Der Auszug aus dem Elternhaus: Deutschland und Finnland im Vergleich
Zusammenfassung
Ein bedeutsamer Trend beim Übergang in das Erwachsensein in europäischen Ländern ist, dass die jungen Menschen heutzutage längere Ausbildungszeiten haben, später auf den Arbeitsmarkt strömen, später heiraten, Eltern werden und teilweise später von zu Hause ausziehen (Chiuri/ Del Boca, 2010). Werden die bedeutsamen Lebensereignisse erst spät vollzogen, so kann sich dies beispielsweise in niedrigen Fertilitätsraten eines Landes niederschlagen. Die Entscheidung, das Elternhaus zu verlassen, hängt von verschiedensten Faktoren ab, die sich von Staat zu Staat unterscheiden. Damit einhergehend divergiert das Auszugsalter innerhalb Europas. Ein bekanntes Beispiel dafür sind die südeuropäischen Staaten, in denen mit knapp 30 Jahren ausgezogen wird. Auf der anderen Seite tun sich die skandinavischen Staaten mit einem sehr jungen Auszugsalter, aber auch positiven Ergebnissen ihrer Bildungssysteme in den letzten Jahren sehr hervor. Deutschland wiederum liegt im europäischen Vergleich des Auszugsalters ebenfalls im oberen Drittel.
Die leitenden Fragestellungen dieser Bachelorarbeit lauten demnach: Von welchen internen und externen Faktoren hängt die Entscheidung für oder gegen einen Auszug ab? Welche Determinanten üben in den europäischen Staaten Finnland und Deutschland jeweils Einfluss auf den Auszug aus dem Elternhaus aus?
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
2.1.2 Theory of reasoned action/ theory of planned behavior
Warum ist es manchen Menschen besonders wichtig, unabhängig vom Elternhaus zu leben und warum ziehen manche Menschen ein harmonisches Zusammenleben mit ihren Eltern vor? In solchen Fragen des Verständnisses menschlichen Handelns oder auch der Vorhersage dessen kommt das Modell der Theory of Reasoned Action (Ajzen/ Fishbein, 1980) zur Anwendung. Das Modell basiert auf den menschlichen Kognitionen, wobei zwei besonders in den Vordergrund rücken: zum einen die Einstellung zum eigenen individuellen Verhalten und zum anderen der subjektiv wahrgenommene soziale Druck, auch subjektive Norm genannt, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten (ebd.). Im Umkehrschluss bedeutet das, dass ein junger Erwachsener umso wahrscheinlicher die Idee auszuziehen (Verhaltensintention) tatsächlich in die Tat umsetzen wird (Verhalten), wenn er dies als positiv bewertet (Einstellung zum in Frage stehenden Verhalten) und den Eindruck hat, dass sein soziales Umfeld, wie z. B. Freunde, diesen Schritt ebenfalls als positiv wahrnehmen werden (subjektive Norm). Die vier Komponenten - Einstellung, subjektive Norm, Verhaltensintention und Verhalten - ergeben zusammen das Grundmodell der TRA, welches in Abbildung 1 dargestellt ist.
Abbildung 1: Grundmodell der Theory of Reasoned Action (TRA)
Eigene Darstellung basierend auf Ajzen/ Madden, 1986
Der Terminus Verhalten muss jedoch auf vier Komponenten eingegrenzt werden: (1) Handlung, (2) Ziel, (3) Kontext und (4) Zeit. Die Handlung kann enger oder auch weiter gefasst definiert werden (Rossmann, 2011). Man kann den Auszug aus dem elterlichen Heim als eine allgemeine Handlung ansehen oder aber als eine Summe von Einzelhandlungen (wie z. B. Wohnungssuche, Umzugskartons packen, Wände streichen…). Bei dem Ziel geht es darum, hinsichtlich welchen Zieles eine Handlung ausgeführt wird. Möchte der junge Erwachsene von zu Hause ausziehen, um in eine andere Stadt zu ziehen, da nur dort ein bestimmter Studiengang angeboten wird? Oder besteht der Wunsch mit einem Partner/ einer Partnerin zusammen zu leben? Der Kontext betrachtet verschiedene Ebenen des Umfeldes, z. B. berufliche (Job in einer anderen Stadt) oder private (Wunsch der Gründung einer Wohngemeinschaft mit dem besten Freund). Die letzte Komponente ist die Zeit. Sie hinterfragt, zu welchem Zeitpunkt das Verhalten ausgeführt wird, z. B. wird nächstes Jahr ausgezogen oder nach dem Schulabschluss oder aber erst nach Beendigung einer beruflichen Ausbildung. Diese vier Komponenten des Verhaltens können jeweils sehr spezifisch oder auch in einem weiteren Sinne definiert werden. Um die Zusammenhänge zwischen Verhalten und Verhaltensintention zu prognostizieren, müssen die Bausteine der TRA in Handlung, Ziel, Kontext und Zeit übereinstimmen. Dieses Prinzip wird auch als das Kompatibilitätsprinzip bezeichnet (Ajzen, 2005). Ebenso kompatibel sollten diese Komponenten mit der Verhaltensintention sein. Die Intention jedoch sollte für eine korrekte Anwendbarkeit auch das Kriterium der Stabilität erfüllen, denn Verhaltensintentionen können sich im Laufe der Zeit verändern (Rossmann, 2011).
Ferner ist anzumerken, dass zwei Grundvoraussetzungen gegeben sein müssen, damit die TRA Gültigkeit erhält. Zum einen geht die TRA von rational denkenden Individuen aus, die alle Möglichkeiten und Konsequenzen bewusst abwägen, bevor sie die Entscheidung treffen eine Handlung auszuführen oder nicht (Rossmann, 2011). Diese Voraussetzung erinnert sehr stark an das SEU-Modell, welches in Kapitel 2.1 erklärt wurde. Das liegt daran, dass sich die TRA in ihren Grundgedanken der Nutzentheorie zuordnen lässt, welche wiederum eine Variante der Handlungstheorie und der RTC ist. Das Verhalten, welches durch die TRA erklärt werden soll, unterliegt der willentlichen Kontrolle, d. h., dass das Individuum, wenn es sich entschließt ein bestimmtes Verhalten auszuführen, ohne Probleme in der Lage sein muss, dieses umzusetzen (ebd.). Wendet man nun die TRA auf die Entscheidung aus dem Elternhaus auszuziehen an, so besitzt sie nur dann Gültigkeit, wenn der junge Erwachsene emotional, physisch, psychisch und finanziell dazu in der Lage ist, eine eigene Wohnung zu führen. Das hieße unter anderem, dass derjenige ökonomisch unabhängig von seinen Eltern sein muss. Denn ist der Adoleszent finanziell abhängig von seinen Eltern, so hängt die Entscheidung, ihrem Sprössling eine eigene Wohnung zu finanzieren, von ihnen ab. Der Nachkomme wäre nicht ohne weiteres in der Lage, seine Handlungsintention in eine tatsächliche Handlung umzusetzen. Dort stieße die TRA auf ihre Grenzen.
Das Hauptaugenmerk liegt jedoch darauf, die Auslöser und Determinanten des Verhaltens zu analysieren. Diese sind - wie bereits erklärt - die Einstellung und die subjektive Norm. Die Einstellung ist wiederum abhängig von den Vorstellungen, die eine Person mit dem Verhalten verbindet (behavioral beliefs) (Ajzen/ Fishbein, 1980). Das bedeutet, es ist mit einer negativen Einstellung zum Auszug aus dem Elternhaus zu rechnen, wenn derjenige glaubt, dass mit überwiegend negativen Konsequenzen zu rechnen ist (z. B. weniger Geld, mehr Haushaltspflichten).
Nun ist davon auszugehen, dass ein Individuum nicht ausschließlich positive oder negative Vorstellungen von besagtem Verhalten hat, sondern beides. Die jeweilige Bedeutung der Vorstellungen für die Einstellung wird von zwei Aspekten bedingt: zum einen von dem Bewertungsgrad der wahrgenommenen Konsequenz und zum anderen von der Stärke der einzelnen Vorstellungen (belief strength) (Ajzen/ Fishbein, 1980). Der Bewertungsgrad impliziert, dass z. B. die eigenständige Erfüllung häuslicher Pflichten (wie den Wocheneinkauf erledigen) als Konsequenz der Gründung eines eigenen Haushalts als beispielsweise sehr negativ (mehr Aufwand, den im Elternhaus die Eltern übernahmen) oder eher positiv (Adoleszent kann die Produkte konsumieren, die er möchte) wahrgenommen werden kann. Die Stärke der Vorstellungen wird aus der vom Individuum wahrgenommenen Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer Konsequenz abgeleitet. Diese Aspekte bewirken, dass trotz ähnlich wahrgenommener Konsequenzen von Individuen die Einstellung eine ganz andere sein kann.
Die subjektive Norm ist ebenfalls auf den Vorstellungen der jeweiligen Person gegründet. Hierbei ist es von Bedeutung, ob wichtige Bezugspersonen ein bestimmtes Verhalten gutheißen bzw. es selbst ausüben oder dies eben nicht tun (normative beliefs) (Ajzen, 2005). Sind also viele Personen des Freundeskreises eines jungen Erwachsenen bereits ausgezogen und deklarieren dies als positive Erfahrung, so wird der junge Erwachsene ein gewisses Maß an sozialem Druck verspüren, ebenfalls aus dem Elternhaus auszuziehen. Jedoch ist die Stärke des sozialen Drucks davon abhängig, inwiefern der junge Erwachsene motiviert ist, sich an der subjektiven Norm zu orientieren.
Wie bereits angedeutet wird die TRA durch vier Voraussetzungen determiniert: Rationalität der Verhaltensentscheidung, das Kompatibilitätsprinzip, die Stabilität der Verhaltensintention und der Grad der willentlichen Kontrolle. Die ersten drei dieser Voraussetzungen sind ebenfalls für die Theory of Planned Behavior (TPB) zutreffend. Diese modifiziert die TRA und unterscheidet sich durch die Erweiterung einer Komponente von der TRA. Diese neue Komponente ist die wahrgenommene Verhaltenskontrolle (perceived behavioral control). Der Grund für diese Erweiterung ist, dass das Verhalten oft nicht willentlich kontrollierbar ist, wobei die TRA an ihre Grenzen stößt. Die TPB bezieht das Faktum, dass Verhalten abhängig von verschiedenen internen und externen Faktoren ist, mit in das Konstrukt ein (Ajzen, 2005).
Die sogenannte wahrgenommene Verhaltenskontrolle beschreibt die unterschiedliche Wahrnehmung, bis zu welchem Grad Menschen ihr Verhalten beeinflussen können. Diese rezipierte Verhaltenskontrolle ist ebenfalls den Einflüssen der Vorstellungen einer Person ausgesetzt (siehe Abbildung 2). Es stellt sich nun die Frage, welche Faktoren die Ausführung des Verhaltens wie stark beeinflussen. Die Quellen dieser Einschätzungen sind in der Regel eigene Erfahrungen, die Erfahrungen anderer, aber auch andere diverse externe und interne Faktoren (Ajzen, 2005). Zusammen genommen lassen diese Vorstellungen die Wahrnehmung darüber, ob ein bestimmtes Verhalten ausgeführt werden kann oder nicht, entstehen. Diese stellt die wahrgenommene Verhaltenskontrolle dar (ebd.).
Abbildung 2: Modell der Theory of Planned Behavior (TPB)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Eigene Darstellung basierend auf Ajzen/ Fishbein, 1980 und Ajzen, 2005
Diese wiederum kann das Verhalten indirekt oder auch direkt beeinflussen. Eine indirekte Einflussnahme geschieht über die motivationale Komponente (Ajzen, 2005). Wenn die Überzeugung, dass ein junger Erwachsener nicht dazu in der Lage ist, eine eigene Wohnung unterhalten zu können, groß ist, so wird die Verhaltensintention ausziehen zu wollen niedriger sein, obwohl die Einstellung und subjektive Norm einen Auszug begünstigen würden. Ein direkter Einfluss entsteht dann, wenn keine willentliche Kontrolle über das Verhalten möglich ist. Zum Beispiel ist kein Wohnraum in einem bestimmten Ort mehr verfügbar, so hat der junge Erwachsene keinen Einfluss darauf, jedoch wird sein direktes Verhalten, dass er nun nicht aus dem Elternhaus ausziehen kann, bis Wohnraum verfügbar oder erschlossen wird, beeinflusst.
Eine weitere mögliche Rolle als Einflussfaktor spielen Hintergrundfaktoren, beispielsweise soziodemografische Fakten, Wertvorstellungen, Ethnie etc.. Diese können bestimmte Vorstellungen begünstigen oder benachteiligen. Dieser Einfluss ist lediglich eine Kann-Bestimmung. Diese Hintergrundfaktoren müssen also nicht zwangsweise Vorstellungen, Einstellungen, Verhaltensintention und Verhalten determinieren (Ajzen, 2005).
Exkurs: Altersnormen und sozialer Druck
Wie aus der TRA und TPB bereits hervorgeht, darf neben der individualistischen Perspektive auf die Auszugsentscheidung die Wirkung sozialer Einflüsse während der Phase des jungen Erwachsenenalters nicht unterschätzt werden. Die Grundidee ist, dass soziale Normen über den „richtigen“ oder „angemessenen“ Zeitpunkt oder das Alter für wichtige Lebensereignisse wie den Auszug aus dem Elternhaus, die Eheschließung oder Familiengründung existieren. Dabei führt der Vergleich mit Gleichaltrigen zur jeweiligen Schlussfolgerung, ob der/ die junge Erwachsene in entsprechenden Lebensereignissen mit der Zeit gehen oder nicht (Liefbroer / Billari, 2007).
Die erläuterten normativen Vorstellungen werden unter anderem über soziale Netzwerke und bedeutsame Bezugspersonen der jungen Erwachsenen vermittelt. Diese sind vor allem Eltern und Freunde, wobei es unterschiedliche Stärken des jeweiligen Einflusses je nach Auszugsmotiv gibt. Die normativen Wertungen spielen nach Goldscheider eine untergeordnete Rolle, wenn auf Grund äußerer Einflüsse, z. B. Beginn eines Studiums, ausgezogen wird (Goldscheider/ Goldscheider, 1989). Ist die Intention jedoch Unabhängigkeit und Individualismus erlangen zu wollen, so liegt der Gedanke nahe, dass diese Werte eher über die Peer Group, also Gleichaltrige und Freunde, vermittelt werden. Da allerdings viele junge Erwachsene auf die finanzielle Unterstützung ihrer Eltern angewiesen sind, um eine eigene Wohnung zu finanzieren, haben die Einstellungen der Eltern ebenfalls einen starken Einfluss. Ihrem Einfluss kommt eine besondere Rolle zu bei dem Auszugsmotiv des Zusammenzuges mit dem/ der Partner/ in. Denn in diesem Fall liegt kein direkter zwingender externer Auszugsgrund vor, sodass es auf die Rolle der Eltern ankommt, ob sie das Paar in ihrem Vorhaben unterstützen möchten (Goldscheider/ Da Vanzo, 1989). So kann bei Liefbroer und Billari (2007) ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Einstellung zum Auszug aus dem Elternhaus der Eltern und dem tatsächlichen Auszugsalter konstatiert werden - besonders wenn mit einem/r Partner/ in eine Lebensgemeinschaft eingegangen werden sollte. Es gab jedoch keine signifikanten Zusammenhänge zwischen normativen Vorstellungen und dem Auszug, um allein zu leben (Liefbroer/ Billari, 2007).
Die Umsetzung eines Auszugsvorhabens ist trotz sozialer Einflüsse abhängig von externen Faktoren. Bevor diese in Kapitel 4 konkret erläutert werden, wird zunächst das Grundgerüst des Verständnisses der Wohlfahrtsstaaten nach Esping-Andersen erläutert werden.
2.1.3 Wohlfahrtsstaaten nach Gøsta Esping-Andersen
Der Terminus „Wohlfahrtsstaat“ (welfare state) charakterisiert eine bestimmte Art der Tätigkeit des Staates. Dieser spielt hierbei in entsprechenden Ländern eine aktive Rolle in der Steuerung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Prozesse. Des Weiteren widmet der Staat einen großen Teil seiner Ressourcen, auf Grund des Wunsches nach Gleichheit der Lebenschancen in den Dimensionen der Einkommenssicherung, Gesundheit, des Wohnens und der Bildung, sozialpolitischen Zwecken (Nohlen, 2001).
Die wohlfahrtsstaatlichen Voraussetzungen können je nach Nation verschieden sein. Deutschland und Finnland repräsentieren zwei der bedeutendsten Wohlfahrtsstaatsmodelle in Europa. Die Unterscheidung in die drei idealtypischen wohlfahrtstaatlichen Modelle ist auf den Dänen Gøsta Esping-Andersen zurückzuführen. Er unterscheidet in: liberale Wohlfahrtsstaaten, korporatistische bzw. konservative Wohlfahrtsstaaten und sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten (Esping-Andersen, 1990.). Diese Unterscheidungen basieren u. a. auf den drei grundlegenden Wohlfahrtsproduzenten Staat, Markt und Familie.
Zentrale Aspekte für diese Typologie sind der Stratifizierungsgrad und der Dekommodifizierungsgrad (ebd.) Die Stratifizierung bezeichnet die Strukturierung der sozialen Differenzen einer Gesellschaft. Sie stellt heraus, ob eine Schichtung der Gesellschaft durch den Sozialstaat gefördert wird, beispielsweise ob es eine Beschränkung der fördernden Sozialleistungen auf bestimmte Gruppen gibt, oder ob alle Bürger in vergleichbarer Weise von den Leistungen profitieren können (Dommermuth, 2008).
Die Dekommodifizierung misst die Entkoppelung des Lebensunterhaltes eines Individuums vom Arbeitsmarkt bzw. misst Höhe und rechtliche Verankerung der Sozialleistungen (ebd.). Esping-Andersen wendet sich somit von dem Grundgedanken ab, das Wohlfahrtsniveau eines Staates allein aus der Höhe der jeweiligen Sozialausgaben abzuleiten. Sein Konzept richtet den Fokus auf die qualitative Wertigkeit der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen (Esping-Andersen, 1990). Besonderes Augenmerk liegt auf den drei größten Risiken, bei denen der Wohlfahrtsstaat Schutz gebieten soll: Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter. Esping-Andersen berechnete Indizes, die in diesen Bereichen den Grad der Dekommodifizierung messen sollen. In Tabelle 1 ist eine Auswahl dieser Indizes ersichtlich. Grundsätzlich gilt: Je höher der Wert des Gesamtindexes ist, desto höher ist der Grad der Dekommodifizierung in diesem Land (Esping-Andersen, 1990).
Der erste Typus ist der liberale Wohlfahrtsstaat. Er zeichnet sich durch eine minimale
Dekommodifizierung aus. Diese wird indiziert durch eine starke Stellung des Marktes, welche private Absicherungen vorherrschend macht. Die Sozialfürsorge ist bedarfsgeprüft und bietet lediglich bescheidene Sozialleistungen. Die Abhängigkeit vom Staat wird in diesem Typus der Wohlfahrtsstaaten als äußerst negativ ausgefasst (Esping-Andersen, 1990). Ein Beispiel für liberale Wohlfahrtsstaaten sind die USA, welche einen Gesamtindex von 13,8 aufweisen.
Tabelle 1: Grad der Dekommodifizierung - Index gemäß Esping-Andersen (1990)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Erstellt auf Grundlage von Esping-Andersen, 1990, S. 50-52)
Esping-Andersen ordnet Deutschland dem konservativen (korporatistischen) mitteleuropäischen Wohlfahrtsstaatstypus zu (Esping-Andersen, 1990). Dies weist auf einen mittelhohen Dekommodifizierungsgrad hin. Die Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt, also einer Erwerbstätigkeit, ist demnach mittelhoch. Der Erhalt vorherrschender Statusunterschiede spielt hier so-zialpolitisch eine zentrale Rolle. Laut Esping-Andersen ist dieses Regime typischerweise von der (katholischen) Kirche beeinflusst, woraus eine starke Affinität zur Aufrechterhaltung traditioneller Familienformen resultiert. Ein Beispiel dafür ist das Subsidiaritätsprinzip. Der Staat greift demzufolge nur dann ein, wenn die Selbsthilfefähigkeit der Familie ausgeschöpft ist. (ebd.).
Der letzte Typus der drei wohlfahrtsstaatlichen Regime ist der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat. Finnland wird zu diesen gezählt. Typisch für die sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten ist die äußerst starke Dekommodifizierung (siehe Tabelle 1). Hier sorgt ein umfassender Sozialstaat dafür, dass der Markt begrenzt wird und Gleichheit auf einem hohen Niveau angestrebt wird. Zu diesem Gleichheitsgrundsatz gehört die Abwendung von Bedarfsprüfung bzw. Anspruchsvoraussetzung. So werden soziale Probleme minimiert und Steueraufwendungen maximiert (Esping-Andersen, 1990).
Ferner ist zu erwähnen, dass viele Merkmale der nordischen Wohlfahrtsstaaten heutzutage durch die Europäisierung, den Wertewandel und die Entgrenzung von Wirtschaft und Gesellschaft gemildert wurden. Esping-Andersens Modell wurde von einigen Theoretikern wegen der „groben“ Dreiteilung kritisiert, da zum Beispiel die südeuropäischen Staaten ihrer Meinung nach eine Sonderrolle einnehmen (Ferrera, 1996). Esping-Andersen konstatiert jedoch, dass es bei den Staaten keine Rein-Formen der Typen gibt. So weist Finnland einen geringeren Dekommodifizierungsgrad auf als andere skandinavische Länder. Vom Dekommodifizierungsgrad aus zu urteilen ähnelt Finnland eher den kontinental-europäischen Ländern. Wie der Tabelle zu entnehmen ist, zeichnet sich Finnland (29,2) durch einen lediglich geringfügig höheren Grad der Dekommodifizierung aus als Deutschland (27,7). Daher ist zum Teil auch umstritten, inwiefern Finnland tatsächlich zu den sozialdemokratischen Staaten zu zählen sei, da dieses Land sich in den sozialpolitischen Institutionen sehr von den anderen sozialdemokratischen Ländern (wie z.B. Schweden) unterscheidet (Jochem, 2012).
In welchem Wohlfahrtsstaat man lebt, das ist entscheidend für die finanzielle Unabhängigkeit nicht nur vom Arbeitsmarkt, sondern auch von den finanziellen Mitteln der Eltern. Stehen entsprechende Sozialleistungen zur Verfügung, haben junge Menschen zumindest die finanziellen Voraussetzungen Unabhängigkeit vom Elternhaus zu erlangen. Oftmals stehen auch sozial- und bildungspolitische Aspekte verschiedener Gesellschaften miteinander in Beziehung.
III. Hauptteil: Der Auszug aus dem Elternhaus im deutsch-finnischen vergleich
Das Alter, in dem in den verschiedenen Ländern Europas ausgezogen wird, variiert erheblich. Wie Deutschland und auch Finnland im europäischen Vergleich positioniert sind, was für oder gegen einen Auszug im Allgemeinen spricht und welche Determinanten dabei in den jeweiligen Ländern eine Rolle spielen könnten, das wird Gegenstand der folgenden Unterkapitel sein.
3.1 Alter und Geschlecht
Finnland ist eines der Länder in Europa, in denen junge Menschen am frühesten das Elternhaus verlassen. Deutschland liegt nicht allzu weit davon entfernt, vergleicht man das Auszugsalter. Wie in Abbildung 3 ersichtlich ist, gibt es nicht nur generelle Differenzen zwischen dem Auszugsverhalten in den Ländern, sondern auch geschlechtsspezifische. Hier dargestellt ist das Medianalter. Gemeint ist damit dasjenige Alter, in dem bereits 50% der jungen Erwachsenen ausgezogen sind. So ziehen in Finnland die jungen Frauen mit durchschnittlich 20 Jahren und junge Männer mit durchschnittlich 21 Jahren aus dem Elternhaus aus. In Deutschland hingegen ist das durchschnittliche Median-Auszugsalter etwas höher. Junge Frauen verlassen das elterliche Heim mit durchschnittlich 21 Jahren und die Männer mit 23 Jahren. Die besondere Stellung der Frauen in Bezug auf das Auszugsalter und auch Finnlands verdeutlicht sich noch einmal besonders, wenn man nicht nur die Durchschnittswerte, sondern auch spezielle Quantile betrachtet.
Abbildung 3: Medianes Auszugsalter aus dem Elternhaus nach Geschlecht und Land 2007
Eigene Darstellung nach Destatis, 2009, S. 29
In Abbildung 3 wurde bereits deutlich, dass junge Frauen tendenziell früher das Elternhaus verlassen als die jungen Männer. Die Spanne zwischen dem 20% Quantil und dem 80% Quantil verdeutlicht diejenige Altersspanne, in der die meisten von zu Hause ausziehen - das entspricht 60%. Dieses Verhältnis ist in Abbildung 4 ersichtlich. In Finnland verlassen demnach 60% der Frauen ihr Elternhaus zwischen 19 und 22 Jahren. Lediglich weniger als 20% der jungen Frauen ziehen erst nach dem 22. Lebensjahr von zu Hause aus. In Deutschland ist die Altersspanne etwas weiter. Hier verlassen die jungen Frauen das elterliche „Nest“ zu 60 % zwischen 19 und 25 Jahren. Auch hier gilt, dass weniger als 20% der Frauen nach dem 25. Lebensjahr das Elternhaus verlassen.
Abbildung 4: altersspanne in der Frauen das Elternhaus verlassen haben, 2007
Quelle: Eurostat, 2009, S. 29, eigene Hervorhebung
Doch womit hängt der Geschlechterunterschied zusammen? Wie kommt es, dass junge Männer überall in Europa und auch in den für diese Bachelorarbeit fokussierten Ländern deutlich später in eine eigene Wohnung ziehen? Eine in der Literatur gängige Erklärung ist das frühere Heiratsalter von jungen Frauen[1] gegenüber der späteren Aufnahme einer festen Partnerschaft bei jungen Männern. Die Aufnahme einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft[2] hat heute das Motiv der Eheschließung als Auszugsgrund vor allen Dingen bei den jungen Frauen ersetzt (Huinink/ Konietzka, 2004). Ebenso erwähnenswert wäre, dass Studien zeigen, dass Frauen eine kürzere Ausbildungszeit haben als Männer (Berger, 2009; Camelli, 2005). Ein Teil der Differenz beim Ausbildungsalter von Männern und Frauen kann auf die bis Juli 2011 existierende Wehrpflicht für junge Männer in Deutschland zurückgeführt werden. In Finnland herrschte ebenfalls eine 6 - 12 - monatige Wehrpflicht für junge Männer ab 18 Jahren (Botschaft von Finnland, 2013). Diese gibt es dort immer noch.
Diese Geschlechterunterschiede im Auszugsverhalten können weitreichende Folgen haben. Für Frauen bedeutet späterer Auszug auch die spätere Gründung einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, spätere Heirat und spätere Familiengründung. Dies schlägt sich vor allem in niedrigen Geburtenraten und spätem Gebäralter in südlichen Ländern nieder (Chiuri/ Del Boca, 2010). Für Männer bedeutet ein späteres Alter beim Auszug weniger Erfahrung im Zusammenleben mit einer Partnerin, z. B. beim Teilen der häuslichen Aufgaben mit Partnerin, was wiederum Einfluss haben kann auf die Rollenverteilung innerhalb der Beziehung und Effekte auf Karriere und Fertilität der Frau (ebd.).
3.2 Gründe für bzw. gegen einen Auszug
Wie bereits aus der RTC bekannt ist, werden im Entscheidungsprozess, ob zu einem Zeitpunkt ausgezogen wird oder nicht, die Vor- und Nachteile, die Kosten und der Nutzen abgewogen. Daher werden im Folgenden einige Überlegungen zu den Argumenten, die für einen Auszug sowie dagegen sprechen, dargelegt werden.
Eines der zentralen Motive aus dem Elternhaus auszuziehen ist die Steigerung der sozialen Unabhängigkeit von den Eltern sowie die Selbstständigkeit in der Lebensführung (Huinink, 1995). Des Weiteren verbessert sich durch die räumliche Distanz oftmals die Beziehung zwischen Eltern und Kindern (Papastefanou, 1997). Während früher noch die Eheschließung und Familiengründung, besonders bei Frauen, einer der häufigsten Gründe für den Auszug waren, so werden diese heutzutage durch den Zusammenzug mit einem Partner und die Bildung einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft abgelöst (Dommermuth, 2008). Ein weiterer bedeutender Aspekt ist der Auszug zwecks notwendiger Mobilität. Wird z. B. ein Studium aufgenommen, so ist es häufig von Notwendigkeit, in eine andere Stadt zu ziehen. Selbiges kann auch unabdingbar werden, wenn beispielsweise eine vorteilhaftere Berufsmöglichkeit in einem anderen Wohnort besteht.
Diese Nutzen sind aber auch mit Kosten verbunden. Durch einen eigenen Haushalt werden finanzielle Kosten verursacht und die Hilfestellungen bzw. Transferleistungen der Eltern werden reduziert oder eingestellt (Konietzka, 2010). Im Vergleich zu früher sind jedoch außerdem die Erziehungsstile vieler Eltern liberaler geworden. Sie haben sich von den autoritären Werten, z. B. Gehorsam oder Unterordnung, hin verändert zu Werten wie Eigenständigkeit oder Selbstverantwortung (Nave-Herz, 1997). Dies führt dazu, dass junge Menschen sich immer weniger gezwungen sehen durch einen Auszug den normativen Einschränkungen durch die Eltern zu entkommen. Man kann von einem verbesserten Generationenverhältnis sprechen. Hinzu kommt, dass der Anteil an Familien mit drei oder mehr Kindern[3] europaweit stark gesunken und die Lebens- und Wohnverhältnisse gestiegen sind (ebd.).
Ebenfalls von Bedeutung bei der Entscheidungsfindung sind, wie in der TRA/ TPB angedeutet, die erwarteten Konsequenzen des Auszugs. Diese Erwartungen sind vor allen Dingen eine erwartete Steigerung der Autonomie und die Freiheit des eigenständigen Handelns. Damit einher gehen jedoch mehr Verpflichtungen, denn die Angelegenheiten, die zuvor die Eltern regelten, muss der junge Erwachsene nun selbst erledigen. Dieses Konstrukt der erwarteten Eigenverantwortung wird von Baanders wie folgt untergliedert:
Abbildung 5: Erwartete Konsequenzen des Auszugs aus dem Elternhaus nach Baanders
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Eigene Darstellung nach A. Baanders (1996), S. 281
Diese erwarteten Konsequenzen beeinflussen die Entscheidung, aus dem Elternhaus auszuziehen, deutlich. Die jungen Erwachsenen sind sich dessen bewusst, dass sie Haushaltsangelegenheiten, beispielsweise Einkaufen, sauber machen, Wäsche waschen etc., durch den Auszug aus ihrem Elternhaus allein erledigen müssen, wodurch ihnen weniger Freizeit bleibt bzw. weniger Zeit für soziale Kontakte oder auch das Lernen. Bei finanziellen Angelegenheiten hat das zur Folge, dass Rechnungen etc. selbst bezahlt werden müssen und mit einem gewissen Budget gehaushaltet werden muss (Baanders, 1996). Es ist damit zu rechnen, dass bei einem Auszug nicht derselbe materielle Lebensstandard erreicht werden kann wie noch zuvor im Elternhaus. Das persönliche Wohlergehen beinhaltet die körperliche Seite, z. B. gesund bleiben durch eigenständige gesunde Ernährung, aber auch die emotionale Seite, z. B. Einsamkeit, jemanden zum Reden zu haben usw. (ebd.). Ebenjene erwarteten Folgen des Auszugs spielen in der Entscheidungsfindung und auch in der Kosten - Nutzen - Abwägung eine große Rolle. Neben diesen handlungstheoretischen Aspekten der Mikro-Ebene dürfen die Bedingungsfaktoren aus der makrostrukturellen Perspektive nicht außer Acht gelassen werden. So werden diese im folgenden Kapitel genauer analysiert.
3.3 Bedingungsfaktoren des Auszugs aus dem Elternhaus - Deutschland und Finnland im vergleich
Ein genereller Aspekt des Übergangs in das Erwachsenenalter in Europa ist, dass junge Erwachsene dazu tendieren, länger zu studieren, später den Erwerbseintritt zu vollziehen, das elterliche Heim später zu verlassen, später eine nichteheliche Lebensgemeinschaft zu gründen, zu heiraten oder Eltern zu werden (Chiuri/ Del Boca, 2010). Diese Lebenslaufstrukturen sind ein Resultat individueller Handlungsentscheidungen, welche wiederum maßgeblich von kohorten- bzw. kontextspezifischen Bedingungen (Normen, Institutionen, individuellen Ressourcen etc.) beeinflusst werden (Huinink/ Konietzka, 2003). So ergeben sich dadurch länderspezifische Unterschiede in Alter und darüber hinaus in den jeweiligen Bedingungsfaktoren.
Abbildung 6: Hauptgründe warum junge Erwachsene länger im Elternhaus verbleiben in %
Eigene Darstellung nach European Commission, 2007, S. 72
Im Flash-Eurobarometer wurden junge Erwachsene zwischen 18 - 30 Jahren befragt, welches aus ihrer Sicht die Hauptgründe wären, warum junge Erwachsene später von zu Hause ausziehen. In Abbildung 6 sind die vorgegebenen Kategorien mit den jeweiligen Angaben in Prozent von Deutschland und Finnland abgebildet. Es fällt auf, dass die finnischen Teilnehmer zu einem deutlich geringeren Prozentsatz den finanziellen Aspekt als Hindernis für einen Auszug sahen als die Deutschen. Dies legt die Vermutung nahe, dass in Finnland die finanziellen Ressourcen der Eltern, das eigene Einkommen o. ä. womöglich nicht im selben Maße essentielle Voraussetzungen für einen Auszug sind wie in Deutschland. Ob dies der Fall ist, z. B. durch Greifen sozialstaatlicher Leistungen, wird in den folgenden Unterkapiteln untersucht werden. Ein zweiter Aspekt ist ebenso augenscheinlich: Die jungen Finnen geben vielfach als Grund die mangelnde Verfügbarkeit wohnungsmarktlicher Ressourcen an, was für die Deutschen kaum eine Rolle spielt. Ist demnach der Wohnungsmarkt in Finnland restringierter als in Deutschland?
In beiden Ländern ist der häusliche Komfort im elterlichen Hause eine Erklärung, was die These des verbesserten Generationenverhältnisses aus Kapitel 3.2 untermauert. Geringe Erklärungskraft scheint der Aufschub-Effekt der Eheschließung zu haben. Dennoch ist dieser bei den jungen Deutschen überrepräsentierter als in Finnland. Eine finanzielle Verantwortung gegenüber den Eltern ist in beiden Staaten laut Aussagen der jungen Erwachsenen von marginaler Bedeutung.
3.3.1 Wohlfahrtsstaat - Sozialleistungen der Staaten
Wenn ein Staat genügend Sozialleistungen bietet, um finanziell von den Eltern unabhängig eine eigene Wohnung zu halten, so liegt der Gedanke nahe, dass junge Leute in diesem Staat eher ausziehen können. Dies bestätigen auch die Analysen von Chiuri und Del Boca (2010, 2008). Sie stellen auf hochsignifikantem Niveau[4] einen positiven Effekt der Sozialausgaben auf den Auszug aus dem Elternhaus für die nördlich-kontinentalen Länder, in deren Kategorie auch Finnland fällt, heraus. Ein negativer Effekt bestätigt sich jedoch für die zentral-westeuropäischen Länder, zu denen Deutschland gehört. Folglich begünstigen die sozialstaatlichen Leistungen in Ländern wie Finnland die Chance aus dem elterlichen Hause auszuziehen, während in Deutschland der umgekehrte Effekt eintritt (Chiuri/ Del Boca, 2008). Um den entsprechenden Kontext dieses Effektes nachvollziehen zu können, wird im Folgenden ein Grundverständnis für die sozialstaatlichen Systeme beider Länder geschaffen sowie ein Überblick über die wichtigsten relevanten sozialstaatlichen Leistungen für junge Erwachsene gegeben.
In Kapitel 2.1.3 wurden bereits die Grundmodelle der Wohlfahrtsstaaten nach Esping-Andersen erläutert, wobei angedeutet wurde, dass den nordischen Staaten in den Bereichen der sozialen Sicherung eine Vorbildrolle zukommt. Der Begriff der sozialen Sicherung ist eine Zielformulierung der Sozialpolitik, auch soziale Sicherheit genannt, und soll die Risiken von z. B. Verdienstausfall bei Krankheit, medizinischer Versorgung, Alter, Tod, Arbeitslosigkeit, Invalidität sowie Lasten der Familie etc. abdecken. Sie soll den Zugang zur medizinischen Versorgung, zu essentiellen Ressourcen, zum Erwerbsersatz, zur sozialen und beruflichen Wiedereingliederung garantieren (Kaufmann, 2011). Diese Leistungen können sich in monetären Leistungen oder arrangierten bzw.- öffentlich finanzierten Dienstleistungen äußern (KELA, 2012).
Ein zentraler Unterschied zwischen den nordischen und den kontinental-europäischen Staaten ist der Rechtscharakter der sozialen Sicherung. In Deutschland herrscht ein selektives Sozialrecht, welches nach Berufs- und Statusgruppen unterscheidet (z. B. Sonderregelung das Beamtentum betreffend) während in Skandinavien das Prinzip des Universalismus leitend ist, welches die gleiche Rechtsposition für jede/n Bürger/in impliziert (Jochem, 2012).
Die Finanzierung der Sozialleistungen ist durchaus verschieden in den betrachteten Ländern. So werden diese in Deutschland hauptsächlich über Sozialbeiträge erhoben - in Finnland hingegen primär über den Steueranteil. Auch die Verantwortlichkeit für soziale Dienstleistungen ist in beiden Staaten unterschiedlich. In Finnland fallen diese hauptsächlich in die Hände von staatlichen Anbietern, auch wenn diese zunehmend privatisiert werden. In Deutschland sind die subsidiären Anbieter, z. B. Diakonie, vorherrschend, welche durch staatliche Transferleistungen abgesichert werden (Jochem, 2012).
In Finnland ist KELA (Social Insurance Institution of Finland) eine der bedeutendsten Körperschaften, welche die Maßnahmen zur sozialen Sicherheit ausführt. KELA ist eine öffentliche Einrichtung, welche unter der Aufsicht des Staates arbeitet. Diese Institution ist auch verantwortlich für finanzielle Förderung von Studenten sowie Wohnzuschüsse, Krankenversicherung, grundlegende Arbeitslosenversicherung und Unterstützungsleistungen für Familien (KELA, 2012).
Der bildungspolitische Erfolg der skandinavischen Länder ist nicht zuletzt auch auf die hohen Investitionen in die Bildungspolitik im Vergleich zu anderen Ländern zurückzuführen[5]. Das lange Verbleiben im Bildungssystem, somit der spätere Eintritt in das Erwerbsleben und das damit verbundene Fehlen eines festen Erwerbseinkommens, zeigt sich besonders deutlich an Studierenden. So ist das Ziel der Zuschüsse für Studenten, ihnen ökonomische Sicherheit zuzugestehen. Diese finanzielle Unterstützung gilt für alle in Finnland lebenden Studenten, die ein Vollzeit-Studium haben, akademische Leistungen erbringen und finanzielle Unterstützung brauchen. Diese Art von erweitertem Lernen muss mindestens zwei Monate umfassen und schließt höhere sekundäre Bildung, berufliche (Aus-)Bildung, Erwerben eines Hochschulabschlusses oder die Teilnahme an weiterführender Berufsbildung mit ein. Die Unterstützungsleistungen sind nicht kombinierbar mit bestimmten anderen Leistungen, z. B. Arbeitslosengeld. Die Studenten sind z. B. während der Ausübung der Wehrpflicht oder des Zivildienstes nicht zum Bezug berechtigt. Die Bezugsdauer umfasst maximal 70 Monate, wobei für einzelne Bildungsabschlüsse gilt: Ausbildungsdauer plus zehn Monate. So wird dem Studenten ermöglicht, eine Stelle zu finden bzw. den Übergang in eine höher führende Bildung überbrücken zu können. Bei beruflicher Bildung ist die Förderung abhängig davon, wie weitreichend die Ausbildung ist. In der höheren sekundären Bildung ist der Bezugsrahmen maximal drei Jahre (bzw. vier Jahre auf Antrag) (KELA, 2012).
Es gibt in Finnland verschiedene Arten von finanzieller Unterstützung für junge Menschen in der Ausbildung: Studienstipendien, Wohngeld, staatlich garantierte Studiendarlehen, Subventionsprogramme für Essensausgabe im Hochschulbereich sowie eine Steuerminderung für die Studiendarlehensschulden. Die Stipendien sind abhängig vom Alter, Familienstand, von der Art der Unterkunft, der Bildungseinrichtung und finanziellen Umständen. Es gilt nicht für Personen unter 17 Jahren, da bis zu diesem Zeitpunkt das Kindergeld bezogen werden kann. Um den Bedarf zu ermitteln, wird das jährliche private Einkommen des Studenten und in nur manchen Fällen das Einkommen der Eltern in Betracht gezogen. Gesetzte Höchstgrenzen[6] dürfen nicht überschritten werden, da eine rückwirkende Bedarfsprüfung erfolgt und sonst gegebenenfalls Geld zurückgezahlt werden muss (KELA, 2012). Das Einkommen der Eltern spielt lediglich eine Rolle bei Schülern der höheren sekundären Bildung, die unter 20 Jahre alt sind. Wenn beide Eltern zusammen ca. 42 000 € jährlich oder mehr verdienen, dann erhält die betreffende Person kein Stipendium. Das Stipendium zählt als versteuertes Einkommen. Es wird lediglich dann nicht versteuert, wenn es das einzige versteuerte Einkommen ist oder der Betrag unter 170 € liegt (ebd.).
Für Studenten, die eine finnische oder ausländische Schule besuchen und z. B. in einer Mietwohnung leben, ist es möglich, einen Wohnzuschuss für Studenten zu erhalten, es sei denn, dass sie bei ihren Eltern wohnen, mit einem eigenen Kind bzw. Kind des/ der (Ehe-) Partners/in leben, sie in einem Haus/ Wohnung leben, das dem/ der (Ehe) Partner/in gehört, wenn sie dazu berechtigt sind, in einem kostenlosen Wohnheim der Schule zu wohnen. Es sei angemerkt, dass, selbst wenn sie nicht berechtigt für den Wohnzuschuss für Studenten sind, sie dennoch einen allgemeinen Wohnzuschuss erhalten können. Das Wohngeld für Studenten deckt bis zu 80% der erlaubten Wohnkosten (maximal 252 €), d. h. der maximale Wohnzuschuss beträgt 201,60 € (KELA, 2012). Studenten, die in einer Wohnung leben, die den Eltern gehört bzw. von den Eltern gemietet ist, erhalten maximal 58,87 € pro Monat, dabei kann die Wohngelegenheit sogar im selben Gebäude sein. Der Wohnzuschuss basiert auf dem eigenen Einkommen der Studenten. Nur wenn der Schüler/ Student unter 18 Jahren ist, wird das Einkommen der Eltern mit einbezogen. Ferner sei angemerkt, dass das Einkommen des/ der (Ehe-) Partners/in nicht die Höhe des Wohnzuschusses beeinflusst. Sonst gelten dieselben Bedingungen wie beim Stipendium. Der Wohnzuschuss wird nicht versteuert (ebd.).
Für die Berechtigung zu einem staatlich garantierten Studiendarlehen muss (bis auf wenige Ausnahmen) die betreffende Person Empfänger von Studienstipendien oder einem Zuschuss für Erwachsenenbildung sein. Die Höhe der monatlichen Zuwendung ist in Tabelle 2 ersichtlich. Die Kreditgarantie wird für jedes Studienjahr getrennt gewährt. Anfrage, Zinssatz und Fristen des Darlehens werden mit der Bank ausgehandelt, wobei 1 % des Darlehens sofort rückerstattet werden muss. Falls der Fall eintritt, dass der Empfänger Zinsen nicht zahlen kann oder das Fremdkapital nicht zurückerstatten kann, so kann die Bank den Gesamtbetrag sofort zurückverlangen. In diesem Falle kann KELA das Darlehen zur Bank zurückerstatten. Dann jedoch wird KELA betitelt, um die Summe vom Studenten zurückzufordern. Einige Studenten sind möglicherweise auch für eine Entlastung der Darlehensrückzahlungen geeignet (KELA, 2012).
Tabelle 2: Höhe staatlich garantierter Studiendarlehen pro Monat in Finnland
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Eigene Darstellung nach KELA, 2012
Die Zinsen für ein staatlich garantiertes Studiendarlehen können unter bestimmten Umständen komplett von KELA übernommen werden ohne jegliche Rückzahlungspflicht des Studenten. Dafür muss der Student bestimmte Geringverdiener - Kriterien erfüllen. Hochschulstudenten, die im akademischen Jahr 2005/2006 oder später eingeschrieben waren, sind zu einem Steuerabzug berechtigt, ihre Studentendarlehensschulden betreffend für zehn Jahre nach dem Abschluss - vorausgesetzt, sie vervollständigen ihr Studium innerhalb der Regelstudienzeit. Der Abzug ist 30 % von der Höhe der Schulden von mehr als 2.500 Euro. Die Voraussetzungen für den Abzug und seine maximale Höhe richten sich nach KELA (KELA, 2012).
Hochschulstudenten können Mahlzeiten zu einem subventionierten Preis kaufen, vorausgesetzt, dass sich die Schulcafeteria sich am Mahlzeit-Subventionsprogramm beteiligt . Die Regierung gibt Verordnungen über die maximalen Mahlzeitpreise heraus. KELA zahlt den Zuschuss (1,77 Euro pro Mahlzeit 2011; stieg auf 1,84 Euro im Jahr 2012) an den Cafeteria-Betreiber, der es aus dem Listenpreis zieht (ebd.).
Eine weitere bedeutsame Säule sozialstaatlicher Leistungen für junge Erwachsene sind Transferzahlungen im Falle der Arbeitslosigkeit. Diese sollen jedoch nur kurz umrissen werden. Ein Überblick findet sich in Abbildung 7. In Finnland zahlt die KELA das Arbeitslosengeld für den Grundbedarf. Zusätzlich existieren Arbeitslosenfonds, welche einkommensabhängiges Arbeitslosengeld bieten (KELA, 2012).
Abbildung 7: Überblick Transferzahlungen bei Arbeitslosigkeit in Finnland
Quelle: KELA, 2012, S. 365
Für den Erhalt von Arbeitslosengeld müssen sich die jungen Erwachsenen beim Amt für Beschäftigung und wirtschaftliche Entwicklung, vergleichbar mit dem Arbeitsamt in Deutschland, als Arbeitssuchende registrieren.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Ein grundlegendes Arbeitslosengeld wird zunächst an Personen zwischen 17 -64 Jahren für einen Zeitraum von 500 Tagen gezahlt, sofern die Bedingungen auf vorhergehende Beschäftigung[7] erfüllt wurde.
Die Zahlung beginnt sieben Tage nach der Registrierung. Unter bestimmten Bedingungen ist auch eine Zulage für Kinder im Haushalt oder eine Ergänzung des Zuschusses als Übergangsunterstützung möglich. Das grundlegende Arbeitslosengeld ist nicht nur während der Arbeitslosigkeit, sondern auch während der Teilnahme an Beschäftigungsförderungsmaßnahmen zahlbar (KELA, 2012). Nach diesem Zeitraum ist ein nicht-bedarfsgeprüfter Erhalt des Geldes für 180 Tage möglich. Danach wird der Bedarf geprüft, wobei hierbei, anders als bei den Stipendien und Studiendarlehen, auch das Einkommen der (Ehe-) Partner und das der Eltern (sofern diese im selben Haushalt leben) berücksichtigt werden.
Werden die Voraussetzungen der vorangehenden Beschäftigung nicht erfüllt, so gibt es zwei weitere Möglichkeiten der Transferzahlungen. Die erste ist die Arbeitsmarktzulage. Diese ist generell bedarfsgeprüft. Sie gilt für Personen von 17 -64 Jahren. Es wird zwischen jungen Erwachsenen von 18 -24 Jahren, die gerade eine berufsqualifizierende Ausbildung, ein Studium oder Vergleichbares abgeschlossen haben, und den Personen ohne entsprechende Qualifikation bzw. denjenigen, die älter sind, unterschieden. Erstgenannte erhalten 5 Tage nach Registrierung die Arbeitsmarktzulage (nach entsprechender Bedarfsprüfung). Letztere hingegen erhalten das Geld nur unter Umständen[8] (KELA, 2012). Es entsteht eine Wartefrist von 5 Monaten, ehe das Geld gezahlt wird. Diese kann unter den Umständen auch verkürzt sein oder auch durch Ausnahmen verkürzt werden. Bei der Teilnahme an einer Beschäftigungsförderungsmaßnahme wird der Arbeitsmarktzuschuss unabhängig von den Vorschriften der Wartezeit bezahlt.
Während das Stichwort der sozialen Sicherung in Finnland und Skandinavien Universalismus heißt, so sind in Deutschland Eigenverantwortung, Solidarität und Subsidiarität die Begriffe von zentraler Bedeutung (Boeckh et.al., 2011). Es gibt vom Staat festgelegte Rahmenbedingungen über die Eigenverantwortung jedes Einzelnen zur Absicherung gegenüber sozialen Risiken. Solidarität bedeutet, dass alle in das soziale Sicherungssystem einzahlen in der Erwartung, dass eine Leistung erfolgt, sofern ein sozialer Risikofall eingetreten ist. Der dritte Leitgedanke der deutschen Sozialpolitik ist das Subsidiaritätsprinzip: „S. bezeichnet ein […] Prinzip, das die Eigenleistung und die Selbstbestimmung sowohl des Individuums (und der Familien) als auch der Gemeinschaften (z. B. der Kommunen) fördern will. Das S.-Prinzip fordert, dass staatliche Eingriffe (EU, Bund) und öffentliche Leistungen grundsätzlich nur unterstützend und nur dann erfolgen sollen, wenn die jeweils tiefere hierarchische Ebene (Länder, Kommunen, Familien) nicht in der Lage ist, die erforderliche (Eigen-) Leistung zu erbringen. […]“ (Schubert/ Klein, 2003, S. 285 f.)
Der augenscheinlichste Unterschied in den Sozialleistungen Deutschlands und Finnlands für junge Erwachsene liegt in ihrer Bedarfsprüfung. Wie bereits aufgeführt wurde, spielt das Einkommen der Eltern oder des/ der (Ehe-) Partner/in bei den meisten Sozialleistungen in Finnland keine Rolle, sondern lediglich das eigene Einkommen. In Deutschland jedoch wird nach dem Subsidiaritätsprinzip zunächst die Familie betitelt, dem Nachkommen beispielsweise das Studium zu finanzieren. Auch ist das deutsche Sozialsystem nach wie vor auf dem Ernährer-Modell basierend, was bedeutet, dass zunächst der/ die Ehepartner/in für den Unterhalt des anderen aufkommen muss.
In Deutschland werden Ausgaben für die „Sprösslinge“ zunächst vom Kindergeld abgedeckt. Für das Kindergeld berechtigt sind die Eltern bzw. Personen, in deren Haushalt das Kind lebt, z. B. Stiefeltern. Für die ersten beiden Kinder werden monatlich je 184 €, für ein drittes 190 € und für jedes weitere Kind 215 € gezahlt[9]. Eine Kindergeldberechtigung gilt grundsätzlich bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. Danach kann unter bestimmten Voraussetzungen bis zum 25. Lebensjahr noch Kindergeld bezogen werden. Dazu muss sich das Kind in schulischer Ausbildung, Berufsausbildung oder im Studium befinden. Das Kindergeld wird auch in Übergangszeiten bis zu 4 Monaten gezahlt sowie bei Unterbrechung der Ausbildung. Berechtigung besteht ebenfalls bei der Leistung eines geregelten Freiwilligendienstes (z. B. Bundesfreiwilligendienst, freiwilliges soziales Jahr) oder auch in dem Falle, dass der junge Erwachsene keinen Ausbildungsplatz gefunden hat (bei Nachweis entsprechender Bemühungen). Personen bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres können auch zum Bezug berechtigt sein, wenn sie keinen Arbeitsplatz gefunden haben und einer geringfügigen Beschäftigung nachgehen. In bestimmten Fällen wird das Kindergeld auch länger gezahlt, z. B. um den Zeitraum des geleisteten Wehrdienstes länger oder bei Kindern mit körperlichen bzw. geistigen Behinderungen, die nicht in der Lage dazu sind, sich finanziell selbst zu versorgen, auch unbegrenzt (BZSt/ Familienkasse, 2013). Zusätzlich gibt es noch sogenannte „Kinderfreibeträge“, mit denen Eltern zu einem Freibetrag im Steuerrecht berechtigt sind. Diese Verlängerung der Kindergeldzahlung unterscheidet sich deutlich von derjenigen in Finnland, in der die Eltern lediglich für Kinder unter 17 Jahren Kindergeld erhalten. Jedoch steht dies ebenfalls in engem Zusammenhang mit anderen sozialstaatlichen Leistungen, für die nach dieser Altersgrenze eine Berechtigung besteht bzw. für deren Bedarf im Erwachsenenalter der/ die junge Erwachsene und sein/ ihr Einkommen - nicht das Einkommen der Eltern - betrachtet wird.
Eine zweite wichtige finanzielle staatliche Leistung für junge Erwachsene stellt das BAföG (Darlehen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz) dar. Ziel des BAföG ist es im Wesentlichen, allen jungen Menschen die Möglichkeit zu geben, unabhängig von ihrer sozialen und wirtschaftlichen Situation eine Ausbildung zu absolvieren, die den jeweiligen Fähigkeiten und Interessen entspricht. Berechtigt zum Bezug sind Personen an weiterführenden allgemeinbildenden Schulen ab Klasse 10, an Berufsfachschulen, deren Besuch eine abgeschlossene Berufsausbildung nicht voraussetzt, einschließlich der Klassen aller Formen der beruflichen Grundbildung (z. B. Berufsvorbereitungsjahr), ab Klasse 10, an Fach- und Fachoberschulklassen, deren Besuch eine abgeschlossene Berufsausbildung nicht voraussetzt, an Berufsfachschulklassen und Fachschulklassen, deren Besuch eine abgeschlossene Berufsausbildung nicht voraussetzt, sofern sie in einem zumindest zweijährigen Bildungsgang einen berufsqualifizierenden Abschluss vermitteln, an Fach- und Fachoberschulklassen, deren Besuch eine abgeschlossene Berufsausbildung voraussetzt, Abendhauptschulen, Berufsaufbauschulen, Abendrealschulen, Abendgymnasien und Kollegs, an höheren Fachschulen und Akademien und an Hochschulen (BMBF, 2012).
Das BAföG ist darauf angelegt, die Erstausbildung zu finanzieren. Unter Vorbehalt ist eine Förderung einer einzigen weiteren Ausbildung bis hin zum berufsqualifizierenden Abschluss möglich. Nach einem Fachrichtungswechsel oder dem Abbruch einer Ausbildung kann eine weitere Förderung in einem anderen Ausbildungsgang nur dann erfolgen, wenn für den Wechsel oder Abbruch eine entsprechende Begründung vorlag. Die Empfänger müssen bei Beginn des Ausbildungsabschnittes, für den sie BAföG beantragen, das 30. Lebensjahr (bei Masterstudiengängen das 35. Lebensjahr) noch nicht vollendet haben[10]. Die finanzielle Hilfe nach dem BAföG ist grundsätzlich familienabhängig (ebd.). Das bedeutet, sofern das Einkommen und Vermögen der Auszubildenden selbst sowie das Einkommen ihrer Ehepartner/in und/oder ihrer Eltern[11] die im Gesetz festgelegten Freibeträge übersteigt, wird dieses auf den jeweiligen Bedarfssatz angerechnet und verringert oder man streicht den Förderungsbetrag entsprechend. Schüler/innen werden gefördert, solange sie die Ausbildungsstätte besuchen, während der Bezugsrahmen der Förderung von Studierenden der Dauer der Regelstudienzeit (= Förderungshöchstdauer) entspricht. Für Schüler/innen ist das BAföG eine Transferleistung, die sie nicht zurückzahlen müssen. Für Studenten/innen an Hochschulen, Fachhochschulen und Akademien gilt das BAföG zur Hälfte als Zuschuss und zur Hälfte als zinsloses Darlehen, welches zurückgezahlt werden muss (ebd.). Die Rückzahlungsverpflichtung beginnt fünf Jahre nach dem Ende der Förderungshöchstdauer. Ist der Empfänger zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage die entsprechenden Raten zu zahlen, so gibt es gesonderte Regelungen zur Verlängerung der Rückzahlungsfrist. Es wurde jedoch eine Höchstgrenze von maximal 10 000 € Staatsdarlehen festgelegt (BMBF, 2012).
Auch in Deutschland gibt es einen rechtlichen Anspruch auf Wohngeld als finanziellen Zuschuss des Staates. Durch das Wohngeld soll gewährt werden, dass Personen mit einem geringen Einkommen die Mietkosten tilgen können. Es wird jedoch lediglich für selbstgenutzten Wohnraum gewährt und ist abhängig von der zu berücksichtigenden Personenzahl des Haushaltes, der Höhe des Haushaltseinkommens und der Höhe der zuschussfähigen Miete. Personen sind grundsätzlich nicht zum Wohngeld berechtigt, wenn sie anderweitige Transferleistungen zur Lebensunterhaltssicherung, wie z. B. BAföG, Arbeitslosengeld II oder Ähnliches erhalten. Es gibt jedoch vereinzelt Sonderregelungen. Das Wohngeld wird für 12 Monate gewährt und dessen Höhe nach der Höhe der regionalen Mieten kalkuliert. Die Höchstgrenzen der zuschussfähigen Miete sind in den sogenannten Mietstufen festgeschrieben (Ronicke, 2013).
Im Gegensatz zu Finnland ist in Deutschland die Arbeitslosenversicherung eine Pflichtversicherung. Dennoch muss auch hier zunächst die Arbeitslosigkeit gemeldet werden, bevor Transferzahlungen fließen können. Da das deutsche System der Sozialleistungen äußerst komplex ist, werden die beiden zentralen Leistungen bei Arbeitslosigkeit ebenfalls lediglich grundlegend erläutert. Zum Einen gibt es das Arbeitslosgengeld I (ALG I). Es ist eine zeitlich begrenzte Leistung der Sozialversicherung, die beim Eintreten der Arbeitslosigkeit greift, sofern alle Voraussetzungen erfüllt wurden und Beiträge[12] in ebenjene eingezahlt wurden. Die Dauer des Anspruchs hängt davon ab, wie lange ein Arbeitsloser innerhalb von drei Jahren vor Eintritt der Arbeitslosigkeit versicherungspflichtig beschäftigt war (Boekh et. al., 2011). Jemand, der während der letzten drei Jahre zwölf Monate gearbeitet hat, erhält sechs Monate lang Arbeitslosengeld. Hat die Beschäftigungsdauer zwei Jahre betragen, steigt die Anspruchsdauer auf maximal zwölf Monate an. Auch muss die Arbeitslosigkeit spätestens drei Monate vor Eintritt angemeldet werden, um Leistungskürzungen zu vermeiden. In der Bezugszeit muss der Empfänger für die Vermittlungsversuche des Arbeitsamtes und somit für den Arbeitsmarkt verfügbar sein sowie eigenständige Bemühungen aufweisen, dass er/ sie sich um einen Arbeitsplatz bemüht. Die Höhe des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem zuletzt erzielten Einkommen. Arbeitslose, welche Kinder haben, erhalten 67 Prozent ihres Nettodurchschnittsgehalts der letzten sechs Monate, während diejenigen ohne Kinder 60 Prozent bekommen (ebd.).
Nach der Bezugszeit des ALG I kann seit 2005 das Arbeitslosengeld II (ALG II), im Volksmund „Hartz IV“, bezogen werden. Hierbei handelt es sich um eine steuerfinanzierte Fürsorgeleistung. Anspruch darauf haben Personen zwischen 15 und 64 Jahren, die erwerbsfähig und hilfebedürftig sind, die in Deutschland leben. Die Höhe der Transferzahlung richtet sich allein nach dem Ausmaß des Bedarfs. Dieser wird mit Hilfe der Bedürftigkeitsprüfung, in der Gehalt und Vermögen vom Antragsteller als auch vom (Ehe-) Partner berücksichtigt werden, ermittelt. Die Höhe der Leistung hängt von der Haushaltsgröße und -konstellation ab. Der Antrag auf Verlängerung des Erhaltes muss alle sechs Monate gestellt werden. Grundsätzlich sind dieselben Verpflichtungen zu erfüllen, wie für den Erhalt von ALG I nötig sind. Jedoch sind die Regelungen der Arbeitssuche für ALG II Bezieher strikter. Jede Ablehnung einer angebotenen Arbeit führt dazu, dass die Regelleistung für drei Monate um 30 Prozent abgesenkt wird - bei mehrmaligen Verstößen innerhalb eines Jahres kann die Leistung sogar vollständig entfallen (Boekh, et. Al., 2011).
[...]
[1] Im Jahre 2010 lag das durchschnittliche Erstheiratsalter von Frauen sowohl in Deutschland als auch in Finnland bei 30.3 Jahren. Junge Männer heirateten im Schnitt in Finnland mit 32.6 Jahren und in Deutschland mit 33.2 Jahren. Quelle: UNECE Statistical Database, compiled from national and international (UNICEF TransMONEE) official sources online verfügbar unter: http://w3.unece.org/pxweb/Dialog/Saveshow.asp?lang=1 (04.06.2013)
[2] Bei der Kohabitation bzw. nichtehelichen Lebensgemeinschaft handelt es sich um eine emotionale und sexuelle Beziehung zwischen zwei erwachsenen Partnern, die in einem Haushalt leben und gemeinsam wirtschaften, jedoch ohne miteinander verwandt und ohne eine formale Eheschließung eingegangen zu sein (vgl. Nave-Herz 2004, S. 103)
[3] Laut OECD betrug der Prozentsatz 2008 in Finnland 6% und in Deutschland lediglich 3% der Haushalte mit 3 und mehr Kindern. Quelle: OECD (2011) http://www.oecd.org/els/soc/47701118.pdf (04.06.2013).
[4] p < 0,01
[5] 12.2 % der öffentlichen Ausgaben werden für Bildung verwendet. In Deutschland sind es 10,5 %. Quelle: OECD (2012): Education at a Glance - OECD Indicators 2012 - Keyfacts Finland. Online verfügbar unter: http://dx.doi.org/10.1787/eag-2012-en (07.07.2013)
[6] Zusätzlich zum Stipendium darf der/die Student/in durchschnittlich nicht mehr als 660 € im Monat haben, wobei es keine Rolle spielt wann im Jahresverlauf das Geld erworben wird (KELA, 2012).
[7] Für Angestellte ist die Bedingung auf vorhergehender Beschäftigung erfüllt, wenn sie 34 Kalenderwochen eine Beschäftigung in den vorhergehenden 28 Monaten absolviert haben. Für eine Berechtigung, muss die Beschäftigung mindestens 18 Arbeitsstunden pro Woche enthalten und der Lohn muss den Richtlinien des anwendbaren Tarifvertrags entsprechen oder, wenn kein Tarifvertrag in der Branche existiert ist der Betrag mindestens 1.071 € pro Monat (seit 2011) (KELA, 2012).
[8] Die Umstände sind erfüllt, wenn die jungen Erwachsenen in einer Maßnahme zur Förderung der Beschäftigung teilnehmen, sie kein Angebot für einen Job oder eine Maßnahme zur Förderung der Beschäftigung bzw. kein Angebot für geeignete Berufsausbildung abgelehnt haben, heraus geworfen wurden oder es versäumt haben, für eine solche Ausbildung zu bewerben (KELA, 2012).
[9] Auch in Finnland ist die Kindergeldhöhe nach Zahl der Kinder gestaffelt. Für das erste Kind erhält man 100,40 €, für das zweite Kind 110,94 €, für das dritte Kind 141,56 €, für das vierte Kind 162,15 € und für jedes weitere 182,73 €. Seit 2011 erhält ein Alleinerziehender für jedes Kind zusätzlich 46,79 € pro Monat (KELA, 2012).
[10] Ausnahmen von dieser Altersgrenze gelten jedoch z.B. für Auszubildende des zweiten Bildungsweges und für Auszubildende mit Kindern unter 10 Jahren.
[11] „Ausnahmen […] gelten für besondere Gruppen von Auszubildenden, bei denen das Gesetz aufgrund ihres Lebensalters, ihres Ausbildungsstands und ihrer früheren Erwerbstätigkeit unterstellt, dass die Eltern nicht mehr unterhaltspflichtig sind.“ (BMBF, 2012, S. 5).
[12] Um das ALG I beziehen zu können muss vorher ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis von mindestens 6 bzw. 12 Monaten in einem Rahmen von zwei bzw. fünf Jahren bestanden haben (= Anwartschafszeit) (vgl. Boekh et. Al. , 2011, S.234).
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2013
- ISBN (PDF)
- 9783956846731
- ISBN (Paperback)
- 9783956841736
- Dateigröße
- 1.6 MB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Universität Rostock
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Februar)
- Note
- 1,3
- Schlagworte
- Wohlfahrtsstaat Sozialleistung Ausbildungssystem Arbeitsmarkt Familie Wohnungsmarkt
- Produktsicherheit
- BACHELOR + MASTER Publishing