der Polizei dabei waren. In anderen Reality-Serien werden auch authentische Geschehnisse nachgestellt. Diese Form wird als Doku-Drama bezeichnet.[6]
Die meisten Serien bestehen aus Folgehandlungen und Fortsetzungskonzepten, die sich über mehrere Folgen oder sogar über ganze Staffeln erstrecken können. Die Krimiserie weist allerdings meistens einen abgeschlossenen Handlungsbogen auf und ist so in sich abgeschlossen.[7]
Eine Serie ist durch bestimmte Merkmale charakterisiert, welche auch auf Krimiserien zutreffen. So zählen die Regelmäßigkeit, die Endlosigkeit sowie die verwobenen Handlungsstränge zu den wichtigsten Kennzeichen.[8] Mikos ergänzt den Gemeinschaftsverbund als viertes Kennzeichen. Er meint damit, dass Personen in Serien in einen Gemeinschaftsverbund eingegliedert sind. Dies schlägt sich auch in den sozialen und räumlichen Elementen nieder. So sind beispielsweise Personen in Krimiserien alle mit der Polizeistation verbunden.[9]
Kritisch muss der Punkt der Endlosigkeit betrachtet werden, denn eine Serie kann niemals endlos produziert werden.
Das besondere an Krimiserien ist, dass sie zu den wenigen Genres gehören, die keine bestimmte Zielgruppe als Publikum haben. Es gibt weder eine Geschlechter- noch eine Altersdifferenz. Der Krimikonsum nimmt zwar mit dem Alter zu, aber auch beim jüngeren Publikum (14 – 29 Jahre) erfreut sich der Krimi an großer Beliebtheit. Hier muss zwischen den einzelnen Serien unterschieden werden. Während Serien wie „ Tatort “ oder „ Ein Fall für zwei “ eher vom älteren Publikum rezipiert werden, bevorzugen die Jüngeren beispielsweise „ CSI “ oder „ Crossing Jordan “.[10]
Doch was fasziniert das Publikum an Serien, speziell an Kriminalformaten? Für die Faszination ist vor allem die Handlung an sich verantwortlich. Serien basieren auf einem meist einfachen Grundkonzept, das jederzeit durch neue Handlungsstränge, sowie durch hinzukommende Charaktere erweitert werden kann. Wichtig ist, dass die Charaktereigenschaften, sowie die Handlungen und Ereignisse der Figuren übersichtlich bleiben, damit die RezipientInnen leicht folgen können.[11]
Die klassische Kriminalhandlung lässt sich in drei Teile gliedern:[12]
- Verbrechen
- Ermittlung
- Überführung
Das Verbrechen kann somit als auslösender Moment betrachtet werden, dem eine Ermittlung und schlussendlich die Aufklärung des Deliktes und die Überführung des Täters bzw. der Täterin folgt.
Beim Ermittlungsweg lassen sich grundsätzlich zwei verschiedene Handlungstypen unterscheiden:
- Verdeckte Täterführung/Whodunit (= who has done it) Prinzip
Hier steht die Frage nach dem Täter im Mittelpunkt. Diese wird erst am Ende der Folge beantwortet.[13]
- Offene Täterführung/Inverted stories
Hier hingegen ist von Anfang an klar, wer der Täter ist. Im Mittelpunkt steht die Ermittlung der Tatmotive (Whydunit), des Tathergangs (Howdunit) und die Frage wie der Täter überführt werden kann. [14]
Der überwiegende Teil der Krimis basiert auf dem Whodunit Prinzip. Dieses scheint auch bei den RezipientInnen beliebter zu sein, da es mehr Spannung erzeugt.[15]
Ein anderes Stilmittel um die Spannung bei den ZuschauerInnen zu erhalten ist der Einsatz von Rückblenden. Beispielweise wird bei der amerikanischen Krimiserie „ CSI “ oder der österreichischen Produktion „ Schnell ermittelt “ dieses Mittel immer wieder eingesetzt. Die ZuschauerInnen können so auch visuell an der Arbeit der Protagonisten teilhaben. Zugleich bewirken die Rückblenden eine Dramatisierung der Ereignisse.[16]
2.2 Die Nutzung von Krimiserien
Wie im Kapitel 2.1 „Die Krimiserie und ihre Faszination“ beschrieben sind Krimiserien meist durch eine gewisse, aber gut versteckte Einfachheit sowie Begrenztheit gekennzeichnet. Die Begrenztheit der Serienfolge (in der Regel auf 25 – 60 Minuten) macht die Folge leichter konsumierbar und steigert die Integrationsfähigkeit in den Alltag der ZuschauerInnen.[17] Damit ist das Versprechen verbunden, eine Kontinuität gleicher Geschichten mit denselben Figuren und denselben Handlungsräumen herzustellen. Das Publikum darf an dieser anderen Erlebniswelt teilhaben, in denen sich die Figuren mit ihren Abenteuern bewegen.[18] „ Der 'set' von Charakteren innerhalb einer kontinuierlichen Erzählung “, so urteilt bereits Stedman 1971, „ sei für den Erfolg einer Serie verantwortlich.“[19]
Wichtig ist, dass sich die ZuschauerInnen aus dem, was ihnen die Serie anbietet, etwas als Wirklichkeit herausnehmen können.[20] Deshalb ist ein weiterer wichtiger Faktor für die Rezeption von Krimiserien ein großer Realitätsbezug. Ein Beispiel wäre die Serie „ Suspect: True Crime Stories “, bei der ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass die Serie sehr nahe an der Realität liegt.[21]
Durch die versteckte Einfachheit erhalten die RezipientInnen das Gefühl sich in der Serienwelt auszukennen. Das Programm ist vorhersehbar und kontrollierbar, da Krimiserien immer demselben Schema folgen.[22] Diese Art von Programm wird vor allem von Menschen bevorzugt rezipiert, die im alltäglichen Leben kaum über Kontrolle verfügen. Pearlis stellt eine Verbindung zwischen hohem „persönlichen und sozialen Stress“ und der Vorliebe für Fernsehprogramme fest, die „Probleme vergessen lassen“. Demnach ist nicht, wie oft vermutet, die Bildung der RezipientInnen dafür verantwortlich ob Unterhaltungssendungen oder Informationssendungen bevorzugt werden, sondern die Belastung und die Kontrolle im täglichen Leben.[23]
Dieses Erklärungsmodell sieht Angst, Stress und Belastung als Ursache für eine Flucht aus dem Alltag in den Medienkonsum, während die Annenberg-Gruppe die gleichen Ergebnisse der Wirkung eben dieser Medien zuschreibt. Dieser Widerspruch zeigt, dass es in der Medienforschung schwierig ist, die Richtung der Kausalität festzustellen.[24]
2.2.1 Der Uses-and-Gratifications-Ansatz im Bezug auf Krimiserien
Krimiserien bieten unterschiedliche Motive für die RezipientInnen. Neben Spannung und Erregung stellt auch das Mitraten eine Befriedigung für die ZuschauerInnen dar.[25]
Der Uses-and-Gratifications-Ansatz ist immer noch die meist genutzte theoretische Grundlage für empirische Rezeptionsstudien und soll daher im Folgenden dazu dienen die Gründe für die Nutzung von Krimiserien näher zu erklären.[26]
Der Uses-and-Gratifications-Ansatz ist ein Medienwirkungsansatz, der sich mit den Bedürfnissen und Motiven, die Menschen mithilfe von Medien zu befriedigen versuchen, befasst. Die Grundannahme ist, dass individuelle Mediennutzung funktional und nicht beliebig erfolgt.[27]
Dabei wird von einem „aktiven Publikum“ ausgegangen.[28] Konkret ist es also vorstellbar, dass verschiedene Menschen aus ganz unterschiedlichen Gründen genau denselben Medieninhalt konsumieren und dabei ganz unterschiedliche Gratifikationen erlangen.[29]
Nach dem Uses-and-Gratifications-Ansazu können daher folgende Motive im Bezug auf die Krimi-Rezeption als wesentlich betrachtet werden:
- persönliche Beziehungen (Geselligkeit, soziale Nützlichkeit, z. B. für Anschlusskommunikation): [30]
So könnten zum Beispiel zwei Menschen aus ein und demselben Fernsehkrimi ganz verschiedene „Gratifikationen“ beziehen: der eine hofft, Details einer Stadt wiederzuerkennen, in der er den letzten Urlaub verbracht hat, der andere schaut den Film nur deswegen an, um am darauffolgenden Tag in Gesprächen am Arbeitsplatz oder in der Schule „mitreden“ zu können.[31] Die Rezeption massenmedial vermittelter Inhalte wird somit „ als Bindeglied zwischen den spezifischen Interessen und Orientierungen des Individuums und den Gegebenheiten seiner Umwelt “ gesehen.[32]
Ein weiteres Phänomen, das in diesem Kontext erwähnt werden kann, ist das Herstellen von „parasozialen Beziehungen“. Damit ist der Umstand gemeint, dass RezipientInnen versuchen, quasisoziale Beziehungen mit Medienakteuren einzugehen, sich mit ihnen freundschaftlich verbunden fühlen und so handeln, als liege ein direkter persönlicher Kontakt vor. Dieses Phänomen kommt vor allem bei Personen vor, die in ihrem Alltag nur wenig soziale Kontakte haben und ihre gesamte Lebenssituation als belastend und wenig zufriedenstellend empfinden. Diese Personen versuchen über „parasoziale Interaktion“ den Mangel an realen sozialen Kontakten auszugleichen.[33]
- persönliche Identität (Werteverstärkung, Realitätsexploration, Identifikation/Rollenvergleich mit Medienfiguren):[34]
Etwas das viele Krimiserien gemeinsam haben, sind die so genannten Metabotschaften, die moralische Werte vermitteln. In vielen Krimis geht es um den klassischen Konflikt zwischen Gut und Böse, aus dem das Gute meistens als Sieger hervorgeht – wenn auch nicht immer als unumstrittener Sieger. Die häufigste Botschaft ist ganz schlicht: „Crime doesen't pay“ - „Verbrechen zahlt sich nicht aus“.[35]
Wichtig ist, dass das Publikum nicht das Gefühl der Belehrung hat. Bleicher meint dazu: „ Die Zeiten der direkten Einflußnahme [sic!] auf das Publikum in Form von harmonischen 'Serienratgebern' sind vorbei und werden […] durch provokative Elemente ersetzt, die neben der Diskussion in der Serie selbst auch Diskussionen bei den Zuschauern auslösen sollen. “[36]
Außerdem nutzen Menschen die Medien oft dazu, um mehr über sich selbst zu erfahren. Sie versuchen in den Aussagen der Medien z. B. einen „persönlichen Bezug“ zu finden, der ihnen hilft, ihre Persönlichkeit bzw. ihre eigene Situation an der medial vermittelten Darstellung relativieren zu können. „Identifikation“ mit Personen, Handlungen, Situationen oder Ideen (zum Beispiel nach dem Motto „Der/die ist wie ich“ oder „Meine Situation ist so ähnlich“), „Projektion“ von Wünschen, Träumen und Sehnsüchten (nach dem Motto: „So möchte ich auch sein/handeln“), aber auch die „Legitimation“ der eigene Lage (etwa nach dem Motto: „Gott sei Dank geht es mir nicht so schlecht“ oder „Den anderen geht es ja auch nicht besser als mir“) scheinen typische Nutzungsqualitäten dieser „Selbstfindung“ via Medien zu sein.[37]
Auch Sensation Seeking kann hier als ein Grund für das Konsumieren von Krimiserien gesehen werden. Unter Sensation Seeking versteht man ein Persönlichkeitsmerkmal, das sich in einer erhöhten Risikosuche zeigt.[38]
- Unterhaltung, Zeitvertreib oder Ablenkung [39]
Oft werden Krimiserien dazu verwendet, dem Alltag zu entfliehen („Escape-Funktion“) oder um die eigene Stimmung zu regulieren („mood management“). Die RezipientInnen erwarten sich eine „emotionale Befreiung“.[40] Katz und Foulkes haben sich mit eskapistischen Tendenzen beim Mediengebrauch auseinandergesetzt und sehen die Ursache für dieses ihrer Meinung nach typische Verhalten der Menschen in modernen Industriegesellschaften v. a. im Stress, den die tägliche Rollenausübung mit sich bringt. Hoher Medienkonsum, durch welchen man diese psychische Spannung abzubauen sucht, verhilft schließlich zur „ 'narcotization' of other role obligations “.[41]
Das folgende Modell zeigt, dass das Produkt von Vorstellungen (Erwartungen) und Bewertungen die Suche nach Gratifikationen beeinflusst, die dann auf die Mediennutzung einwirkt.[42]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Erwartungs-Bewertungs-Modell gesuchter und erhaltender Gratifikationen (Palmgreen, 1984: S. 56)
Nicht vergessen dürfen Krimiserien werden, die zwar die Erwartungshaltung der ZuschauerInnen wecken, die Erwartungen aber nicht erfüllen. Neben den konservativen Fernsehkrimis mit einem Verbrechen und einem rechtschaffenden Ermittler, der für die Bestrafung am Ende sorgt, gibt es auch Krimis, die die Erwartungshaltungen des Publikums nicht erfüllen. Die Message dahinter lautet, dass sich die Welt keineswegs so leicht in Ordnung bringen lässt (siehe auch Kapitel 2.2.2 „Die Krimiserie - Erregung und Entspannung zugleich“). Allerdings sind die konservativen Krimiserien eindeutig in der Mehrzahl.[43]
Kritik am Uses-and-Gratifications-Ansatz
Obwohl der Uses-and-Gratifications-Ansatz als meist genutzte theoretische Grundlage für empirische Rezeptionsstudien gilt, darf man jedoch keinesfalls vergessen, dass er in einigen Punkten kritikwürdig ist.[44]
Kritisiert wurde etwa die Annahme, dass RezipientInnen bewusst die Auswahl- und Rezeptionsentscheidungen treffen. Da solche Entscheidungen oft genug unbewusst erfolgen, erweist sich die übliche Messung von Motiven in bestimmten Fällen durch Befragung mit Selbstauskunft methodisch tatsächlich als problematisch.[45]
Ein weiterer durchaus ernst zunehmender Kritikpunkt ist der Vorwurf, dass der Uses-and-Gratifications-Ansatz und die damit verbundene Forschung nur individuelle Medienzuwendung beobachtet und Rezeption als Sozialverhalten (z B. gemeinsames Fernsehen) ignoriert.[46]
2.2.2 Die Krimiserie – Erregung und Entspannung zugleich
Barbara Sichtermann stellt fest, dass der Durchschnittsmensch im Fernsehen Erregung und Entspannung zugleich sucht.[47] Die zwei Emotionen laufen parallel ab und diesen Zwiespalt empfinden die ZuseherInnen meist als Vergnügen.[48]
Spannung kann als Wirkungsform der Dramaturgie gesehen werden, die auf der Verteilung von Wissen und der Aktivierung von Emotionen durch den Plot beruht.[49] Unter „ Plot “ wird das verstanden, was der Film oder die Fernsehsendung zeigt. Im Gegensatz dazu steht die „ Story “ oder auch „ Fabel “ genannt. Unter „ Story “ oder „ Fabel “ wird die erzählte Geschichte verstanden, die erst im Kopf der ZuschauerInnen entsteht.[50]
Spannung hervorzurufen und sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzulösen ist das Ziel einer jeden Erzählung. Die Grundvoraussetzung dafür ist jedoch, dass das Publikum überhaupt wissen will, wie es weiter geht.[51]
Wuss erklärt diese Einforderung von Informationen mit dem Kontrollbedürfnis des Menschen. Bei der Rezeption einer Krimiserie handelt es sich dabei natürlich nur um eine passive Kontrolle. In diesem Fall wird versucht einzuschätzen, wie sich die (filmische) Situation entwickeln wird. Durch Hinweise, die im Verlauf der Handlung gegeben werden, wird eine bestimmte Erwartungshaltung aufgebaut.[52]
Spannung kann als grundlegendes Merkmal einer Krimiserie gesehen werden. Das Publikum erwartet ganz bewusst einen gewissen Nervenkitzel.[53]
Der amerikanische Filmwissenschaftler Edward Branigan unterscheidet Spannungsformen danach, wie das Wissen zwischen den Filmfiguren und den ZuschauerInnen zu einem bestimmten Zeitpunkt verteilt ist:[54]
- Mystery
Diese Form der Spannung kommt häufig in Krimiserien vor, in denen der Täter bzw. die Täterin sowohl dem Detektiv bzw. der Polizei als auch dem Publikum unbekannt ist. Der ermittelnde Beamte versucht den Fall mithilfe von Informationen zu lösen. Das Publikum leistet die gleiche Arbeit und ermittelt gewissermaßen mit. ProtagonistInnen und ZuschauerInnen haben also denselben Wissensstand.[55]
- Surprise
Bei dieser Form wissen die ZuschauerInnen weniger als die handelnden Figuren im Fernsehen. So werden die RezipientInnen immer wieder von den Figuren überrascht. Das ist zum Beispiel in Filmen bzw. Serien der Fall, in denen ein Protagonist bzw. eine Protagonistin ein Geheimnis hat, das sich erst nach und nach im Verlauf der Erzählung enthüllt.[56]
- Suspense
Bei der dritten Form der Spannung, dem „ Suspense “ wissen die ZuschauerInnen mehr als die handelnden Figuren.[57]
Der Altmeister der Spannung, Alfred Hitchcock, hat dies an folgendem Beispiel deutlich gemacht:
„ Der Unterschied zwischen Suspense und Überraschung ist sehr einfach, ich habe das oft erklärt. Dennoch werden diese Begriffe in vielen Filmen verwechselt. Wir reden miteinander, vielleicht ist eine Bombe unter dem Tisch, und wir haben eine ganz gewöhnliche Unterhaltung, nichts besonderes passiert, und plötzlich, bumm, eine Explosion. Das Publikum ist überrascht, aber die Szene davor war ganz gewöhnlich, ganz uninteressant. Schauen wir uns jetzt den Suspense an. Die Bombe ist unterm Tisch, und das Publikum weiß es. Nehmen wir an, weil es gesehen hat, wie der Anarchist sie da hingelegt hat. Das Publikum weiß, daß [sic!] die Bombe um ein Uhr explodieren wird, und jetzt ist es 12 Uhr 55 – man sieht eine Uhr. Dieselbe unverfängliche Unterhaltung wird plötzlich interessant, weil das Publikum an der Szene teilnimmt. Es möchte den Leuten auf der Leinwand zurufen: Reden Sie nicht über so banale Dinge, unter dem Tisch ist eine Bombe, und gleich wird die explodieren! Im ersten Fall hat das Publikum fünfzehn Sekunden Überraschung beim Explodieren der Bombe. Im zweiten Fall bieten wir ihm fünf Minuten Suspense. Daraus folgt, daß [sic!] das Publikum informiert werden muß [sic!] , wann immer es möglich ist. Ausgenommen, wenn die Überraschung wirklich dazugehört, wenn das Unerwartete der Lösung das Salz der Anekdote ist. “[58]
Die ZuschauerInnen können Suspense empfinden, weil sie durch die Struktur der Erzählung und der Dramaturgie entsprechend informiert wurden. Allerdings müssen sie einen „doppelten Blick“ realisieren. Einerseits müssen sie wissen was die Figur weiß und andererseits, was sie als ZuschauerIn wissen – immer in Bezug auf die situative Rahmung der Handlung.[59]
In der Regel wird in einem Film oder einer Fernsehserie nicht nur eine Art der Spannungserzeugung verwendet, sondern Mystery, Surprise und Suspense tauchen in wechselnden Kombinationen auf.[60]
In Bezug auf Gewaltdarstellung gibt es bezüglich der Krimiserien keine Verallgemeinerungen. Es gibt die nahezu unblutigen deutschen Vorabendkrimis bis zu den aus den USA kommenden Serien mit expliziten Gewaltdarstellungen.[61]
Der Glaube an ein gutes Ende spielt bei der Rezeption von Krimiserien eine wichtige Rolle. Die ZuseherInnen rechnen bei Krimiserien trotz der negativen Gefühle, wie Angst oder Schrecken, auch immer mit einem gutem Ende.[62] Der Krimi „braucht“ ein Happy End, die Bestrafung des Täters bzw. der Täterin, den Sieg der Moral und die Bestätigung der Ordnungsmacht.[63] „ Ohne diese Strafe wäre die Geschichte wie ein unaufgelöster Akkord in der Musik. Sie hinterließe ein Gefühl der Irritation “,[64] schrieb Raymond Chandler einmal über Krimis, die ihre RezipientInnen ins Ungewisse entlassen oder dem Täter die Strafe ersparen.[65]
Gerade mit dieser „Irritation“ der nicht vollendeten Geschichte spielen Regisseure, die in ihrem Genre den ZuschauerInnen etwas anderes bieten wollen, als „Entspannung durch Spannung“. Ein Beispiel für eine weniger konservative Krimiserie wäre die Wirtschaftskrimi-Reihe „ Schwarz-Rot-Gold “ vom NDR, in denen die Täter reich und ungestraft entkamen.[66]
2.3 Die Wirkung von Krimiserien
„Sowohl die Frage nach der Wirkung von Gewaltdarstellungen im Fernsehen, wie auch die Frage nach der Wirkung des Vielsehens an sich stellen einen 'Dauerbrenner' der Medienforschung dar.“[67]
Viele Forschungsarbeiten beschäftigen sich zwar mit genau dieser Thematik, diese sind aber zugleich auch ungleich und lassen sich deshalb oft nicht vergleichen. Die Forderung nach der einen Theorie der Medienwirkung ist nicht erfüllbar, weil die Medien und ihre Inhalte viel zu unterschiedlich sind. Nach dem Resümee der DFG-Kommission Medienwirkungsforschung sind auch die Randbedingungen, unter denen die Medien wirken, viel zu komplex, als dass es möglich wäre, sie in einem konsistenten Satz von Hypothesen zusammenzufassen.[68]
Trotz vieler unterschiedlicher Forschungen und Ergebnisse zu diesem Thema kann man aber eines mit Sicherheit sagen: eine Grundvoraussetzung für das Fernsehen als soziale Handlung ist das gattungsbezogene Einschätzen und Relativieren des Gezeigten seitens des RezipientInnen. Ein Mordfall, der sich in einer Krimiserie ereignet, ist von den ZuschauerInnen anders zu bewerten als wenn er Gegenstand einer Nachrichtensendung ist. Wäre diese in Programmbereiche, Gattungen und Darstellungsmodi differenzierende Wahrnehmung nicht gegeben, würden die RezipientInnen unterschiedslos die Genres vermischen. Das hätte zur Folge, dass sie über das so entstehende Weltbild mit seiner Sensations- und Verbrechensstruktur verzweifeln müssten.[69]
Im Normalfall laufen kognitive Klassifikationsprozesse, die bei der Rezeption von Fernsehsendungen stattfinden, unbewusst und innerhalb weniger Sekunden oder sogar Sekundenbruchteile ab. So kann ein Fernsehkrimi von den ZuschauerInnen, obwohl diese ihn nur einige Sekunden sehen, sofort dem richtigen Genre zugeordnet werden. Das Zuordnen zu bestimmten allgemeinen Kategorien lernen die RezipientInnen im Laufe ihrer Fernsehsozialisation aus vielen einzelnen Rezeptionserfahrungen. So ist es möglich, Fernsehinhalte in kürzester Zeit zu identifizieren und zu verarbeiten. Das richtige Zuordnen zu einer bestimmten Art von Sendungen sagt den ZuschauerInnen was sie von dessen Inhalt zu erwarten haben und wie dieser zu bewerten ist. Die Zuordnung zu einer Sendung bestimmt aber nicht nur deren Bewertung, sondern beeinflusst damit verbunden auch deren Wirkungspotential. So werden realistisch dargestellte Formate als besonders gewalthaltig wahrgenommen.[70]
2.3.1 Das Fernsehen als Sündenbock
Da Gewalt ein wichtiger Aspekt von Krimiserien ist und oft im Kontext mit der Wirkung erwähnt wird, wird im folgenden Kapitel auf diese eingegangen.
Es geschieht nicht selten, dass der Fernsehen, vor allem die Gewalt, die im Fernsehen gezeigt wird, für die Verrohung der Gesellschaft verantwortlich gemacht wird.[71]
Mit dieser Fixierung auf die Medien wird davon abgelenkt, dass zur Bekämpfung der tatsächlichen Ursache für Gewalt (Armut, Arbeitslosigkeit, mangelnde Zukunftsperspektiven, usw.) nicht genügend getan worden ist beziehungsweise mehr getan werden könnte. Nach dem Medienforscher W. Nutz ist dies ein wichtiger Aspekt der Gewaltdiskussion.[72]
RTL-Geschäftsführer Helmut Thoma meint dazu: „ Sicherlich ist es ganz einfach zu sagen: hier Gewaltdarstellung, daher dort Gewaltausübung. Wahrscheinlich stimmt das nicht so. Die größten Gewalttäter dieses Jahrhunderts waren vermutlich exzessive Konsumenten von Heimatfilmen oder anderen Schmalzkomödien. “[73]
Im Folgenden wird unter personaler Gewalt (Aggression) die beabsichtigte physische und/oder psychische Schädigung einer Person, von Lebewesen und Sachen durch eine andere Person verstanden.
Die Tabelle zeigt die Unterschiede zwischen personaler Gewalt (physische und psychische Gewalt) und struktureller Gewalt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Unterscheidung personale und strukturelle Gewalt (Theunert, 2000: S. 85)
Die Inhaltsanalysen und Studien zur Untersuchung der Auswirkung von Mediengewalt, die bis jetzt durchgeführt wurden, haben sich meistens mit dem Typus natürlicher, fiktiver Gewalt beschäftigt. Unter fiktiver Gewalt wird die Präsentation von Verhaltensweisen, die dies nur vorgeben verstanden und unter natürlicher Gewalt die lebensechte Präsentation (Realfilm).[74]
Gewalt wird von den als gut oder als schlecht charakterisierten ProtagonistInnen erfolgreich als Instrument zur Erreichung von Zielen und zur Lösung von Konflikten eingesetzt. Insgesamt wird gewalttätiges Verhalten in den Unterhaltungssendungen des Fernsehens als normale, alltägliche Verhaltensstrategie gezeigt, auf die auch moralische unbescholtene Individuen ohne Skrupel zurückgreifen. Oft wird diese Gewalt als Notwehr legitimiert. Im Fernsehen werden Handlungsmodelle angeboten, die zeigen, wie mit Hilfe illegitimer Mittel (Gewalt) als legitim anerkannte Ziele (Wohlstand, Macht, Prestige, Gerechtigkeit) erreicht werden können.[75]
Umstritten ist allerdings in der Literatur die Interpretation dieses inhaltsanalytischen Befundes. Die Meinungen gehen auseinander, wenn es um die Wirkung von Gewaltdarstellungen im Fernsehen geht. So behauptet Friedrich Hacker, dass Gewalt die „geheime Botschaft“ der Massenmedien sei. Auch George Gerbner meint, dass das Fernsehen ein Bild einer Welt verbreitet, die violent, erbärmlich und gefährlich sei. Demgegenüber sieht Dolf Zillmann die Hauptbotschaft der Fernsehkrimis darin, dass Kriminelle gefasst und eingesperrt werden, damit die Straßen sicherer werden. Weil das Gute immer siege, sei, nach Zillmann, die Botschaft des Fernsehens, dass die Welt sicher ist.[76]
Tate zeigt mit seiner Studie auf, dass die ZuseherInnen grundsätzlich weniger Gewalt in Fernsehprogrammen wahrnehmen, als aufgrund der Resultate von Inhaltsanalysen erwartet wird. Auch andere Studien erbringen vergleichbare Ergebnisse. Die Einstufung bestimmter Verhaltensweisen als gewalttätig oder nicht variiert sehr stark und ist unter anderem abhängig vom jeweiligen Filmgenre, vom Ausmaß der Identifikation der ZuschauerInnnen mit der Handlung, von ihren Lebenserfahrungen und ihren spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen (vgl. Kapitel 2.2.1 „Der Uses-and-Gratifications-Ansatz im Bezug auf Krimiserien“).[77]
Wie Gewalt wahrgenommen wird, kommt auf den entsprechenden Handlungskontext an. So werden Gewaltakte in Krimiserien von den RezipientInnen nicht automatisch als Gewalt wahrgenommen und eingestuft, da diese aufgrund des Genres schon erwartet werden.[78]
Auf der Basis der Quantität von Gewaltakten einer Sendung ist eine Vorhersage der Zuschauerreaktionen nicht möglich, da es vielmehr auf das Handlungsumfeld der jeweiligen Gewaltakte sowie die Persönlichkeit und das soziale Umfeld der jeweiligen RezipientInnen ankommt.[79]
Als abgesichert kann hingegen folgende Hypothese gelten: je realistischer ein Film oder eine Fernsehsendung beurteilt werden, um so violenter werden sie auch empfunden.[80]
2.3.2 Die Kultivierungsthese im Kontext der Krimiserie
„ What assumptions does television cultivate about facts, norms, and values of society? “[81]
Die Kultivierungsthese ist ein theoretischer Medienwirkungssatz, der davon ausgeht, dass die Menschen der modernen Gesellschaft einen Großteil ihrer Erfahrungen aus der Fernsehwelt ziehen und ihre soziale Realität aus den medial vermittelten Botschaften rekonstruieren.[82] Die Kultivierungsthese besagt, dass bei Personen, die besonders viel fernsehen, eine Verzerrung der Vorstellung von der gesellschaftlichen Realität eintritt – und zwar in Richtung auf die dargestellte „Fernsehwelt“.[83]
Dem Fernsehen kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu, weil es sich aufgrund seiner allgegenwärtigen Verfügbarkeit, seiner hohen Reichweite sowie aufgrund der Gleichförmigkeit seiner Botschaften und Realitätsnähe von anderen Medien unterscheidet.[84]
Bei der empirischen Überprüfung der Kultivierungsthese wird meist wie folgt vorgegangen:
Zunächst werden durch Inhaltsanalysen die kulturellen Indikatoren wie z. B. die Häufigkeit von Gewalt innerhalb des Gesamtsystems Fernsehen erfasst. Es wird also ein Bild der Fernsehwelt gezeichnet, das mit der realen Welt verglichen werden kann. Danach werden die RezipientInnen auf zwei verschiedenen Arten befragt:
1. Fragen, die eine „Fernsehantwort“ und eine (richtige) „reale Welt-Antwort“ zur Wahl stellen. Diese sollen Aufschluss über kultiviertes Faktenwissen (first-order-beliefs) geben.
2. Einstellungs- oder Verhaltensfragen sollen Aussagen über kultivierte Meinungen und Einstellungen (second-order-beliefs) ermöglichen. (Zum Beispiel, ob man Angst habe, nachts alleine spazieren zugehen.)
Aufgrund der Tatsache, dass sich die Antworten von Viel- und Wenigsehern dahingehend unterscheiden, dass erstere deutlich häufiger Fernsehantworten geben und der Fernsehwelt entsprechender Meinung vertreten, wird ein kultivierender Einfluss von der Gerbner-Gruppe als nachgewiesen angesehen. So kam sie zu dem Ergebnis, dass das Fernsehen das Bild einer furchterregenden (mean and scary) Welt vermittelt und so bei Vielsehern zu Angst, Misstrauen und stärkerer Akzeptanz unterdrückender Sicherheitsmaßnahmen führt.[85]
Kritik an der Kultivierungsthese
Gerbners Ansatz und seine Forschungsergebnisse waren jedoch von Beginn an nicht unumstritten.
Die Hauptkritikpunkte sind:
- die schlechte Replizierbarkeit der Ergebnisse durch andere, auch internationale, Studien
- die mangelnde Kontrolle von Drittvariablen, wie beispielsweise soziodemographischer Merkmale
- der unzulässige Kausalschluss, da genauso wie das Fernsehen die Einstellungen der ZuschauerInnen beeinflussen könnte, eben jene Einstellungen die Fernsehnutzung bestimmen könnten[86]
Weitere Kritikpunkte beziehen sich auf die Messung der abhängigen Variable, die Gruppierung in Viel- und Wenigseher sowie die Nonlinearität der Zusammenhänge.[87]
Gerbner nahm diese Beobachtungen zum Anlass, die Kultivierungseffekte in zwei Subprozesse zu differenzieren:
- Mainstreaming: unterschiedliche, durch jeweilige soziale Voraussetzungen bedingte Einstellung werden durch eine intensive Fernsehnutzung absorbiert und zu einer gemeinsamen Auffassung, dem Mainstream, homogenisiert.[88]
- Resonanz: bezieht den Einfluss der Realitätserfahrung von den RezipientInnen mit ein. Wenn Vielseher die Realität so erleben, wie sie im Fernsehen dargestellt wird, wirkt diese konsonante Fernsehbotschaft wie eine starke „Doppel-Dosis“ und verstärkt den Kultivierungseffekt. Dissonante Realitätserfahrungen dagegen schwächen den Kultivierungseffekt ab.[89]
Dies ist jedoch nur schwach empirisch gesichert.[90]
Neue Kultivierungsstudien entfernen sich immer mehr von den traditionellen Grundannahmen und so hat sich die Untersuchung genrespezifischer Kultivierungseffekte und die Anerkennung des aktiven Rezipienten bzw. der aktiven Rezipientin (vgl. → 2.2.1 „Der Uses-and-Gratifications-Ansatz im Bezug auf Krimiserien“) weitgehend etabliert.
Außerdem ziehen neuere Studien zunehmend sozialpsychologische Erkenntnisse zur Informationsverarbeitung mit ein.[91]
Nach ungefähr 30 Jahren Kultivierungsforschung kommen die meisten Studien, wie auch eine Metaanalyse über 58 Einzelstudien zu dem Schluss, dass es einen schwachen aber konsistenten und positiven Zusammenhang zwischen Fernsehnutzung und einem Weltbild, das dem der Fernsehwelt entspricht oder ähnelt, gibt. Welche Variablen und individuellen Verarbeitungsmuster allerdings die Kultivierung beeinflussen, welche psychischen Prozesse ihr zugrunde liegen sowie von welcher Verursachungsrichtung ausgegangen werden kann, ist bisher nicht hinreichend geklärt.[92]
Im Kontext Krimiserie liegt nun folgende Vermutung nahe: Bei Vielsehern verbrechensbezogener Genres [Anm. d. Verf.: unter verbrechensbezogene Genres werden hier hauptsächlich Krimiserien verstanden, aber auch beispielsweise Actionserien, Reality TV, Gerichtsshows, usw.], die dadurch gewalthaltigen Inhalten ausgesetzt sind, lassen sich stärkere Kultivierungseffekte im Bereich Gewalt und Verbrechen beobachten als bei Wenigsehern. Die Ergebnisse verschiedener Studien widersprechen jedoch dieser Annahme. Sie zeigen,
„ (…)dass die Nutzung verbrechensbezogener Genres durchaus Wirkungen auf verbrechensbezogene Kultivierungsmaße hat, aber tendenziell geringere als die Gesamtfernsehnutzung. Andererseits erweisen sich auch Genres, die keine Gewalt thematisieren, als einflussreich. “ [93]
Dies macht deutlich, dass bei der Kultivierung durch verbrechensbezogene Genres nicht von einfachen unbewussten Prozessen im Sinne eines Kausalzusammenhang Inhalt-Wirkung ausgegangen werden kann. Der schwache Kultivierungseffekt könnte durch Drittvariablen, die die intensive Fernsehnutzung begleiten, erklärt werden oder aber auch durch eine umgekehrte Verursachung:
„ Wenn die individuelle Fernsehnutzung von den Einstellungen der Rezipienten beeinflusst wird, dann könnte es sein, dass ängstliche Zuschauer verbrechensbezogene Genres meiden. Vielnutzer dieser Genres wären dagegen eher 'furchtlose Charaktere' und deshalb für Kultivierungseffekte weniger anfällig. “[94]
Eine andere plausible Interpretation liefert Zillmann, indem er einen entgegengesetzten Kultivierungseffekt annimmt.
„Dadurch, dass in verbrechensbezogenen Sendungen die Täter meist gefasst und bestraft werden und am Ende die Gerechtigkeit siegt, vermitteln sie eher ein Bild einer sicheren als einer gefährlichen Welt.“[95]
Merten meint, dass insbesondere fiktionale, verbrechensbezogene Genres deshalb weniger kultivieren, weil hier Gewalt oft unpersönlich, unrealistisch und actionreich dargestellt wird.[96]
Auch wenn Gewalt aufgrund des Genres schon von den RezipientInnen erwartet wird, wird diese als weniger gewaltsam eingeschätzt. So wird die Gewalt in Krimiserie schon im Vorhinein von den ZuschauerInnen erwartet, kommt somit für sie nicht überraschend und wirkt auf sie daher weniger gewaltsam.[97]
Dies heißt auch, dass je vertrauter ZuschauerInnen mit Genrekonventionen sind, desto weniger anfälliger sind sie für die Wirkung dieser Inhalte.[98]
Zillmann und Wakshlag haben gezeigt, dass Kultivierungseffekte nicht nur zwischen verschiedenen Genres, sondern auch innerhalb eines Genres variieren können. In einer Studie zur Kultivierung durch crime drama waren Effekte nur für die Sendungen zu beobachten, in denen die Taten unbestraft blieben (injustice-laden drama).[99]
Für differenzierte Ergebnisse sollte also in Zukunft vor allem bei heterogenen Genres, wie dem Krimi-Genre, spezifische Inhalte und Darstellungsformen mit berücksichtigt werden, um Kultivierungseffekte ausschließen zu können.[100]
[...]
[1] vgl. Hickethier, 1991: S. 8
[2] Compart, 2001: S. 32 zitiert nach Hoffmann, 2003: S. 50
[3] vgl. Hoffmann, 2003: S. 49/50
[4] vgl. Boll, 1994: S. 51
[5] Boll, 1994: S. 57
[6] vgl. Boll, 1994: S. 52 – 56
[7] vgl. Hickethier, 1991: S. 8
[8] vgl. Geragthy, 1994: S. 135
[9] vgl. Mikos, 1987: S. 6
[10] vgl. Bankl, 2011: S. 20
[11] vgl. Hickethier, 1991: S. 30
[12] vgl. Hoffmann, 2007: S. 46
[13] vgl. Hoffmann, 2007: S. 46
[14] vgl. Hoffmann, 2007: S. 46
[15] vgl. Hartmann, 2003: S. 30
[16] vgl. Mikos, 2008: S. 146
[17] vgl. Hickethier, 1991: S. 10
[18] vgl. Hickethier, 1991: S. 30
[19] Stedman, 1977: S. 489, zitiert nach Hickethier, 1991, S. 30
[20] vgl. Hickethier, 1991: S. 40
[21] vgl. Hoffmann, 2007: S. 42
[22] vgl. Hartmann, 2003: S. 30
[23] vgl. Vitouch, 2007: S. 21
[24] vgl. Vitouch, 2007: S. 22
[25] vgl. Hoffmann, 2007: S. 42
[26] vgl. Schweiger, 2006: S. 293
[27] vgl. Schweiger, 2006: S. 293
[28] vgl. Burkart, 2002: S. 221
[29] vgl. Burkart, 2002: S. 222
[30] vgl. Schweiger, 2006: S. 294
[31] vgl. Burkart, 2002: S. 222
[32] Teichert, 1975: S. 270
[33] vgl. Burkart, 2002: S. 228
[34] vgl. Schweiger, 2006: S. 294
[35] vgl. Viehoff, 2005: S. 93
[36] Bleicher, 1992: S. 37
[37] vgl. Burkart, 2002: S. 229
[38] vgl. Singer, 2002: S. 17 – 18
[39] vgl. Schweiger, 2006: S. 294
[40] vgl. Burkart, 2002: S. 228
[41] Katz/Foulkes, 1962: S. 380 zitiert nach Burkart, 2002: S. 228
[42] vgl. Palmgreen, 1984: S. 56 zitiert nach Burkart, 2002: S. 234
[43] vgl. Wissler, 1994: S. 354
[44] vgl. Schweiger, 2006: S. 294
[45] vgl. Schweiger, 2006: S. 294
[46] vgl. Schweiger, 2006: S. 294
[47] vgl. Sichtermann, 1994: S. 97
[48] vgl. Schulze, 2002: S. 59
[49] vgl. Mikos, 2008: S. 142
[50] vgl. Mikos, 2008: S. 48
[51] vgl. Schulze, 2002: S. 45
[52] vgl. Schulze, 2002: S. 56
[53] vgl. Schulze, 2002: S. 59
[54] Mikos, 2008: S. 143
[55] vgl. Mikos, 2008: S. 143
[56] vgl. Mikos, 2008: S. 143
[57] vgl. Mikos, 2008: S. 143
[58] Truffaut, 1999: S. 64
[59] vgl. Mikos, 2008: S. 144
[60] vgl. Mikos, 2008: S. 144
[61] vgl. Hoffmann, 2007: S. 51
[62] vgl. Schulze, 2002: S. 59
[63] vgl. Wissler, 1994: S. 353
[64] Chandler, 1975: S. 77 zitiert nach Wissler, 1994: S. 353
[65] vgl. Wissler, 1994: S. 353
[66] vgl. Wissler, 1994: S. 353/354
[67] Vitouch, 2007: S. 13
[68] vgl. Kunczik, 1994: S. 37
[69] vgl Hickethier, 1991: S. 41
[70] vgl. Hoffmann, 2003: S. 9
[71] vgl. Kunczik, 1994: S. 31
[72] vgl. Kunczik, 1994: S. 31
[73] vgl. Kunczik, 1994: S. 31
[74] vgl. Kunczik, 1994: S. 32
[75] vgl. Kunczik, 1994: S. 33
[76] vgl. Kunczik, 1994: S. 33
[77] vgl. Kunczik, 1994: S. 34
[78] vgl. Kunczik, 1994: S. 34
[79] vgl. Kunczik, 1994: S. 34
[80] vgl. Kunczik, 1994: S. 35
[81] Gerbner zitiert nach Condry, 1989: S. 120
[82] vgl. Rossmann, 2006: S. 145
[83] vgl. Vitouch, 2007: S. 17
[84] vgl. Rossmann, 2006: S. 145
[85] vgl. Hoffmann, 2003: S. 18
[86] vgl. Hoffmann, 2003: S. 18/19
[87] vgl. Rossmann, 2006: S. 146
[88] vgl. Rossmann, 2006: S. 146
[89] vgl. Rossmann, 2006: S. 146
[90] vgl. Hoffmann, 2003: S. 19
[91] vgl. Rossmann, 2006: S. 146
[92] vgl. Hoffmann, 2003: S. 19
[93] Bilandzic, 2002s: S. 61 zitiert nach Hoffmann, 2003: S. 21
[94] Bilandzic, 2002s: S. 61 zitiert nach Hoffmann, 2003: S. 21
[95] Zillmann/Wakshlag, 1985: S. 141 – 156 zitiert nach Hoffmann, 2003: S. 21
[96] vgl. Merten, 1999: S. 118
[97] vgl. Kunczik, 1994: S. 34
[98] vgl. Barker/Petley, 1996: S. 9 zitiert nach Hoffmann, 2003, S. 21
[99] vgl. Hoffmann, 2003: S. 21
[100] Hoffmann, 2003: S. 21
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2012
- ISBN (PDF)
- 9783956846281
- ISBN (Paperback)
- 9783956841286
- Dateigröße
- 1.9 MB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Universität Wien
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Februar)
- Note
- 2
- Schlagworte
- Krimi Krimi-Rezeption Uses-and-Gratifications Fernsehen Krimifan