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Einstieg in den Konsum illegaler Drogen im biografischen Kontext

©2011 Bachelorarbeit 58 Seiten

Zusammenfassung

Der Konsum besonders von illegalen Drogen kann weitreichende Konsequenzen in vielen Lebensbereichen haben. Um die Konsumprävalenzen weiter reduzieren zu können ist es nötig, Faktoren zu kennen, die den Einstieg in den Konsum begünstigen.
Die vorliegende Arbeit befasst sich daher mit Entwicklungsaufgaben, kritischen Lebensereignissen, Peergruppen, personalen Faktoren und Gatewaytheorien am Beispiel Prä-Konsum und Konsum in der Familie und untersucht die jeweiligen Themen im biografischen Kontext. Hierfür wurden narrative Interviews durchgeführt und die Ergebnisse in einem Modell grafisch dargestellt.
Diese Ergebnisse geben für suchtpräventive Maßnahmen wichtige Anhaltspunkte, können aber auch in Therapie und Rückfallprophylaxe hilfreich sein.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


3 Erklärungsmodelle für die Entwicklung substanzbezogener Störungen

Für die Erklärung der Sucht- oder Abhängigkeitsentwicklung existieren viele Theorien, die teilweise aufeinander aufbauen, sich ergänzen oder auch komplett konträr oder parallel gesehen werden können. Um einen umfassenden, aber dennoch überschaubaren Überblick zu erhalten, ist die Einbeziehung von Faktoren unterschiedlicher Bereiche aus dem Lebensumfeld sinnvoll. Da die einzelnen Faktoren sehr vielzählig und weitgreifend sind, werden die wichtigsten in Oberbegriffe zusammengefasst und dargestellt. Bedeutende Ansatzpunkte sind Entwicklungsaufgaben, kritische Lebensereignisse und Persönlichkeitsmerkmale. Sie haben einen direkten Bezug auf den Lebenslauf und die personale und körperliche Entwicklung. Weitere wichtige Ansätze sind die Peergruppen[1] und Gatewaytheorien. Die Gatewaytheorien besagen, dass bestimmte Gegebenheiten im Umfeld wie Familie, Schule oder Freunde den Einstieg in den Konsum begünstigen. Die genannten Faktoren umfassen den Lebensraum eines Menschen und entwickeln sich aus und durch diesen, stehen also in einer engen Wechselbeziehung miteinander. Viele Erklärungsansätze oder –modelle beschreiben aber auch eine Form der Resistenz, welche die Angriffsfläche der einzelnen Faktoren minimiert oder gar beseitigt. Universell gesehen sind dies beispielsweise personale Ressourcen wie ein hohes Selbstwertgefühl und eine effektive Bewältigungskompetenz (Filipp, 2002), aber auch soziale Ressourcen, wie Unterstützung durch Freunde und Familie.

Hauptsächlich soll die Entscheidung zum Konsum überhaupt geklärt werden, darüber hinaus in Ansätzen die Entwicklung einer Abhängigkeitserkrankung durch psychotrope Substanzen. Daher ist auch der Schritt vom Erst- oder Probierkonsum im Jugend- oder jungen Erwachsenenalter zu einem regelmäßigen Konsum, bzw. Missbrauch und Abhängigkeit zu bearbeiten.

3.1 Entwicklungsaufgaben

Nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch Erwachsene in allen Altersstufen haben normative Entwicklungsaufgaben zu erfüllen (Faltermaier, Mayring, Saup & Strehmel, 2002). Es werden nach Lohaus und Klein-Heßling (2006) fünf Entwicklungsstufen unterschieden - vom Kleinkind im Vorschulalter über Schuleintritt und –wechsel, Pubertät und Jugendalter sowie das Erwachsenenalter bis hin zum Renteneintritt im höheren Alter. Da im Kleinkindalter wichtige motorische, soziale und kognitive Grundsteine gelegt, diese in der Schulzeit weiter ausgebaut werden und die Pubertät eine wichtige Orientierungsphase hinsichtlich der Identitätsentwicklung und Distanzierung von den Eltern darstellt (Silbereisen, 2001; Erikson, 1999 & Harvighurst, 1976 in Rothgang, 2009), sollen diese drei Phasen genauer betrachtet werden. Auch wenn im höheren Alter der Alkohol- und Medikamentenkonsum zunimmt und Suizide ab 65 Jahren deutlich häufiger vorkommen als in jüngeren Jahren (Lohaus & Klein-Heßling, 2009), hat dies keinen bedeutenden Einfluss mehr auf das Verhalten illegalen Substanzen gegenüber.

3.1.1 Kleinkindalter

In diesem Alter ist die Prägung durch die Eltern sehr intensiv und grundlegend. Eltern müssen erkennen, was ihr Kind benötigt ohne verbal kommunizieren zu können und demzufolge adäquat handeln. Die Kinder benötigen dieses Verstandenwerden für eine solide Bindung zu den Eltern und für ihre weiteren Entwicklungsschritte. Damit ist hier schon das Fundament für die spätere Bewältigung der Entwicklungsaufgaben gelegt.

Im Kindergarten oder in der Kinderkrippe wird besonders das Sozialverhalten unter Gleichaltrigen erlernt und durch richtiges Lenken und Üben auch das protektive Gesundheitsverhalten. Allerdings wird durch die Festigung unangemessenen Verhaltens die „soziale Integration […] gefährdet und das Risiko für gesundheitsriskantes Verhalten (z. B. in Bezug auf den Missbrauch legaler und illegaler Drogen im Jugendalter […]) steigt“ (Lohaus und Klein-Heßling, 2009, S. 165).

Ein gutes Zusammenwirken von Eltern, Familie und Kindergarten/-krippe ist demnach die Basis, auf der eine gute und gesunde Erziehung im Sozialen, Kognitiven und Sprachlichen aufgebaut wird und im weiteren Sinne der Konsum abhängigkeitsgefährdender Substanzen verhindert oder zumindest hinausgezögert werden kann.

3.1.2 Primarstufe und Schulwechsel

Diese Altersstufe sowie die gesamte Adoleszenz sind entscheidend für die Bildung von Selbstwertgefühl, -wirksamkeit, -konzept und Bedrohungserleben (Lohaus & Klein-Heßling, 2009). Auch die Verhaltensregulation spielt eine große Rolle, besonders in Bezug auf ungerechtes Verhalten Anderer und die Beurteilung durch Lehrer oder andere Schüler.

Der Wechsel auf eine weiterführende Schule kann als Herausforderung oder auch als Bedrohung erlebt werden. Die Angst vor Überforderung oder sogar Scheitern kann eine erhebliche Belastung darstellen, die eine Unterstützung durch Familie und Lehrer bedingt. Bleibt eben diese Unterstützung aus, bleibt von den oben genannten gesundheitlichen Entwicklungszielen das Bedrohungserleben übrig und wird sogar verstärkt, da keine adäquate Lösung erfolgt. Eine ausgewogene Mischung aus Anforderung und Unterstützung, wie in der autoritativen Erziehung, stärkt durch teilweise hart erkämpfte Erfolge sowohl die Leistungsbereitschaft als auch die Leistungskompetenz.

Die Theorie des Modelllernens ist hauptsächlich in der frühen Kindes- und Schulzeit einzuordnen. Sie besagt, dass Menschen das Verhalten anderer Menschen beobachten und, sofern das Verhalten für sie verständlich und beispielhaft ist, übernehmen. Somit kommt dem Verhalten der Eltern oder anderer Vorbilder im Beisein der Kinder eine große Bedeutung zu, da es Auswirkungen für ihr lebenslanges Gesundheitsverhalten hat (Knäuper, 2002).

3.1.3 Pubertät und Jugendalter

Jugendliche lösen sich nach und nach vom Elternhaus, erproben sich in den verschiedensten Bereichen wie Schule, Ausbildung, Sport oder Finanzen. Aber auch der soziale Bereich wird getestet: Ihren Eltern gegenüber werden sie aufsässig und in Gleichaltrigengruppen bilden sich Hierarchien. So entwickeln junge Menschen ihre eigenen Normen und Werte, teils aus eigener Überzeugung, teils noch geprägt durch die Eltern, bzw. deren Erziehungs- und Lebensstil und teils durch die Einstellung der Freunde. Neue Freiheiten bedürfen einer höheren Selbstverantwortung. Einige Jugendliche sind dieser Herausforderung nicht gewachsen sind. Es entwickeln sich ein über der Norm liegendes riskantes Verhalten, die Stabilisierung gesundheitsschädlichen Verhaltens und soziale Auffälligkeiten, während der Einfluss der Eltern, Schule und anderer erzieherisch bedeutsamer Personen wie Großeltern oder Paten sinkt.

Nach Petermann (2002) ist das Jugendalter die Entwicklungsstufe, in der Drogenmissbrauch erstmals eine Rolle spielt; dieser verliert jedoch in der späteren Adoleszenz seinen Reiz (Friedrichs, 2002). Auch ist eine erhöhte Vulnerabilität[2] durch vielfältige Übergänge wie die Ablösung vom Elternhaus, körperliche und psychische Veränderungen oder wechselnde soziale Bindungen vorhanden (Seiffge-Krenke, 1994), welche nicht immer durch Schutzfaktoren aufgefangen werden können. Typische Resilienzfaktoren[3] für das Jugendalter sind nach der Kauai-Studie die „Entwicklung eines positiven Selbstkonzeptes und internaler Kontrollüberzeugungen“ (Niebank & Petermann, 2002 S. 84). Auch das allgemeine individuelle Gesundheitsverhalten entwickelt sich im Jugendalter, was durch das fehlende Verständnis für Langzeitfolgen riskanter Verhaltensweisen problematisch, jedoch durch die noch relativ flexible Einstellung veränderbar ist (Mittag, 2002). In jedem Fall muss unterschieden werden, ob die jeweilige Störung auf das Jugendalter begrenzt ist oder ob sie sich zu einem lebenslangen Problemverhalten entwickelt (Silbereisen & Reese, 2001). Im Jugendalter wird dem Probierkonsum eine Funktion in der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben zugeschrieben und häufig als normal angesehen (Silbereisen, 1997; Roth & Petermann, 2006).

Eine weitere kritische Gruppe Jugendlicher sind die Früh- und Spätentwickler. Erstere zeigen in der Kindheit ein eher unauffälliges Verhalten, verhalten sich aber in der Jugend problematisch und legen dieses Verhalten mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter nicht ab (Weichold, Bühler & Silbereisen, 2008 in Weichold & Silbereisen, 2009). So können z. B. durch sowohl körperliche als auch psychische Frühreife riskante Verhaltensweisen verstärkt werden, was durchaus auch einen Einfluss auf den Konsum illegaler Substanzen haben kann (Farke, Graß & Hurrelmann, 2002).

Man also kann davon ausgehen, dass fehlerhaft oder nicht erfolgte Entwicklungsschritte durch eine spätere inadäquate Problembewältigung ungünstige Auswirkungen, auch im Sinne des Konsums illegaler Drogen, zur Folge haben können. Daher ist der Faktor Entwicklungsaufgaben von großer Bedeutung für die Ätiologie des Drogenkonsums.

3.2 Kritische Lebensereignisse

Lebensereignisse werden als kritisch definiert, wenn „sie Folgen für viele Lebensbereiche und Aspekte der Alltagsgestaltung, d. h. einen hohen Wirkungsgrad besitzen“ (Filipp, 2002, S. 345). Im Allgemeinen werden jedoch nicht nur als negativ empfundene Interruptionen des Alltags als kritische Lebensereignisse gesehen, sondern auch eine positive wie Hochzeit, Schwangerschaft oder die Geburt eines Kindes gehören dazu. Bedeutsam ist lediglich das Ausmaß der Alltagsveränderung.

Des Weiteren sind Faktoren wie Unkontrollierbarkeit und Assoziation mit negativen Gefühlen ausschlaggebend. Unkontrollierbarkeit bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Ereignisse meist nicht vorhersehbar sind und selbst wenn es auf Grund des Lebenslaufes mit einer hohen Wahrscheinlichkeit irgendwann geschehen wird, wie Tod eines Elternteils, Heirat oder der Eintritt in das Berufsleben, so ist in vielen Fällen der genaue Zeitpunkt nicht vorhersehbar und bestimmbar. Besonders für Menschen mit genauer Planung und/oder Ordnung in ihrem Leben kann dies ein sehr bedeutender Faktor für die Gewichtung eines Ereignisses sein, da ihr Ziel verschoben oder sogar blockiert wird. Mit negativen Emotionen behaftete Ereignisse werden stets als schwerwiegender betrachtet, wie in der Rangliste von Holmes und Rahe (1967) deutlich zu sehen ist, da die Heirat mit 50 Punkten genau die Mitte der Skala markiert und die 6 höher bewerteten Ereignisse sämtlich negativ zu bewerten sind.

3.2.1 Beispiel für eine Messung: Social Readjustment Rating Scale

Die Social Readjustment Rating Scale (SRRS) von Holmes und Rahe (1967) dient als Beispiel, wie kritische Lebensereignisse als Faktoren in ihrer Intensität geschätzt werden können. Sie umfasst 43 sowohl positive als auch negative Ereignisse, welche durch Umfragen ihrer Häufigkeit und empfundenen Schwere nach mit sogenannten Live Change Units bewertet und in eine Rangliste sortiert wurden. Die in einem Jahr gesammelten Live Change Units geben den Grad der Belastung durch die kritischen Lebensereignisse wieder, wobei eine Punktzahl von über 300 innerhalb eines Jahres einen Risikoanstieg bedeuten soll. Besondere Kritik erfuhr dieses Verfahren unter anderem durch die fehlende Einbeziehung von nicht stattgefundenen kritischen Lebensereignissen (z. B. unerfüllter Kinderwunsch) und die nachgewiesene sehr geringe (0.2 – 0.3) Korrelation zwischen angenommenem und tatsächlichem Erkrankungsrisiko durch kritische Lebensereignisse (Hiller & Marwitz, 2006).

Da sich diese Kritik jedoch nicht direkt auf die Entwicklung einer Abhängigkeitserkrankung bezieht, soll der Faktor kritische Lebensereignisse weiterhin berücksichtigt werden und nimmt auf Grund der Häufigkeit sowohl bei der einzelnen Person als auch in der Gesamtbevölkerung einen hohen Stellenwert ein.

3.3 Peergruppen

Der Einfluss von Peergruppen im Jugendalter ist unumstritten. Sie tragen einen nicht unerheblichen Teil zu der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben bei, sei es als sozialer Rückhalt, durch die Auseinandersetzung mit anderen Meinungen und dadurch das Vertreten der eigenen Meinung oder auch das Mitziehen bei gesundheitsriskanten oder illegalen Aktivitäten. Die nach Roth (2002) angefertigte Grafik (Abb. 3) zeigt, dass konsumierende Jugendliche sehr viel häufiger in Peergruppen mit mehr als der Hälfte Konsumierender zu finden sind. Dies könnte einerseits darauf hinweisen, dass Jugendliche durch den Konsum innerhalb ihrer Peergruppe angeregt werden, selbst zu konsumieren, aber anders herum auch, dass sie sich gezielt Gruppen suchen, die das gewünschte Verhalten zeigen.

Abb. 3: Substanzprävalenz in Bezug auf den Konsumanteil in der Peergruppe (nach Roth, 2002)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Weitere Funktionen von Peergruppen sind Gruppendynamik und Testverhalten, wie zum Beispiel Mutproben. Oft werden solche Mutproben in unterschiedlichster Art und Weise gefordert, um einer Gruppe überhaupt beitreten oder innerhalb der Rangliste aufsteigen zu können (Raithel, 2004) – sie können z. B. das Fahren mit überhöhter Geschwindigkeit, das Springen aus großer Höhe oder auch der Konsum illegaler Substanzen, teilweise auch in gefährlich hoher Dosierung sein. Durch die Gruppendynamik kann ein Konsumzwang entstehen – offen gefordert oder auch in schleichender, kaum wahrnehmbarer Form, ebenso wie die Beschaffung von Drogen oder finanziellen Mitteln.

3.4 Personale Faktoren

Persönlichkeitsmerkmale können sich in verschiedenster Art auf den Einstieg in den Konsum, das Konsumverhalten und auf die Beendigung des Konsums von illegalen Substanzen auswirken. Zu unterscheiden sind den Konsum begünstigende und resiliente, also dem Konsum vorbeugende, bzw. ihn aufhaltende Faktoren. Ein sehr weit verbreiteter und wirksamer Test zur Analyse der Persönlichkeitsmerkmale ist der erstmals 1984 vorgestellte Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI-R) von Fahrenberg. Er wurde basierend auf aktuellen Erkenntnissen erstellt und laufend überarbeitet, sodass die Auswertungsergebnisse sehr detailliert und präzise sind. Es werden anhand 114 Items die folgenden 12 Merkmale erfasst: Lebenszufriedenheit, Soziale Orientierung, Leistungsorientierung, Gehemmtheit, Erregbarkeit, Aggressivität, Beanspruchung, Körperliche Beschwerden, Gesundheitssorgen und Offenheit sowie Extraversion und Emotionalität. Welche der Merkmale allerdings schon vor Beginn des Konsums bestanden, lässt sich schwer differenzieren (Fahrenberg, Hampel & Selg, 2001).

Zu den begünstigenden Merkmalen zählen z. B. geringe Selbstkontrolle, geringes Selbstwertgefühl oder auch jede Form negativer Einstellung sich selbst und Anderen gegenüber ebenso wie geringe Stressresistenz und mangelnde Copingstrategien. Ein gehäuftes Auftreten von Stimmungslabilität, Ängstlichkeit, Sensitivität und Verschlossenheit fanden Kielholz et al. (1972, in Täschner 2005) in drogenproblematischen Familien. Emminger und Kia (2009) sehen keine typische Sucht- oder Konsumpersönlichkeit, was z. B. anhand der sehr unterschiedlichen Wirkungen der verschiedenen Substanzen zu erklären ist. Ebenso lässt sich weder sagen, dass allein das Fehlen protektiver Merkmale den Konsum begünstigt, noch dass begünstigende Faktoren stets eher unerwünschte Merkmale seien. Protektive Merkmale können Eigenschaften wie innere Kontrollüberzeugung, emotionale Kontrolle und Stabilität sowie eine gesunde Selbstwirksamkeitserwartung sein.

Eine hohe Einigkeit herrscht in Bezug auf das sogenannte Sensation-Seeking. Zuckermans 1994 überarbeitete Definition als „a trait defined by the seeking of varied, novel, complex, and intense sensations and experiences, and the willingness to take physical, social, legal and financial risks for the sake of such experience“ (Ruch & Zuckerman 2001, S. 98) ist noch heute aktuell. Geht man davon aus, dass eine hohe Testosteronkonzentration dem Sensation-Seeking zugrunde liegt, kann ein gewisser genetischer Anteil von etwa 60% als Erklärungsgrundlage vermutet werden. Personen mit einem hohen Sensation-Seeking können einerseits durch den Konsum an sich den gesuchten „Kick“ erleben und andererseits die Wirkungen der Substanzen verstärkt wahrnehmen. Dieses Zusammenspiel erklärt das hohe Gefährdungspotenzial bei Sensation-Seekers (Hammelstein & Roth, 2006).

Des Weiteren werden besonders chronische Erkrankungen sowohl psychischer oder physischer Art als begünstigende Faktoren angesehen. Bei Kindern und Jugendlichen ist eine Verbindung zwischen ADHS[4] und sowohl dem Konsum als auch einer Abhängigkeitserkrankung zu beachten. Nach Freitag und Retz (2007) weisen Jugendliche mit ADHS einen dreimal so hohen Probierkonsum auf und die Zeit zwischen Probierkonsum und einer manifesten Abhängigkeit ist ebenfalls von etwa 3 auf 1,2 Jahre verkürzt. Dazu kommt der im Vergleich mit nicht-ADHS-Erkrankten frühere Einstieg in den Konsum (Monlina & Pelham, 2003). Andere Erkrankungen wie Depressionen, Anpassungsstörungen oder auch körperliche Beeinträchtigungen können auf Grund der psychischen Belastung oder auch dauerhaften Schmerzen ebenfalls den Konsum psychoaktiver Substanzen im Sinne einer Selbstbehandlung fördern (Hüfner, Metzger & Bühringer, 2006).

Das von Jessor (2001) untersuchte abträgliche Risikoverhalten, definiert als eine das Wohlbefinden, die Gesundheit oder Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigende Verhaltensweise, wird von Silbereisen und Reese (2001 ) als ein weiterer Ansatz in den personalen Ursachen gesehen. Es kann als Überbegriff für die personalen Faktoren gesehen werden, da die Konsumenten aus verschiedenen Gründen bewusst ein Gesundheitsrisiko eingehen.

3.5 Gateway-Theorien

Gateway-Theorien können sehr weit gefächert verstanden werden, da sie sehr unterschiedliche Ansatzpunkte haben. In der Hauptsache wird angenommen, dass durch den Konsum von beispielsweise Tabak oder Alkohol der Einstieg in den Konsum illegaler Drogen erleichtert oder überhaupt erst erwogen wird (Kandel & Yamaguchi, 1993 & Höfler et al., 1999 in Hüfner, Metzger & Bühringer, 2006) und der Konsum von Cannabis als Einstiegsdroge für härtere Substanzen wie Kokain und Heroin zu sehen ist. Auch wird das Vorhandensein unterschiedlicher, meist chronischer Erkrankungen einschließlich Selbstmedikation als Auslöser für den Konsum gesehen. Das Verhalten von Familienangehörigen und Freunden, bzw. deren Konsum illegaler oder anderer Substanzen kann ebenfalls beispielgebend sein und wird unter dem Überbegriff Umwelt einbezogen.

3.5.1 Präkonsum anderer Substanzen

Der eigene Konsum von legalen Drogen ist bei den Konsumenten illegaler Substanzen laut der Drogenaffinitätsstudie der BZgA in jedem Fall bedeutend sowohl für den Probier- als auch den Dauerkonsum illegaler Substanzen (BZgA, 2008). Danach ist nicht nur der Tabakkonsum ausschlaggebend, sondern auch Alkohol- und Shishaerfahrungen (vgl. Abb. 4).

Kritik erfahren solche Studien, die eine Risikoerhöhung für den Konsum harter Drogen durch Cannabiskonsum postulieren, da nicht eindeutig nachgewiesen werden kann, ob die Neigung zum Konsum härterer Drogen durch die Einnahme von Cannabis entstanden ist oder ob eine generelle Tendenz schon vor dem Erstkonsum bestand. So wurde beispielsweise Kandels Ergebnis (1975 in Hüfner, Metzger & Bühringer, 2006) durch die Amsterdamer Studie von Cohen und Sas (1997) dahingehend bestätigt, dass zwar von den Cannabiskonsumenten jeweils ein Anteil von durchschnittlich 22,2% jemals Kokain, 4,2% Heroin und 7,7% Ecstasy konsumiert haben, jedoch im Umkehrschluss konsumierten immerhin fast 80% kein Kokain, fast 95% kein Heroin und fast 90% kein Ecstasy. Dennoch sind die Zahlen aller Substanzen deutlich höher, als bei vergleichbaren deutschen Studien – was zumindest bei Cannabis an der einfacheren Verfügbarkeit durch die Legalität von Cannabis in den Niederlanden liegen mag. Die Amerikaner Morral, McCraffey & Paddock kamen abschließend in ihrer Studie zu folgendem Ergebnis: „The study demonstrates that associations between marijuana and hard drug use could be expected even if marijuana use has no gateway effect“ (Morral, McCraffey & Paddock 2002, S. 63). Die Risikosteigerung, durch den eigenen vorausgegangenen Konsum von Cannabisprodukten härtere Substanzen wie Kokain oder Heroin zu konsumieren, ist bis etwa zum 21. Lebensjahr beschränkt (Van Gundy & Rebellon, 2010). Klein (2002) bestätigt diese Annahme, denn seiner Studie nach ist zumindest der regelmäßige Tabakkonsum bei Jugendlichen mit in problematischen Mengen alkoholkonsumierenden Eltern stark erhöht im Vergleich zum Alkoholkonsum. Es ist demnach nicht nur der eigene Konsum von Bedeutung für den späteren Verlauf, sondern auch das Verhalten der Eltern oder anderer nahestehender Personen. Kinder von Alkohol und Tabak konsumierenden Eltern haben ein größeres Risiko, mit dem

Abb. 4: Häufigkeit des Konsums illegaler Drogen in Abhängigkeit vom Konsum legaler Drogen nach BZgA 2008

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Konsum illegaler Drogen zu beginnen und diesen auch zu manifestieren.

3.5.2 Umweltbedingungen

Die Umweltbedingungen spielen insofern eine große Rolle unter den begünstigenden Faktoren, da sie sehr vielfältig und doch eng miteinander verzahnt sind, bzw. in Interaktion miteinander stehen. So gehört z. B. die Schule, die Wohngegend, die Familie und auch die Peergruppe, welche allerdings auf Grund ihrer eigenen Relevanz separat behandelt wird, dazu.

Die Familie kann für Jugendliche sowohl positiv als auch negativ konnotiert sein. Anhand diverser Studien zeigt sich, dass der problematische Konsum von Alkohol, Tabak und illegalen Drogen der Eltern zwar einen Einfluss auf das Konsumverhalten der Kinder hat, jedoch nur bis etwa zum 21. Lebensjahr. Besonders die adoleszenten Söhne werden durch das Verhalten der Väter geprägt, Faktoren wie der soziale Status oder das Bildungsniveau sind dabei kaum relevant (Clark, Kirisci & Moss, 1998). Lachner und Wittchen (1997) untersuchten den Risikofaktor für Kinder alkoholabhängiger Eltern, eine Substanzabhängigkeit zu entwickeln. Daraus ergab sich ein für Frauen 4,1- und für Männer sogar 7,8-faches Risiko bei Eltern mit Alkoholproblemen. Ebenso bedeuten innerfamiliäre Spannungen eine große seelische Belastung, bei welcher der Konsum illegaler Substanzen verschiedene Lösungswege darstellt. Dadurch kann die Aufmerksamkeit der Familienmitglieder fokussiert werden, aber auch die eigenen Sorgen und Ängste, beispielsweise bezüglich einer bevorstehenden Trennung der Eltern, im Sinne einer Selbstmedikation unterdrückt oder beseitigt werden (Silbereisen & Reese, 2001). Positiv wirkt sich jede Form des sozialen Rückhaltes durch die Familie aus. Sei es durch Gespräche, Akzeptanz der jugendlichen Entwicklung und des eigenen Ichs oder auch durch extrinsische Motivationen wie z. B. die Bezahlung des Führerscheins.

Die Schule stellt einen großen Bezugsrahmen für Kinder und Jugendliche dar, da diese dort viele Stunden des Tages verbringen. Relevant sind sowohl Schulkameraden als auch Lehrer, die auf Grund der Entwicklung und Verbreitung von Ganztagsschulen eine immer größere Verantwortung hinsichtlich der Erziehung zu tragen haben. Dies wird auch anhand der im Rahmen der ESPAD[5] durchgeführten Befragung von Schüler/innen der 9. und 10. Klassen in Thüringen deutlich. Sie ergab bei Schülern von Gesamtschulen etwa doppelt so hohe Prävalenzraten wie bei Haupt- und Realschülern und Gymnasiasten. (Abb. 5).

Ebenso ist die Konsumfrequenz von Cannabis an Gesamtschulen deutlich höher als an anderen Schulen (vgl. Abb. 5). Dieses Ergebnis wurde jedoch von der Drogenaffinitätsstudie widerlegt und die Gymnasiasten mit der geringsten Anzahl regelmäßiger Konsumenten angegeben (BZgA, 2008). Daher ist die Schulform als Risikofaktor zwar möglich, jedoch nicht gesichert.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 5: Lebenszeitfrequenz des Cannabiskonsums und Lebenszeitprävalenz des Konsums irgendeiner illegalen Droge (nach Kraus, Heppekausen, Barrera & Orth 2004)

Die Wohnungsumgebung spielt besonders in Bezug auf die Wahl der Peergruppe und die Verfügbarkeit illegaler Substanzen eine Rolle. Vergleicht man die Studien von Kraus und Bauernfeind (1998) und Kraus und Augustin (2001) mit denen von Abraham et al. (1999) und Abraham, Kaal & Cohen (2002) und somit die deutschen mit niederländischen Prävalenzen wie in Abb. 6 wird deutlich, dass die Verfügbarkeit entgegen vielerlei Behauptungen einen recht geringen Einfluss hat.

Abb. 6: Vergleich der Cannabisprävalenz BDR/NL (nach Kraus und Bauernfeind (1998), Kraus und Augustin (2001), Abraham et al. (1999) und Abraham, Kaal & Cohen (2002))

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Weitere Faktoren sind länderspezifisch sehr verschieden und hängen u. A. von der Gesetzgebung, der Vielfältigkeit der Einfuhrmöglichkeiten und der Erziehung, bzw. Präventionsmaßnahmen ab. Professionell geleitete oder betreute Jugendtreffs haben eher einen positiven Einfluss, da die Jugendlichen dort einerseits durch Beschäftigungen und andererseits durch ein kontrolliertes und dadurch relativ stabiles soziales Umfeld gefördert werden. Ebenso möchte man meinen, dass Sportvereine auf Grund der sportlichen Betätigung und sozialen Bindung z. B. innerhalb einer Mannschaft einen positiven Effekt auf die Ablehnung illegaler Substanzen haben. Allerdings stellt Schmidt (2001) fest, dass in der Schweiz diejenigen Jugendlichen (80-90%), die im Alter von etwa 16 Jahren aktiv Sport trieben, etwa 3 Jahre später einen vergleichsweise deutlich höheren Anteil an Alkohol-, Tabak- und Drogenkonsumenten aufwiesen als die Gruppe der Nichtsporttreibenden. Sport, besonders in gesellschaftlicher Form wie Fuß- oder Handball, kann daher als protektiver Faktor nicht bestätigt werden.

Wie der Konsum selbst sind auch die jeweiligen Faktoren sehr individuell und unterschiedlich gewichtet. So mag ein Konsument zwar positiv zu wertende Persönlichkeitsmerkmale aufweisen, aber ein sehr riskantes Umfeld haben. Jeder Faktor muss also individuell in Bezug auf weitere Faktoren betrachtet werden.

3.6 Zusammenfassung und Fragestellung

Aus den Kapiteln 1-3 ergeben sich weitgreifende Theorien und vielfältige Konsummuster. Begünstigende Faktoren für den Einstieg in den Konsum illegaler Drogen sind in allen Lebensbereichen und Altersgruppen zu finden, ebenso in allen sozialen und gesellschaftlichen Schichten. Den verschiedenen erkennbaren Mustern in der Konsumart, -menge und Substanz, können überwiegend bestimmte Altersgruppen zugeordnet werden, z. B. ist der Cannabiskonsum typisch für die Jugend und das frühe Erwachsenenalter (Silbereisen, 1997; Silbereisen & Reese, 2001; Roth &Petermann, 2006). Ebenso ist ein Zusammenhang zwischen der Person, ihrer Umwelt und der jeweiligen Substanz festzustellen (Hüfner, Metzger & Bühringer, 2006). Für den Konsumenten sind besonders Persönlichkeitsmerkmale, Copingstrategien und die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben von großer Bedeutung. Peergruppen, das familiäre Umfeld sowie Schule, Freizeit- und Sportaktivitäten bilden die Umweltbedingungen; Wirkung, Bekanntheitsgrad/Verbreitung und Verfügbarkeit stellen die substanzbezogenen Bedingungen dar.

Daraus ergibt sich die Frage, welche Faktoren hauptsächlich und welche nebensächlich dem Erst- und Dauerkonsum zuträglich sind und welche Kombinationen sich theoretisch ergeben, die durch die Praxis bestätigt werden können. Anhand der Prävalenzen der vergangenen 20 Jahre (Kapitel 2.4) wird deutlich, dass erst Risiko- und Schutzfaktoren berücksichtigende Präventionsansätze erfolgreich sind. Um die Entstehung einer Abhängigkeit aus einem Probierkonsum zu verhindern, ist es wichtig, die dafür relevanten Faktoren in den Präventionsmaßnahmen zu berücksichtigen. Resilienzen und Schutzfaktoren ergeben sich nicht nur aus den fehlenden begünstigenden Merkmalen, sondern stellen eine eigene Gruppe an persönlichen, sozialen und umweltbedingten Faktoren dar. Sie mindern den Einfluss der Risikofaktoren und können den Einstieg sowohl in den Konsum als auch in die Abhängigkeit verhindern oder hinauszögern. Daher sind für erfolgreiche Präventionsmaßnahmen auch die Resilienzen und Schutzfaktoren von Bedeutung und gehören zu jeder individuellen Analyse.

Ziel dieser Arbeit ist es, eine Verbindung zwischen Prävalenzen und Theorien herzustellen, sodass anhand individueller Erklärungsmodelle ein umfassendes allgemeines Modell erstellt werden kann. Daher sollen die aus der Literatur und bereits vorhandenen Untersuchungen erstellten, überwiegend begünstigenden und weniger auch protektiven Faktoren hinsichtlich ihrer Relevanz für Betroffene untersucht werden.

[...]


[1] Gleichaltrigen- und/oder Interessengruppen

[2] Verletzbarkeit

[3] Eine Form der Widerstandsfähigkeit, die im Gegensatz zu den Schutzfaktoren auf Persönlichkeitsmerkmalen beruht und nicht durch die Umwelt gesteuert wird.

[4] Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom

[5] The European School Survey Project on Alcohol and Other Drugs

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2011
ISBN (PDF)
9783956849800
ISBN (Paperback)
9783956844805
Dateigröße
904 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Europa-Universität Flensburg (ehem. Universität Flensburg)
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,3
Schlagworte
Sucht Lebenslauf Prävention Therapie Droge

Autor

Veronika Wilske wurde 1981 in Kiel geboren. Nach einer Ausbildung und einigen Jahren Berufserfahrung im medizinischen Bereich begann sie ein Studium an der Universität Flensburg im Bereich Gesundheitswissenschaften, welches sie 2011 mit dem akademischen Grad Bachelor of Arts erfolgreich abschloss. Praktische Erfahrungen im Bereich Sucht und Suchttherapie konnte sie schon während des Studiums sammeln. Während des anschließenden Masterstudienganges spezialisierte sie sich auf Menschen mit der Doppeldiagnose Sucht und psychische Störungen.
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