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Zur Bedeutung der Arbeit mit Pferden in der pädagogisch-therapeutischen Arbeit mit Kindern mit autistischen Verhaltensweisen

©2013 Bachelorarbeit 54 Seiten

Zusammenfassung

Pferde finden häufig Einsatz in der Therapie von Menschen mit Behinderungen. Die medizinische Wirksamkeit des Reitens bei Kindern und Erwachsenen mit körperlichen Behinderungen ist belegt. Die Einsatzmöglichkeiten der Arbeit mit Pferden in der Therapie und Pädagogik gehen aber weit über die medizinische und motorische Förderung hinaus. Ebenso sind die emotionalen und sozialen Fördermöglichkeiten durch den Einsatz von Pferden bekannt.
Auch in Bezug auf die Autismus-Spektrum-Störung liest man von den Erfolgen tiergestützter Therapien, u.a. der Reittherapie. Die Autismus-Spektrum-Störung ist eine immer häufiger diagnostizierte tiefgreifende Entwicklungsstörung bei Kindern und Jugendlichen. Trotzdem werden diese Therapien in der Literatur häufig nur unter „Außenseiter“-Therapien kurz erwähnt. Daher soll hier die Möglichkeiten des Einsatzes von Pferden in der Therapie und Pädagogik von Kindern mit autistischen Verhaltensweisen anhand der herausgestellten Merkmale der Autismus-Spektrum-Störung und den daraus resultierenden Besonderheiten für die pädagogisch-therapeutischen Maßnahmen sowie den speziellen Möglichkeiten des Einsatzes von Pferden erörtert werden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2.1.3. Die Bindungstheorie

„Die Bindungstheorie geht davon aus, dass die Erfahrungen früherer Bindungen an eine oder mehrere Bezugspersonen bzw. deren Fehlen entscheidenden Einfluss auf die sozio-emotionale Entwicklung von Kindern haben.“[1]

Die Bindungstheorie wurde 1969 von John Bowlby aufgestellt. Heute dient sie vor allem als Ansatz in der Humanpsychologie, um Entwicklungsstörungen und psychische Störungsbilder bei Kindern und Jugendlichen zu erklären.[2] Bowlby definierte Bindung als „ein biologisch angelegtes Verlangen nach sozialer Nähe.“[3]

Die ersten Bindungserfahrungen erlebt ein Kind generell in seinem ersten Lebensjahr mit einer Bezugsperson (i.d.R. die Mutter); Die Nähe zur Bezugsperson gilt als „sichere Basis“ und dient zur „(externalen) Regulation vor allem von negativen Emotionen“.[4] Man unterscheidet „sicher gebundene“ und „unsicher gebundene Kinder“.[5] Bei sicher gebundenen Kindern haben die positiven Bindungserfahrungen zu einem starken Vertrauen des Kindes in die Bindungsperson geführt, so dass dieses auch Trennungssituationen zulassen kann.[6] Laut Beetz erlaubt erst „die Kommunikation mit der Bindungsfigur in einer sicheren Bindung eine gesunde psychische Entwicklung.“[7]

Ein Bedürfnis nach Bindung und die Fähigkeit, Bindungen zu anderen Personen aufzubauen, gelten als Grundlage für die gesunde sozio-emotionale Persönlichkeitsentwicklung und psychische Gesundheit.[8] Ebenso gilt die Art der Bindungserfahrungen

als Grundlage für das spätere emotionale und soziale Verhalten des Menschen, für seine Fähigkeit, Emotionen wahrzunehmen, zu bewerten und situationsgemäß auszudrücken ebenso wie für die Qualität seiner Sozialbeziehungen.“ [9]

Bowlby führte als Charakteristika, die eine echte Bindung von anderen sozialen Beziehungen unterscheiden, die folgenden Merkmale an:

- Das Suchen und Aufrechterhalten von Nähe zur Bindungsperson,
- Disstress/Leid bei der Trennung von der Bindungsperson
- Die Nutzung der Bindungsperson als sichere Basis für Exploration.[10]

Beetz überträgt das Konzept der Bindungstheorie nun auf die Mensch-(Haus-)Tier-Beziehung. Sie geht davon aus, dass Menschen „auch zu Tieren tiefgehende Beziehungen aufbauen, die vor allem hinsichtlich emotionaler und sozialer Bedürfnisse positive Auswirkungen haben“.[11] (Haus-)Tiere können für Menschen Bindungsobjekte darstellen und ebenso können Menschen für Tiere ein Bindungsobjekt sein. Beetz erkennt diverse Merkmale in Mensch-Tier-Beziehungen, die, wenn vorhanden, auf eine echte Bindung des Menschen zum Tier hinweisen können. Tiere „spenden Trost und geben Sicherheit und Zuwendung und dies evtl. in einem subjektiv vergleichbar empfundenen Ausmaß wie eine sichere Bindungsfigur.“[12]

Sie verweist darüber hinaus darauf, dass das Erkundungs- bzw. Neugierverhalten gegenüber der Natur durch die Begleitung eines Tieres, zum Beispiel während eines Spaziergangs mit dem Hund oder während eines Ausrittes, stark zunimmt.[13] Sie geht des Weiteren davon aus, dass Menschen durch positive Bindungserfahrungen mit Tieren ihre sozialen und emotionalen Kompetenzen fördern können und diese in der Mensch-Tier-Bindung gewonnenen Erfahrungen und Fähigkeiten auf zwischenmenschliche soziale Beziehungen übertragen werden können.[14] Signifikant höhere Werte von Empathie bei Kindern, die mit Tieren aufwuchsen, konnten ebenso bereits empirisch nachgewiesen werden.[15] Des Weiteren wird oftmals bei Verlust eines Tieres die Intensität der emotionalen Bindung zum Tier deutlich: Die Besitzer des Tieres verspüren echte Trauer, die mit der Trauer über den Verlust eines Familienmitglieds gleichzusetzen ist.[16]

Vernooij geht noch einen Schritt weiter und sagt, dass insbesondere unsicher gebundene Menschen durch die Bindung zu Tieren in gewissem Maße sich eine für sie zufriedenstellende Existenz sichern können. Dies geschieht, weil die „im Umgang mit dem Tier […] aus der Erfahrung mit Menschen resultierenden Vorbehalte, Unsicherheiten und Ängste gegenstandslos werden“.[17] Das Tier erfüllt somit den Zweck, das grundlegende Verlangen nach sozialer Nähe zu befriedigen.

2.2. Fazit

Alle drei oben geschilderten Theorien versuchen die Grundlagen und Merkmale der Mensch-Tier-Beziehung aufzuzeigen, die therapeutischen und pädagogischen Ansatzpunkte darzustellen und den Einsatz von Tieren in Therapie und Pädagogik zu rechtfertigen. Sie basieren auf dem Menschen angeborenen Eigenschaften, die in der Stammesgeschichte des Menschen beziehungsweise der geschichtlichen, engen Verbindung zwischen dem Menschen und der Natur begründet sind. Die konkrete Verbundenheit und der Beziehungsaufbau zum Tier sowie das Anerkennen des Tieres als adäquater Interaktionspartner können positive Wirkungen auf den Menschen haben.

Die genannten Theorien erscheinen zwar m.E. plausibel, aufgrund ihrer Abstraktheit benötigen sie jedoch weiterführender Untersuchungen. Diese theoretischen Erklärungsansätze lassen sich allerdings oftmals kaum objektiv und wissenschaftlich messen.

3. Die Mensch-Pferd-Beziehung

3.1. Mensch und Pferd – eine folgenreiche gemeinsame Entwicklungsgeschichte

Dem Pferd als Begleittier des Menschen kommt seit etwa 1000 v. Chr. eine besondere Bedeutung zu. Über die gemeinsame Entwicklungsgeschichte von Pferd und Mensch standen beide oft in einer engen Beziehung, da das Pferd dem Mensch als Fortbewegungsmittel, Arbeits- und Sozialpartner diente und der Mensch das Pferd in seiner Obhut hegte und pflegte.

Die Rolle des Pferdes hat sich natürlich über die Jahre für den Mensch geändert, entsprechend der Lebenssituation des Menschen; ob früher als Arbeitstier zum Pflügen des Ackers oder generell als Fortbewegungsmittel nutzte der Mensch oft die Stärken des Pferdes, um seine eigenen Schwächen auszugleichen. Jedoch spielt das Pferd auch nach seiner Ablösung als Arbeits- und Fortbewegungsmittel durch Traktoren und Autos in unserer Kultur trotzdem noch eine wichtige Rolle hauptsächlich als Freizeitbegleiter, Sportgerät oder teilweise auch als Prestigeobjekt.[18]

Im Gegensatz zu anderen Nutztieren haben Pferde über die Jahre einen einzigartigen Stellenwert erlangt: Heutzutage gelten sie in besonderem Maße als achtenswert, werden gesegnet und werden oftmals im hohen Alter mit dem Gnadenbrot belohnt. Selbst der Pferdefleischkonsum gilt bei uns größtenteils als Tabu.

3.2. Die artspezifischen Besonderheiten des Pferdes

In dem folgenden kurzen Kapitel werden die artspezifischen Besonderheiten des Pferdes erläutert. Diese werden teilweise im nächsten Kapitel wieder aufgegriffen, um darzulegen, warum das Pferd für den Einsatz in Therapie und Pädagogik besonders geeignet ist.

Pferd gelten durchgängig als edler und achtenswerter Begleiter des Menschen, was sich in ihrem einzigartigen Stellenwert in unserer heutigen Gesellschaft zeigt.[19] Schon lange domestiziert hat das Pferd sich gut an das Zusammenleben mit dem Menschen gewöhnt: Es lässt sich relativ unkompliziert und artgerecht halten und hat im Leben der Menschen eine „tragende“ Rolle übernommen. Kein anderes Tier in unseren Breitengraden ist so zum Reiten geeignet wie das Pferd mit seinen klar getrennten, rhythmischen Gängen.

„Grundsätzlich ist das Pferd von seinem innersten Wesen her seinen Gefährten freundlich und kooperativ gesonnen. Es ist sanft und gutwillig, was es dem Menschen sehr erleichtert hat, das Pferd zu einem Haus- und Nutztier zu machen. Verfügte das Pferd nämlich über einen weniger sanftmütigen und geselligen Charakter, so hätte es seine zweibeinigen Kostgänger, Ausbeuter und Möchtegern-Reiter längst zum Teufel gejagt.“ [20]

Da Pferde Herdentiere sind, bringt ihr Wesen ein generelles soziales Verhalten und ein Verlangen nach sozialen Kontakten mit sich. Die Herdenstruktur bietet dem einzelnen Individuum Sicherheit und die Möglichkeit, feste Bindungen mit anderen Herdenmitgliedern einzugehen aber auch den Kontakt zu anderen Herdenmitgliedern zu meiden. Die Herdenstruktur ist jedoch kein starres System von Dominanz und Unterordnung, sondern eine „soziale Struktur, die mehr auf Freundschaft und situationsbedingter Dominanz beruht als auf einer formal-rigiden Hackordnung.“[21]

Es zeigt sich dem Mensch grundsätzlich offen, unterwirft sich aber nicht bedingungslos wie ein Hund und drängt sich dem Menschen in der Regel nicht auf, wozu Hunde jedoch oftmals durch ihr Wesen neigen. Im Gegensatz zum Beziehungsgefüge Mensch-Hund, müssen sich Menschen die Zuwendungen und das Vertrauen des Pferdes erst erarbeiten.[22]

3.3. Therapeutisches Reiten

„Beim Therapeutischen Reiten steht die Heilung und Förderung der geistigen, sozialen und körperlichen Entwicklung im Vordergrund. Der Erwerb reiterlicher Grundkenntnisse ist zweitrangig.“ [23]

In Deutschland wurde Ende 1970 das „Kuratorium für Therapeutisches Reiten“ gegründet, welches 1992 in „Deutsches Kuratorium für Therapeutisches Reiten“ umbenannt wurde. Bereits seit dem Jahr 1976 bietet das Kuratorium Ausbildungslehrgänge im Therapeutischen Reiten an. Therapeutisches Reiten, als Oberbegriff für den Einsatz von Pferden in Therapie und Pädagogik, wird in die folgenden vier Fachbereiche unterteilt:

- Hippotherapie
- Ergotherapeutische Behandlung mit dem Pferd
- Reiten als Sport für Menschen mit Behinderungen
- Heilpädagogische Förderung mit dem Pferd

Bei der Hippotherapie werden das Arbeiten mit dem Pferd und das Reiten rein medizinisch eingesetzt und von einem Physiotherapeuten mit Zusatzausbildung angeleitet. Es ist eine neurophysiologische Behandlungsweise, die in der Regel ärztlich verordnet wird. Grundlage für die Wirkweise der Hippotherapie sind die dreidimensionalen Schwingungen, die beim Reiten vom Pferd auf den Patienten übertragen werden. Es entstehen hierbei „Impulse, die ein gezieltes Training der Haltungs-, Gleichgewichts- und Stützreaktionen sowie Regulierung des Muskeltonus ermöglichen“.[24]

Unter der ergotherapeutischen Behandlung mit dem Pferd wird eine Behandlung verstanden, die „auf der Grundlage des sensomotorisch-perzeptiven, motorisch-funktionellen und psychisch-funktionellen Ansatzes unter Einbezug des Mediums Pferd“[25] durchgeführt wird. Dementsprechend wird sie von zertifizierten Ergotherapeuten mit entsprechender Zusatzausbildung zur Fachkraft für Ergotherapeutische Behandlung mit dem Pferd durchgeführt. Die Einsatzbereiche sind hier die Behandlung von Kindern und Jugendlichen, die aufgrund organischer Störungen in ihrer Entwicklung beeinträchtigt bzw. behindert sind, die Neurologie, Orthopädie, Traumatologie und die Rheumatologie.[26]

Der dritte Fachbereich, das „Reiten als Sport für Menschen mit Behinderungen“, steht für das Ausüben des Reitsports als Breiten- oder Leistungssport. Beim Sport mit dem Pferd können viele Menschen mit Behinderungen ihre Schwächen ausgleichen. Nennenswert ist außerdem der einhergehende große integrative Aspekt: Das Reiten als Sport für Menschen mit Behinderungen stellt ein „sportliches Lern- und Übungsfeld dar, das [diese Menschen] gemeinsam mit nicht behinderten Menschen nutzen können.“[27]

Die Heilpädagogische Förderung mit dem Pferd (HFP) unterscheidet zusätzlich prinzipiell zwei Durchführungsarten: das Heilpädagogische Reiten und das Heilpädagogische Voltigieren. Die HFP wird bei entwicklungs- und verhaltensgestörten Patienten eingesetzt und zielt auf den Aufbau von Vertrauen und sozialer Beziehungsfähigkeit ab. Als weitere Zielsetzung gelten hier die individuelle Förderung von Wahrnehmung, Motorik, sozialem Verhalten, Kommunikation und Sprache sowie Kognition und Emotion.[28]

Da der Fachbereich der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd auf den Einsatz des Pferdes in der Förderung und Behandlung von sozial retardierten und entwicklungsverzögerten Patienten (in der Regel Kinder und Jugendliche) abzielt, und dieser sich somit bei der Behandlung von Kindern mit autistischen Verhaltensweisen anbietet, werde ich im Folgenden noch genauer auf die Bedeutung des Pferdes für diesen Fachbereich eingehen und die Besonderheiten des hierbei entstehenden pädagogisch-therapeutischen Settings erläutern.

3.4. Die Besonderheiten des Einsatzes von Pferden in der Heilpädagogischen Förderung

In diesem Kapitel werden die spezifischen Besonderheiten des Pferdes erläutert, die die Wirkweise der Heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd bedingen.

3.4.1. Kommunikation

Zuerst gilt es, die Kennzeichen von Kommunikation generell herauszustellen, bevor auf die artspezifische Kommunikation des Pferdes und die damit einhergehenden Besonderheiten der HFP eingegangen wird.

Erhard Olbrich erläutert die grundlegenden Kategorien der Kommunikation in Anlehnung an die Klassifikation durch Watzlawick, Beavin und Jackson: die digitale und die analoge Kommunikation. Die digitale Kommunikation ist beim Menschen die verbale Sprache, die den Zweck hat, Inhalte und Wissen zu vermitteln. Die analoge (nonverbale) Kommunikation beim Menschen nutzt die Mimik, Gestik und Körperhaltung und gilt eher der Darstellung von Gefühlen und Bezogenheit.

„Analoge Kommunikation ist die Sprache der Liebenden,… sie wird immer dann ‚gesprochen‘, wenn intensives Erleben relativ ungebrochen ausgedrückt wird.“ [29]

Sie ist die ursprünglichste Art der Kommunikation und drückt nach Watzlawick et. al. immer eine besondere Bezogenheit und tiefe Verbundenheit aus und ist unumgänglich für die Bildung einer tiefgehenden Beziehung.

„Insofern spielt gerade in der frühkindlichen Entwicklung die Förderung und Fähigkeit zu digitaler und analoger Kommunikation eine große Rolle. Erst wenn ein Mensch gelernt hat, sich sowohl seiner Kognitionen als auch seines inneren Erlebens gewahr zu werden, wenn er sowohl seine positiven als auch seine eher problematischen Eigenschaften erkennen, annehmen und mittels analoger Kommunikation zum Ausdruck bringen kann, hat er die Möglichkeit, mit sich kongruent und für andere authentisch zu sein.“ [30]

Des Weiteren erkennen Watzlawick et al., dass jede Art der Kommunikation einen Inhalts- und Beziehungsaspekt hat.[31] Der Inhaltsaspekt ist die eigentliche Information, die weitergegeben werden soll. Der Beziehungsaspekt hingegen vermittelt Informationen über die Beziehung zwischen Sender und Empfänger. Bei der Kommunikation zwischen Mensch und Tier tritt der Inhaltsaspekt aber in den Hintergrund, weil eine gedankliche Weitergabe von Sachinhalten nicht möglich ist.[32]

Horstmanshoff beschreibt bei Pferden ein differenziertes Kommunikationssystem, welches auf der optischen, olfaktorischen und auditiven Wahrnehmung sowie der taktilen Verständigung basiert.[33] Da sich Pferde hauptsächlich über diese analoge Kommunikation verständigen, haben sie eine äußerst sensible Wahrnehmung für analoge Signale.

Ein Großteil des Kommunikationssystems des Menschen zeichnet sich in der Regel durch eine klare, verbale Verständigung aus. Diese verbalen Signale können aber vom Pferd nicht ausreichend verstanden werden, einzig die Tonlage und dem Pferd antrainierte verbale Zeichen können hier eine verbale Kommunikation zwischen Mensch und Pferd ermöglichen. Verbale Verständigung spielt beim Pferd eine untergeordnete Rolle und es reagiert vorrangig auf die analogen Signale, die der Mensch durch seine Körperhaltung und Körpersprache vermittelt.[34]

Da Mensch wie Pferd soziale Wesen sind, gibt es in der Regel bei beiden ein Interesse, mit dem anderen in Kontakt zu treten. Dies ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche Kommunikation beziehungsweise Interaktion zwischen Mensch und Pferd.[35] Wenn Menschen allerdings zum ersten Mal mit einem Pferd in Kontakt treten oder noch keine Erfahrungen mit der analogen Kommunikation des Pferdes gemacht haben, versuchen sie zuerst verbal-digital zu kommunizieren.[36] Das Pferd reagiert dennoch auf den Menschen, da es dessen unbewusste analoge Signale wahrnimmt und darauf reagiert. Laut Vernooij und Schneider wird der Mensch nun aber nach und nach diese analogen Signale immer bewusster einsetzten und steuern, beispielsweise durch die Nachahmung der Körpersprache des Pferdes.[37] In Anlehnung an die vorherige Klassifikation, bedeutet dies nun, dass, damit es zu einer funktionierenden Kommunikation zwischen Pferden und Menschen kommen kann, die Menschen vor allem analog mit dem Pferd kommunizieren müssen. Nur so können sie dem Pferd echte Bezogenheit entgegenbringen; der Beziehungsaspekt tritt also deutlich in den Vordergrund.[38]

Stoffl erwähnt des Weiteren, dass bei der analogen Kommunikation „keine Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft möglich“[39] ist.

Dies bedeutet, dass die analoge Kommunikation mit dem Pferd sich besonders wegen dem Situationsbezug pädagogisch-therapeutisch nutzen lässt, da hier ein konkreter situationsaktueller Handlungsbezug erkennbar ist.

3.4.2. Interaktion

Das Pferd zeichnet sich durch einen hohen „Aufforderungscharakter“ aus. Laut Gäng fordert das Pferd den Menschen durch seine Erscheinungsform und Bereitschaft zur analogen Kommunikation und Interaktion „direkt zur emotionalen und verbalen Kontaktaufnahme und Auseinandersetzung heraus, [und] dadurch kann sich das Körperbewusstsein [des Menschen] als eine Grundform des Selbstbewusstseins entwickeln.“[40]

Außerdem ist das Pferd ein sehr eigenständiges Wesen und wird somit von seinem menschlichen Gefährten als neutraler Sozialpartner wahrgenommen. Es handelt wertfrei und intuitiv. Sein Verhalten gegenüber dem Menschen ist ehrlich, eindeutig und „weitgehend konstant, also verlässlich und daher gut in Erziehungsprozesse einplanbar.“[41]

Durch das Arbeiten mit und an dem Pferd erkennt der Klient schnell die Empfindungen des Pferdes gegenüber seinen Handlungen beziehungsweise wird durch den Therapeuten auf die Bedeutung dieser Antwort hingewiesen. Anhand der eindeutigen und direkten Antwort auf die Aktion des Klienten durch die Körpersprache des Pferdes zeigt das Pferd seine Zustimmung oder Ablehnung. Dem Klienten können das Verständnis und das Erkennen der wenigen Gesten der Zustimmung bzw. Ablehnung des Pferdes helfen, sich in die Lage des Pferdes hineinzuversetzen und sein Verhalten anhand der ehrlichen Reaktion des Pferdes zu überdenken und gegebenenfalls zu ändern.[42] Dies ist die Grundlage für die Förderung einer sensibleren Selbst- und Fremdwahrnehmung und somit ein wichtiger therapeutisch-pädagogisch nutzbarer Faktor der Arbeit mit und an dem Pferd.

Die Heilpädagogische Förderung mit dem Pferd stellt also einen Rahmen zum Erproben und Festigen grundlegender sozialer Kompetenzen dar. Das Pferd agiert gewissermaßen unbewusst pädagogisch, in dem es konsequent auf zum Beispiel grobes oder aggressives Verhalten reagiert. Es gibt dem Klienten ebenso eine Möglichkeit, sein Verhalten selbst einzuschätzen und zu kontrollieren. Durch das verlässliche und konstante Verhalten des Pferdes kann der Klient „also in der Interaktion mit dem Pferd eine heilsame Geradlinigkeit, Eindeutigkeit und Kongruenz“ erfahren.[43]

Außerdem kann der Therapeut innerhalb des ganzen Pferd-Klient-Interaktions­prozesses anhand der Körpersprache bzw. dem Verhalten des Pferdes Aufschluss über das aktuelle Befinden des Klienten bekommen.

„Schon während des Vorbereitens des Pferdes zum Reiten oder Voltigieren spiegelt das Pferd häufig Stimmungen und Verhaltensweisen des Kindes, die damit offen ansprechbar werden.[44]

Dies ist wichtig, um pädagogische und therapeutische Prozesse individuell zu planen und diese wirkungsvoll zu gestalten.

3.4.3. Der besondere Bewegungsdialog

Prof. Carl Klüwer, Arzt für medizinische Psychotherapie und Initiator des Therapeutischen Reitens, stellt den Bewegungsdialog mit dem Pferd als einen wichtigen, grundlegenden Faktor der Wirkweise von therapeutischem Reiten dar.[45] Klüwer geht davon aus, dass der Bewegungsdialog als tonischer Dialog zwischen Klient und Pferd an den frühkindlichen Bewegungsdialog zwischen Mutter und Kind beim Tragen des Kindes anknüpft, da der Bewegungsfluss des Pferdes dem des menschlichen Ganges ähnelt.[46] Bei beiden Bewegungsdialogen spielen jedoch nicht nur physische Prozesse eine Rolle, sondern ebenso psychische. Diese wesentlichen Aspekte stellen das Besondere des Bewegungsdialogs mit dem Pferd dar. Die einzelnen wirksamen Komponenten werden im Folgenden erläutert.

Der Bewegungsdialog ist durch das Einstimmen und Antworten beider Parteien – Pferd und Mensch – geprägt: Das Pferd ist durch Bewegungskorrekturen stets bemüht, sich selbst mit dem Reiter oder Voltigierer im Gleichgewicht zu halten. Zugleich versucht der Mensch sich dem Rhythmus und den Schwingungen des Pferdes durch Tonusregulation anzupassen.[47]

Das Pferd gibt dem Klienten beim Reiten und Voltigieren ein Gefühl der Sicherheit und des Gehaltenwerdens und dieser nimmt sich selbst und seinen Körper in der Bewegung wahr.[48] Diese Körpererfahrung und das damit einhergehende Körperbewusstsein führen schließlich dazu, dass der Klient erkennt, dass er das Pferd selbst steuern kann (durch Gewichts- und Schenkelhilfen).[49] Dieser Dialog zwischen Pferd und Reiter bzw. Voltigierer ist ein tonischer Dialog, bei welchem der Teilnehmer sowohl etwas über sich als auch über das Pferd erfährt, was somit die Selbst- und Fremdwahrnehmung verbessern kann.

Eine hier analog wirkende Eigenschaft des Bewegungsdialogs Pferd/Klient zu dem Bewegungsdialog Mutter/Kind ist zum einen das frühkindliche Getragen- und Gehaltenwerden und zum anderen die rhythmische Qualität[50] und knüpft möglicherweise ebenso an „vorgeburtliche Erlebnisspuren des Getragen-, Geschaukelt- und Gewiegtwerdens […] im Mutterleib“[51] an.

Beim Tragen stabilisieren das Pferd wie auch die Mutter den Körper des Getragenen zwar, die Eigenaktivität beziehungsweise die Bewegungsinitiative des Getragenen werden aber dennoch zugelassen.[52] Schulz führt hier die Stabilisierung des Kopfes und Unterstützung des Kreuzbeines an, welche als „Schlüsselpunkte des guten Haltens […] ein Sicherheitsgefühl im Sinne von Urvertrauen vermitteln“.[53] Dieses Urvertrauen wird laut Kupper-Heilmann auch von Erikson geschildert.[54] Dieser sieht den vorgeburtlichen beziehungsweise frühkindlichen Bewegungsdialog zwischen Mutter und Kind als essentiellen Bestandteil im Vertrauensbildungsprozess und somit als Grundlage der Entwicklungen gesunder sozialer Beziehungen. Auch laut Kestenberg ist ein zufriedenstellender frühkindlicher Bewegungsdialog zwischen Mutter und Kind essentiell für die Entwicklung des Kindes.[55] Somit ist die Rhythmik sowie das Getragen-und Gehaltenwerden ein wichtiger entwicklungs- und vertrauensfördernder Aspekt der HFP: Der Bewegungsdialog kann an essentielle frühkindliche Erfahrungen anknüpfen oder eben als Ersatz für ausgebliebene frühkindliche Bewegungserfahrungen dienen.

Klüwer schildert hierzu auch, inwiefern die verschiedenen Bewegungsabläufe des Pferdes und der dadurch entstehende Takt verschiedene Wirkungen auf den Reiter/Voltigierer haben kann und dessen Stimmung modifizieren kann.

“Der Viertakt des langsam Schritt gehenden Pferdes wirkt nämlich lösend und entspannend! Der Viertakt des schnellen Schrittes wirkt konzentrierend! Der Zweierschlag im Trab ist, wie schnelle Marschmusik, animierend! Und der Dreierschlag des Galopps mit der Schwebephase beschwingt!“[56]

Die HFP dient also der Förderung der Selbst- und Fremdwahrnehmung und der Modulation der Stimmung. Darüber hinaus bringt der erfolgreiche Bewegungsdialog mit dem Pferd für den Klienten noch eine selbstbewusstseinsfördernde Eigenschaft mit sich: Durch das Erfolgserlebnis, auf dem Pferd geritten bzw. voltigiert zu haben, ohne von diesem heruntergefallen zu sein oder ebenso das große mächtige Tier gelenkt und gesteuert zu haben, erfüllt den Klienten mit Glück und Stolz.[57] Diese positiven Gefühle erhalten laut Stoffl gerade bei verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen einen besonderen Stellenwert: Da jene dazu neigen, Leistungen oftmals zu verweigern, wirkt gerade hier die mit positiven Gefühlen verbundene Selbsterfahrung stark motivierend.[58]

[...]


[1] Vernooij und Schneider S.10

[2] Beetz (2009) S. 133

[3] Beetz (2009) S. 134

[4] Beetz (2003) S. 77

[5] Beides Vernooij und Schneider S.10

[6] Vgl. Beetz (2003) S. 77f

[7] Beetz (2003) S. 79

[8] Vgl. Beetz (2009) S. 135

[9] Vernooij und Schneider S. 10

[10] Vgl. Beetz (2009) S. 141

[11] Beetz (2003) S. 77

[12] Beetz (2003)S. 83

[13] Vgl. Beetz (2009) S. 146

[14] Vgl. Beetz (2003) S. 81

[15] Beetz (2003) verweist auf eine Studie von Poresky & Hendrix (1989) und eine Studie von Paul (1992) S. 81

[16] Vgl. Beetz (2009) S. 146

[17] Vgl. Vernooij (2009) S. 176

[18] Vgl. Stoffl S. 46

[19] Vgl. Stoffl S. 61

[20] Morris S. 62

[21] Morris S. 62

[22] Vgl. Stoffl S. 61

[23] Deutsches Kuratorium für Therapeutisches Reiten e.V. (1) S. 5

[24] Deutsches Kuratorium für Therapeutisches Reiten e.V. (1) S. 6

[25] Deutsches Kuratorium für Therapeutisches Reiten e.V. (4)

[26] Deutsches Kuratorium für Therapeutisches Reiten e.V. (1) S. 12

[27] Deutsches Kuratorium für Therapeutisches Reiten e.V. (2)

[28] Deutsches Kuratorium für Therapeutisches Reiten e.V. (3) S. 5

[29] Vgl. Olbrich (2003c) S. 85

[30] Vernooij und Schneider S. 20

[31] Vgl. Olbrich (2003c) S. 85

[32] Vgl, Vernooij und Schneider S. 17

[33] Vgl. Horstmanshoff S. 19

[34] Vgl. Horstmanshoff 2007 S. 19

[35] Vgl. Stoffl S. 50

[36] Vgl. Vernooij und Schneider S. 20

[37] Vgl. Vernooij und Schneider S. 20

[38] Vgl. Olbrich (2003c) S. 87

[39] Vgl. Stoffl S. 52

[40] Gäng S. 29

[41] Vgl. Gäng S. 28

[42] Vgl. Horstmanshoff S. 18

[43] Vgl. Stoffl S. 52

[44] Vgl. Stoffl S. 71

[45] Vgl. Kupper-Heilmann S. 19

[46] Vgl. Klüwer zit. in Kupper-Heilmann S. 20

[47] Vgl. Voßberg S. 173

[48] Vgl. Stoffl S.53

[49] Vgl. Stoffl S.65

[50] Vgl. Schulz S. 88

[51] Vgl. Schulz S. 88

[52] Vgl. Schulz S. 87

[53] Vgl. Schulz S. 87

[54] Vgl. Kupper-Heilmann S. 20

[55] Vgl. Kestenberg zit. nach Kupper-Heilmann S. 20

[56] Klüwer S. 10

[57] Vgl. Stoffl S. 65

[58] Vgl. Stoffl S. 65

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2013
ISBN (PDF)
9783956846502
ISBN (Paperback)
9783956841507
Dateigröße
780 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Koblenz-Landau
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2
Schlagworte
Biophilie Bindungstheorie Pferd Autismus Asperger
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