PISA trifft Bourdieu: Ein Blick auf die Chancengleichheit im (österreichischen) Bildungssystem
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
2.4 Reproduktion sozialer Ungleichheit am Beispiel Bildung
2.4.1 Soziale Schließung
Der Begriff „soziale Schließung“ steht für allgemeine Mechanismen der Reproduktion sozialer Ungleichheit. Die oben skizzierten Klassen in Bourdieus Modell zeichnen sich durch objektive, kulturelle und soziale Unterschiede aus, „die typische Vorstellungen generieren, was sich in ihren Kreisen geziemt und wie Individualität zum Ausdruck kommen sollte“ (Abels 2010:208). Es herrscht innerhalb einer Klasse eine bestimmte Einigkeit darüber, welche Verhaltensweisen und Lebensstile hoch bzw. niedrig bewertet werden. Für Bourdieu stellt die „Aversion gegen andere unterschiedliche Lebensstile“ eine starke Einschränkung innerhalb einer Klasse dar (1987:105-106). Bourdieu spricht auch von einem Klassenzusammenhalt innerhalb einer Klasse und Abgrenzungsmechanismen (Distinktion) gegenüber anderen Klassen (1987:382). Die ungleiche Verteilung von Kapital prägt die Struktur des gesamten Feldes. Das generelle Ungleichgewicht an Kapital bildet die Grundlage für die spezifischen Wirkungen von Kapital, wie etwa die Fähigkeit, Profite anzueignen oder das Durchsetzen von Spielregeln, die dafür sorgen, dass sie für das Kapital und seine Reproduktion so vorteilhaft wie möglich sind (Bourdieu 1997:58).
In jeder Klasse bedingen sich ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital. Innerhalb der Klassen führt die Wechselwirkung zu einer Schließung des sozialen Raums. Ausreichendes ökonomisches Kapital erlaubt beispielsweise lange Ausbildungszeiten, die Kinder erwerben dadurch die „richtige“, im (Bildungs-) Feld angemessene ästhetische Einstellung. Das Verfügen über ausreichend soziales Kapital ermöglicht vielseitige geistige Anregungen und Entwicklungsmöglichkeiten und schafft einen uneinholbaren Vorsprung vor jenen, die nicht über ein derartig anregendes Beziehungsnetz verfügen. Die erlebten Kontakte dienen auch als „Weichensteller“, sie leisten Hilfestellung bei Entscheidungen und erleichtern das (berufliche) Weiterkommen. Genügend ökonomisches und soziales Kapital begünstigen wiederum das kulturelle Kapital. Denn es erweitert sich durch den Kontakt zu ähnlichen Personen gleicher Positionen und gleicher Verhaltensformen. Die Einstellungen und das Selbstbewusstsein werden wechselseitig bestärkt und die herrschende Klasse bleibt in sich geschlossen. Diese Schließung führt dazu, dass die herrschende Klasse die Spielregeln beherrscht und stets verfeinert. Durch Distinktion bleiben die Kapitalarten der herrschenden Klasse exklusiv (Abels 2010:215). Sie sind den anderen, vor allem aufstrebenden Klassen immer einen Schritt voraus. Das gilt auch für Strategien im Bildungsbereich.
2.2.4 Klassenspezifischer Zugang zur Bildung
Der Zugang zur Bildung ist habituell gefärbt. Über „kollektive Wahrheiten“ erzielen die Individuen einer sozialen Gruppe stets Konsens. Konkret erfolgt dies durch wechselseitige Beobachtung und Anerkennung ihres Handelns. Innerhalb eines sozialen Raumes, einer Klasse, herrschen bestimmte kollektive Vorstellungen des richtigen Verhaltens. Auf diese bestimmten Vorstellungen, etwa über Bildung und Bildungswege, lassen sich letztlich die einzelnen Individuen ein und verinnerlichen diese (Abels 2010:211).
Der Begriff des kulturellen Kapitals dient Bourdieu als Ausgangspunkt, die Ungleichheit der schulischen Leistungen von Kindern aus verschiedenen sozialen Klassen einzuordnen. Die Verteilung des kulturellen Kapitals zwischen den Klassen bezieht er auf den Schulerfolg[1]. Seine Überlegungen bilden einen Bruch zu der Auffassung, dass der schulische Erfolg oder Misserfolg auf die Wirkung natürlicher „Fähigkeiten“ zurückzuführen ist (1997:53). (Die Auffassung, dass Erfolg einzig von Fähigkeiten abhängt, liegt auch Theorien vom „Humankapital“ zu Grunde.) Das kulturelle Kapital ist auf mannigfaltige Weise mit der Person verbunden und wird durch „soziale Vererbung“ weitergegeben (Bourdieu 1997:57). Die verborgenen Mechanismen der Vererbung sind schwerer nachzuvollziehen als etwa bei anderen Kapitalarten[2]. Zeit spielt hierbei eine große Rolle, sie ist das Bindeglied zwischen ökonomischem und kulturellem Kapital. Die Familie verkörpert kulturelles Kapital. Innerhalb der Familien herrschen Unterschiede beim Zeitpunkt des Beginns von „Übertragungs- und Akkumulationsprozessen“. Ohne Verzögerung und Zeitverlust kann Kulturkapital nur dann erworben werden, wenn die gesamte Zeit der Sozialisation zugleich auch die Zeit der Akkumulation ist. Es ist eine Tatsache, dass sich diese Zeit für ein Individuum nur dann bietet, wenn ihm seine Familie hierfür von ökonomischen Zwängen freie Zeit garantieren kann (Bourdieu 1997:57-59).
2.5 Ungleichheit der Bildungschancen: Die Illusion der Chancengleichheit
In seinen Studien mit Jean-Luc Passeron in den 1960er Jahren spürt Pierre Bourdieu der Reproduktion der sozialen Positionen in der französischen Gesellschaft nach. Sie betrachten es als illusorisch, dass in der demokratischen französischen Gesellschaft Erfolg im Schulsystem unabhängig von der sozialen Herkunft erachtet wird. Erfolg in den Bildungsinstitutionen reicht nicht aus, um Chancengleichheit bzw. einen Platz in der sozialen Hierarchie zu sichern. Mit dem Mythos der Begabung und schulischer Leistung wird verschleiert, dass Vererbung und Reproduktion eine große Rolle spielen. Für den Handelnden wirkt das jeweilige Ergebnis als individuelles Schicksal wie eine persönliche Entscheidung (Fröhlich/ Rehbein 2009:210), obwohl nicht Begabung und persönliche Leistung, sondern herrschende Reproduktionsstrategien und nicht sichtbare Herrschaftsverhältnisse für Erfolg im Bildungssystem sorgen.
Der Zugang zur Bildung bereitet den Nachkommen der Bourgeoisie eindeutig Startvorteile. Sie häufen bereits im Zuge ihrer Sozialisation bestimmte Formen von kulturellem Kapital an, welche sich Nachkommen der Volksklasse später mühevoll erarbeiten müssen. Bildung erleben erstere als Selbstverständlichkeit. Die Kinder der oberen Klasse werden zu einem sehr wahrscheinlichen Teil ein Hochschulstudium absolvieren und die Vorstellung vom Studium als „normale“ Zukunftsaussicht erleben (Bourdieu/Passeron 1971:20-21). Außerdem führt das Verfügen über finanzielle Mittel dazu, dass sie von früher Berufstätigkeit entbunden sind und eine gute (Elite-)Ausbildung möglich ist. Von klein auf erleben sie außerdem ein häufig weitläufiges soziales Netzwerk, welches sie mit intellektuellen und kulturellen Anregungen versorgt. Bourdieu spricht von einem Multiplikator-Effekt (1997:64-65).
Die Kinder aus bildungsferneren, unteren und mittleren Klassen erleben Bildung auf Grund begrenzter Verfügbarkeit von Kapital als eingeschränkt. Denn nicht nur die finanziellen Mittel, sondern auch die schichtspezifischen Vorstellungen von Bildung erschweren den Zugang zu dieser. Laut Bourdieu/Passeron besteht für die Kinder der unterprivilegierten Klassen nur eine symbolische Chance auf einen Hochschulbesuch[3] (1971:20). Die Wahl eines Ausbildungsganges ist, ohne sich darüber bewusst zu sein, mit dem sozialen Milieu und unterschiedlichen Vorstellungen über Bildung verknüpft. Ein Kind aus der oberen Klasse hat eine 50prozentige Wahrscheinlichkeit, eine Hochschule zu besuchen, während die Chancen eines Kindes aus einer Arbeiterfamilie etwa zwei Prozent betragen. Die Kosten des Studiums, das fehlende Verständnis für Bildung und das Fehlen von bildungsfördernden Netzwerken machen es Kindern aus unteren Schichten nicht einfach, sich zu behaupten. Ein Studium oder Studenten kennt man, wenn überhaupt, aus anderen Milieus. Hinzu kommen auch verborgene Formen von Benachteiligung, wie etwa das „Abgedrängtwerden“ in weniger prestigeträchtige Fakultäten und längere Studienzeiten oder Unsicherheiten bei der Wahl des Studiengangs (Bourdieu/Passeron 1971:20-21).
Die Klassenerfahrung prägt den Habitus und begrenzt die Möglichkeiten des Einzelnen. Jene im Zugang zur Bildung benachteiligten Klassen erfahren auch innerhalb des Bildungssystems Benachteiligung. Aus Passerons und Bourdieus Forschungen kann gefolgert werden, dass Chancengleichheit eine Illusion ist, denn der Habitus der herrschenden Klassen wird als Maßstab genommen und die Klassengesellschaft mit ihren ungleichen Chancen reproduziert sich stets.
2.6 Determinierende Strukturen versus Wahlfreiheit – Zusammenfassung und Kritik
Für Pierre Bourdieu besteht die soziale Welt in Form von objektiven Relationen (Verbindungen, Beziehungen) zwischen Positionen. Diese Relationen beherrschen alle Arten von Verbindungen und leiten in jedem Feld. Dieses große Kräftefeld ist objektiv und für den Einzelnen nicht erkennbar oder veränderbar. In „determinierenden“ Strukturen eingebettet erlebt man die Praxis. Zu den Strukturen gehören statistisch erfassbare Daten über die ökonomische, kulturelle und soziale Lage, wie etwa Alter, Einkommen, Geschlecht und Beruf. Die Praxis besteht aus Handlungsweisen wie Lebensstil, Körperhaltung, Konsum oder politische Einstellung (vgl. Abels 2010:222,223). Der Habitus, das Kernstück von Bourdieus soziologischer Arbeit, ist die vermittelnde Instanz zwischen Struktur und Praxis. Seine spezifische Kohärenz verleiht dem Einzelnen in allen Lebensäußerungen eine relativ stabile Struktur nach eigenen Prinzipien und wirkt stilbildend. Bourdieu betont mehrmals, dass der Habitus nicht als Belastung gesehen wird, sondern als Orientierungshilfe. Er bietet Sicherheit und ist ein konservativer Mechanismus, an deren Bildung die Familie einen entscheidenden Anteil hat, denn innerhalb der dort gemeinsam geteilten unbewussten Praxis wird der Habitus am dauerhaftesten geformt. Im Laufe der Sozialisation entstanden, bleibt er im Lebenslauf relativ starr (Hysteresiseffekt). Mit Hysteresis erklärt Bourdieu den im Laufe des Lebens zunehmenden Konservatismus, aber auch die Reproduktion herrschender Zustände. Neue Situationen werden auf Grundlage früherer Situationen gedeutet (Fröhlich/Rehbein 2009:14).
Gerade Bourdieus Ansicht von herrschenden determinierenden Strukturen wird oft von anderen Soziologen (unter anderem G. Schulze oder U. Beck) kritisiert. Anders als in den von Bourdieu beschriebenen Lebensläufen der 1960er Jahre empfand man in den 1980er Jahren die Lebensläufe als weniger typisch und unterschiedlich. Soziale Klassen wurden nicht mehr als sinnstiftend wahrgenommen. Ulrich Beck ist ein Vertreter der Individualisierungsthese und meint, dass die Menschen aus dem Orientierungsrahmen wie etwa Klasse oder Stand herausgetreten sind (1986:115). Dadurch fehlt es an Schutz, für Beck leben wir in einer Risikogesellschaft. In dieser sind wir ständig gezwungen Entscheidungen zu treffen. Er spricht außerdem von einem „Fahrstuhl-Effekt“ nach oben und meint damit, dass die gesamte Gesellschaft mitsamt ihren Ungleichheiten, eine Etage höher gefahren wurde. D.h. es gibt mehr Einkommen, Recht, Bildung… (1986:121,122). Die Bildungsexpansion zeigt für Beck deutlich auf, dass bei gleicher Bildung die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen besonders deutlich wird (1986:128). Ausbildung und Abschlüsse sind keine Garantie mehr, um dem Risiko der Arbeitslosigkeit zu entgehen. Es fehlt durch die Herauslösung aus traditionellen Sozialformen der Schutz vor Arbeitslosigkeit. Für Beck wird dies nun nicht mehr als Klassenschicksal, sondern, ähnlich wie bei Bourdieu, als persönliches Versagen erlebt (Beck 1986:148).
Auch für Beck werden die Entscheidungen durch das Milieu mitbestimmt, er ergänzt jedoch das Klassenmodell Bourdieus, indem er findet, dass die Last des Lebens vom Individuum selbst getragen wird. Bourdieu spricht nicht von einem Individuum im Sinne Becks, sondern stets von einem vergesellschafteten Individuum, verankert in Relationen. Bourdieu wendet sich bewusst gegen die Theorie des rational gesteuerten Menschen, Verhalten wird nicht aus freien Stücken kalkuliert.
Im Gegensatz zu Bourdieus Klassenverständnis ist auch für Gerhard Schulze keine hierarchische Eindeutigkeit mehr vorhanden. Er sieht die unteren Klassen von Not und Notwendigkeit weitgehend befreit. Sie haben die Möglichkeit zur Stilisierung des Lebens und zur Teilnahme am Erlebnismarkt. In seiner Erlebnisgesellschaft ordnen sich die Menschen über das Kriterium der Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit sozialen Milieus zu. Bildung ist ein Orientierung schaffendes, leicht kodierbares Zeichen, neben Alter, persönlichem Stil und Situationsmanagement, mit dessen Hilfe die Milieuzuordnung erfolgt. Der Bildungsgrad übt einen dominanten Einfluss auf die Milieuwahl aus. Die Bildung des Einzelnen erkennt man nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern vor allem im Freizeitbereich. Bildung ist auch ein Indikator für das Interesse an anderen. Der Bildungsstand wird bei jeder Bekanntschaft ausgetauscht, verschiedene Erlebnisroutinen werden damit verbunden und Milieuzuordnungen dadurch provoziert (Schulze 2005:53,191,192).
Diese Wahlfreiheit ist in Bourdieus Modell nicht gegeben, der klassenspezifische Zugang zur Bildung bzw. durch den Habitus beeinflusste Bildungslaufbahnen sind für ihn quasi vorgegeben. Seine Annahme der vorherrschenden Strukturen bedeutet, dass der Einzelne stets von einer bestimmten Sicht der Dinge ausgeht. So ist Bildung jeweils von einem bestimmten Blickwinkel geprägt. Der Habitus ist demnach ein System aus Grenzen. Jenseits der persönlichen Grenze erkennt man kaum Alternativen. Zwar gleicht auch für Bourdieu keine Identität einer anderen, jedoch sind die Varianten für ihn nur scheinbar. Die sozialen Laufbahnen vergleicht er mit Schienen, deren Verlauf sich ähnelt. Sein Habitus-Konzept widerspricht Vorstellungen, dass es sich bei Lebensstilmomenten um das Resultat von eigenständigen Wahlen handelt.
Wie viel Wahlfreiheit herrscht im Kampf um Ausbildung, Bildungstitel und Wissen? Von welcher Bildung im Land gesprochen wird und welche Ergebnisse Jugendliche bei PISA 2009 erbrachten, wird im folgenden Kapitel dargestellt. Von zentraler Bedeutung ist hier ein Blick auf die Chancengleichheit. Welche Bildungswege den österreichischen Kindern offenstehen und welche Entscheidungen sie hier zu treffen haben spielt eine große Rolle.
3. Konzept und Befunde der PISA-Studie bezogen auf die Chancengleichheit
3.1 Das österreichische Bildungssystem im Überblick
Der Eintritt in die Schule erfolgt mit etwa sechs Jahren, die Schulpflicht endet nach neun Pflichtschuljahren. Nach dem Besuch der Volksschule (Primarstufe) stehen zwei Schulwege zur Sekundarstufe I offen: Der Besuch der Hauptschule, einer Neuen Mittelschule (siehe Kap. 4.2.1) oder der Besuch einer allgemein bildenden höheren Schule (AHS). Die Hauptschule ist vierjährig. Die allgemein bildende höhere Schule ist achtjährig. Im Anschluss an die Hauptschule kann eine einjährige Polytechnische Schule besucht, danach eine Berufsausbildung begonnen und die Berufschule besucht werden. Oder, wie auch nach vier Jahren Gymnasium (AHS), kann ein weiterer Schulweg der Sekundarstufe II einschlagen werden, an der (vierjährigen) Oberstufe der allgemein bildenden höheren Schule oder einer (drei- bzw. vierjährigen) berufsbildenden mittleren Schule (BMS) oder einer (fünfjährigen) berufsbildenden höheren Schule (BHS). Sowohl die allgemein bildenden höheren Schulen als auch die berufsbildenden höheren Schulen schließen mit der Matura (Reifeprüfung) ab und berechtigen zum Besuch einer Universität oder Hochschule.
Für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf bestehen verschiedene Arten von Sonderschulen sowie die Möglichkeiten der integrativen Betreuung.
3.1.1 Schnittstellen und Schultypen
Das österreichische Schulsystem ist von vier bedeutsamen Schnittstellen geprägt. Nach dem Besuch der Volkschule (Primarstufe) bildet der Übertritt in Hauptschule (HS) oder die Unterstufe der AHS (allgemein bildender höherer Schule) die erste Schnittstelle. Hier treffen etwa zehnjährige Schüler/Innen und ihre Eltern eine entscheidende Wahl[4]. Eine weitere Schnittstelle stellt die erneute Differenzierung der Schultypen zwischen der Sekundarstufe I und Sekundarstufe II dar, sie erfordert wiederum eine Laufbahnentscheidung. Die Wahl des Schultyps für die Sekundarstufe I ist theoretisch noch keine Vorentscheidung für die weitere Schullaufbahn. Denn der Zutritt zu den einzelnen Schultypen der Sekundarstufe II ist vom Abschluss der Sekundarstufe I abhängig. Die Statistik-Daten zeigen jedoch, dass sich die Wahl weiterführender Schultypen von Absolvent/Innen der AHS Unterstufe von jenen der HS deutlich unterscheidet (vgl. Kap. 3.2.1). An dieser Schnittstelle stellt sich die Frage, ob die Schullaufbahn endet und eine Berufsausbildung begonnen oder die Schullaufbahn fortgesetzt werden soll. Die letzte Schnittstelle für Schüler/Innen ergibt sich für Absolvent/Innen maturaführender Schulen, welche eine Entscheidung zwischen verschiedenen tertiären Bildungsangeboten und dem Einstieg in die Berufswelt treffen müssen (Specht 2009a:57).
3.1.2 Bildungsströme 2008
Anhand der Bildungsströme 2008 lassen sich die österreichischen Bildungswege nachvollziehen: Die Primarstufe (Volksschule) besuchten im Jahr 2008 ca. 98 % aller Kinder[5]. Nach der vierten Klasse Volkschule wechselten etwa 33 % an die AHS-Unterstufe und ca. 66 % an die HS[6]. Die AHS-Schüler/Innen bleiben zu ca. 61 % und wechseln in die Oberstufe, 30 % entscheiden sich für eine BHS (berufsbildende höhere Schule). Andere Schultypen kamen kaum in Frage (Specht 2009a:57). Das bedeutet, etwa 90 % aller AHS-Unterstufen-Schüler/Innnen blieben maturaführenden Schulen treu. Von den Hauptschüler/Innen wechseln sechs Prozent in die AHS-Oberstufe und ca. 28 % in eine BHS. Das bedeutet, mehr als ein Drittel aller Hauptschüler/Innen besuchte eine zur Matura führende Schule. Eine BMS (berufsbildende mittlere Schule) besuchten ca. 21 % und ca. 28 % aller Hauptschüler/Innen eine PTS (Polytechnische Schule). Etwa acht Prozent haben ihre Pflichtschuljahre bereits durch Wiederholen einer Klasse oder den Besuch der Vorschulklasse nach der Hauptschule erfüllt und beginnen direkt mit einer Berufsschulsausbildung. Etwa gleich hoch ist der Prozentsatz an Schüler/Innen, die nicht in die neunte Schulstufe wechseln, weil sie wiederholen, das Schulsystem verlassen oder (im Schulsystem) nicht auffindbar sind. Nach dem Beenden der Schulpflicht bewegen sich die Bildungsströme noch einmal etwas[7]. Etwa die Hälfte aller Maturant/Innen inskribiert innerhalb von drei Semestern nach der Matura an einer öffentlichen Universität (Specht 2009a:57).
3.2 Was ist PISA?
PISA steht für Programme for International Student Assessment und wurde von der OECD und ihren Mitgliedsstaaten ins Leben gerufen. Es soll Aufschluss bieten, „wie gut 15-/16-jährige Schüler/innen auf die Herausforderungen der Wissensgesellschaft vorbereitet sind.“ (Schwandtner/Schreiner 2010a:10). Anhand standardisierter Messungen werden alle drei Jahre durch PISA Leistungs-, Trend- und Kontextindikatoren von Schülerinnen und Schülern am Ende ihrer Pflichtschulzeit geliefert. Österreich nahm 2009 bereits das vierte Mal an der Erhebung teil. Insgesamt beteiligten sich 65 Länder[8] aus allen Kontinenten. Diese Länder decken fast 90 % der Weltwirtschaft ab. In jedem dieser Länder findet PISA in zufällig ausgewählten Schulen statt. Die Stichprobe beträgt mindestens 4.500 Schüler/Innen in mindestens 150 Schulen, all das findet unter streng kontrollierten Bedingungen statt. In Österreich wurde in etwa 290 Schulen aller Schultypen getestet, je bis zu 35 Schüler/Innen des Jahrgangs 1993 (Schwandtner/Schreiner 2010a:10,12). Die Schüler/Innen befanden sich hauptsächlich in der neunten bzw. zehnten Schulstufe[9].
Die PISA-Studie 2009[10] gibt detailliert Auskunft über das Verständnis der Schülerinnen und Schüler für geschriebene Texte und inwieweit sie diese nutzen und reflektieren können. Neben diesen drei Bereichen der Hauptdomäne Lesen werden auch die Kompetenzen in Mathematik und Naturwissenschaft getestet. Die erhobenen Kontextindikatoren bieten Einsicht in den Zusammenhang von demografischen, sozialen, ökonomischen oder allgemein pädagogischen Variablen mit der Leistung (Schwandtner/Schreiner 2010a:7,10). Die Tests bestehen aus einer Mischung von Multiple-Choice-Aufgaben und von den Schüler/Innen ausgearbeiteten Antworten. Die Tests sind kompetenzorientiert, sie erfassen Wissen und Können zur Lösung lebensnaher Aufgaben. Reines Faktenwissen spielt eine geringe Rolle. Das Ergebnis enthält alle „aggregierten Wirkungen von Unterricht, Schule und Schulsystem und spiegelt darüber hinaus die kumulierten Effekte von Elternhaus, Gesellschaft, Medien oder Freunden wider“ (Schwandtner/Schreiner 2010a:50).
3.3 Interpretation der PISA-Ergebnisse
3.3.1 Interpretationsspielraum
PISA repräsentiert lediglich die beschulte Population. Altersgenossen, die nicht mehr zur Schule gehen (die Out-Of-School-Population) werden nicht erfasst. Problematisch wird der Vergleich von international unterschiedlichen Schulsystemen und unterschiedlicher Out-Of-School-Population, weil vermutlich jene, die keine Schule mehr besuchen, eher geringe Kompetenzen in den getesteten Bereichen erbringen würden. Dies wiederum wirkt sich auf die Testergebnisse aus und kann die Einschätzung des Mittelwerts trüben. Mit ca. sechs Prozent weist Österreich im Vergleich zu anderen OECD-Ländern eine relativ hohe Out-Of-School-Population auf. Der Mittelwert wäre wahrscheinlich niedriger, wenn die Erfassung des gesamten Jahrgangs 1993 möglich gewesen wäre (Schwandtner/ Schreiner 2010a:13) und auch jene Jugendlichen, die keine Schule mehr besuchten, beinhaltet hätte.
Ein weiterer spezifischer Hinweis zur Interpretation der Ergebnisse ist der Boykottaufruf der Schülerunion. Im Frühjahr 2009 herrschte eine angespannte bildungspolitische Stimmung in Österreich: Streitereien innerhalb der Lehrerschaft und Schülerdemonstrationen gegen die Unterrichtsministerin herrschten zum Messzeitpunkt vor. Der Aufruf zum Boykott erfolgte wegen Querelen zwischen Lehrergewerkschaften, BMUKK und Schüler/Innenvertretungen um die Ausweitung der Lehrerarbeitszeit. Der Boykottaufruf wurde nach der ersten Testwoche zwar zurückgezogen, doch kann sich die negative bildungspolitische Stimmung auf die [nicht exakt messbare] Motivation der Schüler/Innen beim Bearbeiten ausgewirkt haben. Trotz allem erfüllte Österreich die vorgegebenen Standards, die Schülerstichprobe ist repräsentativ (Schwandtner/Schreiner 2010a:12-14).
Während in fast allen anderen PISA-Teilnehmerländern die allgemeinbildende Pflichtschulzeit neun oder zehn Jahre dauert, kann die österreichische Berufsbildung bereits im neunten Schuljahr begonnen werden. D.h. dass ab der neunten Schulstufe die unterschiedlichen Schultypen verschiedene Lehrpläne und Schwerpunkte in der Ausbildung setzen. Für den Überblick aktueller PISA-Ergebnisse ist besonders die neunte Schulstufe interessant, das Jahr der Testung[11]. Als Orientierung dienen folgende Vergleichszahlen von allen Schüler/Innen Österreichs: 2008 besuchten 24 % die Oberstufe der allgemein bildenden höheren Schule, 32 % eine berufsbildende höhere Schule, 20 % eine berufsbildende mittlere Schule, 21 % eine Polytechnische Schule, zwei Prozent eine Sonderschule und ein Prozent eine Statutschule (Specht 2009a:59).
PISA ist eine Stichprobenuntersuchung, sie ist so ausgelegt, dass zwar Aussagen über das jeweilige Schulsystem, nicht aber über die einzelnen Schulen möglich sind. Schwandtner/Schreiner sehen ein erfolgreiches Bildungssystem gekennzeichnet durch einen großen Anteil an sehr guten Schüler/Innen und einem möglichst großen Anteil an Jugendlichen, die mit grundlegenden Kompetenzen ausgestattet sind. Im nächsten Kapitel folgen die konkreten Ergebnisse der Schüler/Innen.
3.4 Ergebnisse im Überblick
3.4.1 Lesen
Die Leseleistungen der österreichischen Schüler/Innen liegen unter dem OECD-Durchschnittswert[12]. Österreich liegt mit 470 Punkten signifikant unter dem OECD-Schnitt von 493 Punkten. Innerhalb der 34 OECD-Länder bedeutet dies Platz 31. Die zu erbringenden Leseleistungen der Schüler/Innen beziehen sich auf die im Laufe der Pflichtschulzeit erworbenen Grundkompetenzen, wie z.B. ein Inserat sinnerfassend lesen zu können. Besonders hohe Leistungen erbringen Schüler/Innen aus Finnland und Korea mit Werten von 530 Punkten[13]. Der Wert der Streuung ist in Österreich ebenfalls höher (mit 100 Punkten) als der OECD-Durchschnitt (93 Punkte). Die Streuung zeigt, wie sich die Leistungen innerhalb eines Landes um den Mittelwert verteilen. Bildungssysteme zielen grundsätzlich darauf ab, die Streuung der Leistungen möglichst gering und gleichzeitig auf hohem Niveau zu halten. Für Österreich bedeutet dieser Wert, dass zwar das Niveau hoch ist, jedoch eine eher hohe heterogene Leistungsverteilung im Land besteht (Schwandtner/Schreiner 2010a:16,17,51).
Zur Interpretation der Studie werden die von den Ländern erzielten Punkte auf einer Gesamtskala sieben unterschiedlichen Kompetenzstufen (Levels) zugeordnet[14]. Schüler/Innen des Lese-Levels eins (unterteilt in a und b) besitzen nur für die einfachsten PISA-Leseaufgaben eine Lösungswahrscheinlichkeit von über 50 %. Dieser Level entspricht der „Risikogruppe Lesen“. Hingegen sind Schüler/Innen der obersten Kompetenzstufen (fünf und sechs) in der Lage, mehrfache Schlussfolgerungen zu ziehen, detaillierte und präzise Vergleiche zu machen und Gegensätze zu erfassen. Sie werden als „Spitzengruppe Lesen“ geführt. In Österreich zählen etwa fünf Prozent zur Lese-Spitzengruppe, der OECD-Durchschnitt liegt bei rund sieben Prozent[15]. Der Anteil an Lese-Risiko-Schüler/Innen liegt bei 28 %, der OECD-Schnitt beträgt 19 %[16]. Der Anteil an männlichen Schülern überwiegt innerhalb dieser Gruppe, Mädchen schneiden inter- und national besser ab. Das gemessene Leseengagement der Jugendlichen scheint mit der Lesekompetenz in Verbindung zu stehen. In Österreich ist die Lesefreude gering, die Jugendlichen geben an, dann zu lesen, wenn es sein muss oder um an benötigte Informationen zu gelangen. Zusammengefasst lässt sich sagen, die Jugendlichen der Risikogruppe können gegen Ende der Pflichtschulzeit nur unzureichend sinnerfassend lesen. Sie laufen dadurch Gefahr, in ihrem privaten und gesellschaftlichen Leben erheblich beeinträchtigt zu werden. Der Start ins Arbeitsleben könnte sich ebenfalls schwieriger gestalten (Schwandtner/Schreiner 2010a:18,21,25). Der Unterschied zu anderen Staaten ist signifikant und rückt Österreichs Schulen und Schulpolitik in ein schlechtes Licht. Vor allem wenn man bedenkt, dass das Lesen nicht nur die wichtigste Testdomäne, sondern auch für jeden weiteren Wissenserwerb von zentraler Bedeutung ist.
[...]
[1] Darunter versteht er den Profit auf dem schulischen Markt, welchen die Kinder aus unterschiedlichen Klassen erreichen können, „auf die Verteilung des kulturellen Kapitals zwischen den Klassen und Klassenfraktionen bezogen“ (Bourdieu 1997:53).
[2] Die Weitergabe und der Erwerb des kulturellen Kapitals scheinen sich viel verborgener zu vollziehen als bei ökonomischem Kapital. Wenn Besitz und Geld den Besitzer wechselt, ist dies offensichtlich. Kulturelles Kapital hingegen hat häufig eine symbolische Wirksamkeit, die Logik der Übertragung ist nicht klar ersichtlich (Bourdieu 1997:57-58).
[3] Laut ihren Statistiken liegen die Chancen bei etwa fünf Prozent.
[4] Die Schulnoten tragen zur Entscheidungsfindung bei.
[5] Etwa sieben Prozent begannen ihre Schulpflicht mit der Vorschule, etwa ein Prozent mit der Sonderschule und 0,6 % eine Schule mit anderem Statut (z.B. eine Privatschule).
[6] 1,9 % besuchen die Sonderschule und 1,1 % eine Statutschule.
[7] Ca. 80 % der AHS-Oberstufenschüler/Innen und 75 % der BHS-Schüler/Innen steigen in die zehnte Schulstufe auf.
[8] Darunter sind 34 OECD-Länder.
[9] Ca. 43% der Schüler besuchten die neunte Klasse, ca. 49% die zehnte Klasse. Bei den Schülerinnen sind 42% in der neunten und 52% in der zehnten Klasse getestet worden (OECD 2010:196,197).
[10] Die Studie wurde im Dezember 2010 von der OECD veröffentlicht.
[11] Ca. 60 % der weiblichen und 67 % der männlichen getesteten Jugendlichen befanden sich zum Testzeitpunkt in berufsbildenden Schulformen (exkl. PTS).
[12] Erfasst durch gerundete Mittelwerte.
[13] Einige Ergebnisse von OECD-Mitgliedsländern werden zum Vergleich herangezogen, jene die einen relevanten Kontext für Österreich aufweisen.
[14] Level eins b ist die unterste Stufe, es folgen Level eins a, Level zwei, drei, vier, fünf und sechs.
[15] In Korea sind etwa 13 % der Schüler/Innen auf dem höchsten Leselevel, in Deutschland acht Prozent.
[16] Kleine Risikogruppen weisen Korea mit sechs Prozent und Finnland mit acht Prozent auf, Deutschland entspricht in etwa dem OECD-Durchschnittswert.
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2012
- ISBN (PDF)
- 9783956846809
- ISBN (Paperback)
- 9783956841804
- Dateigröße
- 3.2 MB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- FernUniversität Hagen
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Februar)
- Note
- 2
- Schlagworte
- Soziologie Österreich Habitus Kapital Migration
- Produktsicherheit
- BACHELOR + MASTER Publishing