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Strassenkinder - Ninõs de la calle: Deutschland, Lateinamerika, Afrika

©2001 Studienarbeit 52 Seiten

Zusammenfassung

Wir kennen die Bilder aus Film, Fernsehen, aus der Zeitung und aus Zeitschriften Die immer wiederkehrenden Bilder von Strassenkindern. Es gibt wohl keinen Platz auf Erden, an dem man sie nicht finden könnte. Die Zunahme der Kinder, die auf der Strasse leben, wird zum globalen Problem. Doch was treibt diese Kinder auf die Strasse? Wie verbringen sie ihren Alltag? Gibt es wesentliche Unterschiede im Leben der Strassenkinder in verschiedenen Ländern? All dies sind Fragen, auf die ich versuchen werde, in dieser Arbeit eine Antwort zu finden.
Ein Buch für Mitarbeiter und Begleiter in der Jugendhilfe und in sozialen Diensten, sowie für Angehörige und alle am Thema Interessierten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


3. Ursachen

Die Strassenkinder-Gruppen sind sehr heterogen und so sind auch die Ursachen, Probleme und Konflikte unterschiedlich und vielschichtig. Die 3 Bereiche in denen die auslösenden Faktoren am häufigsten zu suchen sind, sind:

1. Armut: z. B. finanzielle Notlage und Arbeitslosigkeit der Herkunftsfamilie
2. Familienverhältnisse: z. B. Störungen oder Zusammenbrüche des Beziehungssystems
3. Strukturen der Jugendhilfe: z. B. Heime (ständig wechselnde Bezugspersonen)

Viele der Kinder fühlen sich von ihren Eltern vernachlässigt oder werden sexuell mißbraucht (vor allem bei Mädchen ist dies häufig der Auslöser, von zu hause auszureißen, weil sie Angst davor haben, sich jemandem anzuvertrauen). Die jüng­sten leben nach der Flucht von zu hause willkürlich nicht-bürgerliche Vorstellungen aus.

Einige Kinder planen ihr „Abhauen“, wählen u. U. sogar den Tag aus, an dem sie gehen. Andere entscheiden spontan aus der Situation heraus. Einige brauchen einen Anlauf, wieder andere unternehmen zwei Dutzend Anläufe, haben längere und kürzere Aufenthalte auf der Strasse, kehren aber immer wieder zu ihrer Familie zurück. Bei vielen kündigt sich das „Abhauen“ auch schon vorher durch unabgemeldetes Wegbleiben teilweise für eine Nacht oder auch ein ganzes Wochenende, durch Schule schwänzen und herumtreiben an. Häufig eröffnen Ältere den Kindern die Chance auf eine Strassenkarriere.

Für Heimkinder bedeutet die Flucht, daß es kein Zurück mehr gibt. Für viele Kinder ist das Abhauen die Lösung ihrer gegenwärtigen Probleme. Sie verbinden mit den Eltern oder dem Heim nur noch bedrückende und negative Gefühle, sie ertragen die Atmosphäre zu Hause nicht mehr. Die Kinder legen sich auf der Strasse eine neue Identität zu (die meisten rechnen damit, daß ihre Eltern eine Vermisstenanzeige aufgeben und melden sich deshalb erst gar nicht beim Einwohnermeldeamt an). Damit sind sie wiederum nicht in der Lage, Sozialhilfe oder andere Unterstützungen zu erhalten. Ca. 1/3 der Strassenkinder hatten vor ihrer Strassenkarriere mindestens einen Jugendhilfekontakt.

Das DJI (Deutsches Jugendinstitut) nennt 3 wesentliche Gründe für den Wechsel von einer Jugendhilfe zu einer Strassenkarriere:

1. Formale, institutionelle Gründe und Unsicherheiten in der Hilfeplanung und bei der Abklärung der erzieherischen Erfordernisse und Möglichkeiten die zu immer neuen Einrichtungswechseln und schließlich auf die Strasse führen.
2. Die Ausgrenzung von angeblich zu schwierigen Jugendlichen von den Einrichtungen
3. Die in Psychiatrischen Einrichtungen begonnenen Behandlungen werden in Heimen nicht fortgesetzt, weil deren pädagogischer Rahmen dies nicht erlaubt.

4. Einnahmequellen, Drogen, Prostitution, Kriminalität

4.1. Einnahmequellen

Strassenkinder verdienen sich ihr Geld meist durch Bettelei, Prostitution, Diebstählen oder auch durch Dealen. Diejenigen, die beim Einwohnermeldeamt gemeldet sind, haben oft die Chance, Sozialhilfe beziehen zu können.

4.2. Drogen

Auch Drogen sind eine Möglichkeit für die Kinder, sich zu finanzieren. Gerade Jüngere werden oft von Hehlern als Boten oder Drogenkuriere eingesetzt oder beginnen nicht selten damit, selbst zu dealen.

Nicht alle Strassenkinder nehmen Drogen, wenngleich die meisten Haschisch rauchen. Trotz der Tatsache, daß Alkohol neben Haschisch die Häufigste Droge ist, gibt es überraschend viele, die überhaupt keinen Alkohol trinken. Für Strassenkinder gehört jedoch das Angebot harter Drogen zum Alltag. Sie können auf der Strasse alles bekommen - von Heroin und Kokain halten sich die meisten dennoch fern, da sie die Gefahren kennen. Über Junkies haben die meisten nichts Gutes zu sagen. Selbstverständlich gibt es auch hier einige Ausnahmen. So sehr das „Drücken“ einerseits abgelehnt wird, so sehr ist das „Einwerfen“ synthetischer Drogen (LSD) für viele Kinder Alltag. Die Pillen sind allgegenwärtig, die Kinder schlucken sie, wie andere Aspirin. Offenbar sind sie der Meinung, eine kleine Pille sei wie ein Medikament, das weiße Pulver Heroin oder Kokain (und deren Folgen) dagegen seien wesentlich schlimmer. Sie brauchen sie aber auch, um das Erlebte zu verdrängen, den trüben Alltag zu vergessen oder um ein wenig Schlaf zu bekommen, die Kälte, den Lärm oder den Dreck nicht zu spüren. Wenngleich die Probleme am nächsten Tag nicht verschwunden sind, wollen sie sich lediglich ein paar Stunden betäuben.

Crack (Steine, Rock, Freebase, also zum Rauchen aufbereitetes Kokain) gewinnt bei den Jugendlichen auf der Strasse immer mehr an Bedeutung. Der Rausch beginnt praktisch sofort nach dem Konsum, ist aber auch beinahe so schnell wieder vorbei. Der Konsum dieser Droge fördert aggressives Verhalten. Häufig verfallen sie nach dem Rausch in eine Depressionsphase, was wiederum zum sog. „nachlegen“ (weiterer Konsum von möglichst viel Crack) führt.

Da es bei Crack im Gegensatz zum Heroin keine „Sättigungsgrenze“ gibt, sind die Konsumenten permanent auf der Suche nach der Droge. Raum und Zeit verlieren vollständig an Bedeutung.

Viele der Kinder organisieren ihren Drogenkonsum in der Gruppe. Geht jemand auf den Strich und hat einmal besonders viel Geld, kauft er für die anderen mit - jedoch nur unter der unausgesprochenen Voraussetzung, beim nächsten Mal von den an­deren versorgt zu werden.

Das Drogengeschäft ist selbstverständlich von der Illegalität des Schwarzmarktes geprägt. Die Preise richten sich nach dem lokalen Risiko. Wenn unmittelbare Gefahr droht, so hat dies umgehend Auswirkungen auf die Preise. Gleichzeitig entsteht ein Zeitdruck, der dem Käufer keine Bedenkzeit läßt. Unter solchen Umständen sagen stark abhängige auch bei überhöhten Preisen schnell Ja. So kann es durchaus vorkommen, daß Drogenabhängige Kids bis zu 150€ pro Tag für die Drogen benö­tigen. Meistens finanzieren sie sich auch durch Dealen ihren Eigenverbrauch.

Bei längerem Aufenthalt auf der Strasse verzweifeln manche Kinder an ihrer Situation und versuchen den Kummer mit Speed, Kokain oder Heroin zu betäuben.

4.3. Prostitution

Viele der Mädchen (aber auch so mancher Junge) gehen auf den Strich, um sich ihr Geld für die Drogen zu beschaffen. Wenn sie kurz vor dem „Turkey“ (Szeneausdruck für körperliche Entzugserscheinungen) sind, gehen sie durchaus weit unter den Normalpreis oder sie verzichten gar ganz auf ein Kondom, wodurch sich natürlich auch das Risiko einer Aids-Infektion oder anderer Krankheiten erhöht.

Es gibt auch die sog. „verschleierte Prostitution“. Darunter ist zu verstehen, daß Männer Mädchen von der Strasse mitnehmen und ihnen ein Zimmer oder eine kleine Wohnung finanzieren. Dafür müssen die Mädchen den Männern aber auch jederzeit sexuell zur Verfügung stehen. Sie stehen so vor der Entscheidung, entweder wieder abzuhauen und auf der Strasse zu leben oder vieles erdulden zu müssen. Teilweise werden die Mädchen sexuell mißhandelt oder sogar eingesperrt. Der Mann entpuppt sich oft als Zuhälter.

Die Jungen gehen nahezu immer in der Öffentlichkeit auf den Strich und übernachten oft bei den Freiern zu Hause oder mit ihnen in Hotels.

4.4. Kriminalität

Kinder, die von zu Hause abhauen sind quasi-kriminalisiert, denn schon der Gesetzgeber verbietet ihnen, sich für ein Leben auf der Strasse zu entscheiden. Den meisten Kindern ist dieses Abseits, in das sie sich freiwillig begeben, klar. Nachdem man sie schon bereits mit dem Stigma des Kriminellen versehen hat, bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als kriminell zu handeln.

Manche Kinder sind ständig an kleineren Geschäftchen beteiligt, bei denen es sich meist um Hehlerei handelt: Kleidung, Schuhe, Radios, Autozubehör u.v.a. Jedoch dominiert untereinander das Tauschgeschäft: Für einen Videorecorder bekommt man einige Gramm Haschisch - die Kleidung wird ohnehin häufig untereinander getauscht.

Denjenigen, die ihr Überleben mit Diebstählen sichern, droht stärker als allen an­deren, die Gefahr, aufgegriffen zu werden. Dessen sind sie sich auch bewußt. Des­halb wird diese Geldquelle auch von nicht all zu vielen genutzt.

5. Tagesablauf, Übernachtungs- und Wohnmöglichkeiten

Der Tagesablauf der Strassenkinder ähnelt sich, egal ob sie von Bettelei, Prostitution, Diebstählen oder von der Dealerei leben. Vom frühen Nachmittag bis in den späten Abend halten sie sich in ihrer jeweiligen Szene auf und gehen mehr oder minder ihrer Erwerbstätigkeit nach.

Das Spektrum der Übernachtungsmöglichkeiten ist breit. Es reicht vom Liegeplatz unter freiem Himmel, in Parks, unter Brücken oder in Hauseingängen, Über Bauwagen, leerstehenden Häusern und Wohnungen.

In Berlin gibt es sog. „Wohnnester“, in ihnen werden Frauen und Mädchen untergebracht und verpflichtet, als Prostituierte zu arbeiten. Viele werden dafür nicht einmal bezahlt, stattdessen erhalten sie Unterkunft, Essen und Kleidung und werden so gezielt in Abhängigkeit gehalten. Diese Unterkünfte werden zunehmend dafür genutzt, mit den Mädchen kinderpornografische Videos zu drehen.

Viele wohnen auch in besetzten Häusern (am häufigsten sind dort 13 und 14jährige anzutreffen). Das sind verfallene, leerstehende Häuser und Ruinen. Sie bieten eine gute Möglichkeit zum Untertauchen - jedoch müssen sie auch ständig damit rechnen, nach einer Räumung am nächsten Tag auf der Strasse zu stehen.

Viele der Häuser gleichen geradezu Festungen und sind ein sichtbarer Ausdruck der radikalen Aussperrung der staatlichen und polizeilichen Organe. Die Erdgeschosse der Häuser sind mit Stahl, Metall und Eisengittern gesichert. Holztüren werden durch Eisentüren ersetzt oder zumindest von innen verstärkt. Wer dort hinein will, aber selbst nicht dort wohnt, muß klingeln, worauf im 1. Stock jemand aus einem Fenster hinuntersieht. Wer „autorisiert“ ist, bekommt einen Schlüssel hinuntergeworfen, wel­chen er oben wieder abgeben muß. Diese Festungen geben den Kindern ein gewisses Gefühl der Stärke und Unverletzbarkeit.

In den besetzten Häusern kämpft jeder für sich alleine. In wenigen Häusern herrscht noch ein Gemeinschaftsgefühl. Jeder bewahrt seine Lebensmittel im eigenen Zimmer auf - gemeinsames Kochen steht selten auf dem Tagesplan.

In manchen Städten gibt es auch sog. „Wagenburgen“. Hier leben oft mehrere hundert Personen auf abgegrenzten Gebieten in Anhängern und Bauwägen ohne fließend Wasser und Strom.

Findet sich einmal keine Übernachtungsmöglichkeit, so wird eben auf Schlaf ver­zichtet. Es gibt auch sog. „Notschlafstellen“, in denen sie anonym übernachten können – jedoch sind diese selten.

Viele der Kinder gestehen im Winter bei der Polizei auch häufig kleinere Vergehen, sodaß sie die Möglichkeit bekommen, sich im Gefängnis aufzuwärmen, etwas zu essen und zu schlafen. Seit der Öffnung der EU-internen Grenzen reisen manche im Winter auch nach Spanien oder Portugal. Die in Deutschland verbleibenden Kinder verkriechen sich im Winter schon am frühen Nachmittag in ihren Verstecken.

Für viele ist der Hauptbahnhof zum Lebensmittelpunkt geworden – sowohl als Treffpunkt als auch als Arbeitsplatz. Hier vereinen sich alle Szenen (Prostitution, Dealerei, Hehlerei, Bettelei), außerdem ist eine grobe Versorgung mit Lebensmitteln gegeben. Der Bahnhof hält viele Verstecke und Fluchtmöglichkeiten für sie bereit. Alles was man zum Leben, mit oder ohne Drogen braucht, ist hier vereint.

Der Hauptbahnhof vermittelt die Illusion der Dazugehörigkeit. Es können leicht Kontakte geknüpft werden - es droht keine Ausgrenzung, alle haben ihren Platz - hier finden sie Ablenkung und manchmal auch die nötige Zerstreuung.

6. Schule und Zukunft

Die ohnehin recht hohe Zahl der quasi-Analphabeten bei den Strassenkindern ist tendenziell steigend. Obwohl zwar manche die Schule hin und wieder noch besuchen, haben die Meisten ihre Schullaufbahn bereits seit Langem beendet..

Nur die Hilfseinrichtungen sind ständig bemüht, ihren Klienten die Möglichkeit einer Ausbildung oder eines Schulabschlusses zu bieten. Es hängt ganz von den Kindern ab, ob sie dieses Angebot nutzen.

Durch das Strassenleben wurde bei vielen Kindern der Rhythmus von Tag und Nacht völlig verändert. Gerade diese Veränderung des Schlaf-Wach-Rhythmus bereitet den Kindern Schwierigkeiten, sich wieder an den Schulbesuch oder an eine geregelte Arbeit zu gewöhnen.

Eine geeignete Abwechslung für die Strassenkinder in Berlin bietet die Zeitung „Zeitdruck“. Diese wird von Obdachlosen und Strassenkindern gestaltet.

Die Strassenkinder haben ein starkes Bedürfnis nach „Normalität“, sie wollen weg von der Strasse, aber nicht dorthin, wo sie herkommen.

Viele haben keinerlei Vorstellung davon, was später aus ihnen werden könnte. Ihr gegenwärtiges Leben ist geprägt von Zukunftslosigkeit und Utopielosigkeit. Es gibt keinen Moment des Aufbruchs. Stattdessen hält man sich am Altbekannten fest. Es ist für sie schon eine Leistung, wieder in bürgerliche Normen zu passen, geschweige denn, eine soziale Utopie anzustreben.

Auf der einen Seite lehnen sie die Abhängigkeit von Erwachsenen ab - auf der anderen sehen sie es als selbstverständlich an, alles geschenkt zu bekommen.

Sie sehen sich mit von der Gesellschaft mit Vorurteilen behaftet. Sie hätten sich von allen gesellschaftlichen Grundwerten zu weit entfernt, wären alle potentielle Anarchisten, von Haus aus Kriminell und ihnen könne ohnehin nicht mehr geholfen werden.

7. Hilfsprojekte

In Deutschland gibt es zahlreiche Hilfsprojekte für Strassenkinder. Ich werde hier einige aufzeigen.

Das bekannteste Hilfsprojekt ist derzeit OFF-ROAD-KIDS e. V. Es ist das einzige überregionale Hilfsprojekt in Deutschland und mit den lokalen Hilfsprojekten in Deutschland vernetzt. Ziel ist es, Einzelfällen zu helfen, den Schul- und Ausbildungswiedereinstieg zu erreichen und sie ins private Leben und in die Gesellschaft wieder zu integrieren.

In Köln besteht das Projekt „Auf Achse“ Treberhilfe e. V. Diese bietet den Kindern Übernachtungsmöglichkeiten an. Streetworker fahren mit dem Bus durch die Stadt und bieten den Kindern für ein paar Stunden eine zwanglose Kontaktaufnahme an. Die Streetworker verteilen an die Kinder Saft, Verbandsmaterial und Kondome.

Das Nürnberger Projekt „Der Schlupfwinkel e. V.“ hat in der Nähe des Bahnhofs eine Wohnung angemietet, wo es den Kindern ermöglicht wird, zu schlafen, sich zu waschen und etwas zu Essen zu bekommen. Jedes Kind kann diese Möglichkeit allerdings nur 6mal pro Monat nutzen.

Natürlich ist dies nur ein Ausschnitt der Hilfsprojekte, denn sie alle hier aufzuzählen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.

C. Situation der Strassenkinder in Lateinamerika

In den nördlichen Ländern gehören Strassenkinder zu einer Erscheinung der Neuzeit, in Lateinamerika gehören sie seit Jahrhunderten zum alltäglichen Bild. Jedes zweite Strassenkind lebt heute in Lateinamerika auf der Strasse.

Lateinamerika verfügt über die ältesten Erfahrungen in der institutionellen und offenen Arbeit mit Strassenkindern.

Dieses zunehmende Problem wird begleitet von der Beobachtung der Auseinander­entwicklung zwischen Kind und Gesellschaft, die immer häufiger „die Säuberung“ der Strassen fordert und dies nicht selten mit erschreckender Brutalität durchsetzt.

Die von Margaret Mead beobachtete Entwicklung der Enkulturation, in der eine Gesellschaft versucht, die Kinder in ihre kulturellen Wert- und Orientierungsmaßstäbe einzuführen und zu erziehen, scheint rückläufig zu sein.

Die Kinder entwickeln sehr rasch ihre eigene Kultur, erstellen ihre eigenen Regeln und Normen, schließen Erwachsene aus und bekämpfen sie.

1. Definition

Da es keine klare Abgrenzung zwischen ihnen und arbeitenden Kindern gibt, ist es sehr schwierig, eine genaue Definition der Strassenkinder zu finden. Viele arbeiten auf der Strasse um Geld zu verdienen, gehen aber danach wieder zu ihren Familien.

UNICEF (Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen) gibt diesen Kindern den Namen „niños en la calle“ (Kinder auf der Strasse), den „echten“ Strassenkindern dagegen den Namen „niños de la calle“ (Kinder von der Strasse).

Die Übergänge sind fließend, viele Strassenkinder waren zuvor arbeitende Kinder.

2. Zahlen und Fakten

Wie bereits erwähnt, lebt jedes 2. Strassenkind derzeit in Lateinamerika. Allein in Brasilien stieg ihre Zahl von 1,8 Millionen über 3 Millionen (1982) auf heute 7 Millionen. Terre de hommes schätzt ihre Zahl weltweit auf 100 Millionen. Schätzungen zufolge sind von 130 Millionen Minderjährigen 36 Millionen bedürftig, wovon 7 Millionen als verlassen gelten. Von letzteren sind 421 000 in Fürsorgeanstalten untergebracht. Deshalb geht man davon aus, daß sich die Zahl der Strassenkinder in Lateinamerika auf mehrere Millionen beläuft.

Genaue Zahlen von Strassenkindern sind durch die unklare Abgrenzung von arbeitenden und Strassenkindern nicht bekannt, man weiß nur, daß mittlerweile die zweite Generation auf der Strasse aufwächst.

Die Strassenkinder werden von der Gesellschaft gejagt, beschimpft, ausgegrenzt und sogar ermordet. Sog. „Todesschwadronen“ deren Motto „Tod den Strassenkindern“ ( Muerte a los gamines) lautet, üben im Auftrag von Geschäftsleute Selbstjustiz. Hierzu eine Graphik:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Diese Statistik stammt aus dem Jahre 1988. Nur ein Jahr früher betrug die Zahl der ermordeten Kinder und Jugendlichen 306. Die Opfer sind in der Regel 15-17 Jahre alt. Darunter sind 84% Jungen, 56,4% Schwarze und Mischlinge. Die Zahl der ermordeten weißen Kinder und Jugendlichen beträgt 24,3%. Darüber hinaus gibt es Fälle, in denen die Hautfarbe der Kinder oder Jugendlichen nicht identifizierbar war.

Die Armut in Lateinamerika steigt stetig an. 1989 mussten 20% der Familien mit einem halben Minimallohn pro Kopf überleben. Um dies überhaupt zu erreichen, mussten auch die Frauen arbeiten gehen. 1989 befanden sich mehr als die Hälfte (50,5%) der Kinder in Familien mit einem Einkommen von weniger als einem halben Minimallohn. 63,1% dieser Kinder wuchsen ohne Vater auf.

Auch die Gewalt gegen Kinder innerhalb der Familie steigt stetig. 1988 waren mehr als 1 Million Personen Opfer von Gewalt, davon waren 20% Kinder und Jugendliche (61% Jungen, 39% Mädchen zwischen 0-17 Jahren). In 18% der Fälle waren Familienmitglieder die Täter, bei 52% kamen die Täter aus dem Bekanntenkreis. Am häufigsten waren die Täter die Partner der Mütter. Die Taten wurden meist durch Alkoholismus, Neurosen, Streitigkeiten, unglücklicher Kindheit, Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichem Druck ausgelöst.

Das Eintrittsalter in ein kindliches Leben auf der Strasse rückt immer weiter vor. Zur Zeit liegt es bei 3-12 Jahren.

Das Strassenkind ist ein Stadtkind. Es ist häufiger in industrialisierenden Schwellenländern und metropolitanen Ballungsräumen anzutreffen, als in ländlich strukturierten Gebieten.

Die Strasse ist das einzige Sozialisationsmillieu der Kinder. Sie durchlaufen nicht die „normalen“ Stationen wie Kindergarten, Schule, Freundeskreis, Clique, Berufsausbildung, Berufsleben etc. Ihre einzige Station ist die Strasse.

Strassenkinder halten sich meist in Gruppen auf. Die Gruppe dient ihm als Schutz- und Sicherheitsinstanz vor Gefahren von außen (z. B. älteren, Jugendbanden, Polizei, Todesschwadronen) und nicht selten als Familienersatz.

Das markanteste Merkmal der Strassenkinder ist ihre Solidarität. Die Gruppe ist ihr Familienersatz. Es kommt zum Auf- und Ausbau von Schutzmechanismen gegen jede Art von Verletzungen und Angriffe durch Erwachsene und andere Kinder. Auch bilden die Kinder ihren eigenen Sprachcode, mit dem sie sich mit den Kindern aus ihrer Gruppe verständigen. Es werden häufig Ein-Wort-Sätze und Negativbegriffe im positiven Kontext benutzt (z. B. Schimpfwörter für Sympathie oder ein Gefühl).

Man unterteilt die Strassenkinder in prä- und postpubertäre Gruppen auf, wobei dazwischen noch die Gruppe der 12-14jährigen eingeschoben wird. Jede dieser Gruppen weist unterschiedliche Verhaltensweisen, Erfahrungen, Bedürfnisse und Interessen auf.

7-13jährige: Sie werden als präpubertätere chines (Pimpfe) bezeichnet und sind fast ausschließlich männlich. Sie toben sich in Gruppen bis zu 15 Personen aus, leben, betteln, schnüffeln und schlafen zusammen.

Der Kontakt zum anderen Geschlecht spielt kaum eine Rolle. Sie begehen Diebstähle unter der Anleitung eines älteren Strassenkindes oder Diebes.

Heranwachsende (14.-16. Lebensjahr): Sie sind besonders geprägt von Unstetigkeit und Labilität. Sie haben oft schon mehrere Hilfsprojekte besucht und werden deshalb auch häufig „tingelnde Projektkinder“ genannt.

Sie interessiert vor allem die Sexualität. Außerdem kleiden sie sich sehr modebewußt („Strassenkindermode“) und sind kaum als Strassenkinder zu identifizieren. Charakteristisch für diese Gruppe ist das Zusammenleben von Mädchen und Jungen in Gruppen bis zu 30 Personen und das öffentliche Auftreten dieser Gruppen erst am späten Nachmittag.

Meist existiert ein dominierender Anführer. Sie besuchen die innerstädtischen Plätze, betteln, stehlen, konsumieren Drogen (80% der 17jährigen), gehen ins Kino oder schlafen.

Der Anteil der Mädchen in dieser Gruppe beträgt 1/3. Risiken wie Aids ignorieren sie. Sie werden von der Polizei und dem Jugendamt gejagt und in Anstalten untergebracht.

Die jungen Erwachsenen - über 17jährige, die „largos“ (die Langen): Deren Schicksal scheint entschieden. Sie haben sich mit einem Leben auf der Strasse abgefunden. 65% von ihnen geben an, mit sich selbst unzufrieden zu sein und sich für Versager zu halten. Gerade das macht sie zynisch und gefährlich.

Ihr Äußeres ist geprägt durch Narben, Schmutz und den Lumpen, die sie als Kleidung tragen. 85% von ihnen sind männlich, 62% Migranten, eben so viele besitzen keinerlei Personaldokumente.

Die Lateinamerikanische Presse bezeichnet die Strassenkinder als „menschlicher Sperrmüll“. Das Geschäft mit ihnen und das Interesse für die Strassenkinder (gamines) blüht. Aussteigerärzte aus den USA, Fernsehen, Modeforscher aus aller Welt befassen sich immer häufiger mit diesem Thema.

Der Anteil der Mädchen auf der Strasse ist sehr gering, da sie dort schlecht behandelt werden. Sie gehen meist nach einem kurzen Strassenaufenthalt wieder zurück zu ihren Familien oder landen in der Prostitution.

Die Polizei ist befugt, ohne jeden Grund, zu jeder Zeit Strassenkinder festzunehmen und in geschlossene Kinderhäuser und Kindergefängnisse einzuweisen. Die Kinder werden auch bei Polizeirazzien meist mit Gewalt von der Strasse aufgelesen und in geschlossene Einrichtungen gebracht - oft werden sie jedoch zuallererst in eine Polizeizelle gebracht, um den Stadtkern zu „säubern“.

Meist sind die Anstalten restlos überfüllt und ein Aufenthalt, der nur kurz sein sollte kann sich so über mehrere Monate hinziehen. Die Polizeizellen sind dunkel, ohne Betten, besitzen einen Betonboden und bieten keinerlei sanitäre Einrichtungen. In einer Zelle befinden sich bis zu 30 Inhaftierte. Für Versorgung mit Nahrungsmitteln oder Medikamenten müssen die Angehörigen oder Bekannten sorgen.

Nach dem Gefängnisaufenthalt werden die Strassenkinder in geschlossene Einrichtungen gebracht. Das Personal dieser Einrichtungen oder Heime besteht häufig aus nicht pädagogisch ausgebildeten Kräften, die lediglich den staatlich festgesetzten Mindestlohn erhalten. Physische und psychische Mißhandlungen der Kinder durch das Personal sind häufig.

Es herrschen Strukturen und Methoden vor, wie sie in Besserungsanstalten und Kindergefängnissen angewendet werden. Die Strassenkinder erfahren durch extrem menschenunwürdige Behandlung eine progressive Zerstörung ihrer Persönlichkeit, die eher Unterdrückung und Demütigung als einer erfolgversprechenden Erziehung gleicht.

Sie sollen in den Anstalten diagnostiziert, therapiert und resozialisiert werden. Doch der Mangel an Fachpersonal, politischem Wille und Geld ist der Grund dafür, daß dies nicht geschieht. Einige werden eingeschlossen, und mißbraucht. Unterdrückung und Drill sind an der Tagesordnung.

Die Strassenkinder leben unter extrem unhygienischen Bedingungen. Die unzureichende, wertlose Nahrung und das ständige Einatmen von Autoabgasen gefährden ihre Gesundheit.

Nach medizinischen Untersuchungen von Strassenkindern in Bogotá (1995/96) haben 100% der mehrjährig auf der Strasse lebenden Kinder und Jugendlichen Haut­krankheiten (durch unzureichende Hygiene), gefolgt von Atemwegserkrankungen (durch Drogen, Obdachlosigkeit), Geschlechtskrankheiten (durch nicht-Gebrauch von Verhütungsmitteln) und Gastritis (durch unregelmäßige Ernährung, Streß). 37% der Drogenkonsumierenden weisen Gehirnschäden auf.

Des Weiteren besteht so gut wie keine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Psy­chologen, Sozialarbeitern und Erziehern. Es besteht kein integrales Konzept zur Resozialisierung von Strassenkindern.

Die Kinder tragen verdreckte, zu große oder zu kleine Kleidung. Ihre Haut ist meist ledrig, aufgerissen und zerschunden. Ihre Wunden verheilen nur schwer, die Nasen laufen ständig und sie sind in ihrem Allgemeinzustand angegriffen. Sie sind gesundheitlich, sozial und psychisch unterversorgt.

Die Strassensozialarbeiter sind meist junge Ehrenamtliche ohne Fachausbildung, oft von einigen Fachkräften (die ebenfalls ehrenamtlich arbeiten) unterstützt. Ein Groß­teil ist selbst sehr arm, viele waren selbst Strassen- oder arbeitende Kinder.

[...]

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2001
ISBN (PDF)
9783956848377
ISBN (Paperback)
9783956843372
Dateigröße
7.3 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule München
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,5
Schlagworte
Vermisste Kinder Streetwork Heimkinder Jugendhilfe Drogensucht Schnüffeldroge Obdachlos

Autor

Martina Köppl wurde 1981 in Berchtesgaden geboren. Ihr Studium der Sozialen Arbeit mit dem Schwerpunkt Sozialpsychiatrie schloss sie 2004 mit Diplom erfolgreich ab. Während des Studiums sammelte sie praktische Erfahrung in verschiedenen sozialen Bereichen, vor allem in der Betreuung von Menschen mit psychischer Erkrankung. Seit vielen Jahren ist sie für einen großen Bildungsträger tätig, begleitet, betreut und coacht Erwachsene und Jugendliche. Seit der Schulzeit interessiert sie das Thema der Strassenkinder und motivierte sie zur Erstellung der vorliegenden Arbeit.
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