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Arbeitskampf im öffentlichen Dienst: Historische Entwicklung, das Tarifvertragsgesetz, bedeutende Konflikte und Auswirkung des Art. 28 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

©2009 Diplomarbeit 51 Seiten

Zusammenfassung

Die Diplomarbeit beschäftigt sich mit dem Arbeitskampf im öffentlichen Dienst und dem Art. 28 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Da der öffentliche Dienst sowohl tariflich gebundene Angestellte als auch Beamte beschäftigt, aber für die Erfüllung seiner Aufgaben, die dem Wohle des ganzen Staates dienen, auf eine hohe Sicherheit bei der Erfüllung der Arbeitsleistung vertrauen muss, ist der mit tariflichen Verhandlungen verbundene Arbeitskampf gerade hier ein großes Wagnis. Die Arbeit enthält die lange Entwicklung des Arbeitskampfes von Gesellenvereinigungen im Mittelalter über Arbeitsverhältnisse der Industrialisierung bis hin zum heutigen Gebrauch und Recht in der Bundesrepublik, beschreibt die aktuelle Rechtslage und das System der Tarifautonomie, enthält eine Schilderung der Situation im öffentlichen Dienst mit Schwerpunkt auf bedeutenden Arbeitskämpfen in der Vergangenheit sowie der aktuellen tariflichen Verhältnissen mitsamt der Rechtsstellung der Beamten dazu, und schließt mit einem Kommentar zu den Auswirkungen des Art. 28 der Charta der Grundrecht der EU, dessen Entstehungsgeschichte auch kurz erläutert wird, auf die aktuellen Rechtsverhältnisse im öffentlichen Dienst.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1.4 Industrialisierung – Gewerbefreiheit und Duldung der Vereinigungen

In den folgenden Jahren des 19. Jahrhunderts wurde die Vorarbeit für die Prinzipien des modernen Arbeitskampfs, aber auch des modernen Arbeitsrechts geleistet. Die Aufhebung des Grundeigentums in Preußen 1807, die Gesindeordnung 1810, die Einführung der Gewerbesteuer 1810 und die Gewerbefreiheit 1811 machten einen Arbeitsmarkt und die Selbstbestimmung der auszuübenden Tätigkeit überhaupt erst möglich. Allerdings konnte erst ab 1869 mit der Einführung der Gewerbeordnung und 1870/71 mit der Entstehung des Kaiserreichs in Deutschland eine reichsweite Berufs- und Arbeitsfreiheit hergestellt werden.

Soziale Einflüsse in ganz Europa, aber auch sozialkritische Werke von z.B. Marx und Engels mit ihren Ausführungen zur klassenlosen Gesellschaft und der Arbeiterbewegung in Werken wie z.B. „Das Kapital“ bildeten sich auch Vereinigungen unter den Lohnarbeitern. Eine Sondergruppe stellten dabei sozialistische Gewerkschaften, die die Rechte der Arbeiter mit dem Ziel eines politischen Umsturzes vertraten. Einer der bekanntesten Fälle aus dieser Zeit ist sicherlich der sog. Aufstand der Weber von 1844, der auch in Gesellschaft, Kunst und Kultur einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat.

Es konnte aber erst im Jahr 1869, als Nachwirkung der liberalen Revolution Anfang des 19. Jahrhunderts, und den sich häufenden Streiks in allen Gewerben die preußische Gewerbeordnung erlassen werden, die endgültig die Koalitionsfreiheit einführte und damit die „Rechtsgrundlage für Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und Arbeitskämpfe“[1].

1.5 Koalitionsfreiheit und Zwangsschlichtung in der Weimarer Republik

Mit dem Ende des 1. Weltkrieges 1918 und zahlreichen Arbeitsniederlegungen im gesamten deutschen Reich zeigte sich, dass die Durchsetzung von Forderungen durch Mittel des Arbeitskampfes mittlerweile fest im Bewusstsein der Bevölkerung integriert waren. Dies führte zur ausdrücklichen Anerkennung der Koalitionsfreiheit in der Weimarer Reichsverfassung - ganz im Gegensatz zur „Duldung“ im preußischen und kaiserlichen Recht - und damit verbunden zum Beginn einer Entwicklung des Verständnisses vom institutionell garantierten Grundrecht auf Tarifautonomie und Arbeitskampf. Eine weitere Neuerung war auch das Instrument der Schlichtung von staatlicher Seite. Am 30. Oktober 1923 erging die sog. „Verordnung über das Schlichtungswesen“, die die staatliche Zwangsschlichtung einführte. Der Schlichterspruch konnte hierbei als verbindlich erklärt werden, so dass die Friedenspflicht eintrat und Arbeitskampf rechtlich nicht mehr erlaubt war. Die Geschichte zeigt, dass die staatliche Schlichtung in der Hälfte aller Tarifverhandlungen durchgesetzt wurde, meistens zu Gunsten der Arbeitgeber, die in den ersten Jahren nach Veröffentlichung dieser Verordnung längere Arbeitszeiten durchsetzten[2]. Eine solche Einmischung des Staates in die Tarifautonomie führte aber bereits für Zeitzeugen dazu, dass „der Grundgedanke des Kollektivismus gescheitert“ ist[3].

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 führte im gesamten Reichsgebiet zur Ausschaltung der Gewerkschaften und Aufhebung der Tarifautonomie.

1.6 Arbeitskampfrecht als Grundrecht seit 1945

Noch 1945 gründeten sich viele Vereinigungen wieder neu, wenn auch diesmal der Wiederaufbau Deutschlands im Vordergrund stand, so dass sich konkrete tarifpolitische Vorstellungen erst später entwickelten. Mit der Einführung des Tarifvertragsgesetzes am 09. April 1949 und der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG wurde die Koalitionsfreiheit, die Tarifautonomie und das Recht auf Arbeitskampf, wenn auch unter bestimmten Voraussetzungen, wieder hergestellt bzw. erstmals eingeführt. Das Grundgesetz vom 23. Mai 1949 sieht im Artikel 9 ausdrücklich das Recht vor, „zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden(…)für jedermann und für alle Berufe(..)“. Damit ist die Koalitionsfreiheit, das resultierende Recht zum Arbeitskampf und die gleichrangige Behandlung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern als Grundrecht unantastbares Verfassungsrecht.

Durch das Wirtschaftswunder in den 1950er Jahren, die Festigung von regelmäßigen Tarifrunden, einer konsequenten Entwicklung und Weiterentwicklung des Arbeitskampfrechtes durch das BAG wurde die Tarifautonomie im gesellschaftlichen Verständnis verankert. Sie führte unter anderem auch dazu, dass sich die Arbeitszeit konsequent auf bis zu 35 Stunden in manchen Branchen verkürzte, Frauen durch den Wegfall von Frauenlohngruppen in den 1950er Jahren die ersten Schritte zur Gleichberechtigung in der Arbeitswelt machten, die Fünf-Tage-Woche in den meisten Branchen gegen Ende der 1950er und Beginn der 1960er Jahre eingeführt wurde, die Zahlung von Weihnachts- und Urlaubsgeld sich in den 1960er Jahren etablierte und viele weitere Forderungen der Arbeitnehmer oder Arbeitgeber durch friedliche Arbeitskämpfe zu tarifvertraglichen Regelungen führten.[4]

2. Arbeitskampf

2.1 Definition

Ein wie auch immer gearteter Kampf setzt immer zwei Seiten voraus, die sich gegenseitig bekämpfen. Beim Arbeitskampf sind dies die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer. Die meisten Arbeitskämpfe werden von den tarifgebundenen Arbeitern und Angestellten bestimmt und durchgeführt, meistens mit der Frage um den Lohn, die Arbeitszeiten, aus Solidarität; seltener als in der Vergangenheit um die Fragen nach Ansehen und Ehre. Zum Verständnis des Arbeitskampfes bedarf es der Unterteilung der Definition in die Tarifautonomie und das Arbeitskampfrecht; Arbeitskampf bedarf sukzessive der Tarifautonomie, da es ein Mittel zum Machtausgleich zwischen den beteiligten Seiten darstellt.

2.1.1 Tarifautonomie

In der Bundesrepublik Deutschland herrscht seit Inkrafttreten des Grundgesetzes am 08. Mai 1949 und dem Inkrafttreten des Tarifvertraggesetz am 09. April 1949 wieder die Tarifautonomie: Tarifrecht ist Privatrecht zwischen dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber und wird auch dementsprechend nach den Grundsätzen des Privatrechts gehandhabt – es herrscht Vertragsfreiheit. Hauptziel ist die Wahrung des Machtgleichgewichts zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer; vor allem das Bundesarbeitsgericht und das Bundesverfassungsgericht betonen dies bei ihren Entscheidungen immer wieder[5].

Durch einen Tarifvertrag können die Rechte und Pflichten für beide Seiten als materiell gültiges Recht geregelt werden, § 1 Abs. 1 TVG.

Es werden Betriebs- Firmen- und Haustarifverträge unterschieden; es gibt aber ebenfalls Verbands-, Mantel- und Rahmentarifverträge. Einzelne Bereiche der Arbeitsbedingungen können durch spezielle Tarifverträge ebenfalls geregelt werden.[6]

Der Tarifvertrag dient dem Schutz, der Ordnung und dem Frieden der Arbeitsbedingungen[7]. Er schafft zwischen den Tarifvertragsparteien einen Machtausgleich: Die Gläubiger der Arbeitsleistung und gleichzeitig Schuldner der Lohnleistung, die Arbeitgeber, regeln eben diese Schuldverhältnisse mit dem Schuldner der Arbeitsleistung und Gläubigern der Lohnleistung, den Arbeitnehmern. Allerdings müssen die Vertragsparteien dafür auch Sorge tragen, dass die durchgesetzten Regelungen im Tarifvertrag erfüllt werden.

Dafür erforderlich ist die Tariffähigkeit der Parteien nach § 2 TVG. Demzufolge können Gewerkschaften sowie deren Zusammenschlüsse, Arbeitgeber und deren Zusammenschlüsse als auch Spitzenverbände auf beiden Seiten tariffähig sein und bleiben nach § 2 Abs. 4 TVG verantwortlich, die abgeschlossenen Regelungen im Tarifvertrag einzuhalten. Dazu muss aber eine Gewerkschaft im Betrieb oder Unternehmen auch durchschnittlich repräsentiert werden; die Feststellung dieser Repräsentierung und damit einhergehend An- oder Aberkennung der Gewerkschaftsfähigkeit wird im Streitfall meistens dem Richter überlassen.

Der Tarifvertrag muss nach § 1 Abs. 2 TVG i.V.m. § 126 BG schriftlich geschlossen werden.

Für die Bindung der Tarifvertragsparteien gilt § 3 TVG, der beide Seiten an die Regeln und Bedingungen des Tarifvertrages bindet. Der Geltungsbereich des Tarifvertrages erstreckt sich nach § 3 TVG auf die tarifgebundenen Mitglieder, also den Arbeitgeber und die Arbeitnehmer, die Mitglied in der den Tarifvertrag abgeschlossenen Tarifvertragspartei sind. Nicht-Mitglieder unterfallen nicht den Regelungen des Tarifvertrages, sofern dieser nicht ausdrücklich z.B. auf Arbeitnehmerseite in einem Arbeitsvertrag durch Einbeziehungsabrede für anwendbar erklärt wird, wie es in der Regel im öffentlichen Dienst gehandhabt wird.

Ein wichtiger und in den letzten Jahren auch strittiger Punkt ist der Grundsatz der Tarifeinheit, den das BAG in seiner Rechtsprechung seit Beginn der Bundesrepublik entwickelt hat: Ein Betrieb, ein Tarifvertrag. Mittlerweile hat sich aber die Rechtssprechung bei den Arbeitsgerichten, auch auf Länderebene, weiter entwickelt; man geht nunmehr dazu über, sog. „Spartentarifverträge“ als speziellere Tarifverträge anzuerkennen. Dies sprengt den Grundsatz der Tarifeinheit und führt zur Tarifkonkurrenz oder Tarifpluralität, aber es ermöglicht auch kleineren und spezielleren Gewerkschaften die Tariffähigkeit und die Möglichkeit, Arbeitskampf zu bestreiten.

Tarifkonkurrenz herrscht dann vor, wenn in einem Betrieb mehrere Tarifverträge für ein bestimmtes Arbeitsverhältnis gelten, die sich widersprechen[8]. Hier wird dann das Spezialitätsprinzip angewandt, d.h. je nachdem welcher Tarifvertrag auf das Arbeitsverhältnis betrieblich, räumlich oder persönlich in dieser Reihenfolge angewandt werden kann, ist der speziellere und damit gültige; so geht ein Betriebstarifvertrag der Firma A einem Verbandstarifvertrag der Firmen A, B und C vor. Dieses Prinzip ist in solchen Fällen unstrittig.

Ganz im Gegensatz zur Tarifpluralität, wo mehrere Tarifverträge auf mehrere Arbeitverhältnisse in einem Betrieb anwendbar sind, die sich gegenseitig widersprechen. Hier ist es strittig, ob dann der speziellere, aber noch zu ermittelnde Tarifvertrag gelten muss oder der Betrieb in dieser Hinsicht aufgespalten werden muss; z.B. in der Firma C für die Mitglieder der Gewerkschaft A der Tarifvertrag A/C und für Mitglieder der Gewerkschaft B der Tarifvertrag B/C.

Das BAG hat hierzu noch keine weiterentwickelte Rechtssprechung entwickelt, dafür die Landesarbeitsgerichte: Sie gehen davon aus, dass Art. 9 Abs. 3 GG Vorrang vor dem Grundsatz der Tarifeinheit besitzt und damit Gewerkschaften, die ihre Berufsgruppenmitglieder bei einem Arbeitgeber ausreichend organisieren, ebenfalls die Tariffähigkeit neben einer Gewerkschaft besitzen, die ihre Mitglieder in allen Berufsgruppen bei einem Arbeitgeber organisiert[9]. Damit ist dies ein großer Vorteil für kleine Gewerkschaften, die eine spezielle Arbeitnehmergruppe vertreten, so z.B. der Marburger Bund, der 2006 einen eigenen Tarifvertrag für die Klinikärzte im öffentlichen Dienst erstreiken konnte.

Ein weiterer Sonderfall sind die gesetzlich festgelegten Regelungen, die durch einen Tarifvertrag normiert werden sollen: Insbesondere nach § 22 Abs. 2 TzBfG, wonach die im Tarifvertrag geltenden Regelungen für § 8 Abs. 4 Satz 3, 4, § 12 Abs. 3, § 13 Abs. 4, § 14 Abs. 2 Satz 3, 4 und § 15 Abs. 3 TzBfG auch für die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer Geltung erlangen[10].

Im öffentlichen Dienst herrscht größtenteils Tarifeinheit, da der TV-L und der TVöD als sog. Flächentarifvertrag sowohl alle Arbeitgeber – also den Bund, die Kommunen in der VKA und die Länder in der TdL bis auf die nicht vertretenen Länder Berlin und Hessen – als auch vor allem die Arbeitnehmer erfasst. Den größten Anteil an den organisierten Gewerkschaftsmitgliedern trägt dabei ver.di, dbb tarifunion und die angeschlossenen Gewerkschaften, die ver.di Verhandlungsvollmachten erteilt haben. Kleinere Gewerkschaften mit eigenständigen Tarifverträgen, so z.B. der Marburger Bund, orientieren sich meist an den bestehenden Tarifverträgen.

Ein Tarifvertrag endet erst nach Ablauf der vereinbarten Laufzeit nach § 3 Abs. 3 TVG; ebenso entscheidet nicht die Dauer der Mitgliedschaft in einer Tarifvertragspartei über die Tarifgebundenheit, sondern nur die Dauer des Tarifvertrages nach § 3 Abs. 3 TVG.

Ein Tarifvertrag kann nach § 5 Abs. 1 TVG vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales unter gewissen Voraussetzungen als allgemeinverbindlich für eine gewisse Branche erklärt werden. Die Tarifverträge im öffentlichen Dienst werden grundsätzlich nicht dieser Norm unterworfen[11]. Bei Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit werden die Tarifverträge auch in den Betrieben zwingend anwendbar, in denen bisher die fehlende Tarifgebundenheit im Wege stand.

Der Gesetzgeber regelt zwar Mindestgrundsätze wie z.B. im Kündigungsschutzgesetz, im Bundesurlaubsgesetz, im Lohnfortzahlungsgesetz etc., aber darf sich nicht explizit und hoheitlich in spezielle Fragen wie Lohnfestsetzungen, Arbeitszeitfestsetzungen etc. per Gesetz einmischen. Die speziellste Variante dieser Tarifautonomie ist der individualisierte Arbeitsvertrag; der Tarifvertrag als Koalitionsvereinbarung zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände folgt als nächstspeziellere Regelung sowie als Auffangnorm die gesetzlichen Bestimmungen zu Mindestansprüchen für entgegenstehende Bestimmungen im Arbeitsvertrag.

Eine Maxime im Arbeitsrecht ist das sog. Günstigkeitsprinzip. Jeder Arbeitnehmer muss immer nach der für ihn am besten geltenden Regelung beurteilt werden; d.h. Vorteile im individualisierten Arbeitsvertrag gehen vor denen des Tarifvertrags, erst danach folgen die gesetzlichen Bestimmungen. Je nachdem welche Vertragsentwicklung beim jeweiligen Arbeitgeber vorherrscht, gilt die günstigste Regelung für den Arbeitnehmer.

Seit Mitte der neunziger Jahre nimmt die Praxis zu, sog. Öffnungsklauseln in die Arbeits- und Tarifverträge einzubauen, die es beiden Seiten ermöglichen sollen, bestimmte Regelungen des Tarifvertrages zu kündigen und zu ersetzen. Arbeitgeberverbände und die Politik greifen immer wieder Pläne auf, Öffnungsklauseln per Gesetz festzusetzen, was aber die Tarifautonomie und die Gewerkschaften schwächen würde, weswegen die Gewerkschaften, z.B. die IG Metall, gesetzliche Öffnungsklauseln um jeden Preis verhindern wollen[12]; bis jetzt fand sich allerdings auch keine politische Mehrheit für ein solches Vorgehen.

Der Tarifvertrag erstreckt sich gemäß § 3 Abs. 2 TVG auch auf die sog. Betriebsvereinbarungen, bei denen der Arbeitgeber mit dem Betriebs- oder Personalrat spezielle, nur für diesen Bereich gültige Regelungen trifft. Diese Möglichkeit soll es dem Arbeitgeber erleichtern, flexibler auf Notlagen – wie betriebliche finanzielle Schwierigkeiten oder nur in seinem Bereich ausgeprägten Problemen, die durch allgemein gehaltene Regelungen im Tarifvertrag nicht oder nur schwer zu lösen sind - zu reagieren. Allerdings sind diese Betriebsvereinbarungen durch das Betriebsverfassungsgesetz geregelt und können mit den Regelungen des Tarifvertrages bzw. dem TVG kollidieren. Betriebsvereinbarungen gelten für die Gesamtheit des Betriebes, also auch für die nicht tarifgebundenen Mitglieder. Dies kann insofern problematisch sein, als die negative Koalitionsfreiheit und das Mitwirkungsprinzip der Arbeitnehmer aus Art. 9 Abs. 3, Art. 20 Abs. 2 GG dadurch beeinflusst wird. Die Notwendigkeit einer Betriebsvereinbarung unterliegt einer restriktiven Anwendung und muss sich stark am Ordnungs- und Erhaltungsinteresse orientieren, ebenso nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip. Im öffentlichen Dienst sind solche Betriebsvereinbarungen nicht vorhanden, da der § 3 Abs. 2 TVG dem Tarifvertrag nicht erlaubt, abweichende Regelungen gegen das Personalvertretungsrecht nach §§ 3, 97 BPersVG zu regeln.

Der Tarifvertrag kann in seiner Gesamtheit entweder mit vereinbarter Kündigungsfrist – beim TV-L § 39 Abs. 2,3, beim TVÖD § 39 Abs. 2, 3, 4 -, bei Nichtvorhandensein einer solchen Vereinbarung entsprechend § 77 BetrVG mit einer Frist von drei Monaten ordentlich oder aufgrund eintretender Unzumutbarkeit nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts fristlos gekündigt werden, wobei die Kündigung des Tarifvertrages oder Teilen des Tarifvertrages aufgrund Unzumutbarkeit nur als ultima ratio angewendet werden darf. Wenn durch die o.g. Öffnungsklauseln vereinbart, können auch einzelne Punkte von beiden Seiten gekündigt werden, so im TV-L und TVÖD z.B. Bestimmungen zur Arbeitszeit und Vergütung.

Ansonsten endet der Tarifvertrag mit Zeitablauf, nicht jedoch seine Regelungen: Gemäß § 4 Abs. 5 TVG gilt das sog. Nachwirkungsprinzip, womit die getroffenen Regelungen bis zur Neuregelung, also der Ablösung des alten Tarifvertrages durch einen neuen, weiter gelten. Dies betrifft allerdings nicht die nach Ablauf des Tarifvertrages im Nachwirkungszeitraum eingestellten Arbeitnehmer, egal ob tarifgebunden oder nicht. Diese sind damit gezwungen, einen individuellen Arbeitsvertrag mit für sie zum Teil schlechteren Regelungen gegenüber dem bisher geltenden Tarifvertrag abzuschliessen. Es ist allerdings nicht möglich, dass durch Wegfall der Tarifgebundenheit einer Tarifvertragspartei im Nachwirkungszeitraum nach § 4 Abs. 5 TVG auch die nachwirkende Tarifgebundenheit entfällt[13]- der Tarifvertrag gilt solange, bis ein neuer Tarifvertrag oder für den einzelnen Arbeitnehmer ein eigener Arbeitsvertrag in Kraft tritt. Es ist allerdings möglich, die Nachwirkung des § 4 Abs. 5 TVG im Tarifvertrag auszuschließen. Vorgehende Tarifverträge im öffentlichen Dienst hatten eine solche Ausschlussregelung der Nachwirkung, wie der BAT oder die TV-L der Länder bis zum Inkrafttreten des derzeitigen TV-L; die jetzigen Tarifverträge schließen die Nachwirkung nicht mehr aus.

2.1.2 Recht des Arbeitskampfes

Solange ein Arbeitsvertrag gültig ist oder Verhandlungen über einen neuen im Gange sind, herrscht Friedenspflicht; d.h. es darf zu keinen Arbeitskampfmaßnahmen - ausgenommen sind vorher angekündigte Warnstreiks – kommen.

Der Begriff Arbeitskampf an sich verknüpft mehrere Bedeutungen in einem Wort. So wie er im heutigen Sprachgebrauch und in der Medienlandschaft oft verwendet wird, stellt der typische Arbeitskampf den Streik der Arbeitnehmer zur Erzwingung ihrer tarifrechtlichen Forderungen dar. Der Streikablauf und Gebrauch ist durch jahrzehntelange Traditionen und Verständnis der Tarifautonomie geprägt, die mittlerweile die Entstehung und Abläufe in Deutschland nahezu vereinheitlicht hat. In rechtlicher Hinsicht gewährleistet Art. 9 Abs. 3 GG als Grundrecht die institutionelle Garantie, den Arbeitskampf als Instrumentarium der Tarifvertragsparteien zur Erreichung oder Verhinderung einer tarifvertraglichen Regelung zu gebrauchen, aber das Arbeitskampfrecht an sich ist nicht gesetzlich normiert und stellt damit größtenteils Richterrecht dar[14][15]. Arbeitskampf stellt damit auch „im weiteren Sinne (…) jede kollektive Maßnahme des sozialen Gegenspielers Arbeitgeber und Arbeitnehmer (dar) mit dem Ziel, die jeweils andere Seite unter Druck zu setzen“[16]. Arbeitskampf als begleitende Maßnahme der Verhandlungen zum Abschluss eines Tarifvertrages darf aber nur nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip angewendet werden, eine komplette Arbeitsniederlegung darf nur die ultima ratio sein. Die Unzulässigkeit eines Streikes oder nicht ordnungsgemäße Durchführung eines solchen ist gerichtlich überprüfbar und kann einen fristlosen Kündigungsgrund darstellen. Nach allgemeiner Rechtsauffassung und Rechtssprechung des BAG ist ein Streik nur dann zulässig, wenn

- der Arbeitskampf von einer Gewerkschaft organisiert wird,
- der Abschluss eines zulässigen Tarifvertrages erreicht werden soll,
- die eventuell bestehende Friedenspflicht beachtet wird und
- nicht unverhältnismäßig, v.a. aus wirtschaftlicher Sicht, gegenüber dem Arbeitgeber ist.

Bevor es allerdings zu Arbeitskampfmaßnahmen nach dem Scheitern von Verhandlungen kommt, kann von beiden Seiten eine sog. Schlichtung angerufen werden. Eine Schlichtung kann entweder von einer Kommission mit wenigen Vertretern von beiden Seiten oder, in bedeutenden Branchen, auch von einflussreichen Personen der Zeitgeschichte durchgeführt werden; das Ergebnis ist entweder eine Schlichterempfehlung oder ein verbindlicher Schlichterspruch, was aber eher selten der Fall ist. Eine staatliche Zwangsschlichtung existiert in Deutschland nicht, wohl aber vertragliche Vereinbarungen zwischen den Tarifvertragsparteien über die Modalitäten einer solchen Schlichtung. Die Schlichtungsvereinbarungen sind individuell gestaltet und nicht weiter gesetzlich geregelt.

2.2 Praktische Maßnahmen im Arbeitskampf

2.2.1 Mehrheitliche Willensbildung - Urabstimmung

Die Urabstimmung ist die Form der Willensbekundung der Mitglieder einer Tarifvertragspartei und wird hauptsächlich von den Gewerkschaften durchgeführt. Es wird eine bestimmte Fragestellung zur Abstimmung gebracht, die eine bedeutende Auswirkung auf das Verhalten der Gewerkschaft und ihrer Mitglieder hat; die Abstimmung stellt somit das Handeln der Gewerkschaft auf eine mehrheitliche Grundlage. Die Urabstimmungen sind rechtlich nicht weiter festgelegt, gesetzliche Quoten sind nicht vorgegeben. Die Gewerkschaften handhaben die Urabstimmungen entweder als Einzelfall[17]oder übertragen sie auf ein bestimmtes Gremium, das dann die nötigen Mehrheiten in einer Richtlinie festsetzt[18]; es hat sich allerdings durchgesetzt, dass zur Zustimmung eines Streikaufrufes min. 75% aller Wahlberechtigten dafür stimmen müssen. Die Zustimmung zu einem ausgehandelten Tarifvertrag soll min. 25,1% betragen, damit dieser tatsächlich angenommen wird.[19]

2.2.2 Mittel der Arbeitnehmer

Zur Verfolgung eines Tarifabschluss werden verschiedene Arten von Streiks geführt. Nach erfolgreicher Urabstimmung sind z.B. temporär und personell befristete Warnstreiks zur Verdeutlichung von Forderungen während Tarifverhandlungen möglich. Sollten die Verhandlungen nicht zu einer Einigung führen, kommt es durch die beteiligte Gewerkschaft oder Gewerkschaften in der Regel zu einer weiteren Urabstimmung über die Aufnahme von temporär, räumlich und personell ausgeweiteten oder, bei anhaltenden Verhandlungsschwierigkeiten, zu unbefristeten Streiks; bei den fast jährlich neu zu schließenden Tarifabschlüssen, wie z.B. in der Metall-, Chemie- oder Baubranche oder eben auch im öffentlichen Dienst sind die Verhandlungen meistens von Warnstreiks bis hin zu unbefristeten Streik begleitet, wobei die Vergangenheit gezeigt hat, dass ein Tarifabschluss nicht unbedingt von Streik begleitet werden muss.

Zusätzlich kann ein Streik auch aus Solidarität zu anderen Arbeitskämpfen geführt werden, z.B. zur Unterstützung der Forderungen der gleichen Gewerkschaftsmitglieder aus unterschiedlichen Betrieben bzw. Wirtschaftsbranchen oder aus reiner Sympathie. Diese Streiks sind nach Auffassung des BAG ebenfalls durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt:

"So kann zum einen die durch den Unterstützungsstreik gezeigte Solidarität die Kampfbereitschaft der den Hauptarbeitskampf führenden Gewerkschaftsmitglieder stärken(…) Dies gilt in besonderem Maße, wenn es sich um die Mitglieder derselben Gewerkschaft handelt(…)Vor allem gibt es aber in der Realität des Arbeits- und Wirtschaftslebens unabhängig von formellen Verbandszugehörigkeiten zahlreiche unterschiedliche Einfluss- und Reaktionsmöglichkeiten(…).So existieren insbesondere zwischen wirtschaftlich und regional verbundenen Arbeitgebern unabhängig von einer Mitgliedschaft im selben Arbeitgeberverband regelmäßig zahlreiche Verbindungen und Kontakte, die eine zumindest informelle, darum aber keineswegs weniger wirksame Einflussnahme ermöglichen(…)“[20].

Eine weitaus mächtigere, aber ebenso seltenere Form des Arbeitskampfes ist der politische Streik, z.B. zur Erzwingung von bestimmten staatlichen Handlungen oder dem Umsturz eines politischen Systems. Dieser Streik stellt allerdings eine Besonderheit dar, da er nicht vom Arbeitsrecht erfasst wird, sondern von staatsrechtlichen Normen reguliert werden muss. Der Generalstreik nach dem Kapp-Putsch 1920 z.B. war ein rein politisch orientierter Streik zur Abwendung des Putsches ohne weitere Folgen für die Arbeitsbedingungen der Streikenden, abgesehen von den politischen Auswirkungen. In der Bundesrepublik Deutschland ist ein politischer Streik aufgrund des Demokratieprinzips – Äußerung des Volkswillens durch Wahlen – und der in Art. 9 Abs. 3 GG abschließenden Streikzulässigkeit verboten. Erlaubt ist er in solchen Fällen, in denen jeder Deutsche sich der staatsbürgerlichen Pflicht aus Art. 20 Abs. 4 GG bedient, um Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung abzuwenden, wenn die verfassungsmäßige Gewalt dazu nicht mehr in der Lage ist.

[...]


[1]Kittner; Arbeitskampf, S. 234

[2]Kittner; Arbeitskampf, S.468

[3]Kittner; Arbeitskampf, S.472

[4]Hans-Böckler-Stiftung, Kurz-Chronik 1945 bis heute, abgerufen am 12.01.2009, http://www.boeckler.de/559_21360.html

[5]BAG, AZ 1 AZR 822/79, 16.06.1980 und BVerfG, AZ 1 BvF 2/86, 04.07.1995

[6]Pfohl; Arbeitsrecht, Rdnr. 502

[7]Pfohl; Arbeitsrecht, Rdnr. 502

[8]Bayreuther; Gutachten, S. 2

[9]Bayreuther; Gutachten, S. 17

[10]Pfohl; Arbeitsrecht, Rdnr. 513

[11]Pfohl; Arbeitsrecht, RdNr. 514

[12]vgl. netzeitung 28. Juni 2005, „IG Metall droht mit Kurswechsel in Tarifpolitik“, aufgerufen am 12.01.2008, URL: http://www.netzeitung.de/arbeitundberuf/345998.html

[13]Pfohl; Rdnr. 523

[14]Pfohl; Arbeitsrecht Rdnr. 478

[15]BVerfG, AZ 1 BvR 1191/03, 10.09.2004

[16]Pfohl; Arbeitsrecht, Rdnr. 478

[17]vgl. ver.di, Satzung, § 70 Abs. 1

[18]vgl. verdi, § 70 Abs. 4, § 41 Nr. 4 Buchst. g)

[19]vgl. Holl; Der Arbeitskampf, S. 54

[20]BAG, AZ 1 AZR 396/06, 19. Juni 2007

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2009
ISBN (PDF)
9783956849398
ISBN (Paperback)
9783956844393
Dateigröße
720 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und Rechtspflege in Bayern - Hof
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2,5
Schlagworte
Arbeitskampf Öffentlicher Dienst Charta der Grundrechte der Europäischen Union Tarifautonomie Tarifvertragsgesetz

Autor

Sebastian Gründel wurde 1985 in Nürnberg geboren und schloss 2009 an der FHVR für Allgemeine Innere Verwaltung in Hof sein Studium mit Verleihung des akademischen Grad Diplom-Verwaltungswirt (FH) ab. Bereits zu Schulzeiten war das Interesse an gesellschaftlichen Problemen und Zusammenhängen zwischen Staat, Gesellschaft und Wirtschaft geweckt. Im gewählten Studienschwerpunkt Dienstrecht und Staatsfinanzen war dem Autor die Beschäftigung mit dieser doch recht ungewöhnlichen Thematik daher auch ein persönliches Anliegen.
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