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Wohnungslos und psychisch krank: Schnittstellenprobleme in der Sozialen Arbeit

©2009 Bachelorarbeit 66 Seiten

Zusammenfassung

Erst seit den letzten Jahren suchen in Deutschland die Wohnungslosenhilfe und das psychiatrische Versorgungssystem gemeinsam nach Antworten auf die Frage der Zuständigkeit und der adäquaten Zusammenarbeit. Denn obwohl das Problem psychisch kranker Wohnungsloser in den beiden Hilfesystemen bewusst ist, liefern die meisten bundesdeutschen Untersuchungen kein Datenmaterial, das für die konkrete Planung der psychiatrischen Versorgung von Wohnungslosen herangezogen werden könnte. Das Thema gerät mit einer gewissen Selbstläufigkeit sowohl in den populären, als auch in den wissenschaftlichen Medien seit den letzten Jahren immer wieder in die Debatte. Publiziert wurde jedoch nur eine geringe Anzahl von fundierten Aussagen. Um zur zentralen Fragestellung hinzuführen, beschäftigt sich der erste Teil dieses Fachbuches ganz allgemein mit der Problematik der Wohnungslosigkeit und soll im Weiteren einen kurzen Überblick über Formen psychischer Störungen geben sowie das psychiatrische Versorgungssystem in Deutschland vorstellen. Im zweiten Teil geht es dann explizit um psychisch kranke Wohnungslose und deren ‚Verschwinden‘ zwischen den beiden beschriebenen Systemen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2.1.2 Zahlen und Fakten

Über die Anzahl der Personen in Deutschland, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind, gibt es keine bundesweite Statistik. Und obwohl es sich nur um Schätzwerte handelt, beruhen die meisten Zahlenangaben in der Fachliteratur und in den Medien auf jenen der BAG W.

Diese schätzt für das Jahr 2006 die Anzahl der Wohnungslosen auf etwa 254.000 Personen. Davon sind circa 52% (132.000) alleinstehende Wohnungslose (Einpersonenhaushalte) und rund 48% (122.000) Personen in Mehrpersonenhaushalten (vgl. BAG Wohnungslosenhilfe 2008, S.5).

Der Frauenanteil soll bei 25% (64.000), die Anzahl der Kinder und Jugendlichen bei 11% (28.000) und die Zahl der Männer bei 64% (162.000) liegen (vgl. BAG Wohnungslosenhilfe 2008, S.6).

Circa 18.000 Menschen leben ohne jegliche Unterkunft auf der Straße (vgl. BAG Wohnungslosenhilfe 2007, S.1). Unmittelbar von Wohnungsverlust bedroht sind zwischen 60.000 und 120.000 Haushalte mit mindestens 120.000 bis zu 235.000 Personen (vgl. BAG Wohnungslosenhilfe 2008, S.5f).

Die Unterbringung im Gesundheitssystem (Krankenhaus, Pflegeheim, Psychiatrie) hat zwischen 2005 mit 2,6% und 2006 mit 3,0% leicht zugenommen, wobei rund 67% der Betroffenen im Alter zwischen 25 und 49 Jahren sind (vgl. BAG Wohnungslosenhilfe 2008, S.23f).

Leider macht die BAG Wohnungslosenhilfe keinerlei Angaben über die Anzahl an Wohnungslosen in der Psychiatrie.

2.2 Geschlechtsspezifische Ursachen von Wohnungslosigkeit

In den letzten Jahrhunderten wurden unterschiedlichste Hypothesen über die Auslöser von Wohnungslosigkeit aufgestellt. Zu den ältesten gehören die psychiatrisch-neurolo­gischen Ansätze. Sie gehen bis ins 19. Jahrhundert zurück und sehen die Ursache von Wohnungslosigkeit in der „abnormen Persönlichkeit“ (Stumpfl 1938, S.280) der Betroffenen und machen deren „Wandertrieb“ (Ehrlicher 1938, S.245) für ihre ‚Nichtsesshaftigkeit‘ verantwortlich.

Psychologische Ansätze seit Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts verstanden ‚nichtsesshaftes‘ Verhalten als erlerntes Verhalten und nicht als eine in der Persönlichkeit verwurzelte Eigenschaft. Ihnen zufolge stellte Wohnungslosigkeit eine hilflose Konfliktlösungsstrategie und eine Reaktion auf Angst- und Zwangsgefühle dar (vgl. John 1988, S.85ff).

Soziologische Ansätze rückten Ende der 70er Jahre in den Vordergrund. Sie beachteten nicht nur die individuellen Ursachen von Wohnungslosigkeit, sondern richteten ihren Blick auf den Zusammenhang zwischen Individuum und Gesellschaft (vgl. John 1988,S.98ff).

Wie oben skizziert, stellten Erklärungsversuche für Wohnungslosigkeit in der Geschichte der Wohnungslosenhilfe anfangs individuelle, später dann gesellschaftlich-strukturelle Faktoren in den Vordergrund. Heute vertritt man ein mehrdimensionales Konzept, welches die Wechselwirkung zwischen individuellen Risikofaktoren und gesellschaftlich-strukturellen Bedingungen als Ursache für Wohnungslosigkeit in Betracht zieht. Im Folgenden sollen daher zuerst mögliche individuelle und dann gesellschaftlich-strukturelle Ursachen aufgezeigt werden.

Den ‚typischen‘ Wohnungslosen gibt es nicht, jedoch nimmt die Wahrscheinlichkeit wohnungslos zu werden zu, je mehr individuelle Risikofaktoren zusammentreffen.

Hierzu könnten zum einen traumatische Erfahrungen in der Kindheit, wie zum Beispiel Armuts- und Gewalterfahrungen, Heimunterbringungen oder das Nichtvorhandensein eines stabilen Wohnsitzes, zählen, da verschiedene Studien belegen, dass Wohnungslose vermehrt diesen Belastungen ausgesetzt waren (vgl. Egerter 2004, S.14).

Zum anderen kommen Menschen durch krisenhafte persönliche Lebensereignisse, wie Arbeitsplatzverlust, Trennung, Scheidung, Krankheit, Unfall oder Tod einer nahestehenden Person, in Notlagen, die sie überfordern, existenziell bedrohen und aus denen sie sich nicht mehr aus eigener Kraft helfen können (vgl. Geißler 2008, S.212).

Das Fehlen, beziehungsweise der Verlust sozialer Beziehungen, soziale Isolation, sowie die Verweigerung notwendiger und frühzeitiger Hilfen können ebenso zu den Risikofaktoren gezählt werden (vgl. Geißler 2008, S.210ff).

Belastungen und Einschränkungen durch Abhängigkeitserkrankungen, sowie körperliche und psychische Erkrankungen sind weitere Risikofaktoren, die zur Entstehung und Fortdauer von Wohnungslosigkeit beitragen (vgl. Kellinghaus 2000, S.14). Denkbar wäre jedoch auch, dass die Anhäufung von belastenden Situationen zum Ausbruch dieser Art von Erkrankungen führt und sie sich somit als Folge von Wohnungslosigkeit beobachten lässt. Ob der Ausbruch psychischer Störungen nun Ursache oder Folge von Wohnungslosigkeit ist, lässt sich nicht immer nachvollziehen.

Eine Studie aus den USA kommt zu dem Schluss, dass zwei Drittel der psychisch kranken Wohnungslosen vor und ein Drittel nach dem Verlust der Wohnung erkrankten (vgl. Masanz 2008, S.107).

Die oben beschriebenen individuellen Ursachen tragen zu einem Rückgang der Anpassungsfähigkeit und der sozialen Ressourcen der Betroffenen bei, was zu einer erhöhten Vulnerabilität gegenüber den gesellschaftlich-strukturellen Faktoren führen kann.

Hierzu zählen der Anstieg der Arbeitslosenzahl und die Kürzung von öffentlichen Sozialleistungen, wodurch soziale Ungleichheiten und Armutsrisiken entstehen. Diese können für einen erschwerten Zugang zum Bildungssystem verantwortlich sein, was wiederum schlechte Startchancen ins Berufsleben zur Folge haben kann. Somit befinden sich die Betroffenen in einem Teufelskreis, der sehr schwer zu durchbrechen ist. Weitere gesellschaftliche Rahmenbedingungen sind die steigenden Wohnpreise, sowie Stigmatisierungs- und Ausgrenzungsprozesse, die wohnungslosen Menschen kaum Chancen auf Wohnraum und Arbeitsplatz bieten (vgl. Lutz/Simon 2007, S.51ff).

Die Veränderung des institutionellen Versorgungssystems von stationär zu ambulant trägt ebenso zu einer erhöhten Wohnungslosigkeit bei. Viele Menschen sind nach der Entlassung aus einer stationären Einrichtung ohne Wohnung und landen somit direkt auf der Straße.

Dieses differenzierte Ursachenverständnis führte dazu, dass einseitig moralisierende Auffassungen von Eigenverantwortung und Fehlerhaftigkeit der Betroffenen zurückgedrängt werden konnten und die Auslöser von Wohnungslosigkeit nun mehrdimensional beleuchtet werden. Wohnungslosigkeit ist daher aus heutiger Sicht mit vorausgehenden, beziehungsweise begleitenden persönlichen, sozialen und materiellen Problemen verbunden und wird überwiegend als Folge eines lang andauernden Verarmungs- und Desintegrationsprozesses benachteiligter Menschen verstanden.

Da viele Studien belegen, dass es Unterschiede zwischen weiblicher und männlicher Wohnungslosigkeit gibt, ist es jedoch wichtig, die individuellen und gesellschaftlich-strukturellen Ursachen geschlechtsspezifisch zu betrachten (vgl. Fichtner 2004, S.50).

Lange Zeit schien es, als seien Frauen weniger von Wohnungsnot betroffen als Männer. Wohnungslosigkeit in Form der früher so genannten Nichtsesshaftigkeit wurde eindeutig als eine reine Männerangelegenheit betrachtet. Frauen hingegen sind häufig verdeckt und unauffällig wohnungslos, weshalb sie vom Hilfesystem der Wohnungslosenhilfe bis zu Beginn der 80er Jahre nicht erreicht wurden (vgl. Simon 2006, S.2).

Obwohl das Klientel der Wohnungslosenhilfe zum größten Teil aus Männern besteht, wurden männerspezifische Erklärungsversuche und Ursachen zu keiner Zeit grundlegend erforscht und ihnen kein relevanter Stellenwert zugewiesen. Vielmehr fällt auf, dass in der Literatur zunehmend geschlechtsspezifische Ursachen der Wohnungslosigkeit von Frauen, deren Lebenslagen und strukturellen Benachteiligungen ausführlich beschrieben werden.

Gründe männlicher Wohnungslosigkeit werden in der Literatur auf Armut und soziale Ausgrenzung bagatellisiert. Auf den Gedanken einer defizitären männlichen Sozialisation, zum Beispiel durch das Scheitern bei der Erfüllung bestimmter männlicher Rollenerwartungen, hat sich die Wohnungslosenhilfe bis dato noch nicht eingelassen (vgl. Fichtner 2004, S.50).

Dies lässt sich insgesamt im Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit feststellen, die in den geringen Anteilen geschlechtsbezogener Arbeit meist auf Mädchen- und Frauenarbeit ausgerichtet ist. Jungen- und Männerarbeit scheint hier, trotz aktuellen öffentlichen Diskurses, nur marginal ein Thema zu sein. Generell wird davon ausgegangen, dass für Frauen wirtschaftlich und strukturell keinerlei Chancengleichheit gegenüber den Männern besteht und sie prinzipiell mehr Benachteiligungen ausgesetzt sind. Fichtner (2004) spricht von einer „geschlechtsblinden Männerforschung“, die lediglich die Diskrepanzen der Frauen in den Mittelpunkt einer geschlechtersensiblen Untersuchung stellt, abweichende Entwicklungsprozesse von Männer jedoch nicht beachtet (vgl. Fichter 2004, S.50).

Auf Grund der defizitären männerspezifischen Ursachenforschung im Bereich der Wohnungslosenhilfe, können daher im Folgenden nur die Ursachen weiblicher Wohnungslosigkeit genauer beschrieben werden.

Durch das Bewusstwerden einer Feminisierung der Armut wurde deutlich, dass für Frauen ein erhöhtes Risiko besteht, in Wohnungslosigkeit zu geraten (vgl. Steinert 1991, S.53f). Eine der wichtigsten Ursachen für den Wohnungsverlust von Frauen ist das Scheitern von Ehe oder Partnerschaft und die damit verbundene Trennung oder Scheidung (vgl. Rosenke/Schröder 2006, S.7). Viele Frauen haben oft kein ausreichendes eigenes Einkommen und sind somit finanziell von ihrem (Ehe)Partner abhängig. Frauenspezifische Sozialisation und traditionelle Geschlechterrollenzuweisungen, beispielsweise die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, tragen ebenfalls zu einem erhöhten Armutsrisiko von Frauen bei (vgl. Lutz/Simon 2007, S.153).

Sozialpsychologisch orientierte Ansätze nennen Probleme innerhalb der weiblichen Sozialisation als mögliche Auslöser von Wohnungslosigkeit (vgl. Steinert 1991, S.58f). Hierzu zählen die Belastung der Frauen durch starre Rollenerwartungen, sowie verschiedene Formen von körperlicher und seelischer Gewalt durch den (Ehe)Partner oder anderer Familienangehörige (vgl. Sellach 2001, S.5f). Bei letzterem ist seit 1998 eine leicht rückläufige Tendenz zu beobachten, was sich möglicherweise auf eine konsequente Anwendung des Gewaltschutzgesetzes zurückführen lässt (vgl. Rosenke/Schröder 2006, S.7).

Wichtig ist jedoch zu beachten, dass diese Art von Beziehungsproblematiken nachhaltig von Armut bestimmt wird. Daher müssen Erklärungsansätze weiblicher Wohnungslosigkeit in die Theorien der Begründungszusammenhänge spezifischer weiblicher Armutsrisiken mit eingebunden werden (vgl. Enders-Dragässer/Sellach 2000, S.102).

Deutlich wird, dass geschlechtsspezifische Ursachen von Wohnungslosigkeit nicht unabhängig voneinander auftreten, sondern in einem multifaktoriellen Bedingungsgefüge in Zusammenhang stehen. Sie sind immer im Kontext von gesellschaftlichen Verhältnissen, strukturellen Ungleichheiten, unterschiedlichen Rollenerwartungen und -zuschreibungen, sowie unterschiedlichen weiblichen und männlichen Voraussetzungen zu betrachten.

2.3 Unterschiedliche Problemlagen von Wohnungslosen

Ein Wohnungsverlust ist gleichzusetzen mit dem Wegfall einer elementaren Grundlage für ein gesichertes, menschenwürdiges Leben. Eine Wohnung ist nicht nur materielle Voraussetzung für Wärme, Schutz und Geborgenheit, sondern auch eine notwendige Basis für Arbeit, Familie, Privatleben, Hygiene, für bestimmte Formen der Kommunikation, wie zum Beispiel die Postzustellung oder das Internet, und für ein Mindestmaß an sozialer Anerkennung. Menschen, die über einen gewissen Zeitraum auf der Straße leben und einen Verlust ihrer sozialen Kontakte hinnehmen mussten, haben unterschiedliche ausgrenzende und schmerzhafte Erfahrungen gemacht. Ihre Wohnungslosigkeit ist – abhängig vom Lebensraum – durch spezielle Lebenssituationen gekennzeichnet. Diese prägen den körperlichen und seelischen Zustand der Betroffenen und haben Einfluss auf den Ausbruch und Verlauf von Krankheiten. Um die Situation psychisch kranker Wohnungsloser besser analysieren zu können, ist es daher erforderlich sich mit den Problemlagen wohnungsloser Menschen auseinanderzusetzen.

Zu den einzelnen Lebensräumen von Wohnungslosen zählen beispielsweise Notunterkünfte der Gemeinde, Wohnheime, betreute Wohnformen, Billigpensionen, die ‚Straße‘ oder die Wohnung von Verwandten, Bekannten oder Freunden (vgl. Kellinghaus 2000, S.15ff).

Auf Grund der Vielzahl der individuellen Problemlagen, sollen an dieser Stelle nur die wichtigsten beschrieben werden.

Meist steht der Wohnungsverlust in Zusammenhang mit einem Arbeitsplatzverlust, oder ist mit bereits zuvor bestehender Arbeitslosigkeit verbunden. Durch den Einkommensverlust können Unterhaltsverpflichtungen, Geldstrafen oder Schulden oft nicht mehr bezahlt werden (vgl. Gillich/Nieslony 2000, S.93ff).

Hinzu kommt, dass viele Sozialämter nur Gutscheine oder Tagessätze als Hilfe – sofern diese überhaupt beantragt wurde – gewähren (vgl. Kellinghaus 2000, S.18). Materielle Unterversorgung ist daher Bestandteil des täglichen Lebens für die Betroffenen.

Somit scheint es auch recht plausibel, dass viele Wohnungslose in die Kriminalität abrutschen.

Sie verüben meist Bagatellstraftaten wie ‚Schwarzfahren‘, Kleindiebstähle von Geld, Lebensmittel oder Suchtmittel und halten sich unerlaubt in öffentlichen und privaten Gebäuden auf (vgl. John 1988, S.60).

Allgemein lassen sich Wohnungslose jedoch eher als Opfer denn als Täter beschreiben, da sie vermehrt Opfer von Gewalt durch ‚Stärkere‘ innerhalb der Szene oder auf Grund rechtsradikaler Hintergründe sind (vgl. Kellinghaus 2000, S.18f).

Auch zählt strukturelle Gewalt zum Alltag wohnungsloser Menschen: Neben Diskriminierung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, werden sie durch die Polizei oft von öffentlichen Plätzen vertrieben. Dies geschieht meist nicht auf Grund von Gefahrenabwehr, sondern um das Stadtbild ‚sauber‘ zu halten (vgl. Behrendes 2000, S.125f).

Reindl ist der Auffassung, dass es als Taktik der Politik anzusehen ist, das Bild von Wohnungslosen als kriminelle Straftäter in der Öffentlichkeit aufrecht zu erhalten. Denn wenn eine Gesellschaft ihre Zukunftsängste auf eine soziale Randgruppe projizieren kann, so wird sie die Schuld ihrer Situation nicht bei der Politik suchen (vgl. Reindl 2000, S.151f).

Eine derartige Diskriminierung und Funktionalisierung von wohnungslosen Menschen hat einen massiven negativen Einfluss auf das Lebensgefühl der Betroffenen und wird wohl kaum zur Verbesserung ihrer Lebenssituation beitragen.

Eine Folge von materieller Unterversorgung ist auch der Zwang zur Mobilität, welcher weitere Konsequenzen mit sich zieht. Die Betroffenen sind durch ihr ständiges Umherziehen postalisch nicht, oder nur schwer zu erreichen und besitzen meist kein Konto, auf das eventuelle Lohnersatzleistungen eingezahlt werden können. Die meist hinzu kommende unzureichende Körperpflege stellt eine weitere Hemmschwelle für Arbeit und Wohnung dar. Sie rutschen in den Teufelskreis ‚ohne Arbeit keine Wohnung und ohne Wohnung kein reguläres Beschäftigungsverhältnis‘ ab. Finden die Betroffenen trotz ihrer Situation eine Arbeit, so ist diese meist bei dubiosen Firmen oder Drückerkolonnen (vgl. Kellinghaus 2000, S.18).

Das Leben in Wohnungslosigkeit ist ebenfalls gekennzeichnet durch ständige existenzielle Bedrohungen. Eigentum ist nur schwer abzusichern, da meist keine abschließbaren Schränke in den Notunterkünften zur Verfügung stehen. Auch die Privatsphäre leidet unter einem Leben in Wohnungslosigkeit: In Notunterkünften leben meist viele Menschen auf geringem Raum zusammen, wodurch die Möglichkeit zum Abschalten kaum gegeben ist. Durch die Enge und ständige Unruhe entsteht meist eine angespannte und aggressive Atmosphäre. Studien belegen, dass durch diese Art von Lebensbedingung die gesunden Anteile im Menschen vollends verkümmern (vgl. Mühlbrecht 1992, S.13f).

Die ständige Suche nach einem sicheren Schlafplatz und die Angst, überhaupt einen zu finden, stellt ebenfalls eine belastende alltägliche Situation für die Wohnungslosen dar. Selbst Notunterkünfte können nur für eine bestimmte Zeit genutzt werden und scheinen relativ unsicher, da ein einseitiger Nutzungsvertrag besteht, der jederzeit gekündigt werden kann. Viele schlafen daher illegal auf der Straße, sind kaum vor Witterung geschützt (Erfrierungstode) und erhöhter Gefahr von Plünderung ausgesetzt (vgl. Specht-Kittler 1994, S.34ff).

Wohnungslosigkeit bedeutet meist auch Verlust sozialer Beziehungen, Isolation, Ausgrenzung und Stigmatisierung. Der soziale Raum für Wohnungslose wird dadurch immer enger und eingegrenzter. Oft bestimmt allein das Milieu die sozialen Beziehungen der Wohnungslosen (vgl. Gillich/Nieslony 2000, S.102ff).

Das Leben auf der Straße bedeutet somit nicht nur materielle, sondern auch soziale Randständigkeit. Diese belastende Lebenssituation kann starke körperliche und psychische Schäden, sowie vorzeitige Alterung mit sich ziehen (vgl. Greifenhagen/Fichter 1998, S.94). Oft entwickeln wohnungslose Menschen problematische Bewältigungsstrategien, wie Alkohol- oder Drogenkonsum, welche weitere Gesundheitsschäden hervorrufen können (vgl. Gillich/Nieslony 2000, S.99).

Nationale Studien von Nouvertné 1996 und Reker 1997 haben ergeben, dass 20 – 40% der wohnungslosen Menschen unter behandlungsbedürftigen psychischen Krankheiten leiden und 70 – 80% suchtkrank seien (vgl. Masanz 2008, S.107). Auffallend ist die erhöhte Anzahl wohnungsloser psychisch kranker Frauen im Vergleich zum Männeranteil bei einer Studie von Theisohn (2002): Der Frauenanteil psychisch kranker Wohnungsloser lag hier bei 63% (vgl. Theisohn 2002, S.140).

Auch lässt sich beobachten, dass viele psychisch kranke wohnungslose Menschen ko­mor­bide Störungen aufweisen. Unter Komorbidität wird das Vorhandensein von mehr als einer diagnostizierbaren Störung bei derselben Person verstanden (vgl. Moggi/Donati 2004, S.3), wie etwa das gleichzeitige Vorhandensein einer psychischen Störung und Abhängigkeitserkrankung. Oft werden auch die Begriffe ‚Mehrfachproblemlage‘, oder ‚Doppeldiagnose‘ genutzt.

Bei der Studie von Theisohn liegt der Anteil von Mehrfachproblematiken bei wohnungslosen Männern und Frauen bei 26%, wovon 54% psychisch krank und alkoholabhängig und 8% psychisch krank und drogenabhängig sind, 19% eine Alkohol- und Drogenabhängigkeit und weitere 19% eine psychische Krankheit, Alkohol- und Drogenabhängigkeit aufweisen (vgl. Theisohn 2002, S.139f). Leider liegen keine aktuelleren Studien vor.

Die Frage nach Ursache oder Folge ist, wie oben bereits erwähnt, sehr schwierig zu beantworten. Einerseits konsumieren psychisch kranke Menschen Alkohol als Selbstmedikation, um Angst und Verwirrung durch die psychische Krankheit zu vermindern, andererseits können durch den Suchtmittelmissbrauch Halluzinationen und andere Psychosen ausgelöst werden. Dadurch ergibt sich das Problem, dass psychische Erkrankungen neben einer Abhängigkeitserkrankung häufig nicht erkannt werden und die Betroffenen andauernden Entwöhnungsbehandlungen ohne sichtbaren Erfolg unterzogen werden (vgl. Wessel 2002, S.73f).

Auf Grund dieser Problemlage sind Wohnungslose mit Doppeldiagnose eigentlich drei Hilfesystemen zuzuordnen. Verantwortlich fühlt sich jedoch weder die Suchtkrankenhilfe, noch das psychiatrische Versorgungssystem. Die Betroffenen werden nicht erreicht und erhalten somit keine adäquaten Hilfen. Das letzte Netz der sozialen Sicherung stellt dann die Wohnungslosenhilfe dar. Fraglich ist jedoch, ob diese den multiplen Problemlagen der Betroffen gewachsen ist und ohne spezifisch qualifiziertes Fachpersonal in den Bereichen Suchtkrankenhilfe und Psychiatrie die geeignete Hilfeform darstellt. Die daraus resultierenden Schwierigkeiten sollen in 4.2 näher beleuchtet werden.

Als Folge ihrer geschlechtstypischen Sozialisation ist die Wohnungslosigkeit von Frauen häufig weniger auffällig als bei Männern. Frauen versuchen ihre Notlage eher durch die Inkaufnahme prekärer Wohnsituationen und Lebensverhältnisse zu kaschieren. Somit haben Frauen ohne Wohnung mit besonderen geschlechtsspezifischen Problemlagen zu kämpfen. Im Folgenden sollen drei Formen von weiblicher Wohnungslosigkeit aufgezeigt werden, die in einer Studie von Enders-Dragässer und Sellach (2000) herausgearbeitet wurden.

Die Mehrheit aller wohnungslosen Frauen befindet sich in einer verdeckten Wohnungslosigkeit. Um nicht als wohnungslos aufzufallen und sich vor Übergriffen innerhalb der Szene zu schützen, begeben sie sich oft in prostitutionsähnliche Verhältnisse. Ein vorübergehendes Unterkommen bei einem Mann bietet die Möglichkeiten, den eigenen existenziellen Bedürfnissen (Schlafen, Essen, Körperpflege) nachgehen zu können und den gesellschaftlichen Zuschreibungsprozessen zu entfliehen. Diese ‚zweckorientierte Partner­schaf­ten‘ sind jedoch meist von Unterdrückung und sexueller Gefügigkeit geprägt, was im Hinblick auf die Entwicklung von psychischen Störungen von Bedeutung sein könnte (vgl. Enders-Dragässer/Sellach 2000, S.99).

Auch besteht weder mietrechtlicher Schutz, noch finanzielle Absicherung für diese Frauen (vgl. Lutz/Simon 2007, S.158).

Gewalt in der Beziehung, Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch und auch Gelegenheitsprostitution kennzeichnen eine Lebenssituation, die meist von der verdeckten in die sichtbare Wohnungslosigkeit führt (vgl. Schlottmann 1994, S.43). Sichtbar wohnungslos, auch offene, manifeste Wohnungslosigkeit genannt, sind Frauen, die öffentlich und vom Hilfesystem wahrgenommen, auf der Straße leben. Ihr Leben ist gekennzeichnet von stän­digen öffentlichen und moralischen Abwertungen, da sie das schützende Familien­sys­tem absichtlich verlassen haben. Der Anteil der sichtbar lebenden wohnungs­losen Frauen ist, im Gegensatz zum Männeranteil, relativ gering (vgl. Gillich/Nieslony 2000, S.79ff).

In latenter Wohnungslosigkeit befinden sich Frauen, die von kurzfristiger Wohnungslosigkeit bedroht sind, in prekären Wohnverhältnissen, wie zeitlich befristete Arbeitgeberunter­künfte oder Bordelle, leben. Oft ertragen sie extreme Lebensbedingungen, um die Wohnung nicht zu verlieren (vgl. Lutz/Simon 2007, S.158).

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Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2009
ISBN (PDF)
9783956847608
ISBN (Paperback)
9783956842603
Dateigröße
4.5 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule Esslingen
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,3
Schlagworte
Wohnungslose Frau Zuständigkeit Hilfesystem obdachlos Psychiatrisches Versorgungssystem psychische Störung
Produktsicherheit
BACHELOR + MASTER Publishing

Autor

Lisa Aberle, Sozialpädagogin M.A., wurde 1987 in Stuttgart geboren. Ihr Studium an der Hochschule Esslingen im Studiengang Soziale Arbeit B.A., sowie an der Georg-Simon-Ohm Hochschule in Nürnberg im Studiengang Soziale Arbeit M.A. schloss die Autorin 2011 mit dem akademischen Grad Master of Arts erfolgreich ab. Bereits während des Studiums sammelte die Autorin praktische Erfahrungen in der Arbeit mit Menschen mit psychischer Erkrankung und konnte aufgrund eines Praktikums in der Vorstandsabteilung einer großen sozialen Organisation Einblicke in die fachliche Diskussion im Kontext der UN-Behindertenrechtskonvention erlangen.
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Titel: Wohnungslos und psychisch krank: Schnittstellenprobleme in der Sozialen Arbeit
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