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New Public Management und Demokratie in Lateinamerika: Fallbeispiel Mexiko

©2013 Masterarbeit 75 Seiten

Zusammenfassung

Seit den späten 1970er Jahren hat eine Welle von Reformen die öffentliche Verwaltung in Ländern aller Erdteile tiefgreifend verändert. Unter dem Schlagwort New Public Management (NPM) führen staatliche Organisationen unternehmerische und marktwirtschaftliche Elemente in ihre Planungs-, Steuerungs-, Leistungs- und Kontrollabläufe ein. In Lateinamerika setzte die Reformwelle Ende der 1980er Jahre ein. Es drängt sich jedoch die Frage auf, ob NPM in Lateinamerika, wo eine Bürokratie im Sinne Max Webers nie real existiert hat, überhaupt sinnvoll und erfolgreich sein kann. Der Autor untersucht dies sowohl überblicksartig für Lateinamerika, als auch detailliert anhand des Länderfalls Mexiko. Bei der Beurteilung der Sinnhaftigkeit und des Erfolgs von NPM-Reformen in lateinamerikanischen Ländern berücksichtigt er, dass dort neben Effizienz- und Leistungssteigerungen immer auch die Vertiefung der Demokratie zu den Zielen von NPM gehört. Die Resultate der Reformen müssen sich folglich auch an dieser demokratiebezogenen Zielsetzung messen lassen. Das Hauptaugenmerk des Buches liegt daher auf der gegenseitigen Beeinflussung von NPM und (defekter) Demokratie in Lateinamerika.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


3.1 Demokratie, defekte Demokratie, Neopatrimonialismus, Klientelismus

Demokratie

Der Begriff Demokratie ist in der vorliegenden Arbeit zentral und soll nun operationalisiert werden, da sich die gesamte Analyse an der Demokratie als normativ gesetzter Zielrichtung orientiert. In der westlichen/nördlichen Zivilisation besteht grundsätzlich kaum Dissens darüber, dass Demokratie erstrebenswert ist, aber was jeweils unter Demokratie verstanden wird, kann mitunter deutlich variieren. In der politikwissenschaftlichen Demokratieforschung – insbesondere in der Forschung zum Übergang von nicht-demokratischen zu demokratische(re)n Systemen, der so genannten Transitionsforschung, ist heute die Theorie der „ embedded democracy“ einer der einflussreichsten Versuche, Demokratie konzeptionell zu fassen . Sie ist auch für das Demokratieverständnis in der vorliegenden Arbeit ausschlaggebend.

Eine Forschergruppe um Wolfgang Merkel formulierte die embedded-democracy -Theorie (Merkel et al. 2003, 48–56 und Merkel 2004, 36–48) teilweise in Fortentwicklung, teilweise in Abgrenzung des auf Robert A. Dahl (1971) zurückgehenden Grundverständnisses von Demokratie als „Polyarchie“.[1] Mit Blick auf die empirische Realität in Ländern, in denen die Demokratisierung erst im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingesetzt hatte (sogenannte „dritte Welle der Demokratisierung“) fordert Merkel (2004, 44–48) erstens, die Rahmenbedingungen von Demokratie in Hinsicht auf Staatlichkeit und auf gesellschaftliche und sozioökonomische Strukturen bei der Analyse miteinzubeziehen. Zweitens sieht er die bei Dahl im Vordergrund stehende elektorale Dimension von Demokratie (staatliche Macht ist jeweils auf begrenzte Zeit in der Hand gewählter Personen; Wahlen sind frei und fair, etc.) nur als ein – allerdings zentrales – Teilregime, das in vier weitere Teilregime („political liberties“, „civil rights“, „horizontal accountability“ und „effectice power to govern“) eingebettet ist (ebd., 36–43).

Dieses Merkel’sche Demokratiekonzept ist unter anderem in die Entwicklung sehr anwendungsorientierter Analyse- und Bewertungsformate wie etwa den Bertelsmann-Transfor­ma­tion-Index (BTI) eingeflossen.[2] Das Verständnis von Demokratie als embedded democracy ist für die vorliegende Arbeit auch deshalb so gut geeignet, weil in der weiteren Analyse, etwa bei Aussagen zum Stand der Demokratie in Lateinamerika, stark auf damit arbeitende „Demokratie-Messinstrumente“, wie eben den BTI, zurückgegriffen werden wird.

Defekte Demokratie

Bezugnehmend auf die erläuterte embedded-democracy -Theorie definieren Merkel et al. (Merkel et al. 2003, 66) den Begriff der defekten Demokratie als

„Herrschaftssysteme, die sich durch das Vorhandensein eines weitgehend funktionierenden demokratischen Wahlregimes zur Regelung des Herrschaftszugangs auszeichnen, aber durch Störungen in der Funktionslogik eines oder mehrerer der übrigen Teilregime die komplementären Stützen verlieren, die in einer funktionierenden Demokratie zur Sicherung von Freiheit, Gleichheit und Kontrolle unabdingbar sind.“

Diese Definition ist auch für die vorliegende Arbeit maßgebend. Hervorzuheben ist, dass ein politisches System, um überhaupt als Demokratie bezeichnet werden zu können, eine Grundvoraussetzung erfüllen muss, und zwar muss die auch in Dahls Polyarchie-Konzept zentrale Funktion hinreichend freier und fairer Wahlen gegeben sein. Wenn dies in einem Land nicht der Fall ist, handelt es sich nicht mehr um eine defekte Demokratie, sondern um gar keine Demokratie; das Herrschaftssystem ist dann vielmehr als Autokratie oder autoritäres System zu bezeichnen. Ausschließlich Fälle, in denen einerseits diese Grundvoraussetzung für Demokratie erfüllt ist, aber andererseits weitere Merkmale demokratischer Rechtsstaatlichkeit (politische Teilhaberechte, effektive Regierungsgewalt, horizontale Gewaltenkontrolle und bürgerliche Freiheitsrechte) nicht in ausreichender Weise verwirklicht sind, sind als defekte Demokratien zu verstehen.

Je nach Fragestellung ergeben sich hieraus zwei verschiedene Sichtweisen auf defekte Demokratien. Geht es darum, das politische System eines Landes in das binäre Schema „Demokratie vs. Autokratie“ einzuordnen, dann trifft die Kategorie „Demokratie“ zu. Versteht man Demokratie und Autokratie aber (wie ebd., 65) als Pole auf einem Kontinuum, dann liegen defekte Demokratien in der Grauzone zwischen diesen beiden Polen.[3] In der Anwendung dienen Messversuche wie der oben erwähnte BTI mit ihren ausdifferenzierten Kriterienkatalogen dazu, die Position mehrerer defekter Demokratien (sowohl synchron zwischen verschiedenen Ländern zu einem gegebenen Zeitpunkt, als auch diachron für ein einzelnes Landes im Zeitverlauf) auf diesem Kontinuum zu bestimmen. In der Forschung zu den verschiedenen Defekten, die eine Demokratie einschränken können, widmet sich vor allem ein Forschungsstrang auch der Rolle der öffentlichen Verwaltung innerhalb defekter Demokratien: Gemeint ist die Forschung zum sogenannten Neopatrimonialismus.

Neopatrimonialismus

Der Begriff Neopatrimonialismus verweist zurück auf einen von Max Weber (1980, 580ff) als Patrimonialismus bezeichneten Typus vormoderner Herrschaft und kann wie folgt definiert werden:

"Neopatrimonialism is a mixture of two, partly interwoven, types of domination that co-exist: namely, patrimonial and legal-rational bureaucratic domination. Under patrimonialism, all power relations between ruler and ruled, political as well as administrative relations, are personal relations; there is no differentiation between the private and the public realm. However, under neopatrimonialism the distinction between the private and the public, at least formally, exists and is accepted, and public reference can be made to this distinction […]. Neopatrimonial rule takes place within the framework of, and with the claim to, legal-rational bureaucracy or ‘modern’ stateness. Formal structures and rules do exist, although in practice, the separation of the private and public sphere is not always observed. […] [T]he patrimonial penetrates the legal-rational system and twists its logic, functions, and effects. That is, informal politics invade formal institutions. Informality and formality are intimately linked to each other in various ways and by varying degrees; and this particular mix becomes institutionalised [...]" (Erdmann/Engel 2006, 18)[4]

Die meisten konzeptionellen Überlegungen und empirischen Anwendungsbeispiele zum Phänomen des Neopatrimonialismus beziehen sich auf den afrikanischen Kontext (z.B. Pitcher et al. 2009; Bach 2011; Walle 2012); in jüngerer Zeit findet das Konzept jedoch zunehmend auch auf Lateinamerika Anwendung (z.B. Bechle 2010; Fauré 2012; Durazo Herrmann 2010).

Bechle (2010, 19) benennt drei informelle Institutionen, die in neopatrimonialen Regimen das legal-rationale System durchdringen: „a concentration of personalist power; systematic clientelism; and particularistic use of state resources.“ Machtkonzentration in den Händen der obersten Führungspersönlichkeit, in der Regel des Staatspräsidenten, ist eher ein politisches Phänomen im engeren Sinne; aber Klientelismus und die Verwendung öffentlicher Ressourcen für private Zwecke (kurz: Korruption) betreffen auch den administrativen Teil des politisch-administrativen Systems. Für den Zusammenhang zwischen Demokratie und öffentlicher Verwaltung, der in der vorliegenden Arbeit im Mittelpunkt steht, sind Klientelismus und Korruption also von besonderer Bedeutung. Die beiden Begriffe und ihre Abgrenzung voneinander sollen daher im Folgenden erläutert werden.

Klientelismus und Korruption

Das Historische Lexikon der Schweiz (Stiftung HLS o.J., o.S.) definiert Klientelismus (in Übereinstimmung mit Scott 1972, 92) als

„eine dyadische Beziehung […], die eine instrumentelle Freundschaft zwischen einer Person mit einem höheren sozioökonom. Status, dem Patron […], und einer solchen mit niedrigerem Status, dem Klienten, beinhaltet. Der Patron gewährt dem Klienten Schutz (z.B. vor Gericht) [oder] Zugang zu bestimmten staatl. Ressourcen (Ämtern, Stipendien) […]. Er lässt ihn auch bis zu einem gewissen Grad an seinem sozialen Prestige teilhaben. Der Klient vergilt diese Leistungen mit seiner Arbeitsverpflichtung, mit polit. und allenfalls militär. Unterstützung, mit der Lieferung von Information oder der Verbreitung des Ruhms des Patrons.“

Passend zum Ansatz des Soziologischen und Historischen Institutionalismus stellt Caciagli (1997, 292) fest, dass Klientelismus eine „analytische Kategorie“ ist, die „der Analyse informeller Machtverhältnisse [dient]“. Muno (2010, 4) weist auf fünf zentrale Charakteristika dieser (Macht-)Verhältnisse hin:

„a) The relationship is dyadic;
b) The relationship is asymmetrical;
c) The relationship is personal and enduring;
d) The relationship is reciprocal;
e) The relationship is voluntary.“

Paulus (2013, 15f) erläutert treffend, dass es ein Spannungsverhältnis zwischen solchen, auf die Ebene der persönlichen Beziehungen bezugnehmenden Definitionen und dem in Deutschland vorherrschenden Verständnis von Klientelismus als „staatliche[r] Bevorzugung von bestimmten Personengruppen oder Firmen“ gibt. Ein typisches Beispiel ist hier etwa der Vorwurf gegen die FDP, sich zugunsten des Hotelunternehmertums für die reduzierte Umsatzsteuer für Hotelübernachtungen eingesetzt zu haben; denn es handele sich hierbei um „Klientelpolitik“.[5] Diese Wortbedeutung, nach der politische Entscheidungsträger gesellschaftlichen Gruppen als Ganzen, mittels formaler und legaler Verfahren (z.B.: steuerliche Entlastung einer Wirtschaftsbranche per Umsatzsteuergesetz), Vorteile verschaffen, ist in der vorliegenden Arbeit mit dem Terminus Klientelismus nicht gemeint. Es geht hier vielmehr um persönliche Austauschbeziehungen zwischen einzelnen, meist unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen angehörenden Individuen mittels informeller und oftmals illegaler – oder in einer Grauzone zwischen legal und illegal einzuordnender – Praktiken.

Die Frage von Legalität und Illegalität deutet auf die Notwendigkeit hin, den Begriff des Klientelismus von einem anderen, eng verbundenen aber nicht synonymen Terminus abzugrenzen, nämlich von dem der Korruption. Als einer der einflussreichsten (siehe z.B. Pech 2009, 7f) Definitionsversuche für Korruption gilt der von Senturia (1931, 449), nach dem es sich dabei um „the misuse of public power for private profit“ handelt. Diese Begriffsbestimmung verdeutlicht den Unterschied von Korruption und Klientelismus jedoch nicht ausreichend, kann doch auch in der Ausübung klientelistischer Praktiken, etwa gemäß der oben zitierten Lexikondefinition, ein Missbrauch öffentlicher Macht zu privatem Nutzen liegen. Trennschärfer sind in diesem Zusammenhang jüngere Wortbestimmungen, wie etwa die des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP 2004, 2); danach ist Korruption „the misuse of public power, office or authority for private benefit – through bribery, extortion, influence peddling, nepotism, fraud, speed money or embezzlement.“[6]

Diese Definition verdeutlicht, dass Korruption sich in der Regel in Form von strafrechtlich sanktionierbaren Praktiken vollzieht, für die bei den Tätern ein Mindestmaß an krimineller Energie vorauszusetzen ist. Klientelismus stellt demgegenüber einen wesentlich niedrigschwelligeren Verstoß gegen formale Regeln dar, für den das Fehlen von Böswilligkeit und Unrechtsbewusstsein nicht die Ausnahme sondern geradezu ein Charakteristikum ist. Trotz dieser Unterschiede zwischen Klientelismus und Korruption sind die beiden Phänomene in vielen Gesellschaften, wie etwa in den lateinamerikanischen (s.u.), eng miteinander verflochten, treten häufig parallel auf und befördern sich gegenseitig:

„Die Einbettung von Korruption in klientelistische Beziehungsstrukturen kann […] etwa dergestalt sein, dass Personenvertrauen und informelle Normen in Patron-Klient-Beziehungen die mit Korruption verbundenen Transaktionskosten (wie Anbahnungs- und Geheimhaltungskosten) senken können. Umgekehrt kann Korruption selbst zur Regelstabilität in solchen Beziehungssystemen beitragen – durch wiederholte Interaktion oder in materiellem Sinne durch Ressourcenbeschaffung“ (Pech 2009, 12f; vgl. auch Singer 2009).

Nach diesen Erläuterungen zu den für die vorliegende Arbeit zentralen demokratietheoretischen Konzepten, folgen nun einige Ausführungen zu den hier relevanten verwaltungswissenschaftlichen Begriffen.

3.2 Öffentliche Verwaltung, Verwaltungsreform, New Public Management

Bevor näher auf den speziellen Fachterminus New Public Management (NPM) eingegangen wird, sei noch kurz geklärt, was in der vorliegenden Arbeit mit den allgemeineren Begriffen öffentliche Verwaltung und Verwaltungsreform gemeint ist: Bezüglich der öffentlichen (bzw. mehr oder weniger synonym: staatlichen)[7] Verwaltung reicht hier die Lexikondefinition aus, dass es sich dabei um „die im Rahmen der Gewaltenteilung ausgeübte behördliche Tätigkeit [handelt], die weder Gesetzgebung noch Rechtsprechung ist“ (Krumme o.J., o.S.). Die Begrenzung auf den behördlichen Bereich ist in der vorliegenden Arbeit so zu verstehen, dass es um die ausführenden Stellen im Gegensatz zu den Akteuren auf der politischen Entscheidungsebene geht;[8] „behördlich“ ist aber durchaus in einem weiten Sinne gemeint, so dass etwa nachgeordnete Arbeitseinheiten (Ämter, staatliche Krankenhäuser usw.) mitgedacht sind. Die Durchführung zielgerichteter[9], struktureller Neuerungen in der öffentlichen Verwaltung wird als Verwaltungsreform bezeichnet:

„Verwaltungsreformen sind geplante Veränderungen von organisatorischen, rechtlichen, personellen und fiskalischen Strukturen der [öffentlichen] Verwaltung“ (Bogumil/Jann 2005, 192).

Seit den 1980er Jahre haben viele Staaten der Erde Verwaltungsreformen durchgeführt, die sich durch eine bestimmte gemeinsame Zielrichtung charakterisieren. Für das bei diesen Reformen angestrebte Verwaltungsideal setzte sich in den Verwaltungswissenschaften die Bezeichnung New Public Management (NPM; in Deutschland häufig auch Neues Steuerungsmodell, NSM)[10] durch.

Die in der Literatur vorhandenen Definitionen von NPM divergieren stark, da sich kritische und befürwortende Positionen der jeweiligen Autoren zum Teil deutlich in ihren Begriffsbestimmungsversuchen niederschlagen. Als Verständnisgrundlage für die vorliegende Arbeit schließen sich die in gewisser Weise konkurrierenden Definitionen aber keineswegs aus; sie können vielmehr als komplementäre Elemente herangezogen werden. Aus eher NPM-freundlicher Sicht betonen Schedler/Proeller (2006, 5) das Ziel der Output-Steuerung:

„[NPM] ist der Oberbegriff der weltweit[en] ‚Gesamtbewegung‘ der Verwaltungsreformen, die auf einer institutionellen Sichtweise basieren. Charakteristisch für NPM-Reformen ist der Wechsel der Steuerung von der Input- zur Outputorientierung.“

Diefenbach (2009, 893) vertritt aus deutlich kritischerer Perspektive den – mit der Output-Orientierung aber keineswegs unvereinbaren – Grundgedanken, NPM bestehe hauptsächlich in der Umsetzung privat- bzw. marktwirtschaftlicher Einstellungen, Konzepte, Verfahren, usw. in der öffentlichen Verwaltung:

„NPM is a set of assumptions and value statements about how public sector organizations should be designed, organized, managed and how, in a quasi-business manner, they should function. The basic idea of NPM is to make public sector organizations – and the people working in them! – much more ‘business-like’ and ‘market-oriented’, that is, performance-, cost-, efficiency- and audit-oriented.“

Die Aufzählung charakteristischer NPM-Maßnahmen bei Hood (1991, 4f) verdeutlicht, dass beide genannten Aspekte zum Kerngedanken von NPM gehören:

„1 'Hands-on professional management' in the public sector […]
2 Explicit standards and measures of performance […]
3 Greater emphasis on output controls […]
4 Shift to disaggregation of units in the public sector […]
5 Shift to greater competition in the public sector […]
6 Stress on private sector styles of management practice […]
7 Stress on greater discipline and parsimony in resource use […]“ (Hervorh. im Original).[11]

Aus der Sicht des Soziologischen und Historischen Institutionalismus bleibt noch hinzuzufügen, dass es sich bei den Normen und Strukturen, die durch NPM Einzug in die öffentliche Verwaltung halten, sowohl um formelle (z.B. Umsetzungsverordnungen), als auch um informelle Institutionen (z.B. Manager-Kultur unter Führungskräften) handeln kann und dass es sich bei NPM um eine derzeit weltweit dominante und nur selten kritisch hinterfragte Ideologie (Diefenbach 2009, 895) handelt.

4 Die Debatte um den Zusammenhang von New Public Management und Demokratie und die Vernachlässigung „nicht-westlicher“ Fälle

NPM-Reformen werden in der Regel mit der Notwendigkeit von Effizienz- und Leistungssteigerungen im öffentlichen Sektor begründet; die Demokratisierung des politisch-administrativen Systems gehört – jedenfalls in westlichen/nördlichen Ländern – nicht zu den zentralen Zielsetzungen von NPM.[12] Als positive Auswirkung auf die Demokratie gilt vor allem eine Machtverschiebung zugunsten des Bürgers in seinem Verhältnis Staat. Dieser Machtgewinn des Bürgers ergebe sich aus dessen in der NPM-Doktrin angestrebten Wandlung zum Kunden und durch die Einführung von Markt- und Wettbewerbsmechanismen, denn

„Marketisation and competition are viewed as empowering users by enabling them to have greater choice over providers. And New Public Management has produced important developments around service quality, flexibility and responsiveness“ (Newman 2011, 349).

Neben diesem Empowerment des Bürgers und der höheren Responsivität würden auch die von NPM erwarteten Effizienz- und Effektivitätssteigerungen die Legitimation des Staates gegenüber dem Bürger verbessern, und zwar auf der individuellen Ebene (in Abgrenzung zu den Ebenen der Grundlegitimation und der institutionellen Legitimation; Schedler/Proeller 2006, 10–12).

Andererseits sehen eine Reihe von Autoren im NPM auch eine Schwächung der Demokratie.[13] Einer der Kritikpunkte liegt gerade in der oben angesprochenen, im NPM betonten Kundenrolle des Bürgers, unter anderem, da mit dieser letztlich eine, den Grundsätzen der Demokratie widersprechende Ungleichbehandlung von Bürgern einhergehe:

„Anders als die nach Kaufkraft und Marktwerten beurteilte Kundenrolle, die mit der Akzeptanz, ja der Notwendigkeit von Ungleichheit als zentralem Antriebsmotor einhergeht, setzt die Bürgerrolle auf die gleichwertige Anerkennung von vollwertigen Gesellschaftsmitgliedern, denen mit dem erworbenen Bürgerstatus universelle Rechte und Pflichten zugeschrieben werden“ (Schröter 2008, 33).

Die eigentlich dem gesamten Gemeinwesen und seinen gewählten Vertretern geschuldete Rechenschaftspflicht der Verwaltung werde im NPM mehr und mehr auf den individuellen Kunden ausgerichtet:

„In a customer-oriented system, providing desired services to one set of clients may drain resources from other programs […]. The pressure to be responsive to service consumers tends to run counter to the government’s obligation to be accountable to the public at large through its elected representatives […]. This may weaken responsibility, commitment, political equality, and accountability even if some aspects of service are improved“ (Christensen/Lægreid 2011, 132).

Darüber hinaus rufe die Umdeutung des Bürgers zum Kunden auch eine demokratieschädliche Veränderung von dessen eigenem Selbstverständnis und Verhalten hervor: In der Bevölkerung schwinde die Verantwortungsbereitschaft für das Gemeinwohl zugunsten von Konsumorientierung und Eigensinn, was letztlich zu einer „Atomisierung der Gesellschaft“ (Schröter 2008, 34) und somit zu einer Unterhöhlung der Demokratie als Form von Gemeinschaft führe (siehe z.B.: Box et al. 2001, 614f; Zanetti/Adams 2000).

Ein anderer Aspekt von NPM, der für die Demokratie eher negative Auswirkungen habe, so die Kritik weiter, liege in dem vom NPM vertretenen Management-Ideal, in dem

„es darum geht, eigenverantwortliche Manager mit eindeutigen Zielstrukturen samt der notwendigen Ressourcen und Entscheidungsfreiräume auszustatten (‚ let the managers manage ‘)“ (Schröter 2008, 31 Hervorh. im Original).

Erstens stehe die Managementkultur durch ihr spezifisches Verständnis von Rechenschaftsplicht („accountability“) in Kontrast zu den Transparenz- und Rechenschaftsbedürfnissen des demokratischen Staates:

„There is a tension in NPM between the need for greater managerial discretion and the need for more accountability […]. Managerial accountability is a more neutral, technical exercise involving bookkeeping and evaluations of whether tasks are being performed efficiently and effectively […]. NPM focuses primarily on strengthening managerial accountability, based on output, competition, transparency, and contractual relations, and thus represents a departure from old school public administration, where various forms of accountability were based on input processes and procedures, hierarchical control, legality, trust, and cultural traditions“ (Christensen/Lægreid 2011, 131).

Zweitens veränderten sich durch NPM die Arbeitsbeziehungen innerhalb der Verwaltung zugunsten oberer Hierarchie-Ebenen und seien somit als Rückschritt im Bestreben nach mehr Demokratie innerhalb öffentlicher Organisationen zu werten:

„Während der öffentliche Managerialismus auf unternehmerisch denkende und handelnde Führungspersönlichkeiten Wert legt, individuelle Anreizstrukturen zu optimieren bestrebt ist und durch transparente Kosten- und Leistungsrechnung externe Kontroll- und Vergleichsmöglichkeiten schaffen will, verlangt die partizipatorische ‚Demokratie am Arbeitsplatz‘ nach verstärkter Team- und Gemeinschaftsbildung, ausgeweiteten Mitsprache- und Entscheidungsrechten sämtlicher Organisationsmitglieder und nach einer Kompetenzvermutung zugunsten solcher Arbeitsbereiche, die am nahesten mit der unmittelbaren Aufgabenerledigung vertraut sind“ (Schröter 2008, 35).

Angesichts dieses doppelten Machtzuwachses der Führungskräfte öffentlicher Organisationen urteilt Diefenbach (2009, 907):

„NPM, and similar managerial concepts, are simply contrary to the interests of the public as well as to the interests of the large majority of people working in the public sector.“

Dieser Überblick über die prominentesten Argumente in der Debatte über die positiven und negativen Auswirkungen von NPM auf die Demokratie spiegelt deutlich wider, dass diese verwaltungs- und demokratietheoretischen Diskussion hauptsächlich auf den empirischen Erfahrungen westlicher/nördlicher Industrieländer basiert. NPM wird in Abgrenzung zur – nicht genügend effizienten und leistungsstarken, aber prinzipiell funktionsfähigen und für jeden Bürger gleichermaßen zugänglichen – Bürokratie Weber’scher Prägung analysiert. Es kommt nicht zur Sprache, welche Folgen NPM-Reformen auf die Demokratie in Kontexten haben, in denen die öffentliche Verwaltung ihre Dienste erstens nicht flächendeckend anbietet und zweitens große Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten im Zugang unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen zu diesen Diensten bestehen – beispielsweise durch Klientelismus und Korruption, aber auch in Folge fundamentalen Ressourcenmangels seitens des Staates. Auch was die Qualität und Ausprägung der Demokratie betrifft, gehen die meisten oben wiedergegebenen Pro- und Contra-Aussagen von prinzipiell funktionierenden westlich-liberalen Demokratien aus. Ob typisch „nicht-westliche/nicht-nördliche“ Defekte in der Demokratie durch die Umsetzung von NPM-Reformen tendenziell eher behoben oder womöglich verstärkt werden, bleibt in der theoretischen Literatur unbeantwortet. Der nun folgende empirische Teil der Arbeit soll es ermöglichen, die Debatte exemplarisch anhand des lateinamerikanischen Beispiels um die spezifische Realität von Schwellen- und Entwicklungsländern zu erweitern.

5 Demokratiedefizite in Lateinamerika

Aufbauend auf den oben ausgeführten methodischen, terminologischen und theoretischen Überlegungen folgt nun der empirische Teil der Arbeit. Die Untersuchung wird sich hierbei aus forschungspraktischen Gründen ausschließlich auf in Deutschland („vom Desktop aus“) zugängliche Quellen stützen, also vorwiegend auf die einschlägige verwaltungs- und politikwissenschaftliche Sekundärliteratur, auf im Internet zugängliche Länderrankings/-indices sowie auf veröffentlichte Dokumente von Regierungen, internationalen Organisationen usw.. Nach einem allgemeinen Teil zu Lateinamerika folgt die Analyse des Länderfalls Mexiko.

In den meisten lateinamerikanischen Ländern entstanden die heute existierenden politischen Systeme zwischen den späten 1970er und den späten 1980er Jahren im Zuge der so genannten dritten Welle der Demokratisierung. Laut Huntington (1991, 13–26) gab es bislang drei weltgeschichtliche Phasen („Wellen“), in denen in besonders vielen Ländern ein Übergang von nicht-demokratischen zu demokratischen politischen Regimen stattfand: Nach einer ersten Welle im 19. Jahrhundert, als in Nordamerika und Europa eine Reihe von Staaten demokratische Regierungsformen einführten – und danach größtenteils wieder abschafften –, folgte von Ende der 1940er bis Anfang der 1960er Jahre eine zweite Welle, in der sich unter anderem eine Reihe der bis heute stabilen westeuropäischen Demokratien, beispielsweise in der Bundesrepublik Deutschland, gründeten. In dieser Zeit kamen auch in zahlreichen lateinamerikanischen Staaten gewählte Regierungen an die Macht; im Laufe der 1960er und 1970er Jahre setzten sich dort jedoch fast überall wieder demokratisch nicht legitimierte Regierungsformen durch, insbesondere Militärdiktaturen. Als Teil der dritten Demokratisierungswelle, die Mitte der 1970er Jahre in Portugal, Griechenland und Spanien begann und Ende der 1980er / Anfang der 1990er Jahre mit dem Übergang der zuvor kommunistisch regierten mittel- und osteuropäischen Länder zur Demokratie auslief, gelang auch den allermeisten lateinamerikanischen Staaten die (Wieder-)Einführung einer demokratischen Grundordnung. In der Bevölkerung Lateinamerikas erfährt die Demokratie als Regierungsform bis heute breite Unterstützung (siehe z.B. Casas-Zamora 2011).

Die Transition von autokratischen zu demokratischen Regimen erfolgte in Lateinamerika alles in allem vergleichsweise friedlich; revolutionäre Situationen mit massiven Gewaltausbrüchen (Volksaufstände, Bürgerkriege) blieben in den meisten Ländern in dieser Phase aus. Stattdessen basierte der Übergang von Autokratie zu Demokratie in Lateinamerika vielerorts auf einem freiwilligen Rückzug der nicht-demokratischen Regierungen von der Macht oder auf Verhandlungen zwischen den autokratischen Machthabern und der demokratisch gesinnten Opposition (daher ist häufig auch von „paktierten“ Demokratien die Rede):

„Mitunter kam es dabei regelrecht zu einer ‚Flucht‘ der Militärs von der Macht wie in Argentinien und Bolivien. In anderen Staaten wie Ecuador, Peru und Brasilien zogen sie sich kontrolliert zurück. […] Vielfach wurden die Demokratisierungen zwischen alten und neuen Eliten ausgehandelt und verliefen friedlich“ (Krennerich 2003, 7).

Die demokratischen Kräfte sahen sich im Rahmen solcher Verhandlungen zu gewissen Zugeständnissen gegenüber den damaligen Autokraten gezwungen, um den (friedlichen) Übergang überhaupt zu gewährleisten. Diese Arrangements beeinträchtig(t)en gerade in den ersten Jahren nach der Transition, aber zum Teil auch bis heute, die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit. Innerhalb der eigentlich demokratischen Ordnung blieben nicht-demokratische „Enklaven“[14] bestehen: So wurde das Militär in vielen Ländern nicht, oder nicht vollständig, der demokratisch legitimierten Regierung unterstellt und sicherte sich so eine Rolle als Veto-Macht. Vielfach behielten die ehemaligen Machthaber Privilegien, die einer demokratisch-rechtsstaatlichen Logik widersprechen (Parlamentssitz auf Lebenszeit; Straflosigkeit für Menschenrechtsverletzungen, derer sie sich während ihrer autokratischen Herrschaft schuldig gemacht hatten, usw.). Im Zeitverlauf schafften es die demokratischen Akteure in den meisten lateinamerikanischen Ländern, autoritäre Enklaven abzuschaffen oder auf ein Minimum zu reduzieren. So gibt es in der Region heute kaum noch einen Staat, in dem das Militär seine Veto-Position behaupten konnte, und im Zuge mittlerweile schon mehrerer Zyklen der Vergangenheitsaufarbeitung (siehe z.B. Fuchs 2010, 299ff) kann sich inzwischen kaum noch ein Ex-Diktator oder ehemaliger Junta-General der strafrechtlichen Ahndung seiner damaligen Verbrechen entziehen.[15]

Restlos behoben ist der Demokratiedefekt der autoritären Enklaven in Lateinamerika jedoch auch heute noch nicht. In Honduras griff das Militär 2009 in Form des Staatsstreichs gegen den gewählten Präsidenten José Manual Zelaya wieder sehr direkt in die politischen Geschicke des Landes ein, wenn auch nicht, um selbst die Macht zu übernehmen, sondern – so zumindest die eigene Rechtfertigung – um die Demokratie vor den vermeintlich undemokratischen Absichten Zelayas zu schützen (zum Putsch in Honduras siehe Llanos/Marsteintredet 2010; Ruhl 2010; Oettler/Peetz 2010; Peetz 2009a). In Kolumbien stehen nach wie vor Enklaven im territorialen Sinne des Wortes unter der Kontrolle linksgerichteter Guerilla-Gruppen oder rechter Paramilitärs und gehören somit nicht effektiv zum Herrschaftsbereich der demokratisch legitimierten Staatsgewalten (vgl. z.B. Bertelsmann Stiftung 2012b, 5). Ähnliches gilt für bestimmte Gebiete in den Produzenten- und Transitländern von Kokain und anderen Drogen (vor allem Bolivien, Peru, Kolumbien, Honduras, Guatemala, Mexiko), wo Drogenkartelle und andere kriminelle Gruppen den demokratisch-rechtstaatlichen Institutionen die effektive Herrschaft über die jeweils betroffenen Landes- oder Stadtteile streitig machen (für die zentralamerikanischen Länder siehe z.B. Peetz 2009b).

Zu den am weitesten verbreiteten und schwerwiegendsten Einschränkungen der Demokratie in Lateinamerika gehören solche Demokratiedefekte, die die horizontale Gewaltenkontrolle betreffen (vgl. z.B. Thiery 2006; Thiery 2012; Mähler 2008). Guillermo O’Donnell (1994) prägte hierfür den auch von Merkel et al. (2003, 71 und 276–288) ähnlich verwendeten Begriff der „delegativen Demokratie“. Bei diesem Demokratiedefekt sind „die horizontalen rechtsstaatlichen Kontrollen und checks and balances beeinträchtigt, [insofern als] die Kontrolle der Exekutive durch die Legislative und die dritte Gewalt eingeschränkt oder gestört [ist]“ (ebd., 71, Hervorh. im Original).

In den letzten 20 Jahren ist es zwar in keinem lateinamerikanischen Land mehr zu einer vollständigen Entmachtung der Legislative oder Judikative gekommen – wie es 1992 in Peru mit dem sogenannten „autogolpe“ („Selbstputsch“) des damaligen Präsidenten Alberto Fujimori noch geschehen war (siehe z.B. Mauceri 1995; Peetz 2001) – aber in vielen Ländern sind bis heute Tendenzen der Machtkonzentration bei der Exekutive und der Einschränkung effektiver Kontrollmöglichkeiten der anderen beiden Gewalten zu beobachten. Bezogen auf manche Länder ist in diesem Zusammenhang vom Phänomen des „Hyperpräsidentialismus“ die Rede (für Venezuela siehe z.B. Penfold 2010; für Argentinien siehe z.B. Rose-Ackerman et al. 2011; zu Lateinamerika insgesamt siehe z.B. Morgenstern et al. 2013). Der BTI 2012 bestätigt nur Chile, Costa Rica und Uruguay ein praktisch uneingeschränkt funktionierendes System von Gewaltenteilung und checks and balances (mit einem Score von 10). Für alle anderen Länder sehen die BTI-Gutachter leichte (Score von 9: Brasilien, Paraguay) oder substanzielle Defizite.[16] Ein noch etwas schlechteres Bild ergibt sich beim BTI-Indikator „Independent Judiciary“; hier liegen 16 der 20 vom BTI bewerteten lateinamerikanischen Staaten bei einem Wert von 6 oder darunter (nur Costa Rica und Uruguay mit einem Score von 10, Chile mit 9 und Brasi-lien mit 7 schneiden besser ab).

Ein weiteres in Lateinamerika weit verbreitetes Demokratiedefizit liegt in der Beschränkung der Freiheits- und Partizipationsrechte des einzelnen Bürgers. In der Demokratietheorie wird hier noch unterschieden zwischen „illiberalen Demokratien“ einerseits, in denen die „Grund-, Menschen-, Freiheits- und Bürgerrechte“ (Merkel et al. 2003, 261) nicht effektiv garantiert sind, und „exklusiven Demokratien“ andererseits, in denen das Recht von Bürgern oder Bevölkerungsgruppen zur Teilhabe am politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess beschnitten ist. Letzteres ist sowohl der Fall, wenn ein Teil der erwachsenen Bevölkerung de jure oder de facto an der freien Ausübung ihres Wahlrechts gehindert wird, als auch durch „Eingriffe in die politischen Freiheitsrechte in der öffentlichen Arena“ (ebd., 70), also etwa durch Einschränkungen der Presse- und Versammlungsfreiheit.

Defizite bezüglich des gesamten Komplexes der individuellen Freiheits- und der politischen Partizipationsrechte erfasst und bewertet bereits seit den 1970er Jahren der von der US-amerikanischen Nichtregierungsorganisation Freedom House erstellte Index „Freedom in the World“.[17] Für das Jahr 2012 ergibt eine Auswertung des Indexes (Puddington 2013, 9 und 24), dass 28 % der amerikanischen Länder – also Nord-, Zentral- und Südamerikas sowie der Karibik – nur als „partly free“ anzusehen sind und nicht als „free“, weil substanzielle Einschränkungen der politischen Partizipationsrechte und/oder der bürgerlichen Freiheitsrechte existieren (nur Kuba ist als „non free“ eingestuft). Betrachtet man innerhalb dieser Ländergruppe nur die lateinamerikanischen Länder im engeren Sinne, lässt man also die USA, Kanada sowie die kleinen Inselstaaten der Karibik außen vor, dann zeigt sich, dass sogar etwa die Hälfte dieser Länder nur den Status „partly free“ erreicht (vgl. ebd., 13–17). In der Terminologie der in der vorliegenden Arbeit zugrunde gelegten Demokratietheorie weisen also viele lateinamerikanische Länder deutliche Züge einer illiberalen bzw. exklusiven Demokratie auf.

Sowohl in den Fällen, in denen die Demokratiedefekte vom Vorhandensein nicht-demokratischer Enklaven herrühren, als auch in den Bereichen, in denen Lateinamerika flächendeckend substanzielle Demokratiedefizite aufweist (Einschränkungen der horizontalen Gewaltenkontrolle einerseits und der Freiheits- und Partizipationsrechte andererseits), spielt die Existenz informeller und/oder illegaler Strukturen, Institutionen und Praktiken häufig eine zentrale Rolle. Dass einige Gebiete unter der Kontrolle des Drogenhandel oder anderer Gruppen der organisierten Kriminalität stehen, wird durch Korruption in Politik, Verwaltung, Justiz und Sicherheitsbehörden ermöglicht oder erleichtert, und in einigen Ländern ist davon auszugehen, dass Personen aus den genannten staatlichen Institutionen selbst Teil krimineller Organisationen bzw. auf das Engsten mit ihnen verflochten sind (zu Honduras siehe z.B. Bertelsmann Stiftung 2012b, 5; zum „Corporate Mafia State“ Guatemala siehe z.B. Amnesty International 2002 und Peetz 2007, 4f).

Was die horizontale Gewaltenkontrolle angeht, insbesondere die Unabhängigkeit der Justiz als Voraussetzung dafür, dass die Judikative eine effektive Kontrollwirkung gegenüber Exekutive und Legislative entfalten kann, gehören Klientelismus und Korruption zu den zentralen Problemfaktoren. Denn in einigen lateinamerikanischen Ländern ist die Justiz auch deshalb nicht ausreichend unabhängig, weil ein Teil der Richter, Staatsanwälte usw. korrupt und/oder im Rahmen klientelistischer Netzwerke mit anderen Mitgliedern der politischen und/oder wirtschaftlichen Elite verbunden sind (für Peru siehe z.B. Bertelsmann Stiftung 2012e, 2; für Honduras siehe z.B. Bertelsmann Stiftung 2012c, 8; vor allem für die substaatliche Ebene in Mexiko siehe z.B. Bertelsmann Stiftung 2012d, 11; für Brasilien siehe z.B. Fauré 2012).

Ebenso hängt vielerorts in Lateinamerika die Einschränkung der individuellen Partizipations- und Freiheitsrechte direkt mit Informalitäts- und Illegalitätsphänomen zusammen: In Ländern, in denen etwa Journalisten, Menschenrechtsverteidiger, Gewerkschafter, Aktivisten zivilgesellschaftlicher Gruppen usw. Gefahren ausgesetzt sind, die bis hin zur Ermordung reichen, ist es zumeist nicht die offizielle staatliche Politik, von der die die Bedrohung ausgeht. Oftmals sind es vielmehr Drogenkartelle oder andere kriminelle Organisationen, die die Gewalt ausüben und die wiederum aufgrund von Korruption und anderer Verflechtungen mit staatlichen Stellen hieran nicht effektiv gehindert werden. So konstatiert Freedom House Einschränkungen der Pressefreiheit, die im Zusammenhang mit Korruption und Kriminalität vorkommen, für Mexiko, Guatemala, Honduras, Nicaragua, Dominikanische Republik, Kolumbien, Bolivien, Paraguay und Brasilien.[18]

Für eine Reihe weiterer lateinamerikanischer Länder sind im „Freedom of the World“-Index (Freedom House 2013) vergleichsweise schlechte Werte in den Sub-Indikatoren „Functioning of Government“ (z.B. Argentinien mit einem Wert von 6; Venezuela mit 2) und „Rule of Law“ (z.B. Ecuador mit einem Wert von 6; Venezuela mit 4) verzeichnet, was ebenfalls zum Teil auf Klientelismus-, Korruptions- und Kriminalitätsphänomene zurückzuführen ist. Der vergleichsweise niedrige Wert beim Indikator „Functioning of Government“ für Argentinien ist beispielsweise – zumindest zum Teil – mit klientelistischen Praktiken in Politik und Verwaltung zu erklären, wie sie etwa Alsono (2007) für den Bereich der Sozialpolitik nachzeichnet. Selbst für Brasilien, das in den entsprechenden Indikatoren sowohl bei Freedom House als auch im BTI vergleichsweise gute Werte erreicht, schränken Klientelismus und Korruption die Qualität der Demokratie ein (vgl. z.B. Fauré 2012 und Montero 2010). Thiery (2012, 2) sieht in der mangelnden Rechtsstaatlichkeit und im Erstarken der organisierten Kriminalität ein zentrales Probleme für die Demokratie in Lateinamerika:

„[S]eit Jahren [stagniert] in fast allen Ländern der Region die Entwicklung des Rechtsstaats, was informellen Arrangements Vorschub leistet und zu Machtungleichgewichten in Politik und Wirtschaft beiträgt. Und schließlich hat sich das Problem des organisierten Verbrechens weiter verschärft, ohne dass eine Trendumkehr erkennbar wäre.“

Es ist also festzuhalten, dass erstens erhebliche Demokratiedefizite in Lateinamerika zu verzeichnen sind und dass diese zweitens, zwar nicht ausschließlich, aber zu einem großen Teil mit informellen und illegalen Institutionen, Praktiken und Strukturen zusammenhängen. Diese in der Demokratietheorie unter dem Begriff Neopatrimonialismus (siehe auch Bechle 2010; und speziell zu Argentinien und Venezuela Soest et al. 2011) zusammengefassten Phänomene sind heute eine der Hauptursachen für Demokratiedefekte in Lateinamerika.

[...]


[1] Dahl grenzte sich von dem abstrakten, idealtypischen Verständnis von Demokratie als Herrschaft des Volkes ab und identifizierte stattdessen ein Set von Charakteristika real existierender, liberalpluralistischer Systeme. Diese Charakteristika machen das jeweilige System zu einer „Vielherrschaft“ (polyarchy) und können als Kriterien zur Einschätzung eines Systems als mehr oder weniger demokratisch (genauer: polyarchisch) dienen. Konkret nennt Dahl (1971, 3) folgende acht Kriterien: „1. Freedom to form and join organizations; 2. Freedom of expression; 3. The right to vote; 4. Eligibility for public office; 5. The right of political leaders to compete for support [/for votes]; 6. Alternative sources of information; 7. Free and fair elections; 8. Institutions for making government policies depend on votes and other expressions of preference“. Dahls polyarchy -Ansatz ist hinsichtlich zahlreicher Aspekte weiterentwickelt und ausdifferenziert worden; unter anderem entstanden Vorschläge zur Nutzung des Dahl’schen Kriteriensets für die Messung von Demokratie/Polyarchie (z.B. Coppedge/Reinicke 1990).

[2] Der BTI (www.bti-project.org, Download am 7.11.2013) ist ein Länderranking, in dem unter Einbeziehung von Länderexperten der Grad der politischen und wirtschaftlichen Transformation (politisch in Richtung rechtsstaatlicher Demokratie und wirtschaftlich in Richtung soziale Marktwirtschaft) von derzeit 128 Staaten der Erde bewertet wird. Zur Einschätzung der politischen Transformation eines Landes bedient sich der BTI unter anderem einer Reihe von Kriterien, die deutlich auf die Bausteine der embedded-democracy -Theorie zurückverweisen. So ermittelt der BTI beispielsweise mit mehreren Kriterien den Grad der „stateness“ des jeweiligen Landes – einer der von Merkel ins Spiel gebrachten Rahmenbedingungen für Demokratie; Merkels Teilregime der „horizontal accountability“ spiegelt sich im BTI durch das Kriterium „separation of powers“ wieder, und auch nach „civil rights“ und „effective power to govern“ fragt der BTI. Sowohl Wolfgang Merkel selbst, als auch seine Koautoren (von Merkel et al. 2003) Hans-Jürgen Puhle, Aurel Croissant und Peter Thiery waren und sind durch ihre Mitgliedschaft im BTI-Board in die methodische Konzeption des Rankings eingebunden (www.bti-project.de/ueber-das-projekt/bti-board/; Download am 20.4.2013).

[3] Merkel et al. (ebd., 239ff) führen für diese Grauzone eine Binnendifferenzierung ein, indem sie verschiedene Typen defekter Demokratien identifizieren, und zwar in Abhängigkeit davon, in welchem Teilregime der embedded democracy jeweils der (Haupt-)Defekt liegt. Für die vorliegende Arbeit bringt diese Typologie aber keinen zusätzlichen analytischen Mehrwert und braucht daher nicht näher erläutert zu werden.

[4] Vgl. auch Guliyev (2011, 584): „[…] [T]he term neopatrimonial administration can be used to refer to an organizationally hybrid arrangement whereby patrimonial features are built into the formally structured bureaucratic institutions“ (Hervorh. im Original). Zur Abgrenzung zwischen formalen und informellen Institutionen, bzw. zwischen formaler und „informaler“ Politik, und zu den Erscheinungsformen letzterer, siehe Betz/Köllner (2000).

[5] Vgl. z.B. dieses Zitat aus dem Handelsblatt (online) vom 18.10.2010: „Die Senkung der Mehrwertsteuer für Hotelübernachtungen von 19 auf sieben Prozent sorgt für heftigen Streit. Von reiner Klientelpolitik sprechen SPD, Linke und Grüne“ (www.handelsblatt.com/politik/deutschland/fragen-und-antworten-warum-die-hotel-steuer-der-fdp-auf-die-fuesse-faellt/3348142.html, Download am 7.11.2013).

[6] Die Definitionsversuche von Senturia und UNDP sind hier nur Beispiele für eine breite Debatte zu diesem Thema, vgl. z.B. Zimmerling (2005) oder Gephart (2012).

[7] Aus verwaltungs rechtlicher Sicht plädieren Erichsen et al. (2002, 3) dafür, statt von öffentlicher Verwaltung besser von staatlicher Verwaltung zu sprechen, da das Öffentliche mehrdeutig sei. Für die vorliegende Arbeit ist eine solche juristisch belastbare Trennschärfe aber nicht notwendig, da es in ihr, wenn von der öffentlichen Verwaltung die Rede ist, meist sehr allgemein um den ausführenden Teil des politisch-administrativen Systems eines Landes geht.

[8] Im angelsächsischen Sprachgebrauch bezieht der Ausdruck „public administration“ stärker als im Deutschen die politische (im Unterschied zur ausführenden) Ebene mit ein. So ist „the Obama administration“ praktisch synonym mit „the Obama government“, während man im deutschen Sprachraum wohl nie von der „Verwaltung Merkel“ sprechen würde (sondern von der „Regierung Merkel“). Dies schlägt sich auch in Begriffsdefinitionen US-amerikanischer Autoren nieder, in denen „public administration“ mit der gesamten Exekutive (also einschließlich des Kabinetts) gleichgesetzt wird; ein Beispiel ist Simon et al. (1991, 7): „By public administration is meant […] the activities of the executive branches of national, state, and local governemnts […].“

[9] Laut Voigt/Walkenhaus (2006, XVf) unterscheidet die Betriebswirtschaftslehre zwischen den Begriffen Verwaltungsreform und Verwaltungsmodernisierung, wobei das Wort Reform impliziere, dass die Veränderungen auf ein ex ante formuliertes Ziel hin vorgenommen würden, und mit Modernisierung die „Ausrichtung des administrativen Systems auf veränderte und neuartige Umweltbedingungen“ gemeint sei, auch „ohne den Endzustand und das Ziel des Modernisierungsprozesses zu kennen.“ Die Politik- und Verwaltungswissenschaften, so Voigt/Walkenhaus weiter, verwendeten die beiden Begriffe jedoch zumeist synonym (weshalb dies auch für die vorliegende Arbeit gilt).

[10] „Das Neue Steuerungsmodell (NSM) gilt als die deutsche Ausprägung des New Public Managements“ (Proeller/Krause o.J., o.S.).

[11] Schedler/Proeller (2006, 38f) bezeichnen Hoods Aufzählung als „[d]ie wohl bekannteste Beschreibung des New Public Managements“.

[12] Schedler/Proeller (ebd., 54) überschreiben ein Unterkapitel ihres Buches mit dem Satz: „Das zu lösende Problem der Verwaltung ist Effizienz und Effektivität, nicht Legalität oder Legitimation.“

[13] Zum ambivalenten Verhältnis zwischen NPM und Ansätzen der Verwaltungsdemokratisierung siehe Fuentes/Güemes (2009, 65–72).

[14] Zum Begriff der „Enklavendemokratie“ als Subtypus defekter Demokratien siehe Merkel et al. (2003, 71 und 249–261); speziell zu Lateinamerika siehe auch Garretón (2003, 47f).

[15] Zuletzt sorgte etwa der Prozess gegen den guatemaltekischen Ex-Präsidenten General a.D. Efraín Rios Montt für internationale Aufmerksamkeit, da in Guatemala seit dem Ende des Bürgerkriegs 1996 kaum Fortschritte in dieser Hinsicht zu verzeichnen gewesen waren.

[16] Score von 8: Mexiko; Score von 7: Dominikanische Republik, El Salvador, Panama; Score von 6: Bolivien, Kolumbien, Guatemala, Honduras, Peru; Score von 5: Argentinien, Ecuador; Score von 4: Haiti, Nicaragua; Score von 3: kein lateinamerikanisches Land; Score von 2: Venezuela; Score 1 ( = Gewaltenteilung gar nicht existent): Kuba (Bertelsmann Stiftung 2012a).

[17] Siehe www.freedomhouse.org/report-types/freedom-world (Download am 29.6.2013).

[18] Quellen: www.freedomhouse.org/report/freedom-world/2013/mexico; www.freedomhouse.org/report/freedom-world/2013/guatemala; www.freedomhouse.org/report/freedom-world/2013/honduras; www.freedomhouse.org/report/freedom-world/2013/nicaragua; www.freedomhouse.org/report/freedom-world/2013/dominican-republic-0; www.freedomhouse.org/report/freedom-world/2013/colombia; www.freedomhouse.org/report/freedom-world/2013/bolivia; www.freedomhouse.org/report/freedom-world/2013/paraguay (Download jeweils am 17.7.2013).

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2013
ISBN (PDF)
9783956847363
ISBN (Paperback)
9783956842368
Dateigröße
804 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
FOM Essen, Hochschule für Oekonomie & Management gemeinnützige GmbH, Hochschulleitung Essen früher Fachhochschule
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1
Schlagworte
Öffentliche Verwaltung Defekte Demokratie Neoinstitutionalismus Klientelismus Informelle Institution

Autor

Peter Peetz ist promovierter Politikwissenschaftler und Kaufmännischer Geschäftsführer am GIGA German Institute of Global and Area Studies, Hamburg. Seine Doktorarbeit über die gesellschaftliche und politische Reaktion auf das Phänomen der Jungendbanden („maras“) in Honduras erschien 2012 im Lit-Verlag. Anfang 2014 schloss er ein nebenberufliches Master-Studium im Fach „Public Management“ an der FOM Hochschule für Oekonomie & Management, Essen (Standort Hamburg), ab. Nähere Informationen zum Autor: www.giga-hamburg.de/team/peetz.
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Titel: New Public Management und Demokratie in Lateinamerika: Fallbeispiel Mexiko
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