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Empowerment durch Mikrokredite als Wundermittel gegen Armut? Foucault und die „Subprimekrise“ in Indien

©2013 Bachelorarbeit 59 Seiten

Zusammenfassung

Frauen machen 50 Prozent der Weltbevölkerung aus, sind am formellen globalen Arbeitsmarkt aber unterrepräsentiert. Die Weltbank sieht in dieser Kluft ein großes ökonomisches Potential um Jobs zu kreieren, die Wirtschaft anzukurbeln und sogar Krisen zu überwinden. Die ökonomische Ermächtigung der Frau wurde also ins Zentrum des Entwicklungsdiskurses gerückt. Das Modell der Mikrofinanzierung (MF) kam diesem Ziel nicht nur entgegen, sondern wurde explizit als „die“ Strategie für Empowerment und Armutsbekämpfung beworben: Mikrofinanzierung soll Frauen ökonomisch unabhängig machen, indem sie Zugang zu Kapital und finanziellen Ressourcen erhalten.
Begleitet wurde diese vermeintliche Erfolgsgeschichte von mehreren Selbstmordwellen unter indischen Bauern aufgrund von Überschuldung und mündete 2010 in einer Krise, die Parallelen zur „Subprime-Krise“ in den USA hat.
Die Autorin geht in diesem Buch der Frage nach, ob Mikrokredite Ursachen von Armut und Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands ändern können oder diese Ziele durch marktstrategische Interessen in den Schatten gestellt werden. Dabei sollen die nicht offenkundigen Entwicklungen und Machtverhältnisse freilegelegt und kritische analysiert werden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2.2 Panoptismus

Das Panopticon ist ursprünglich ein Konzept von dem britischen Philosophen Jeremy Bentham (1785) zum Bau von Haftanstalten (und anderen Institutionen der modernen Gesellschaft), welches die gleichzeitige Überwachung aller Insassen durch einEn einzelnEn ÜberwacherIn ermöglicht, ohne dass diese wissen, wann und ob sie gerade beobachtet werden. Das Panopticon besitzt an der Peripherie ein ringförmiges, in Zellen unterteiltes Gebäude und in der Mitte einen Turm, von dem aus man alles überschauen kann. Foucault sieht dieses Ordnungsprinzip als ein Wesen der Disziplinargesellschaft und entwickelt in Anlehnung daran seinen Begriff des Panoptismus (vgl. Foucault, 2008: 905).

Durch die räumliche Anordnung der einzelnen Individuen wird ein permanenter und bewusster Sichtbarkeitszustand der Gefangenen erzeugt, der sich auf ihr Verhalten auswirkt. Die „Sichtbarkeit wird zur Falle“. Die Demonstration der Übermacht des Souveräns wird obsolet, da es eine Maschine gibt, die Unterschiede, Asymmetrien und ein Gefälle gewährleistet. Daraus ergibt sich, dass es wenig Bedeutung hat, wer die Macht ausübt - jedes beliebige Individuum kann im Turm sitzen und die Maschine am Laufen halten. Dadurch wird Macht automatisiert und endindividualisiert. Sie wird unkörperlich und geht von einer physischen in eine psychische Ausübung über. Durch diese Internalisierung des Macht­verhältnisses wird der/die Unterworfene zum „Prinzip seiner eigenen Unterwerfung“. Außerdem ist das Panopticon ein „Laboratorium“ der Macht, eine „Maschine für Experimente zur Veränderung des Verhaltens, zur Dressur und Korrektur von Individuen.“ (ebd.: 908 f) Die moderne Macht besetzt die Köpfe und Körper der freien und disziplinierten Individuen und spinnt somit ein Netz, in dem jeder gefangen ist.

Zusammengefasst ist Panoptismus das perfekte Beispiel einer politischen Körpertechnologie, da es die Etablierung und Auferlegung von Rechten und Pflichten ermöglicht (vgl. Dreyfus & Rabinow, 1983: 192). Die letzte Komponente im Panoptismus ist die Verbindung zwischen Körpern, Raum, Macht und Wissen. Durch seine Funktionen der hierarchischen Über­wachung, der normierenden Sanktion und der Prüfung wirkt der Panoptismus in die verstecktesten Winkel der Lebens- und Gefühlswelten sowie Identitäten. Er ist eine neue Form durchgehender und kontinuierlicher Verwaltung und Kontrolle des alltäglichen Lebens. Diese Machttechnologie ist also ein Typ von Macht, eine „Physik“ oder eine „Anatomie“ der Macht und dient als pragmatisches Beispiel einer Disziplinartechnologie - welche eine Disziplinargesellschaft hervorbringt (vgl. ebd.: 922).

Im Folgenden werde ich nun genauer auf den Begriff der Disziplinargesellschaft eingehen.

2.3 Disziplinargesellschaft

„Die Formierung [dieser] Disziplinargesellschaft vollzieht sich innerhalb breiter historischer Prozesse, die ökonomischer, rechtlich-politischer und wissenschaftlicher Art sind.“ (Foucault 2008: 924) Im Zusammenspiel von klassifizierenden Diskursen – vor allem medizinischen und rechtlichen- und einer Unterwerfung der Individuen, werden diese durchschaubar und kontrollierbar gemacht.

1. Allgemein gesagt sind Disziplinen Ordnungstechniken, die versuchen eine Machttaktik zu definieren, die drei Kriterien entspricht, welche auch die Hauptmerkmale des Panoptismus sind: die Machtausübung soll möglichst wenige Kosten verursachen und möglichst effizient sein; die Wirkung der gesellschaftlichen Macht soll möglichst intensiv und weitläufig sein; und schließlich soll sich die „ökonomische“ Steigerung der Macht mit der Leistungsfähigkeit der Apparate verbinden, innerhalb derer sie ausgeübt wird. Diese Machtmechanismen wirken durch Wertschöpfung und folgen dem Prinzip der Milde/Produktion/Profit. Es geht also um die gleichzeitige Steigerung der Fügsamkeit und Nützlichkeit aller Elemente des Systems (vgl. ebd.: 924 f).

Das Wachstum der kapitalistischen Wirtschaft hat die Eigenart der Disziplinargewalt hervorgerufen, deren allgemeine Formeln, deren Prozeduren zur Unterwerfung der Kräfte und der Körper, deren ´politische Anatomie´ in sehr unterschiedlichen politischen Regimen, Apparaten oder Institutionen eingesetzt werden können.“ (ebd.: 928)

Die „Verstaatlichung der Disziplinarmechanismen“ im klassischen Zeitalter sowie das Aufkommen des Kapitalismus spielten für die Durchsetzung der neuen Machtformen eine wesentliche Rolle.

2. Die elementare, technisch-materielle Ebene der panoptischen Macht ist zwar nicht direkt von den großen rechtlichen Strukturen einer Gesellschaft abhängig, darf nach Foucault aber auch nicht als gänzlich unabhängig davon gesehen werden. Der Panoptismus arbeitete an den Rechtsstrukturen von unten her und lässt die Machtmechanismen im Gegensatz zu ihren formellen Rahmen wirken (vgl. Foucault, 2008: 928).

3. Die Ausweitung der Disziplinarverfahren ist in einen breiten historischen Prozess eingeschrieben. Wissen und Machtsteigerung verstärken sich dabei gegenseitig in einem geregelten Prozess. Spitäler, Schulen etc. sind zu Apparaten geworden, die als Subjektivierungs-/Unterwerfungsinstrumente fungieren. Hier werden unerwünschte Eigenschaften unterdrückt und erwünschte modelliert und somit Individuen produziert (vgl. ebd.: 930 ff).

Die äußerste Verdichtung produktiver Macht enthält für Foucault das „Kerkersystem“, welches Bestrafungstechniken in die harmlosesten Disziplinen einführt und Individuen an der allgemeinen Norm der Industriegesellschaft ausrichten will (vgl. Foucault, 2005: 167, 1014 f).

2.4 Bio-Macht und Sexualitätsdispositiv

2.4.1 Bio-Macht

Die „Bio-Macht“ stellt eine Art Gegenkonzept zu der psychoanalytisch-marxistischen „Repressionshypothese“ dar, welche davon ausgeht, dass es im 17. Jahrhundert noch eine völlige Freiheit in Bezug auf den Sex gegeben hätte („radschlagende Körper“), es im 19. Jahrhundert aber mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft zu einer Veränderung des freizügigen Diskurses gekommen wäre („die monotonen Nächte des viktorianischen Bürgertums“). Foucault will nicht behaupten, dass es keine Unterdrückung der Sexualität gegeben hat, sondern dass in der abendländischen Zivilisation Sexualität so wichtig geworden ist, dass sie ständig problematisiert wird und so eine „Diskursivierung“ des Sexes stattgefunden hat: es bildete sich ein „neues Regime der Diskurse“ (vgl. Foucault, 2008:1029, 1048).

Im Gegensatz zur Disziplinarmacht, welche eine Mikromacht ist, verkörpert die Bio-Macht eine nicht-disziplinäre Makromacht, die global auf Bevölkerungen wirkt und deren Gegenstand und Ziel das Leben ist (vgl. Foucault, 1976: 7 ff). Ihr Ziel ist die Regulierung der Bevölkerung, insbesondere durch Regulierung der Fortpflanzung, der Geburten- und Sterblichkeitsrate, des Gesundheitsniveaus und der Wohnverhältnisse etc. Wachstum und Gesundheit der Bevölkerung werden zu zentralen Anliegen des Staates, der eine neue politische Rationalität entwickelt – eine „Bio-Politik“, die das Leben zunehmend verstaatlicht (vgl. ebd.: 6 f). Die Bio-Macht war laut Foucault sicher ein unerlässliches Element bei der Entwicklung des Kapitalismus, der Körper in Produktionsapparate integrierte und Bevölkerungsphänomene an die ökonomischen Prozesse anpasste sowie die Bevölkerung als Reichtum und als Arbeitskraft identifizierte (vgl. Foucault, 2008: 1135, 1046 f).

Es geht also darum, das Leben zu optimieren indem Disziplinarmechanismen errichtet werden, welche gelehrige Körper produzieren, verwalten und manipulieren um das Leben rechnerisch planen zu können. Diese verbinden sich mit regulatorischen Mechanismen, welche auf die Bevölkerung wirken, Haltungen des Sparens hervorbringen und Druck auf Hygieneregeln, Schulpflicht oder Konsum ausüben (vgl. ebd.).

2.4.2 Sexualitätsdispositiv

Prinzipiell versteht Foucault unter Dispositiv alle diskursiven, aber auch nicht-diskursiven Strategien oder Praktiken innerhalb eines Macht-Wissens-Komplexes. Für ihn stellen Institutionen nicht-diskursive Verhaltensweisen dar, da sie in der Gesellschaft als Zwangssystem funktioniert und keine Aussage sind. Alle Elemente eines Dispositivs, wie zum Beispiel eben Institutionen, Diskurse, wissenschaftliche Aussagen, Moral, philanthropische Thesen etc. sind zu einem Netz geknüpft. Dieses selbst ist das Dispositiv (vgl. Breifuß, o.J.: 6 ff).

Foucaults These ist, im Gegensatz zur Repressionshypothese, zu einer beispiellosen Intensivierung kam, über Sex zu diskutieren, zu schreiben und zu denken. Dieser Diskurs gab dem Sex einen ungehörig mächtigen Antrieb, durch welchen die Bio-Macht ihr Netz bis in die „kleinsten Zuckungen des Körpers“ und die letzten Winkel der Seele spinnen konnte. Dies wurde durch die Konstruktion spezifischer Technologien ermöglicht. Mittels des Sexualitätsdispositivs wurden die Elemente Körper, Wissen, Diskurs und Macht zusammengeführt, wobei grob gesprochen diese Technologie vorrangig ein Instrument der Bourgeoisie war, um die ausgebeuteten Klassen zu kontrollieren (vgl. Dreyfus & Rabinow, 1983: 168 f; Foucault, 2008: 1125) Durch “wissenschaftliche” Durchbrüche wurde Sexualität mit einer Form von Wissen verknüpft und konnte eine Verbindung zwischen dem Individuum, der Gruppe, Inhalt und Kontrolle werden (vgl. Dreyfus & Rabinow, 1983: 168 f). Generell geht es Foucault hierbei um die Frage der ganz unmittelbaren, lokalen Machtbeziehungen welche an Wahrheitsproduktion, also Diskursivierung, gekoppelt sind. Es soll „die krebsartig wuchernde Produktion von Diskursen über den Sex in ein Feld vielfältiger und beweglicher Machtbeziehungen getaucht werden.“ (ebd.: 1102)

Foucault definiert vier Bereiche, in denen sich spezifische Wissens- und Machtdispositive um den Sex entfalten. Einer davon ist die Hysterisierung des weiblichen Körpers: Der weibliche Körper wurde in ein Feld medizinischer Praktiken integriert und schließlich in „organische Verbindung mit dem Gesellschaftskörper (dessen Fruchtbarkeit er regeln und gewährleisten muß), mit dem Raum der Familie (den er als substantielles und funktionierendes Element mittragen muß) und mit den Leben der Kinder“ (das er durch eine biologisch-moralische Erziehung schützen muss) gebracht. Die Familie wird immer mehr zum Ort und Zentrum des Sexualitätsdispositivs (vgl. Foucault 2008: 1110).

2.5 Gouvernmentalität

Aus seinen Untersuchungen der Genealogie von Macht-Wissens-Regimen und der daraus resultierenden Subjektivierung und Bio-Macht ist in seinem Spätwerk der Begriff der „Gouvernmentalität“ entstanden. Gouvernmentalität stellt eine Analysemethode dar, mit der untersucht werden kann, auf welche Weise Herrschaftstechniken mit Technologien des Selbst ineinander greifen. Sie untersucht die gegenseitige Konstituierung von Machttechniken, Wissensformen und Subjektivierungsprozessen. Herrschaftstechniken zielen auf die Bestimmung des individuellen Verhaltens während Selbsttechniken Individuen dazu dienen, ihre persönlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten so anzunehmen, dass sie ihre persönliche Lebensführung gestalten oder auch verändern können (vgl. Bröckling, Krasmann & Lemke, 2012: 28f). Die neoliberale Regierungsrationalität stellt die Verknüpfung von Herrschaftstechniken und Subjektivierungsprozessen dar. Der Liberalismus "produziert" Freiheit und organisiert die Möglichkeitsbedingungen, in denen die Individuen frei sein können. Gleichzeitig steht diese Freiheit einer permanenten Gefährdung gegenüber, welche zu immer neuen Interventionen legitimiert. Im Neoliberalismus der Chicago-Schule wird der Markt zum organisierenden und regulierenden Prinzip des Staates. Ein begrenztes und äußerliches Prinzip wird durch ein regulatorisches und inneres ersetzt. Die Form des Marktes dient nun als Ordnungsprinzip der Gesellschaft und des Staates (vgl. ebd: 14 f).

2.6 Zusammenfassung Macht

Aus dem oben gesagten, ergibt sich ein Bild von Macht, welches ich nun zusammenfassend skizzieren will.

- Macht steht niemals frei von Wissen.
- Macht hat keinen Mittelpunkt, kein souveränes Zentrum dem sie entspringt und ist nicht etwas, was man erwerben oder teilen kann, sondern ist ein Verhältnis von ungleichen Kräften, die unablässig Machtzustände erzeugen, welche immer lokal, diffus und instabil sind und sich von einem Punkt zum anderen innerhalb eines Gewaltfeldes bewegen.
- Macht ist also allgegenwärtig und überall, da sie von überall kommt.
- Macht ist nicht eine Institution, eine Struktur, ein Besitz einiger weniger Mächtiger sondern der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt.
- Macht ist ein auf Handeln gerichtetes Handeln.
- Macht kommt von unten, strahlt also nicht von BeherrscherInnen auf Beherrschte aus sondern bildet sich als vielfältiges Kräfteverhältnis in den Produktionsapparaten, den Familien, einzelnen Gruppen und Institutionen aus, wo sie als Basis für eine weitreichende Spaltung des gesamten Gesellschaftskörpers fungiert. Sie ist also eigentlich multidirektional und operiert in Form von „top-down“ genauso wie „bottom-up“ (vgl. Dreyfus & Rabinow, 1983: 185).
- Niemand kann sich also der Macht-Matrix entziehen.
- Macht wird produktiv wenn sich Disziplinartechnologien in bestimmten Institutionen festsetzen und in ökonomischen, industriellen und wissenschaftlichen Bereichen die Effizienz steigert, indem sie durch Normalisierung und Normierung die Körper der Individuen besetzt (vgl. Sadan, 2004: 58). Außerdem produziert sie Wissen vom Individuum und Diskurse.
- Machtbeziehungen sind beweglich, da eine reine Unterdrückungsfunktion die Macht zerbrechlich macht und nicht akzeptabel für das Individuum ist (vgl. Dreyfus & Rabinow, 1983: 185 ff).
- Somit schließen sich Macht und Freiheit keineswegs aus.
- „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht.“ (Foucault, 2008: 1100)
- Machtverhältnisse werden nicht durch eine Ökonomie instrumentalisiert, sondern konstituieren Produktionsverhältnisse durch die Disziplinierung der Menschen. Die Unterwerfung von Zeit und Zyklus der Produktion genauso wie das System der Verschuldung und der lokalen Kontrolle bestimmen und installieren die Lebenszeit als Arbeitszeit.
- Um Macht in ihrer Materialität, ihren täglichen Operationen verstehen zu können, müssen wir das Level der Mikropraktiken untersuchen und die politischen Technologien in denen die Praktiken entstehen.

Foucault geht es also darum, wie schon erwähnt, eine Geschichte der verschiedenen Methoden zu erstellen, durch die in unserer westlichen Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden (vgl. Dreyfus & Rabinow, 1983: 208), wobei das „Wort Subjekt (…) einen zweifachen Sinn [hat]: vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemandem unterworfen sein und durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein.“ (Foucault, 1994: 246 f) In seiner Arbeit hat er drei Methoden thematisiert:

Die erste ist die Methode der Untersuchung, die sich selbst den Status der Wissenschaft zu geben sucht: “For example […] the objectivizing of the productive subject, the subject who labors, in the analysis of wealth and of economics.” (Foucault, 1983: 208)

Zweitens hat er die Objektivierung des Subjekts durch “Teilungspraktiken” studiert. Durch diese werden die Individuen unterteilt in Gesunde und Kranke, Kriminelle und „good boys“.

Drittens untersuchte er die Weise, in der sich Menschen selbst subjektivieren (vgl. ebd.). Dadurch, dass menschliche Subjekte in Produktionsbeziehungen und Bedeutungen verortet werden, sind sie ebenso in Machtbeziehungen verstrickt, welche sehr komplex sind.

3 Frauen-Empowerment durch Mikrokredite

3.1 Die Geschichte des (Mikro)-Kredits

Die Geschichte des (Mikro)-Kredits ist eine lange, und nicht jüngste Erfindung des Nobelpreisträgers (2006) Muhammad Yunus, der mit seinem Grameen-Bank-Projekt 1976, welches 1983 eine Finanzinstitution wurde, als Vater des Mikrokredits gilt - welchen er als Menschenrecht sieht beziehungsweise den Zugang zu Kredit an sich (vgl. Wichterich, 2012).

Klas (2011) geht auf das alte Griechenland zurück, wo schon Kredite vergeben wurden. In vorkapitalistischen Gesellschaften waren sie meist Folge einer Notlage. Zinsen standen allerdings in einem negativen Licht, da sie, wie Klas Platon u.a. zitiert, die Not der SchuldnerInnen verschärfen, und die Zahl der Armen im Staat nur vermehren würden. Auch Aristoteles äußert sich ablehnend gegenüber dem Wucher, „der aus dem Geld selbst den Erwerb zieht und nicht aus dem, wofür das Geld da ist. Denn das Geld ist um des Tausches Willen erfunden wurden.“ (Aristoteles zit. nach Klas, 2011: 17) Wirkliche Verbreitung erfuhren Geldkredite aber erst im 18. Jahrhundert mit den großen Handelsgesellschaften und den ersten kapitalistischen Manufakturen. England, das einstige Finanzzentrum der modernen Welt, hatte den Diskontsatz der Bank of England auf maximal fünf Prozent begrenzt, was den Maßstab für den Höchstzins aller anderen Banken darstellte. Vor allem werden Kredite aber in Verwandtschaftskreisen gegeben. Ein weiteres Beispiel sind die Swift´schen Mikrokredite, welche als Vorbild des Grameen-Modells gelten. Der Autor von Gullivers Reisen, Jonathan Swift, vergab zu Beginn des 18. Jahrhunderts erstmals „Mikrokredite“ an Klein­unter­nehmer­Innen, mit Bürgschaften aber ohne Sicherheiten, welche wöchentlich rückzahlbar waren. Sein Modell erwies sich als äußerst erfolgreich und verdient deshalb Erwähnung, weil zinslose Kredite heute in Verruf gekommen sind, da sie angeblich die Rückzahlungsmoral der SchuldnerInnen beschneiden, womit Zinsen ein fester Bestandteil im Mikrokredit-Geschäft geworden sind. Ebenso liegt die damalige Kappungsgrenze von fünf Prozent weit unter der Realität der heutigen Zinsen. Weitere Vorläufer der gegenwärtigen Mikrokredite, welche Klas nennt, sind die ersten deutschen Genossenschaftsbanken benannt nach dem Gründer Friedrich Wilhelm Raiffeisen in der Mitte des 19. Jahrhunderts (vgl. Klas, 2011.: 17 ff).

In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts haben Teile der Frauenbewegung und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) die Vergabe von Mikrokrediten gefördert. Zum Beispiel wurde in Form von Selbsthilfegruppen (SHGs) Geld angespart, um es dann einzelnen Frauen aus der Gruppe zu borgen, beruhend auf dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe, jedoch ohne Unterstützung der staatlichen Entwicklungspolitik. In den 1970ern begann Muhammad Yunus in Bangladesch Mikrokredite gegen Zinsen an Frauengruppen zu vergeben, wobei die Rückzahlungsquote laut Yunus bei 97 Prozent lag (vgl. ebd.). Die Geschichte der Mikrokredite und ihre wachsende Popularität sowie der daraus resultierende Boom auf den ich später genauer eingehen werde, liefen parallel zu einem entwicklungspolitischen und ökonomischen Wandel und sind in eine zunehmende Liberalisierung der Finanzmärkte und eine Ausweitung kapitalistischer Produktionsprozesse eingebettet.

Graeber (2011) meint, dass die Geschichte vom Ursprung des Kapitalismus nicht auf einer Zerstörung traditioneller Gemeinschaften durch die Macht des Staats beruhe, sondern darauf, wie eine auf dem Kredit beruhende Wirtschaftsordnung in eine auf Zinsen beruhende Wirtschaftsordnung verwandelt wurde (vgl. Graeber, 2011: 350). Aus dem Versprechen, Geliehenes zurückzugeben, wurden unpersönliche finanzielle Prinzipien, also Schulden, die auch an andere weitergegeben werden können. Des Weiteren seien Schulden viel mehr als Ökonomie, da sie im Kern einem moralischen Prinzip folgen und eine moralische Waffe sind, die jedoch unhinterfragt bliebe. Weil wir das vergessen hätten, haben wir die Ökonomisierung aller sozialen Beziehungen lanciert. Diese Moral ist Machtgebunden, da Schuld ein Versprechen sei, dessen Einhaltung mit Gewalt durchgesetzt werden könne, womit es sich von allen anderen Versprechen unterscheidet. Außerdem liegt der Schuldverschreibung ein religiöses Motiv zugrunde, nach welchem der Mensch seine „angeborene Schuld“ abzutragen habe. Das Schuldensystem, das auf einer „Schöpfung aus nichts" aufgebaut ist, habe deshalb nichts mehr mit Märkten oder Wissenschaft zu tun sondern mit Theologie. Märkte, denen man erlaubt sich von ihren gewalttätigen Ursprüngen zu befreien, verwandeln sich unweigerlich in Netzwerk der Ehre, des Vertrauens, der gegenseitigen Verbundenheit (vgl. Schirrmacher, 2011).

Men like Smith and Bentham were idealists; even utopians. […] [T]he history of capitalism, […] began as an utopian vision, was only gradually put into effect even in England and the North America, and has never, at any point, been the main way of organizing production for the market. (Graeber, 2011: 353)

3.2 Die „Entdeckung der Frauen“

Seit den 1970ern ist in der Entwicklungspolitik die Rede von „der Entdeckung der Frauen“ aufgekommen. Durch die zunehmende Thematisierung von Feministinnen, dass Frauen und ihre Arbeit zu gering geschätzt werden, wurde ein Diskurs produziert welcher die Frauen als „ungenutzte Ressource“ identifizierte: Die „unsichtbaren Frauen“ sollten, so das neue Credo der Weltbank, in die Entwicklung integriert werden, und ihre „untergenutzte Arbeit“ für Märkte und Wachstum aktiviert werden (vgl. Wichterich, 2012). Auch der IWF erkennt das weibliche Potential ökonomischer Effizienz und nachhaltiger Entwicklung (vgl. Ravenga & Shetty, 2012). Die OECD stellt fest, dass ökonomisches Empowerment von Frauen eine Grundvoraussetzung für nachhaltige Entwicklung, armutsminderndem Wachstum und die Erreichung der Millennium Development Goals (MDGs) darstellt. Des Weiteren werden Frauen als „lukrativ“ gesehen, da Investment in Gendergleichheit die höchsten Erträge aller Entwicklungsinvestitionen erzielen würde, weil Frauen generell einen größeren Anteil ihrer Gewinne in ihre Familien und Communities investieren als Männer, und auch was Rückzahlungen betrifft, verlässlicher sind (vgl. OECD, 2011: 6).

Solchermaßen wie es beim Sexualitätsdispositiv durch eine ständige Thematisierung des „unterdrückten Sexes“ zu einer Diskursivierung kam, lässt sich auch hier eine feststellen. Durch das stetige Hinweisen darauf, dass Frauen unterdrückt und „unsichtbar“ sind, wurden sie in einen Diskurs eingebunden, der sie sichtbar machen sollte. Frauen und ihre Arbeit wurden als neue Strategie gegen Armut identifiziert. Dadurch wurden sie in Produktions­prozesse integriert, um sie an die ökonomischen Prozesse anzupassen.

Zeitgleich wurde von vielen Frauenbewegungen Zugang zu Kredit als Hauptvoraussetzung für Einkommensgenerierung definiert. Das Interesse an armutsorientierten Kreditprogrammen und Kreditkooperativen stieg beträchtlich. Seit den 1970ern haben viele Frauenorganisationen weltweit Kredit und Spareinlagen als Basis für Einkommenssteigerung und Artikulierung weiterer Genderbelange in ihre Agenden aufgenommen. In den 1980ern kam es zu der Entstehung von armutszentrierten Mikrofinanzinstituten (MFIs) wie der Grameen Bank (welche oft als Role Model dient) oder ACCION. Viele dieser Programme begreifen sich selbst als empowerment-orientiert. In den 1990ern wurde euphorisch der nun erbrachte Erfolgsbeweis verkündet, welcher sich auf die hohe weibliche Rückzahlungsquote stützte. Dieser Euphorie wurde nur wenig bis keine Kritik entgegengesetzt ( vgl. Morduch, 1999: 1570 f, 1589), nicht nur weil wenige kritische Studien existierten, sondern weil Mikrokredite ein common sense [1] good wie das des Empowerments und einen besseren Lebensstandard für Arme versprechen, und in einer Initiative verbinden, was Development Studies genau in ihrer ökonomischen und armutszentrierten Orientierung ansprach. Folglich kam es, gemeinsam mit dem wachsenden Einfluss der Genderlobbies in den NGOs und Geberkreisen, zu einer Schwerpunktsetzung auf Frauen bei Mikrofinanzprogrammen (vgl. Mayoux, 2000: 5; Basu, 2006: 3). Der Micro-credit Summit in Washington 1997 spiegelt die Formierung eines Dispositivs wider, in welchem Diskurse und Institutionen sowie wissenschaftliche Aussagen und Praktiken zu einem Netz gesponnen werden. Außerdem fungiert er als Instrument zur Formierung von Wissen, von wo aus dieses sich in verschiedenen Disziplinen, Diskursen, Institutionen, Regierungen und der Gesellschaft ausbreiten kann. Es wurde eine extrem attraktive Vision einer steigenden Zahl von expandierenden, finanziell selbsttragenden und sogar profitablen Mikrofinanz- Programmen vorgestellt. Diese würden eine große Anzahl von sehr armen Frauen nicht nur erreichen, sondern auch empowern. „This optimism about the implicit empowerment potential of credit and savings pervades most donor statements on microfinance.” (Mayoux, 2000: 3, vgl. Basu 2006: 5 ) Außerdem wurde Mikrofinanzierung als Schlüssel zur Armutsverminderung und entscheidende Strategie promotet, um armen Frauen und Männern zu helfen, mit den nachteiligen Auswirkungen der Strukturanpassungs­programme[2] (SAPs) und der Globalisierung fertig zu werden (vgl. ebd.).

KritikerInnen behaupten allerdings, dass „Mikrokreditprogramme [vielmehr] eine Folge und konsequente Ergänzung der alten Strukturanpassung [sind]“ (Klas, 2011: 28), und dass Frauen des globalen Südens über eine Kredit- und Verschuldungskette in die globalen Finanzmärkte eingebunden werden und so noch größere Abhängigkeit vom „globalen Norden“ und eine „Feminisierung der Armut“ erzeugt wird. Dieser Polarisierung im Entwicklungskontext werde ich nun genauer nachgehen und danach die Konzepte des Empowerment von Frauen und das der Mikrokredite vorstellen.

3.3 Polarisierung im Entwicklungskontext

Auf die Frage, inwiefern Mikrokredite empowern herrscht Uneinigkeit in Literatur und Wissenschaft. Beispielsweise hat man untersucht, inwiefern sich die Kreditaufnahme von Frauen auf das Konsumverhalten der Haushalte auswirkt, und ob die Teilnahme von Frauen in diesen Kreditprogrammen ihre „Verhandlungsmacht“ und ihr Empowerment im Haushalt verstärkt. Die beiden Weltbankökonomen Pitt und Khandker (1998) finden ihrerseits heraus, dass in Bezug auf Konsumniveau und Schulbesuchswahrscheinlichkeit „[…] credit is a significant determinant […]” und „[…]credit provided to women was more likely to influence these behaviours than credit provided to men.” (Khandker & Pitt, 1998: 987) Andererseits kommt Morduch (1998) zu einem gegenteiligen Ergebnis bezüglich der Teilnahme an Mikrokreditprogrammen in Bangladesch, welche zu einem niedrigeren Konsumniveau geführt habe. Genauso verhält es sich in Bezug auf Empowerment im Haushalt. Einige Forschungsarbeiten belegen einen positiven Einfluss auf Empowerment anhand gewisser Indikatoren, während andere Studien nachweisen, dass die Teilnahme an Mikrokreditprogrammen die dominierte Rolle im Haushalt nur verstärkt und, in manchen Fällen, der Kredit sogar in den Händen des Mannes landet (vgl. Basu, 2006: 3).

Die Literatur über Mikrofinanz liefert also unterschiedliche Resultate, selbst wenn die selben Daten verwendet wurden. Gemein ist ihnen nur die Ansicht, dass mehr Forschung zu dem Thema von Nöten sei. Das macht die Polarisierung innerhalb des Entwicklungssektors deutlich und zeigt, dass „Wissen“ in sehr heterogener Weise existiert. Weil laut Foucault Wissen niemals frei von Macht steht, werde ich nun analysieren, wie in diesem Feld die Machtverhältnisse aufgebaut sind, die Wissen produzieren, welches wiederum die Wirk­samkeit der Machtmechanismen erhöht. Da sich mächtige Diskurse innerhalb des Macht-Wissenskomplexes etablieren und zu Dispositiven werden, möchte ich diese genauer untersuchen.

Da Mikrokreditprogramme, sowie das Konzept des Empowerment, in einem entwicklungs­politischen und ökonomischen Kontext eingebettet sind, können sie nicht als alleinstehendes Phänomen behandelt werden. Darum werde ich ihren Entstehungskontext ebenso beachten und historisch verorten. So soll die Bedeutung der beiden Konzepte für das Feld, welches sie einerseits mitformen, und welchem sie andererseits entwachsen, herausgearbeitet werden.

3.4 Entwicklungspolitischer und ökonomischer Wandel im historischen Kontext

Das Entwicklungsmotto der 1970er, welche von der UN als „Entwicklungsdekade“ ausgerufen wurden, lautete „Entwicklung durch Wachstum“. Entwicklung wurde zu einem Schlagwort, das meinte, dass Entwicklung und Modernität für den globalen Süden möglich sei, wenn dieser nur die richtigen Strategien und die richtige Politik – nämlich die des globalen Norden - adaptiere. Wallerstein nennt dieses Modell Developmentalismus[3].

Hauptsächlich wurden von den Geberländern Großprojekte gefördert, die an Verträge gekoppelt waren und Kredite vergeben, die die Geberländer in Form von Zinsen zurückzahlen mussten. In den 1980ern kam es, unter anderem vor dem Hintergrund zweier sogenannter Ölkrisen (1973 und 1997/80), zu einem Anstieg der Rohstoffpreise und einer Rezession der Weltwirtschaft, was zu Liquiditätsengpässen vieler Länder des globalen Südens führte. Nur die Öl-exportierenden Länder akquirierten enorme Gewinne, welche sie hauptsächlich in deutschen und US-Banken deponierten, und ihrerseits wiederum eine lukrative Anlage­möglichkeit für dieses Fremdkapital suchten. Laut Wallerstein fanden sie die Lösung in der Vergabe von Krediten an Länder mit akuten Zahlungsbilanzschwierigkeiten, was als win-win-Situation beworben wurde (vgl. Wallerstein, 2005: 2 ff). Da Kredite aber immer auch ein Abhängigkeitsverhältnis, nämlich von dem/der KreditnehmerIn welchEr „in der Schuld“ der Kreditgeber steht, implizieren, bergen diese Entwicklungen ein gewisses Gefahren- und Konfliktpotential.

Schwindende Einnahmen und steigende Zinsen hatten eine immer größer werdende Ver­schuldung zur Folge, was zur so genannten Schuldenkrise der „dritten Welt“ führte. Schnell hatte man den Grund dafür gefunden: Developmentalismus der auf den Theorien des unaufhaltsamen Fortschritts beruhte. Darin spiegelt sich die Unbeständigkeit akademischer Schlagwörter wider. Developmentalismus war nun „falsch” und Globalisierung „richtig”. „University professors, foundation executives, book publishers, and […] columnists all saw the light. To be sure, the optic, or better said the remedies, had changed.” (Wallerstein, 2005: 2) Mit dem Aufkommen des Monetarismus[4] als vorherrschende ökonomische Schule wurde ein „marktradikaler neoliberaler Wirtschaftskurs“ populär, was sich auch in Institutionen wie dem IWF, WB und WTO niederschlug. Diese implementierten Struktur­anpassungs­programme (SAPs) als Antwort auf die Schuldenkrise der Länder des globalen Südens, welche ein neoliberales Wirtschaftsmodell nach Vorbild der Industrieländer verfolgten. Die Prinzipien dieses Modelles, nämlich freie Märkte und eine minimalistische Rolle des Staates, wurden nun als der Weg zu Entwicklung und zu Wohlstand gesehen, welcher zu den armen Bevölkerungsschichten durchsickern würde. Die intellektuelle Unterstützung kam von einer Gruppe von Ökonomen um Milton Friedman, beheimatet in der University of Chicago. Diese sogenannten „Chicago Boys“ waren die „ArchitektInnen“ dieses Konzepts, deren Ideen, entsprungen aus der neoliberalen Theorienbildung, bald weitreichend die Politik beherrschten und das regulative Modell des Keynesianismus als neue „Wahrheitspolitik“ ablösten (vgl.: Mohan, 2009: 5 f). Wenn man Foucault folgt, stellt die neoliberale Regierungsrationalität die Verknüpfung von Herrschaftstechniken und Subjektivierungsprozessen dar und ist von Machtbeziehungen durchzogen, welche ich nun näher betrachten möchte.

IWF und Weltbank knüpften die Vergabe neuer Kredite sowie Teilschuldenerlasse an diese Strukturanpassungsprogramme, welche die Aufhebung von Importbeschränkungen, den Abbau von Haushaltsdefiziten, Deregulierung und Privatisierung öffentlicher Aufgaben etc. vorsahen und ganz nach dem Prinzip der Wettbewerbsorientierung Zugang zu neuen Märkten verschaffen sollte. Zugriff auf Öl, Erze etc., sowie vermehrt auch zu Ackerland wurde vertraglich gesichert. Als Begründung diente eine moralische Abkehr von staatlicher Einmischung und der politischen Unfähigkeit der Nationalstaaten, dies umzusetzen.Der Diskurs über Freiheit und Unabhängigkeit brachte Subjektivierungsprozesse hervor. Die „freien Individuen“ wollten ihre persönlichen Fähigkeit ausbauen und ihr Leben selbst gestalten und sahen nun alles, was der Entfaltung ihres Potentials im Wege stünde, als bedrohlich (vgl. Demmers, 2004: 4).

Brigg (2001) bezeichnet das Aufkommen des Neoliberalismus als Wiederbelebung alter „nicht-politischer“ Technologien, welche Individuen dazu anregen, ihre persönliche Lebens­führung zu gestalten, und dabei in Subjektivierungsprozesse und Regulierung einbindet. Liberale Prinzipien, wie Skepsis gegenüber der Regierungsfähigkeit politischer Autoritäten, wurden reanimiert und Märkte anstelle staatlicher Planungsinstrumente gesetzt. Sozialleistungen und Wohlfahrt weichen dem Paradigma wirtschaftlichen Unternehmergeistes. Brigg findet darin: “clear resonances with the programs of the World Bank and International Monetary Fund (IMF) and the decline of nation-state involvement in development efforts in the Third World.” (Brigg, 2001: 5) Der Aufschwung des sich selbst regulierenden und selbst produzierenden Subjekts des Liberalismus steht in Korrelation mit der zunehmenden Durchdringung von Machtpraktiken und Regulierungen des sozialen sowie des individuellen Körpers, und wird von Foucault unter dem Begriff der Gouvernmentalität zusammengefasst.

Des Weiteren war auch der Finanzsektor von der Liberalisierung betroffen. Da internationale Banken und Versicherungskonzerne auf die „neuen“ Märkte drängten, wurden auf Druck der Industrieländer in der ersten Hälfte der 1990er fast alle gesetzlichen Zinsobergrenzen abgeschafft, die in den Ländern des globalen Südens existierten. Das sei laut Klas eine wichtige Voraussetzung gewesen, um „ das `nachhaltige´ Geschäft mit den Mikrokrediten in größerem Stil betreiben zu können“. (Klas, 2011: 26 ff ) Im Zuge dieser Marktliberalisierung floss ein hoher Prozentsatz der Staatshaushalte in die Tilgung der Schulden. Die Armut der verschuldenden Länder stieg rasant, es formierte sich Widerstand und kam zu Protesten.

Dieser bewirkte in den 1990ern eine Milderung der harten neoliberalen Linie. Der Diskurs verschob sich von einem Wachstumsparadigma zu einem der Armutsbekämpfung, wobei Marktmechanismen trotzdem ihre zentrale Rolle behielten. Es kam außerdem zu einer Verschiebung in der Terminologie, wo die in Verruf geratenen SAPs durch das Konzept der Poverty Reduction Strategies (PRSs) ersetzt wurden (vgl. Mohan, 2009: 5 f). Ferner wurde Anfang der 1990er (bzw. erstmalig 1989) ein Fehlen von Good Governance („guter Regierungsführung“) für die schlechten Resultate der SAPs verantwortlich gemacht. Dieses Konzept wurde nun von der Weltbank promotet, welche Armutsbekämpfung, Menschen­rechte und Demokratie betonte. Auch die Rolle der Zivilbevölkerung wird als Entwicklungs­motor hervorgehoben, welche durch Partizipation gestärkt werden soll. Bald wurde das Konzept gänzlich in die allgemeinen Entwicklungsstrategien der meisten multilateralen Organisationen (v.a. von IWF und OECD) und westlichen Regierungen aufgenommen. Die UNDP unterstrich zum Beispiel die Wichtigkeit nationaler Maßnahmen sowie „Empowerment of the Powerless“. Demmers (2004) sieht das Good Governance-Konzept jedoch als demokratisches kapitalistisches Regime, das alte Machtbeziehungen aufrechterhält und zwei eigentlich konträre Elemente wie die westlich-liberale Modernisierungstheorie und kritischere Ideen wie Partizipation vereint (vgl. Demmers et.al, 2004: 4 f, 13).

Außerdem ist der „guten Regierungsführung“ eine Wertung inhärent, da sie sich klar von einer „schlechten Regierungsführung“ abgrenzt, was ein Wissen darüber impliziert, was richtig und falsch oder gut oder schlecht ist. Da der Ansatz von Good Governance aus einer wissenschaftlichen Studie zur Evaluierung der Probleme einer Region stammt, (vgl. ebd.: 4) lässt sich gut erkennen, wie sich Wissen (und Macht) formiert, verbreitet, zu Diskursen wird und Institutionen, Regierungen und Individuen besetzt. Das Entwicklungsprojekt des Empowerment durch Mikrokredite weist viele Parallelen zu dem Ansatz der Good Governance auf.

[...]


[1] Common sense: Lateinische Übersetzung: sensus communis, common feelings of humanity. Sound judgment not based on specialized knowledge; native good judgment (vgl. Merriam-Webster Definition).

[2] Strukturanpassungsprogramme (SAPs) bezeichnen ein Bündel wirtschaftspolitischer welche die Länder des „globalen Südens“ und Osteuropas im Gegenzug für Kredite des IWF und der Weltbank, sowie als Bedingung für Schuldenerlass, durchführen müssen (vgl. WHO, 2013).

[3] Developmentalismus ist eine ökonomische Theorie, die ökonomische Entwicklung ins Zentrum aller politischen Bestrebungen stellt und Entwicklung als linearen Prozess, von einer traditionellen zu einer modernen Gesellschaft sieht. (vgl. Wallerstein, 2005)

[4] Monetarismus ist eine wirtschaftswissenschaftliche Schule, die v.a. aus der Kritik zum Keynesianismus entstanden ist und Eingriffe des Staates ablehnt. Die bekanntesten Vertreter sind Friedman und Brunner.“ (vgl. Wirtschaftslexikon Gabler, 2012)

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2013
ISBN (PDF)
9783956847110
ISBN (Paperback)
9783956842115
Dateigröße
742 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Wien
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1
Schlagworte
Mikrofinanzbranche Ökonomisches Entwicklungskonzept Machtanalytik Foucaults Finanzmarktliberalisierung Entwicklungsdiskurs Indien

Autor

Ines Höckner wurde 1987 in Wien geboren. Im Zuge ihres Studiums der Internationalen Entwicklung an der Universität Wien verfasste sie ihre Bachelorarbeit über Empowerment und Mikrokredite, eine Thematik, die sie mit Foucaults Machtanalytik verband. Bereits während des Studiums reiste die Autorin nach Indien, wo sie praktische Erfahrungen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit sammelte und erstmals mit dem Thema der Mikrokredite in Berührung kam. Durch zahlreiche Besuche in indischen Dörfern und Gespräche mit Betroffenen einerseits und EntwicklungszusammenarbeiterInnen andererseits wurde ihr die Relevanz dieses Themas bewusst. Dass daraus hervorgegangene Interesse ist dem vorliegenden Buch gewidmet.
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Titel: Empowerment durch Mikrokredite als Wundermittel gegen Armut? Foucault und die „Subprimekrise“ in Indien
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