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Die Performances der Künstlerin Marina Abramović im Kunstunterricht: Performatives Handeln als Weg zu neuer Selbstwahrnehmung bei Schülerinnen und Schülern

©2009 Examensarbeit 47 Seiten

Zusammenfassung

Körper- und Selbstwahrnehmung werden in der Schule marginalisiert. Ziel des Unterrichts ist es, den Geist zu prägen, die konkreten SchülerInnenkörper werden dabei nicht berücksichtigt, ja sogar als hinderlich empfunden. Demgegenüber untersucht dieses Buch das Potenzial des Körpers für wahrnehmungs- und bewusstseinsverändernde Prozesse und plädiert dafür, diese in den Schulalltag zu integrieren. Es zeigt, wie ein erweitertes Körperverständnis Schülerinnen und Schülern mit Hilfe der Kunstpädagogik vermittelt werden kann. Dabei werden die Perfomances der Künstlerin Marina Abramovic für den Kunstunterricht fruchtbar gemacht. Auf die kunstwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Werken Abramovics folgen angelehnt an kunstpädagogische Konzepte von Marie Luise Lange, Hanne Seitz und Gert Selle konkrete Beispiele, wie eine körperorientierte Arbeit im Kunstunterricht umgesetzt werden kann.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Marina Abramović

Freeing the Body [1]

1976, Berlin, Galerie Mike Steiner

In einem kahlen Raum tanzt eine nackte Frau mit einem eng um den Kopf gewickelten schwarzen Tuch wild zu den Trommelschlägen eines Afrikaners. Blind wie sie ist, stampft sie mit den Füßen und wirbelt herum, ihre Arme sausen durch die Luft, sie dreht sich im Kreis, wird schneller und schneller. Unermüdlich verbiegt sie ihren Körper, malträtiert ihn, fordert ihn. Sie keucht vor Anstrengung. Menschen kommen und gehen. Einige bleiben stehen und sehen ihr zu, sie sind irritiert und fasziniert, andere wenden sich kopfschüttelnd ab. Stunden vergehen, die Frau tanzt weiter. Dann knickt sie ein, fällt auf den Boden und bleibt regungslos liegen (vgl. Meschede, 1993, S. 106-109).

Rhythm 0

1974

Auf einem langen Tisch sind ein Spiegel, eine Kerze, ein Wischmopp, eine Rose, Messer, Nagellackentferner, Werkzeug und andere Alltaggegenstände sowie eine Pistole mit einer einzigen Kugel ausgebreitet. Eine Frau mit ausdruckslosem Gesicht steht daneben und verkündet, dass die 72 Objekte auf dem Tisch nach Wunsch an ihr verwendet werden dürfen: „Ich bin das Objekt. Ich übernehme die volle Verantwortung während dieser Zeit“ (Abramović zitiert nach Meschede, 1993, S. 68). Die vorher lockere Vernissage-Atmosphäre ist plötzlich angespannt. Einige der Umstehenden kichern nervös, niemand weiß, was er tun soll. Dann tritt jemand vor und greift nach dem Lippenstift. Er wendet sich zu der Frau und schreibt groß und deutlich „END“ auf ihre Stirn. Nun fühlen sich auch die anderen ermutigt und beginnen, die Gegenstände auf dem Tisch an der Frau auszuprobieren. Jemand bindet ein weißes Tuch um ihren Hals, ein anderer klebt ihr Pflaster ins Gesicht. Die Stimmung löst sich, Witze und Vorschläge zu besonders ausgefallenen und lustigen Aktionen werden gemacht. Plötzlich wird die Frau hochgehoben, in Packpapier gehüllt und auf eine Liege gelegt. Dann wieder heruntergenommen und aufgestellt. Sie wird geschminkt und geküsst, doch dann wird die Stimmung aggressiver: Jemand zieht ihre Bluse aus und entblößt ihre Brust, ein anderer drückt die Dornen der Rose in ihren Bauch, sie weint, jemand tröstet sie, dann setzt ihr einer die Pistole an den Hals...

(vgl. Meschede, 1993, S. 68-85)

„Einige Anwesende trieben das Spiel bis zum Exzess. Sie verletzten die Akteurin mit einem Messer, bedrohten sie mit einer geladenen Pistole und hantierten an ihrem Körper herum“ (Behme & Meyer, 1998, S. 28).

Die Performance dauert genau sechs Stunden. Nach genau dieser Zeit steht die Künstlerin auf und beginnt auf das Publikum zuzulaufen. Dieses nimmt erschreckt Reißaus – es will der Konfrontation entkommen (vgl. http://rhythm0.pw-net.de/).

Thomas Lips

1975, Innsbruck, Galerie Krinzinger

Die Künstlerin zieht ihre gesamte Kleidung aus. Dann befestigt sie an der Rückwand des Raumes eine Fotografie von sich selbst und umrahmt sie mit einem fünfzackigen Stern. Nicht weit entfernt von der Wand steht ein Tisch, der mit einem weißen Tischtuch, einer Flasche Rotwein, einem großen Glas Honig, einem Silberlöffel, einem Kristallglas und einer Peitsche gedeckt ist. Sie setzt sich und beginnt den Honig auszulöffeln. Nachdem sie das Kilo Honig verzehrt hat, trinkt sie die Flasche Wein aus dem Kristallglas. Ihre Bewegungen sind langsam aber unbeirrt. Sie zerbricht das Glas mit der rechten Hand, die zu bluten beginnt. Die Künstlerin steht auf und geht zu der Wand, an der die Fotografie hängt. Mit dem Rücken zum Publikum ritzt sie sich mit einer Rasierklinge einen ebenfalls fünfzackigen Stern um ihren Bauchnabel. Eine blutende Wunde entsteht. Anschließend greift sie zur Peitsche, kniet, noch immer mit dem Rücken zu den Zuschauern, nieder und beginnt sich selbst zu geißeln. Mit blutigen Striemen bedeckt, legt sie sich auf ein Kreuz aus Eisblöcken, das von oben durch Heizstrahler erwärmt wird, die ihre Wunde erneut zum Bluten bringen. Abramović bleibt reglos auf dem Eis liegen. Dreißig Minuten vergehen, doch die Künstlerin macht noch immer nicht den Eindruck, als wolle sie ihren Qualen bald ein Ende bereiten. Da halten einige Zuschauer es nicht mehr aus: Sie dringen vor, heben sie vom Eis und tragen sie fort. Die Performance Thomas Lips ist zu Ende (vgl. Fischer-Lichte, 2004, S. 9).

Balkan Baroque

1997, Biennale von Venedig

Die Künstlerin sitzt drei Nachmittage lang inmitten eines Berges von Rinderknochen, von denen sie mit Hilfe einer Bürste die noch immer daran klebenden Fleisch- und Blutreste entfernt. Beißender, süßlicher Geruch steigt auf, während sie einen klagenden Singsang anstimmt. Um sie herum stehen drei Wannen mit Wasser, vorne läuft ein Video, in welchem die Künstlerin mit weißem Ärztekittel bekleidet „an old method of successfull killing rats in the Balkan which is the way to create a Wolf-Rat“ erläutert. Links und rechts an den Seitenwänden wohnen eine älterer Mann und eine ältere Frau, ebenfalls über Videobänder, der Künstlerin und ihrem Tun als stille Zeugen bei. Es sind ihre Eltern. Plötzlich zieht die Frau im Video die weiße Schürze aus und tanzt mit schwarzem Kleid zu serbischer Volksmusik. Der Vater lässt die erhobenen Arme sinken und hält nun eine Pistole. Die Mutter nimmt ihre zuvor demutsvoll gekreuzten Arme vors Gesicht (vgl. Bianchi, 1997, S. 368).

Freeing the Body, Rhythm 0, Thomas Lips und Balkan Baroque sind vier Beispiele aus dem umfangreichen Oeuvre der Künstlerin Marina Abramović. Alle vier sind schockierend, alle vier machen sprachlos und alle vier gehen nicht nur der Künstlerin, sondern auch ihrem Publikum buchstäblich durch „Mark und Bein“. Bei den ersten drei Performances bringt Marina Abramović ihren Körper bis an seine Grenzen, in Balkan Baroque inszeniert sie den Tod in erschütternd eindrücklicher Weise. Den Performances beizuwohnen ist so überwältigend, dass das Publikum den Ort des Geschehens physisch und psychisch anders verlässt, als es gekommen ist. Mit ihren Perfomances erschafft Marina Abramović Köperbilder, die gleichzeitig Körpererfahrung sind und zwar sowohl für die Künstlerin selbst, als auch für ihr Publikum. Ihre Aktionen kreisen um den von kulturellen und biografischen Einschreibungen unterworfene Körper und die Überwindung dieser Prägungen durch Schmerz- und Erschöpfungserfahrungen. Mit Hilfe von körperlichen Grenzsituationen bündelt Abramović die Energie, welche ihr die Kraft verleiht, sich in einen Zustand innerer Leere zu versetzten, die Trennung von Körper und Geist zu überwinden und mit der Gegenwart einszuwerden. Hierzu bedient sie sich neben eigenen Erfindungen auch extremer Körperpraktiken nichtwestlicher Kulturen. Ein wesentlicher Aspekt bei Abramovićs Aktionen ist außerdem die wechselseitige Verbindung zwischen der Künstlerin und ihrem Publikum. Allein die Präsenz der Zuschauenden versetzt sie in die Lage, das Energiefeld aufzubauen, welches ihr ihre Aktionen ermöglicht. Andererseits übernimmt Abramović in ihren Aktionen die Rolle eines Mediums, durch welches das Publikum Formen der Bewusstseinsveränderung auch selbst erfahren kann.

Marina Abramovićs Performances sind vor dem Hintergrund ihrer Biografie zu sehen. Die Künsterlin wurde 1946 in Belgrad, Jugoslawien geboren. Sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter waren Partisanen, ihre Kindheit und Jugend von täglicher Gewalt und der Allgegenwart der kommunistischen Partei geprägt. Nach einigen Experimenten mit Klanginstallationen beruht ihre künstlerische Karriere seit den 70er Jahren auf Perfromances, mit denen sie ihre persönlichen physischen Grenzen und ihr mentales Potenzial erforscht. Dabei verwendet sie ihren Körper als Rohstoff, mit dem sie künstlerische, ästhetische und ethische Erfahrungen macht. Insbesondere ihre frühe Kunst sieht die Künstlerin als Rebellion gegen ihre biografische Prägung:

„All my work in Yugoslavia was very much about rebellion, not against just the family structure but the social structure and the structure of the art system there, and I was always accused of being traitor in regard to art. My whole energy came from trying to overcome these kinds of limits“ (Abramović zitiert nach McEvilley, 1998, S. 15).

1997 erhielt sie bei der Biennale in Venedig für Balkan Baroque den Internationalen Großen Preis, die höchste Auszeichnung im Bereich der Bildenden Künste.

1.1 „Keep body and soul together – remain alive“

[2] Die Vereinigung von Körper und Geist stellt für Marina Abramović den Kern des Lebens, ja eine Form des Überlebens überhaupt dar (vgl. Stooss, 1998, S. 9f.):

„I want to develope a new consciousness and approach the idea of unitiy between body and soul, between body, soul and the cosmos...I want to demonstrate the unbelievable construction of our planet, point out it’s sources of energy and how, with a new consciousness, we can learn to rearrange our body and soul within this structure“ (Abramović zitiert nach Stooss, 1998, S. 9).

„I realized that the subject of my work should be the limits of my body. I would use performance to push my mental an physical limits beyond consciousness“

(Abramović zitiert nach Mc E, 1998, S. 15).

Der menschliche Körper ist für sie dabei sowohl Voraussetzung und Möglichkeit als auch Hindernis und damit ein existentieller Ausgangspunkt für jede spirituelle Entwicklung (vlg. Stooss, 1998, S. 10). Bei ihren Performances stellt die Künstlerin Marina Abramović keinen Körper dar, sondern benutzt ihren eigenen Körper als ihr Material, das, zusammen mit dem Raum, in den sie ihn stellt, ihr „Performing Field“ bildet und den Ausgangspunkt ihrer Aktionen darstellt“ (vgl. Löffler, S. 23). Die Vorstellung eines Körpermaterials suggeriert dabei, „dass der Körper etwas sei, das ›vollendet‹, mit anderen Worten – erst gebaut werden muß“ (Pejic, 1993, S. 14). Genau dieser Herausforderung stellt sich die Künstlerin, indem sie sich aktiv von den Einschreibungen, die ihren Körper bisher konditionierten, befreit und sich für die Bewusstseinserweiterung öffnet. Der Raum, der dabei entsteht, entspricht insofern einer rituellen Zeremonie, dass er sich genau wie diese für eine bestimmte Zeit zugleich außer- und innerhalb der Gesellschaft konstituiert und eine Möglichkeit der körperlich-geistigen Transformation bietet.

1.2 Befreiung des Körpers von kulturellen Einschreibungen

Phänomene mit deren Einschreibungen Marina Abramović sich in ihren Performances auseinandersetzt, sind die Rationalität westlicher Kulturen und die damit verbundene Entfernung des Menschen von der Natur, die Macht von Sprache und Symbolen sowie Geschlechterrollenzuschreibungen.

1.2.1 Befreiung von der westlichen Ratio

Abramović zufolge hat der Mensch mit der Erfindung der Agrikultur angefangen, die Natur als Hindernis zu begreifen. Eine Zuspitzung dieser Situation fand und findet mit der technologischen Entwicklung statt, in deren Zusammenhang der Mensch sich auch selbst als Hindernis zu begreifen beginnt. Einen Ausweg aus dieser körper- und sinnenfernen Einstellung zu Leben und Tod findet Abramović in der Auseinandersetzung mit nichtwestlichen Kulturen. So beschäftigt sie sich beispielsweise mit Traditionen der Tibeter oder der Aborigines, in denen der Körper an seine äußersten physischen Grenzen getrieben wird, um einen „mentalen Sprung“ (Meyer & Behm, 1998, S. 28) zu vollziehen und die Todesfurcht, die Angst vor Schmerzen und vor allen körperlichen Einschränkungen, mit denen wir leben, zu eliminieren.

Unter anderem in Auseinandersetzung mit diesen Kulturen erkannte sie, dass sie mit der Performance eine Form gefunden hatte, die es ihr ermöglichte, in einen anderen Raum und eine andere Dimension zu springen. Sie wagte daraufhin immer neue Aktionen, in denen der Prozess des Übergangs „vom Zustand des Bewußten, Kontrollierten, des ›Gesetzes‹, zu einem Zustand, in dem der Körper von den ›Tabus‹ der Ratio befreit wird, in ritueller Form gezeigt wurde“ (Pejic, 1993, S. 14).

In der bereits erwähnten Performance Freeing the Body thematisiert sie den Körper als durch die Kultur geformt und von diversen Schichten überlagert, die sich im Laufe unserer logozentrischen Tradition, entwickelt haben. Dadurch, dass sie zu dem Trommeln des Afrikaners tanzt und sich damit zu Rhythmen bewegt, die einer „als ›anders‹ markierten Kultur entstammen, de-instrumentalisiert sie ihren Körper, der gelernt hat, zum Takt der Melodie zu tanzen“ (ebd. S. 11). Gleichzeitig schaltet sie bei dieser Performance die in unserer Kultur als privilegierte Sinneswahrnehmung geltende Gabe des Sehens aus, denn während der gesamten acht Stunden trägt die Künstlerin ein schwarzes Seidentuch über Kopf und Gesicht (vgl. ebd. S. 10f.).

„Ich versuche, das Künstlerische mit dem Meditativen zu vereinen. Mir ist das gelungen, als ich meinen Kopf und meinen Körper bis zu den äußersten Grenzen bewegte. Nur wenn man die Grenzen überschreitet, kann man dabei erfolgreich sein. Bei dieser Art von Extremsituation kann man einen sogenannten mentalen Sprung in einen anderen Zustand vollziehen“ (Abramović zitiert nach Behme & Meyer, 1998, S. 28).

1.2.2 Befreiung von Sprache und Symbolen

Auch Sprache und Symbole sind Phänomene, die die Unterwerfung der Körper unter die Kultur entscheidend mitbestimmen. Ohne dass uns dies bewusst ist, konstruieren Sprache und Symbole Wirklichkeiten, indem sie unsere Umwelt kategorisieren und so bestimmte Bedeutungen festschreiben. Nach der bereits zitierten Kunsthistorikerin Bojana Pejic betrachtet Marina Abramović den Körper als Boot, „das man im Laufe zahlreicher physischer oder geistiger Abreisen und Umwegen gerade von der Sprache, vom Symbolischen“ und damit von all dem, was eine „sprachzentrierte Gesellschaft in ihm kulturell kodiert hatte“ (Pejic, 1993, S. 10), leeren muss. In ihren Performances versuche sie deshalb, einen Zustand ohne Sprache und jenseits der Subjektivität zu realisieren, der für sie einen Zustand des im „Im-eigenen-Körper-Seins“ (ebd.) darstellt.

Die „›Entleerung des Bootes‹ ist ein Zustand, in dem ihr Geist nicht mehr woanders und ›anderswann‹ ist, sondern ›hier‹ und ›jetzt‹“ (ebd. S. 10).

In Freeing the Voice von 1975 befreit sich die Künstlerin durch Schreien von der Stimme. In Freeing the Memory, ebenfalls 1975, distanziert sie sich von der Sprache als ständigem Zitat der Rede, die jedem gehört. In dieser Performance spricht sie alle Wörter aus, an die sie sich erinnert. Durch die intensive Wiederholung der Wörter verlieren diese allmählich ihren Sinn (ebd. S. 11 und S. 15).

1.2.3 Geschlechtlichkeit – Zusammenarbeit mit Ulay

Von 1976-1988 lebt und arbeitet Marina Abramović mit Ulay (eigentlich Frank Uwe Laysiepen, geboren 1943 in Solingen, Deutschland) zusammen. Auch in diesen sogenannten „Relation Works“ ist Abramović weiterhin daran interessiert, ihr Bewusstsein durch Grenzerfahrungen in einen Zustand innerer Leere und Stille zu versetzen. In diesem Sinne macht das Paar seine symbiotische Beziehung zur Grundlage existenzieller Experimente. Alle Performances zwischen 1976 und 1980 beschäftigen sich zwar einerseits mit ihrer Zweierbeziehung, beinhalten andererseits jedoch stets Formen körperlicher Erschöpfung. In der Performance Breathing in / Breathing out, 1978, pressen sie ihre Münder wie beim Kuss aufeinander und tauschen ihre Atemluft solange aus, bis sie keinen Sauerstoff mehr enthält. Ihre Nasenlöcher haben sie zuvor mit Zigarettenfiltern abgedichtet. In Interruption in Space, 1977, rennen die Künstler bis zur Erschöpfung gegen eine Wand, in Light / Dark, 1977, schlagen sie sich solange ins Gesicht, bis einer der beiden aufhört. Der Körper soll in physische Extremzustände versetzt, bis an seine Grenzen gebracht und von kulturellen Einschreibungen befreit werden.

Die Zusammenarbeit mit Ulay bringt eine Auseinandersetzung mit Geschlechtlichkeit mit sich. Dabei versteht sich das Paar jedoch von Anbeginn nicht als Dualität mit einem männlichen und einem weiblichen Pol[3]. Insbesondere Ulay verkörperte nicht die typischen Zuschreibungen der Männlichkeit.

„Es ist nicht wichtig, dass wir Mann und Frau sind. Wir sprechen von uns selbst als Körper“ (Ulay zitiert nach Pejic, 1993, S. 19).

Vor allem zu Beginn ihrer Zusammenarbeit sprachen sie von sich häufig als von einem Androgyn, dem alchemistischen Bild des zweiköpfigen Körpers.

„Indem sie in ihren Arbeiten zwei Bilder dekonstruieren, das der ›Weiblichkeit‹ und das der ›Männlichkeit‹, befreien sich Abramović und Ulay von dem, was unsere europäische Kultur dem Körper eingeschrieben hat. Im Laufe dieser Jahre wird sich in den Performances eine Verschiebung der Geschlechteridentitäten vollziehen: sowohl sie als auch er sind aktiv und passiv, sowohl sie als auch er sprechen und sprechen nicht“ (ebd.).

Das Bild des aktiven männlichen Sprechers und der passiven, schweigenden Frau haben Abramović und Ulay in ihrer Performance Talking about Similarity, 1976, verarbeitet und konterkariert.

Die Künstler beschreiben die 45 Minuten lange Aktion so:

„Ulay

I sit with wide open mouth in front of the guests.

There is the sound of saliva being sucked out.

The sound stops, I close my mouth.

I sew my mouth shut and sit.

I leave.

Marina

I take Ulay’s place.

I answer questions from the guests in his place

Until I make a mistake by answering for myself.

I leave.“

(Abramović und Ulay zitiert nach “Marina Abramović – Artist Body. Performances 1969-1998”, 1998, S. 138)

Teilweise scheinen die Autoren in ihrer Rezeption der Kunst Abramovićs in Bezug auf die Thematisierung von Geschlecht jedoch falsch zu liegen. So deutete beispielsweise Pejic die Performance Rhythm 0 als eine kritische Darstellung des Objektstatus der Frau (vgl. Pejic, 1993, S. 30). Abramović selbst sagt über die Aktion jedoch:

„That was the heaviest piece I ever did because I wasn’t in control. The audience was in control. That was as far as you can go, really. But I never thought that it was female energy. The courage to do the piece seemed more male, from my point of view“ (Abramović zitiert nach McEvilley, 1998, S.15).

1.3 Geografische und innere Reisen

Abramović, die schon bei ihren ersten Performances von außereuropäischen Umgangsweisen mit Geist und Körper inspiriert wir, tritt ab den 80er Jahren in direkten Kontakt zu den fremden Völkern. Zwischen 1980 und 1981 sammelten sie und Ulay in der australischen Wüste Erfahrungen mit einem Zustand des ‚Im-Körper-zu-Seins’ (vgl. Pejic, 1993, S. 20), welcher in Kulturen westlicher Zivilisationen nicht vorkommt.

„Hierbei kam es nicht zum Übergang vom ›Kulturzustand‹ zum ›Naturzustand‹, sondern zum Übergang von dem westlichen Körperbegriff zu den anderen Arten des Im-Körper-Seins, wie sie in den außereuropäischen Kulturen vorhanden sind. Das westliche euro-, logo- und ethnozentrische Denken – nach dem/in dem der Körper als das ›andere‹ zum Geist definiert wird – hat diese anderen Arten als ›primitiv‹, als ›fremd‹ definiert (und tut es noch immer)“ (ebd.).

Auf diesen Reisen schöpfen Abramović und Ulay Kraft aus der Einsamkeit der australischen Wüste und dem ursprünglichen Wissen ihrer Bewohner und erleben eine spirituelle und formale Erneuerung. Dabei entdecken sie die Energie, die vom Nichtstun und von der Unbeweglichkeit ausgehen kann. Zu diesem Zeitpunkt hat Abramović das Zentrum ihrer Arbeiten erreicht, das sich nun immer deutlicher herauskristallisiert. Nightsea-Crossing (1982-1986, insgesamt 90 Tage) heißt die Performance, bei der Ulay und Abramović um die Welt reisen und sich überall an denselben mitgebrachten, glänzend schwarzen Tisch einander gegenüber setzen. Auf dem Tisch liegen Requisiten wie ein Bumerang oder eine kleine Elefantenfigur. Sie schauen einander blicklos an und schweigen. Abramović und Ulay nahmen an den Tagen, an denen sie ihre Performance machten, keine Nahrung zu sich. Die Performances dauern immer so lange, wie das jeweilige Museum, in dem die Aktion stattfindet, geöffnet hat. Sie sind ein Bild der Auflösung jeglicher Spannung und jeden Konflikts (vgl. Drathen, 1992, S. 7 und S. 10) und damit ein Zustand, der in westlichen Kulturen nicht entwickelt wurde. Bei der darauf folgenden Performance Anima Mundi, 1983, bewegen sich die Künstler so langsam, dass ihre Bewegung unsichtbar bleibt.

1.4 Trennung von Ulay und Arbeiten nach 1988

Am 27. Juni 1988 trennt sich das Künstlerpaar. Doch auch dieses Erlebnis wird nicht mit Worten sondern einer körperlichen und mentalen Erfahrung besiegelt – einem Marsch auf der Chinesischen Mauer. Nach 90 Tagen und 2000 zurückgelegten Kilometern trafen Marina Abramović und ihr langjähriger Lebenspartner im chinesischen Er Lang Shan ein. Sie waren von derselben Stelle los-, jedoch beide in verschiedene Richtungen gegangen, um sich auf halbem Wege wiederzusehen. Mit der Performance The Lovers. Walk on the Great Wall of China, übertrugen Abaramovic und Ulay ihre persönliche Erfahrung, am Ende der gemeinsam verbrachten Zeit angekommen zu sein, auf einen geografischen Raum und eine Handlung. Nach dem sie sich auf der Mauer wieder getroffen haben, trennen sie sich für immer (vgl. Löffler, 2001, S. 18).

Bei dem beschriebenen Marsch auf der Chinesischen Mauer erlebt Abramović das „Gehen als Zustand des Seins, auf der Suche nach der Grenze zum Unbewussten. Einmal mehr erprobt sie den Zustand der Leere am eigenen Körper und beginnt zu überlegen, wie sie diese Erfahrung einem Publikum übertragen kann“ (Drathen, 1992, S. 10). Statt Performances setzt Abramović nun Objekte als Ausgangspunkt für Prozesse, die sich im Menschen vollziehen, ein. Es entstehen die Transistory Objects. Ihre in diesem Zusammenhang gezeigte Installation Departure (1991) besteht dabei aus mehreren Objekten, wie beispielsweise 60 Kilogramm schweren Schuhen aus dem Edelstein Amethyst. Die Schuhe sind so schwer, dass sie Hineinschlüpfende zum Stehenbleiben zwingen. Auf diese Weise soll das Schuhwerk dem Träger ermöglichen, die eigene Mitte zu finden: Die Unruhe im Kopf senkt sich, dem ganzen Körper wird Einhalt geboten. All ihre neueren Arbeiten, wie auch die hier erwähnten Schuhe für den Aufbruch (Shoes for Departure, 1992) sind Hilfsobjekte, die die Körperbewegung einfrieren sollen, um mit Hilfe der so verursachten Regungslosigkeit des Körpers ein „Im-Körper-und-im-Geist-Sein“, ein „Hier-und-Jetzt“ zu ermöglichen. Dies setzt jedoch das Einlassen der Träger voraus. Zwar wird das Objekt von der Künstlerin hergestellt. Der Effekt, den es auslöst, liegt jedoch in der Verantwortung der Benutzer.

In ihrer Performance Dragon Heads, 1990-1993, lässt Abramović ihren Körper, den sie durch Eisblöcke von den Zuschauern trennt, von Pythons umschlängeln. Auch in der Video-Installation Becoming Visible, 1992, umgibt sie sich mit Schlangen. Ohne einzugreifen lässt Abramović die Schlangen auf sich entlang gleiten. Auf diese Weise setzt sie ihren Körper mit dem Erdkörper gleich, denn genau wie in ihrer natürlichen Umgebung, folgen die Schlangen auch auf ihrem Körper den für sie spürbaren Energielinien. Das Experimentieren mit dem Risiko und die Einstellung, die Dinge geschehen zu lassen, geht weiter (vgl. ebd. S. 11).

Ende der 80er Jahre werden Abramovićs Arbeiten jedoch distanzierter und narrativer. So setzt die Künstlerin Theaterbühnen als Raum für ihre Performances ein oder verwendet das Medium Video, um das Verhältnis zwischen Werk und Betrachter komplexer zu gestalten. In The Biography, ab 1992, wiederholt und variiert Abramović frühere Performances, führt ein kleines Mädchen als Figur des Erzählers ein, erzählt ihre Biografie mit Hilfe eines Tonbands und integriert Bildmaterial in ein vielschichtiges Bühnenstück. Auf diese Weise kann die Künstlerin über ihre Lebensgeschichte ebenso frei verfügen wie über ihr künstlerisches Werk und sich damit in gewisser Weise immer wieder neu erschaffen (vgl. Löffler, S. 23). In der mehrteiligen Performance Delusional, die 1994 in Zusammenarbeit mit Charles Atlas entsteht, werden Teile ihrer Biografie in allegorischen Bildern erzählt. Das Thema „körperliche Leiden“ führt sie in Video-Performances wie Dissolution, 1997, weiter. Der Höhepunkt einer Verknüpfung von bildhaften Elementen und einer direkten Konfrontation der Zuschauer mit Leid und Tod bildet die oben beschriebene Performance Balkan Baroque. Die Performance liest sich als erschütternder Kommentar oder Metapher für eine kollektive Erfahrung von Widersprüchen und Gräuel des Bürgerkrieges in Jugoslawien und des Kriegs im Allgemeinen. Sie verweist auf die Reinigung als spirituelle Handlung, die auf den Tod vorbereiten soll und stellt gleichzeitig eine rituelle Heilung der Gemeinschaft dar.

„The piece Balkan Baroque, in which she sat naked and srubbed the bones of recently dead cattle as a gesture of tending to the dead and healing the community in the civil war in the Balkans, had an actual therpeutic intention“ (Mc Evilley, 1998, S. 23).

1.5 Schmerz und Meditation als bewusstseinserweiternde Mittel. Zusammenfassung

In vielen ihre Performances unterzieht sich Abramović direkten Körpererfahrungen, mit deren Hilfe sie ihr Bewusstsein erweitert. Dabei spielen sowohl Schmerzen als auch meditative Zustände eine wesentliche Rolle. Insbesondere in den 70er Jahren nahm Abramović bei einer Serie von Performances physische Verletzungen bewusst in Kauf, um unter seinem Einfluss dem kulturell geprägten Körper zu entfliehen. Neben den oben erwähnten Aktionen versehrte sie sich selbst, indem sie sich beispielsweise in die Hand schnitt oder die Haut ritzte. Bei Rhythm 10, 1973, stach sich die Künstlerin mit Messern zwischen die gespreizten Finger ihrer auf einem Tisch liegenden Hand (vgl. Löffler, 2001, S. 23). Die Selbstverletzungen waren für Abramović ein Weg, einen Grad von „Im-Körper-Sein“ zu erreichen, in dem der Geist sich von der Angst vor dem Schmerz – einer der grundlegenden Ängste unserer Kultur – befreit (vgl. Pejic, 1993, S. 15). Demgegenüber entdeckte sie in den 80er Jahren das Potenzial vollkommener Ruhe und Bewegungslosigkeit. Ohne die Philosophien des Zen und Tao studiert zu haben, hat Marina Abramović über den Weg der Performances daran gearbeitet, den Zustand innerer Gelassenheit als Energiequelle zu nutzen und einen Zustand der Leere zu erfahren, der ihr den Weg zur Transzendenz öffnete (vgl. Drathen, 1992, S. 7). So waren zum Beispiel Night Sea Crossing und die Transistory Obejcts Versuche, den „Zustand der Leere des Körpers an die Grenze zum Unbewußten zu treiben, um sich dadurch einer Energieübertragung – im ersten Fall durch die Energie ihres sitzenden Gegenüber Ulay, im zweiten Fall durch die Energie der Übergangsobjekte aus Kristallen – zu öffnen“ (Lange, 2001, S. 319).

[...]


[1] In Ermangelung ausführlicher beschreibender Texte habe ich den Ablauf von Freeing the Body und Rhythm 0, nach Sichtung von Bildmaterial und unter Einbezug kurzer Erläuterungen der Künstlerin, selbst beschrieben, so, wie ich sie mir vorstelle.

[2] Abramovic zitiert nach Löffler, 2001, S. 21.

[3]... und nahm so mit seinen Performances die später von Judith Butler vorangetriebene Dekonstruktion der bipolaren Geschlechtlichkeit vorweg (vgl. Butler, 1991).

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2009
ISBN (PDF)
9783956847387
ISBN (Paperback)
9783956842382
Dateigröße
4.9 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Bremen
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2
Schlagworte
Hanne Seitz Gert Selle Marie-Luise Lange elementarpraktische Übung Performance Kunst

Autor

Berit Eichler, 1976 in Scherzingen/Schweiz geboren, ist Kulturwissenschaftlerin und Lehrerin für die Fächer Bildende Kunst und Deutsch in Hamburg. Schwerpunkt ihres wissenschaftlichen Interesses ist die Verknüpfung von Geist und Leiblichkeit. Die Infragestellung dieser kulturell bedingten Dualität ist auch für ihre Tätigkeit in der Bildung von entscheidender Bedeutung und motivierte sie zu dem vorliegenden Buch.
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