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Superorganismus: It’s the end of graphic design as we know it

©2014 Diplomarbeit 67 Seiten

Zusammenfassung

Schon lange erforschen Wissenschaftler die Komplexität der Ameisen und deren Problembewältigung anhand von Computersimulationen.
Bei der Suche nach Baumaterial bzw. Futter lassen Forscher die Ameisen Hindernisse überwinden und Höhenunterschiede bezwingen. Ein weiteres Experiment ergibt, dass die Ameisen sogar im Wasser überleben können. Wirft man die sechs Millimeter kleinen Tiere in das Wasser, können diese „dank der Kraft des Kollektivs“ überleben. Schnell verhaken und verbeißen sich die Tiere im Wasser ineinander.
All die beschriebenen Strukturen und architektonischen komplizierten Verbindungen finden sich schon längst nicht mehr nur in einem Ameisenhaufen im Nachbargarten. Ganz im Gegenteil, es stellt sich die Frage ob wir nicht tagtäglich mit solchen Strukturen konfrontiert werden bzw. ob nicht auch die Menschheit gar in einem Superorganismus lebt.
Deborah Gordon bezeichnet, wie oben bereits ausgeführt, die einzelne Ameise als „dumm“. Der Ameisenstaat an sich, charakterisiert sie jedoch insgesamt als äußerst „intelligent.“ Ameisenstaaten sind ein perfekt organisierter Superorganismus. Diese Arbeit hat sich zur Aufgabe gemacht, zu untersuchen, ob sich der Mensch mehr und mehr dem Verhalten einer Ameise annähert.
Ausgehend von der Diskussion um das Verhalten von Ameisen soll nun im vorliegenden Buch das Verhalten von Menschen untersucht werden. Agieren Menschen in den Neuen Medien heute in der Form eines Superorganismus?
Zunächst werden im Allgemeinen die Begriffe Superorganismus und Kollektive Intelligenz zu erläuterten versucht. Anhand von Protestbewegungen in der Gesellschaft werden zudem die Entwicklungen innerhalb des sozialen Systems zur Kollektiven Intelligenz erarbeitet. Die Entwicklungslinien von Hedonismus und Individualität hin zur Rückbesinnung auf das gesellschaftliche „Wir“ verdeutlichen dabei den Paradigmenwechsel von der Geniekunst eines Einzelnen hin zu einer gemeinschaftlichen, kollektiven Intelligenz. Ein besonderes Augenmerk wird in der vorliegenden Arbeit auf das Thema Superorganismus im Web 2.0 gelegt. Wie funktioniert der Superorganismus im Web? Welche Rolle spielen dabei die neuen Eigenschaften und Plattformen sowie Kommunikationsmöglichkeiten in Blogs und communities? Wie lässt sich das Verhalten der Individuen überhaupt erklären? Erläutert werden hierzu die Aspekte rund um Voyeurismus und Selbstdarstellung.
Letztlich geht die Arbeit der Frage nach, inwieweit die Entwicklung von Individueller Intelligenz zu Kollektiver […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Ein weiteres Experiment ergibt, dass die Ameisen sogar im
Wasser überleben können. Wirft man die sechs Millimeter
kleinen Tiere in das Wasser, können diese ,,dank der Kraft des
Kollektivs"
3
überleben. Schnell verhaken und verbeißen sich die
Tiere im Wasser ineinander. Wissenschaftler Nathan Mlot und
sein Wissenschaftsteam vom Georgia Institute of Technology in
Atlanta berichten, dass besonders am Rande des Kollektivs, der
Gruppenzwangs am höchsten ist und somit die Überlebens-
fähigkeit der Ameisen in der Gruppe gewährleistet wird. Die
BBC Dokumentation BBC Wildlife
4
unterstützt Mlots Aussagen und
zeigt eindrucksvolle Aufnahmen, in denen klar zu erkennen ist,
wie die äußeren Ameisen regelrecht von den Ameisen im Inneren
festgehalten bzw. eingefangen werden. Dabei bilden sich
Luftblasen unter den Ameisen, die das Atmen erlauben und somit
dem Floß aus Ameisen sogar Auftrieb geben. Entfernten die
Forscher ein paar Ameisen ,,rückten sofort die Nachbarn auf",
um die Stabilität des Floßes nicht zu gefährden.
5
Deborah Gordon, Biologin an der Stanford University,
beobachtet im Rahmen ihrer Forschungen täglich die so
genannten Roten Ernteameisen in New Mexico. Zu ihrem eigenen
Erstaunen muss sie dabei feststellen, dass die ,,scheinbare
Dummheit" einer einzelnen Ameise immer deutlicher wird: ,,Wenn
Sie einer Ameise beim Arbeiten zusehen, stellen Sie schnell
fest, wie ungeschickt sie eigentlich ist", meint sie. ,,Sie
packt die Sachen selten so an, wie wir es für klug halten
würden. Sie hat ein kurzes Gedächtnis. Und man hat den
Eindruck, dass es ihr vollkommen egal ist, ob ihr eine Arbeit
3
Weber, Nina: ,,Feuerameisen verknuddeln sich zu Rettungsboot" Online:
http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/0,1518,758899,00.html (Stand:
30.04.2011)
4
BBCWorldwide: ,, Ants create a lifeboat in the Amazon jungle - BBC
wildlife Online:
"http://www.youtube.com/watch?v=A042J0IDQK4&feature=player_embedded (Stand:
31.04.2011)
5
Weber, Nina: ,,Feuerameisen verknuddeln sich zu Rettungsboot" Online:
http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/0,1518,758899,00.html (Stand:
30.04.2011)
2

gelingt oder nicht. Nur jede fünfte Ameise erreicht das, was
sie sich vornimmt", erklärt Deborah Gordon. Wenn man einer
Ameise beim Arbeiten zusieht, möchte man ihr manchmal helfen."
6
Die Beobachtungen von Nathan Mlot und die Aussagen von Deborah
Gordon belegen eindrucksvoll den Erfolg der Ameisen mittels
ihrer Kollektiven Intelligenz. Denn tatsächlich funktioniert
eine evolutionär hoch entwickelte Ameisenkolonie, wie ein
,,großer Organismus, der durch vielfältige Interaktionen von
Hunderten, Hunderttausenden oder gar Millionen kleiner
Organismen zu einem Superorganismus wird."
All die beschriebenen Strukturen und architektonischen
komplizierten Verbindungen finden sich schon längst nicht mehr
nur in einem Ameisenhaufen im Nachbargarten. Ganz im
Gegenteil, es stellt sich die Frage ob wir nicht tagtäglich
mit solchen Strukturen konfrontiert werden bzw. ob nicht auch
die Menschheit gar in einem Superorganismus lebt.
1.2. Aufbau und zentrale Fragestellung
Deborah Gordon bezeichnet, wie oben bereits ausgeführt, die
einzelne Ameise als ,,dumm". Der Ameisenstaat an sich,
charakterisiert sie jedoch insgesamt als äußerst
,,intelligent."
7
Ameisenstaaten sind ein perfekt organisierter
Superorganismus. Diese Arbeit hat sich zur Aufgabe gemacht, zu
untersuchen, ob sich der Mensch mehr und mehr dem Verhalten
einer Ameise annähert. Ausgehend von der Diskussion um das
Verhalten von Ameisen soll nun das Verhalten von Menschen
6
Miller, Peter: ,,Die Intelligenz des Schwarms ­ Was wir von Tieren für
unser Leben in einer komplexen Welt lernen können", Frankfurt am Main
2010, S.29
7
Miller, Peter: ,,Die Intelligenz des Schwarms ­ Was wir von Tieren für
unser Leben in einer komplexen Welt lernen können", Frankfurt am Main
2010, S.23
3

untersucht werden. Agieren Menschen in den Neuen Medien
8
heute
in der Form eines Superorganismus?
Die Kapitel 1 und 2 versuchen zunächst im Allgemeinen die
Begriffe Superorganismus und Kollektive Intelligenz zu
erläuterten. Was sind Superorganismen, wie wird innerhalb
eines solchen Organismus kooperiert, welche Aufgabenverteilung
gibt es und wo kommt es zu Konflikten. Anhand von Protest-
bewegungen in der Gesellschaft werden zudem die Entwicklungen
innerhalb des sozialen Systems zur Kollektiven Intelligenz
erarbeitet. Die Entwicklungslinien von Hedonismus und
Individualität hin zur Rückbesinnung auf das gesellschaftliche
,,Wir" verdeutlichen dabei den Paradigmenwechsel von der
Geniekunst eines Einzelnen hin zu einer gemeinschaftlichen,
kollektiven Intelligenz. Des Weiteren werden spezifische
Merkmale und Phänomen eines Superorganismus ­ speziell als
Modell für das Web ­ herausgearbeitet.
Ein besonderes Augenmerk wird in der vorliegenden Arbeit auf
das Thema Superorganismus im Web 2.0 gelegt. Wie funktioniert
der Superorganismus im Web? Welche Rolle spielen dabei die
neuen Eigenschaften und Plattformen ­ am Beispiel des
Instrumentariums
Wikipedia ­ sowie Kommunikationsmöglichkeiten
in Blogs und
communities? Wie lässt sich das Verhalten der
Individuen überhaupt erklären? Erläutert werden hierzu die
Aspekte rund um Voyeurismus und Selbstdarstellung.
Letztlich geht die Arbeit der Frage nach, inwieweit die
Entwicklung von Individueller Intelligenz zu Kollektiver
Intelligenz das Ende der Expertokratie bedeutet und vor allem
was dieser Prozess für den Kreativbereich bedeutet. Es wird
8
Als 'neue Medien' bezeichnet man ,,alle die Verfahren und Mittel (Medien),
die mit Hilfe neuer oder erneuerter Technologien neuartige, also in dieser
Art bisher nicht gebräuchliche Formen von Informationserfassung und
Informationsbearbeitung, Informationsspeicherung, Informationsübermittlung
und Informationsabruf ermöglichen (vgl. Ratzke, Dietrich (1982): Handbuch
der Neuen Medien. Information und Kommunikation, Fernsehen und Hörfunk,
Presse und Audiovision heute und morgen. Stuttgart: Deutsche Verlags-
Anstalt).
4

ausführlich der Forschungsfrage nachgegangen, welche Rolle der
Superorganismus im Bereich der Neuen Medien spielt.
Um in gestalterischen Prozessen auf ein Ergebnis zu kommen,
versuchen Unternehmen, Agenturen bzw. Büros aus dem so
genannten Kreativbereich, ein ausgiebiges und durchdachtes
Management zu entwickeln. Dabei spielen Zeit, Budget und
Erfahrung aber auch der Zugang zu den digitalen Quellen eine
wesentliche Rolle. Der User steht über Netzwerksysteme im
direkten oder indirekten Kontakt mit anderen Personen aus dem
Kreativbereich. In der heutigen Zeit bietet das Web, dem
Designer eine Vielzahl an Inspirationsmöglichkeiten. Es stellt
sich deshalb die grundlegende Frage dieser Arbeit, wie autark
sollte und kann man durch den permanenten visuellen Input
neumedialer Medien heute noch arbeiten? Wie selektiert man die
Flut an Daten? Diese Frage stellt sich bei der Betrachtung des
zunehmend homogenen Outputs gestalterischer bzw. kreativer
Arbeit.
Die These der vorliegenden Arbeit ist daher, dass durch die
immer stärker werdende kollektive Nutzung von einheitlichen
Werkzeugen und Plattformen - wie beispielsweise Soziale
Netzwerke, Blogs, Foren oder grafischen Programmen - keine
Veränderung stattfindet. Wir bewegen uns in einer Art
Möbiusschleife, bei der wir immer wieder auf dasselbe Ergebnis
stoßen.
Social Network Analysis zeigt uns, dass wir zu einer
Art Schwarm geworden sind: Einer unter Vielen, der in der
Masse mitschwimmt, ohne wirklich entscheidenden Einfluss auf
Veränderungen zu haben. Besonders wenn wir von Web 2.0
Plattformen sprechen, scheint der Ruf nach Freiheit und
Mitbestimmung weit verbreitet zu sein. Doch was passiert mit
den ursprünglichen Denkweisen über das Wissen. Führen
Research-Programme und moderne Arbeitsstrukturen beziehungs-
weise Arbeitsprozesse zum Ende des Grafikdesigns? Bedeutet der
Superorganismus "the end of graphic design"?
5

2. Der Superorganismus
2.1 Begriffserklärung
Ameisenstaaten bildeten bereits im Jahre 1910 die Grundlage
für die Erforschung des Verständnisses von kollektiven
Intelligenzmodellen, den so genannten Superorganismen. So
verwendete der US-amerikanische Biologe, William Morton
Wheeler in seinem Buch ,,The ant-colony as an organism"
erstmals den Begriff ,,Superorganismus."
9
Die aktuellen Forschungsergebnisse von Deobrah Gordon und
Nathan Mlot gehen zurück auf diese Beobachtungen von 1910 und
weisen diverse Ähnlichkeiten auf. Auch Morton Wheeler
berichtet von einer lebendigen Gemeinschaft von meist sehr
vielen eigenständigen Organismen, die in mehreren Generationen
zusammenleben. Die Individuen seien theoretisch zwar auch ein-
zeln überlebensfähig, langfristig können sie aber nicht ohne
die Gemeinschaft überleben. Die Mitglieder haben sich
spezialisiert, wobei das Zusammenwirken dieser spezialisierten
Handlungsweisen die Möglichkeiten des Individuums bei weitem
übertreffen. Gruppen oder Einzeltiere übernehmen im Superorga-
nismus für eine gewisse Zeit oder auch lebenslang eine
Aufgabe, die mit einer Organfunktion vergleichbar sei, zum
Beispiel Fortpflanzung.
In Betrachtung normaler Organismen sind auch Superorganismen
hochkomplexe Systeme, zusammengestellt aus den verschiedensten
Teilen, die nur funktionieren, wenn das Überleben und die
Fortpflanzung des Ganzen sichergestellt wird. Diese Kolonien
erreichen erstaunliche Größen und können viele ökologische
Nischen erschließen. Besonderheiten sind ihre hervorragende
9
Morton Wheeler, William: The ant-colony as an organism. (A lecture
prepared for delivery at the Marine Biological Laboratory, Woods Hole,
Mass., August 2, 1910) Journal of Morphology, Band 22 (2), 1911, S. 307­
325, doi:10.1002/jmor.1050220206
6

Arbeitsteilungs- und Kommunikationssysteme. Die Arbeiterinnen
des Ameisenstaates sind hoch spezialisiert. ,,Sie haben nahezu
kein Reproduktionspotential
10
". Für Konflikte scheint man in
dieser riesigen komplexen Welt kaum Platz zu finden,
wohingegen die territorialen Konflikte mit Nachbarkolonien
nicht selten sind. Es gilt ,,je größer die Kolonien, desto
stärker der Konkurrenzkampf mit Nachbarkolonien" und desto
effektiver die Kooperation und Aufgabenverteilung innerhalb
der Kolonie. Zudem verlieren die kolonieinternen Konflikte an
Bedeutung. Bert Hölldobler und Edward O. Wilson kommen zu dem
Ergebnis, dass Konflikte zwischen unterschiedlichen Gruppier-
ungen die Evolution von Kooperation fördern und zugleich den
Altruismus
11
innerhalb der Gruppe.
12
2.2 Der Weg zur Kollektiven Intelligenz
"Eine Bewegung ist zwar Teil eines sozialen Systems, steht
jedoch im Gegensatz zu einer etablierten Ordnung, deren
erstarrte Formen mit Dynamik konfrontiert werden. Sie zeichnet
sich aus durch die "moralische Entrüstung und Empörung einer
relevanten Bevölkerungsgruppe zumeist jugendlichen Alters und
häufig intellektuellen Zuschnitts...sowie durch ein radikales
Infragestellen alles Bestehenden [...]".
13
Studentenproteste waren eine vielschichtige Bewegung Ende der
60er Jahre, die gegen die damals herrschenden wirtschaft-
lichen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der
Bundesrepublik Deutschland vorgingen. Heute könnte man von
einem Paradigmenwechsel in allen gesellschaftlichen Lebens-
10
Hölldobler, Bert; Wilson, Edward O.: ,,Der Superorganismus ­ Der Erfolg
von Ameisen, Bienen, Wespen und Termiten", Berlin Heidelberg 2010, S.10
11
Altruismus ist definiert als eine Verhaltensweise, die einem Individuum
mehr Kosten als Nutzen einbringt zugunsten eines anderen Individuums
12
Hölldobler, Bert; Wilson, Edward O.: ,,Der Superorganismus ­ Der Erfolg
von Ameisen, Bienen, Wespen und Termiten", Berlin Heidelberg 2010, S.10
13
Langguth, Gerd: ,,Die Protestbewegung in der Bundesrepublik Deutschland
1986-1976", Köln 1976, S. 23
7

bereichen sprechen. Weltweite Ursachen der Bewegung war unter
anderem, der neue Lebensstil rund um Rock n Roll, die
Einführung der Anti-Babypille im Sinne der emanzipatorischen
Bewegung. Das gesamte Ehe- und Familienverständnis wurde in
Frage gestellt. Der Vietnam-Krieg bewegte die Massen. Allen
voran fühlten sich insbesondere Jugendliche an den Gymnasien
und Hochschulen hintergangen. Grund dafür war die westliche
,,Vorbild-Demokratie" der Vereinigten Staaten, die gegen die
Bevölkerung eines kleinen Landes vorgingen, um ein korruptes
Regime an der Macht zu halten. Dies ließ die idealisierende
Vorstellung von der Demokratie als Beschützerin der Freiheit
und Sicherheit des Menschen bröckeln. Man forderte mehr
Freiheit ­ weg von der Spießergesellschaft.
Das Maximum an Möglichkeiten erreichen, das Leben selbst zu
gestalten und alle Gelegenheiten zu nutzen waren bisher die
wichtigsten Ziele. ,,Multioptionalität war gleichbedeutend mit
Freiheit und Zukunftsperspektiven."
14
Hedonismus und Individ-
ualität wurden bis ins Extrem ausgelebt. Das Bild der
Studentenbewegung wurde geprägt durch ,,anything goes" ­ alles
machen und nichts verpassen. Nur so erlangte man nach der
Meinung vieler ein glückliches Leben. Klassische bürgerliche
Werte, die verantwortlich für die große Vernetzungsdichte
innerhalb einer Familien waren Gründe für die spätere
Abnabelung und das Bedürfnis nach Eigenständigkeit.
Obwohl sich während den vergangenen 150 Jahren in der
westlichen Gesellschaft, der Wunsch nach Individualisierung,
Dezentralisierung und Pluralisierung gefestigt hatte, lässt
sich heute ­ angesichts der technischen und gesellschaftlichen
Entwicklungen und Neuerungen ­ feststellen, dass die Intelli-
genz des Einzelnen oft nicht mehr ausreicht, um unter der
gegebenen Vielfalt, sei es die Komplexität, der Überfluss an
Informationen und die rapiden Änderungsgeschwindigkeit der
14
Wenger, Ullrich: ,,Vision 2017 - Was Menschen morgen bewegt" München 2008,
S. 23
8

Umwelt, rechtzeitig universale Entscheidungen zu treffen.
Dieses Streben nach Individualität hat in vielen Bereichen
heute seinen Höhepunkt erreicht. Zukünftig wird bei fort-
dauernder Individualisierung eine Rückbesinnung auf das ,,Wir"
erwartet. Demzufolge erlebt unsere Gesellschaft derzeit einen
,,Paradigmenwechsel" im Sinne einer Abkehr vom Geniekult um
,,zentralisierte Expertenintelligenz" hin zu kollektiver,
gemeinschaftlicher Intelligenz und Problemlösefähigkeit.
15
Während einige große Erfinder alleine Dinge entwickelt hatten,
benötigt beispielsweise die Weltraumfahrt die Zusammenarbeit
mehrerer tausend Menschen. Unsere Gesellschaft wird sich
dieses mächtigen Gruppenpotenzials sukzessive bewusst. Global-
isierung wird durch außergewöhnliche Informationstechnik
angetrieben und führt zu einer stark ansteigender Vernetzungs-
dichte sowie zu einer Intensivierung des Leistungs- und
Innovationsdrucks aller Beteiligten. Die Erfahrungen und das
Wissen möglichst vieler Individuen in Gestaltungs- und
Entscheidungsprozesse mit einzubeziehen ­ mit anderen Worten ­
Kollektive Intelligenz zu nutzen, gewinnt deshalb immer mehr
an Bedeutung.
,,Je besser es Gruppen von Menschen gelingt, sich als
intelligente Kollektive zu formieren, als offene kognitive
Subjekte, die Initiativen setzen, sich ihrer Phantasie
bedienen und schnell reagieren, desto erfolgreicher werden sie
in einer durch Konkurrenz geprägten Umwelt wie der unsrigen
sein"
16
,,Aber wenn es dem nackten, einsamen Menschen nicht gelingt,
göttliche Freiheit zu erlangen, warum sollte man dann nicht
versuchen Kollektive Intelligenzen zu bilden, die sehr wohl
15
Ulkan A., Nickels-Lauterbach; P. & Junchniewicz,: ,,Kollektive
Intelligenz: Dezentralisierte, multiprofessionelle - virtuelle Teams in
internationalen Arbeitsgruppen Oder Lieben Sie Pinguine? 50. ECA
Fachartikel" Berlin 2007, S. 2
16
Lévy, Pierre: ,,Die kollektive Intelligenz. Für eine Anthropolgie des
Cyberspace" Mannheim 1997, S. 17
9

diese Freiheit erlangen könnten."
17
Firmen, die dieses
Potenzial erkennen und nutzen, erhalten dadurch einen
Wettbewerbsvorteil. Es finden sich scheinbar zahllose
Beispiele. Das US-Unternehmen
Google Inc. verbindet das
kollektive Wissen von Millionen von Menschen mit aus-
geklügelten Algorithmen und hoch entwickelten Technologien, um
erstaunlich akkurate Suchergebnisse hervorzuzaubern. Anhand
der Online-Enzyklopädie
Wikipedia konnte verfolgt werden, wie
Internetbenutzer jeder Schicht, jeden Alters und jedes
Intellekts freiwillig und ohne Lohn dazu beitrugen, eine
einzigartige kollektive Wissensbasis zu schaffen. Bei der
Fernsehsendung
Wer wird Millionär? gilt der Publikumsjoker
schon lange als das sicherste Mittel zur richtigen Antwort.
Prognosemärkte konnten zum Beispiel bei der Bundestagswahl
2009, das Ergebnis besser vorhersagen als die meisten
Meinungsforschungsinstitute.
Mediale Entwicklungen, aber auch die wissenschaftliche
Forschung aus dem Bereich der Naturwissenschaften bezüglich
Schwarmintelligenz, sind Erklärungen warum unsere Gesellschaft
sich meist nur noch in Organismen bewegt.
2.3 Individuelle Intelligenz und Kollektive Intelligenz
Der Begriff der individuellen Intelligenz, welche durch
empirisch belegte Forschungen einen hohen Stellenwert in der
Psychologie eingenommen hat, wird von dieser laut Stern, als
die ,,allgemeine Fähigkeit eines Individuums, sein Denken
bewusst auf neue Forderungen einzustellen"
18
, beschrieben. Sie
ist die allgemeine geistige Anpassungsfähigkeit an neue
17
Spiegel, Katrin: ,,Die kollektive Intelligenz - für eine Anthropologie des
Cyberspace" Online:
http://ezines.onb.ac.at:8080/www.medianexus.net/ressourc/rezensionen/levy_k
ollektiveintelligenz.htm (Stand: 05.5.2011)
18
Stern, W.: ,,Die psychologischen Methoden der Intelligenzprüfung", in:
Schumann, F. (Hrsg.): Bericht über den 5. Kongreß für Experimentelle
Psychlogie in Berlin, Leipzig 1912, S. 101-109.
10

Aufgaben und Bedingungen des Lebens. Intelligenz ist stets
individuelles Konstrukt und Merkmal menschlicher Persön-
lichkeit, bedingt durch die Abhängigkeit an den Menschen
selbst, durch persönliche Denkstrukturen, Werthaltungen,
Interpretationsmuster oder der individuellen Lebenskultur,
welche durch Erfahrungen und biologischen Gegebenheiten
geprägt sind. Durch sie werden abstrakte Beziehungen erfasst,
hergestellt und gedeutet, was unmittelbar zum problemlösenden
Verhalten führen kann.
,,Gemessen werden kann die Kollektive Intelligenz nur über
beobachtbares Verhalten und muss in Beziehung zum Verhalten
Dritter und zur jeweiligen Umwelt gesetzt werden."
19
Wo ehemals
ausschließlich kognitive Fähigkeiten bei der Intelligenz-
beurteilung zählten, werden heute auch nicht-kognitive Aspekte
wie die emotionale oder soziale Intelligenz beobachtet.
Empirisch gültige Messverfahren gibt es für diese neuartigen
Intelligenzbereiche noch nicht. Intelligentes Verhalten lässt
sich als ,,Interaktion zwischen den im Organismus Mensch
genetisch festgelegten Informationen und den relevanten
Gegebenheiten der Umwelt in einer individuellen Biographie
sehen."
20
Autor Myers lässt erkennen, dass Intelligenz als
Begriff weder konkretisiert wurde, noch problemlos zu
betrachten ist.
21
Aus der Definition von Brockhaus (2010) das
Kollektiv, das als ,,Gruppe, in der Menschen in einer
Gemeinschaft zusammen leben; Arbeitsgruppe; Team"
22
beschrieben
wird, könnte als Resumée beider Definitionen eine Ver-
schmelzung der Intelligenz von einer Gruppe zusammen-
treffender Individuen gesehen werden.
19
Roth, E. H.: ,,Intelligenz: Grundlagen und neuere Forschung", Stuttgart
1998, S.10
20
Roth, E. H.: ,,Intelligenz: Grundlagen und neuere Forschung", Stuttgart
1998, S.11
21
Myers, D. G.: ,,Psychologie", Heidelberg 2005, S. 459
22
Brockhaus: ,,Kollektiv Brockhaus Enzyklopädie" Online:
http://www.brockhaus-enzyklopaedie.de/be21_article.php (Stand: 10.01.2011)
11

Im Folgenden soll eine Auswahl einiger Definitionen aufgeführt
werden, um den Begriff der Kollektiven Intelligenz besser
greifbar zu machen:
Pierre Lévy sieht in der Kollektiven Intelligenz auf den
Cyberspace bezogen eine ,,Intelligenz, die überall verteilt
ist, sich ununterbrochen ihren Wert erschafft, in Echtzeit
koordiniert wird und Kompetenzen effektiv mobilisieren kann."
23
Gemeint ist damit, dass Kommunikation über das Wissen nur
durch Zuhilfenahme moderner Kommunikationsmittel geschehen
kann und dass jeder Mensch ein eingeschränktes Wissen besitzt,
welches von der Gesellschaft als die individuelle Intelligenz
nur mangelhaft genutzt wird. Wichtig ist die Akzeptanz
unterschiedlicher Kompetenzen. Lévy strebte eine menschliche
Interaktion an, um einen dynamischen Wissensraum zu schaffen.
24
Für Segaran geht es um das ,,Finden neuer Erkenntnisse über
unabhängige Teilnehmer", genauer gesagt um die ,,Kombination
aus Verhalten, Vorlieben und Ideen einer Gruppe von Leuten, um
neue Einblicke zu erhalten"
25
und erklärt, wie moderne
Kommunikationsmittel und das Internet Nutzerdaten sammeln und
diese mit Algorithmen und Statistik genutzt werden. Thomas W.
Malone
26
definiert die Kollektive Intelligenz als Gruppen von
Individuen, die intelligent erscheinende Dinge im Kollektiv
tun.
27
Hier wird die Organisation als Gruppe an sich gesehen.
Peter Kruse sieht in der Kollektiven Intelligenz ,,(...)
Selbstorganisatorische Prozesse, bei denen viele Personen
übersummative Ordnungen bilden, ohne dass ihr Potential
23
Lévy, Pierre: ,,Die kollektive Intelligenz. Für eine Anthropolgie des
Cyberspace", Mannheim 1997, S. 29
24
Lévy, Pierre: ,,Die kollektive Intelligenz. Für eine Anthropolgie des
Cyberspace", Mannheim 1997, S. 30
25
Segaran, T.: ,,Kollektive Intelligenz analysieren, programmieren &
nutzen." Köln 2008, S. 2
26
Wissenschaftler am MIT, Zentrum für kollektive Intelligenz.
27
Malone, T. W.: ,,What is collective intelligence and what will we do about
it?" Online: http://cci.mit.edu/about/MaloneLaunchRemarks.html (Stand
17.01.2011)
12

eingeschränkt wird und die gesammte Intelligenz nur in der
[Anm. d. Verf.:] Netzwerkverbindung] steckt."
28
Auch sei es das
Verknüpfen von "(...) Wissen und die Fähigkeit(en) Einzelner
in Netzwerken zu einer übergeordneten Musterbildung."
29
Er
sieht Kollektive Intelligenz weiterhin als moderne Variation
des Kulturbegriffs, der seiner Meinung nach ältesten Fähigkeit
des Menschen, mit vereinter Kraft übersummative Lösungen zu
erzeugen.
30
Auch James Surowiecki behandelt das Thema in "Die Weisheit der
Vielen" und meint mit Kollektiver Intelligenz, dass diese
durch das von ausreichend vielen Gruppenmitgliedern heraus-
kristalisierte Mittel unter Bedingungen wie Dezentralisierung,
Meinungsvielfalt oder Aggregation oft bessere Schätzungen
abgibt, als die einzelne eines Fachexperten. Laut Surowieck
bestehen große Gruppen aus gut informierten Menschen, bei
denen sich dadurch differenzierende Sichtweisen gegenseitig
neutralisieren. Aulinger berichtet von den Ergebnissen eines
Workshops der Steinbeis School of Management and Innovation,
bei dem Teilnehmer aus Wissenschaft und Praxis Kollektiver
Intelligenz gemeinsam aggierten. Die Gruppe besaß laut
Aulinger "die Fähigkeit zur Bewältigung von Herausforderungen
durch gemeinsame oder individuelle Verarbeitung von
Informationen ­ dies erlaubte es der Gruppe zu besseren Ergeb-
nissen" zu gelangen, als es mit alt bekannten Verfahren oder
durch einzelne Teilnehmer möglich gewesen wäre. Was genau ein
"besseres Ergebnis" definiert, kann man jedoch nicht durch
renommierte Messverfahren beurteilen.
28
Kruse, P.: ,,Die Intelligenz der Masse [Interview]." In: WirtschaftsBild
(8), Rheinbach 2008, S. 25-26
29
Kruse, P.: ,,Livestream DNAdigital": Ein Gespräch mit Peter Kruse (Online-
Interview geführt von Reinhard, U.)
http://www.dnadigital.de/networks/blog/post.ulrikerenate:44. Schriftlich
unter: http://www.centrestage.de/wp-content/uploads/2009/03/dnadigital.pdf
(Stand 13.01.2011),S. 82
30
Kruse, P.: ,,Die Intelligenz der Masse [Interview]." In: WirtschaftsBild
(8), Rheinbach 2008, S. 25-26
13

Die aufgeführten qualitativ unterschiedlichen Sichtweisen
haben gezeigt, dass einige Autoren die Kollektive Intelligenz
als reine Möglichkeit, auf das Wissen vieler zuzugreifen.
Konträr zur neuen Technologieform halten andere ihre
Definitionen allgemeiner und stellen die "höhere Gruppen-
leistung"
31
in den Vordergrund, welches als Gegensatz zur
reinen Quantität zu verstehen ist.
Autor Ernst bringt zum Ausdruck, dass Kollektive Intelligenz
nicht die Summe der individuellen Intelligenz sei, sondern die
Leistung einer Gruppe von Personen, welche als Einzelperson
nie hätte erbracht werden können. Dadurch ist sie nicht
lediglich bloße Anhäufung, sondern ein auftretendes Phänomen.
Als Objekte eines Systems müssen unmittelbar neben den
beobachtbar Isolierbaren auch ihre Beziehungen, Wechsel-
wirkungen oder Kommunikationen gelten.
Innerhalb eines Unternehmens kann sich die Kollektive
Intelligenz mit den unterschiedlichsten Teamgrößen, Kunden
oder die gesamte Organisation anlangen.
32
Laut Auto Huber
hingegen ist in diesem Zusammenhang die individuelle
Intelligenz ,,dabei Teilmenge und notwendige wie hinreichende
Bedingung für die Entstehung Kollektiver Intelligenz (...)."
33
Wo
die individuelle Intelligenz an den Einzelnen gebunden ist,
existiert die Kollektive Intelligenz nie ohne gesamte
Organismen bzw. Menschengruppen, kann aber laut den Autoren
Risku und Pircher zumindest teilweise unabhängig von
bestimmten Personen sein.
34
Bei einem Vergleich zu den Neuronen
31
Aulinger, A.:
,,Kollektive Intelligenz: Methoden, Erfahrungen und
Perspektiven." Stuttgart/Berlin 2009, S. 53
32
Ernst, F.: ,,Trojaner - Forum für Lernen
. 13(1)" Frankfurt a. M. 2005, S.
26-29
33
Huber, D. F.: ,,Kollektive Intelligenz vs. individuelle Intelligenz ­
oder: Wer ist klüger: Masse oder Individuum?
Media Blog" Online:
http://blog.firstmedia.de/2010/02/01/kollektive-intelligenz-vs-
individuelle- intelligenz-oder-wer-ist-kluger-masse-oder-individuum/
(Stand: 10.05.2011)
34
Risku, H. & Pircher, R.: ,,Kollektive Intelligenz ­ Wie Mitdenker
unmögliches möglich machen, Krems." Online: http://www.competence-
14

eines Gehirns mit den Mitgliedern einer Gruppe gilt: ,,Je
umfassender und intensiver die Teile eines Systems miteinander
vernetzt sind und kommunizieren(...), desto höher, d.h.
komplexer ist die Intelligenz."
35
Steckt der Mensch in einem
Lernprozess, entstehen neue Neuronale Bahnen im Gehirn, was
später zum schnelleren Zugreifen auf erlernte Informationen
führt.
In der vorliegenden Arbeit wird von Kollektiver Intelligenz
dann gesprochen, wenn es einer Gruppe gelingt, in der
Gemeinschaft Herausforderungen zu bewältigen, bei denen
bessere Ergebnisse erzielt werden konnten als mit geläufigen
Methoden oder durch die Einzelperson.
2.4 Beschreibung und Merkmale
Steve Johnson
36
bezeichnet moderne Städte als ,,superorganism."
37
Unterstützt werden Johnsons Aussagen von den Autoren Robert
Park und Ernest Burgess. Sie betrachten die Stadtmetropole als
einen lebendigen sozialen Organismus und sind davon überzeugt,
dass ebenso, wie es eine natürliche Ökologie gibt - in der die
Tierwelt und die Pflanzenwelt um ihre Existenz kämpfen - auch
eine soziale Ökologie existiert, in der Menschen um den
geringen begehrten Wohnraum konkurrieren.
Wie oben beschrieben wurde, scheinen Tiere und Pflanzen in der
Natur in einer kollektiven Harmonie zusammenzuleben. Sie sind
dabei trotzdem eigenständig. Deshalb spricht Park auch von
Städten die ,,symbiotic environments" seien, ähnlich der
Symbiose bekannt aus der wechselseitigen Interdependenz der
site.de/wissensmanagement/Kollektive-Intelligenz-wie-Mitdenker-
unmoegliches-moeglich-machen (Stand 08.05.2010)
35
Wiesmann, F. M.: ,,Kollektive Intelligenz." Online:
http://holon42.net/kollektive_intelligenz.php (Stand: 08.05.2010)
36
Johnson, Steve (* 1953 in Whitstable, England) ist ein englischer
Bildhauer und Zeichner.
37
Johnson, Steve: "Emergence. The Connected Lives of Ants, Brains, Cities,
and Software" New York 2001, S. 87
15

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2014
ISBN (PDF)
9783956849053
ISBN (Paperback)
9783956844058
Dateigröße
704 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Merz Akademie - Hochschule für Gestaltung Stuttgart
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1
Schlagworte
Kollektive Intelligenz SuperSuper-Organismus Web 2.0 Datenflut Grafik Design
Produktsicherheit
BACHELOR + MASTER Publishing
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Titel: Superorganismus: It’s the end of graphic design as we know it
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