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Macht die Diagnose einer psychischen Erkrankung krank? - Auswirkungen der Diagnose: Selbstbild, Fremdwahrnehmung sowie private und berufliche Konsequenzen

©2013 Bachelorarbeit 60 Seiten

Zusammenfassung

Macht die Diagnose einer "psychischen Erkrankung" den Betroffenen erst krank, indem sie ihn für "krank" erklärt? Wie wirkt sich eine solche Diagnose auf das Selbstbild, auf die Art und Weise, wie andere einen wahrnehmen und behandeln, aus? Zu welchen privaten und beruflichen Konsequenzen kann sie führen? Wird durch sie aus einem vorübergehenden Zustand eine "chronische Erkrankung" gemacht? - Mit jenen spannenden Fragen setzt sich dieses Buch auseinander, das sich auf zwei offene Interviews mit einer Mutter und ihrem Sohn, die beide im jungen Erwachsenenalter als "bipolar" diagnostiziert worden sind, stützt. Unter Einbezug des Labeling Approach ("Etikettierungsansatz"), der sozial-konstruktivistischen und systemischen Sichtweise und der Annahme, dass Stigmatisierung zu Selbststigmatisierung führen kann, erfolgt eine hypothesengeleitete Interpretation der Interviewergebnisse. Deutlich wird, dass eine psychiatrische Diagnose mehr Probleme schaffen als lösen kann; führt sie dazu, dass die von ihr Betroffenen nur noch an die Prognose ihrer Diagnose und nicht mehr an sich selbst glauben können.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Praxisteil: Welche Auswirkungen hat die Diagnose "bipolar" auf die von ihr Betroffenen?

3.1 Methodendarstellung und Interviewpartner

Im Sinne qualitativer Forschung wurden mündlich zwei offene Interviews mit M. (weiblich, 50 Jahre) und ihrem Sohn B. (27 Jahre) geführt, aufgezeichnet und transkribiert. Beide Interviewpartner haben im Rahmen ihres ersten stationären Aufenthaltes in einer psychiatrischen Einrichtung die Diagnose "bipolar" bekommen - M. im Alter von 27 Jahren nach 5 Wochen; B. im Alter von 23 Jahren, bereits nach einer Woche. M. war zu diesem Zeitpunkt als Fachkrankenschwester für Psychiatrie tätig, verheiratet und Mutter dreier Kinder; B. studierte zum Zeitpunkt der Diagnosestellung, um Berufsschullehrer zu werden und war in einer Beziehung.

Die Interviewpartner hatten sich - als sie von der Thematik dieser Studie erfahren haben - spontan und von sich aus dazu bereiterklärt, ihre Erlebnisse zu schildern. Sie waren unter Zusicherung von Anonymität dazu eingeladen, rückblickend von ihren Erfahrungen mit der Diagnose "bipolar" zu erzählen - dabei sollte insbesondere ihre persönliche Einstellung zur Diagnose, die Bedeutung, die sie ihr beimessen, erfahrbar werden. Im Vorfeld der Untersuchung wurden - ausgehend vom theoretischen Hintergrund und von den erstellten Hypothesen - Schwerpunkte festgelegt, aus denen sich ein Grundgerüst für die Fragestellungen ergeben hat, das sich in der Kategorisierung der Ergebnisdarstellung wiederspiegelt. Einen Schwerpunkt des Interviews bildeten der Umgang mit der Theorie der "genetischen Vorbelastung" - diese Fragestellung bot sich an, da die Diagnose "bipolar" in der Familie der Interviewpartner bereits mehrfach aufgetaucht ist. Desweiteren sollte erfahren werden, inwieweit die Diagnose Einfluss auf die Art und Weise hatte, wie sie sich selbst sehen; inwieweit sich diese auf ihre berufliche Situation auswirkte; wie sie selbst und andere auf die Diagnose reagierten - ob hier (Selbst-)Stigmatisierungsprozesse stattfanden. Es sollte auch erkannt werden, ob sie die Diagnose "bipolar" für sich selbst als sinnvolle Erklärung und Hilfestellung ansehen bzw. welche anderen Erklärungen sie für ihre Schwierigkeiten und deren Lösung haben.

Die Schwerpunkte dienten als Anregung, um die für dieses Buch als relevant empfundenen Aspekte zur Sprache zu bringen - wobei die Schwerpunktsetzung natürlich auch das Gespräch lenkte und somit Einfluss darauf gehabt haben könnte, was gesagt wurde und was nicht. Dennoch wurde im Interview kein fertiger Fragebogen abgearbeitet, sondern die Gesprächsführung weitgehend offen gelassen, um mehr Freiräume und ein flexibleres Vorgehen zu ermöglichen.

Ausgehend von Humberto Maturanas Aussage, es gibt keine Beobachtung unabhängig vom Beobachter (vgl. 1982, 8) und der "Reflexive Grounded Theory" (Breuer 2009, 115 ff) kann die Interpretation der Ergebnisse nur auf Grundlage der eigenen Annahmen und Voreingenommenheit der Autorin und Interviewerin, die Teil des Forschungsprozesses war, erfolgen und Gültigkeit besitzen.

3.2 Ergebnisdarstellung

3.2.1 Umgang mit der Theorie der "genetischen Vorbelastung"

M. äußerte, dass sie zum Zeitpunkt der Diagnosestellung nicht wusste, dass diese Diagnose bereits bei ihrem Vater und anderen Verwandten gestellt wurde (Appendix, Interview mit M., 17 - 20)[1]. Somit waren auch die Diagnosesteller nicht darüber informiert, was gegen die Hypothese sprechen würde, dass nicht die "Erkrankung" sondern die Diagnose in einer Familie weitergegeben wird. Dieser Idee stimmt M. auch nicht zu - sie ist inzwischen davon überzeugt, dass es eine solche "genetische Vorbelastung" gibt. Dabei beruft sie sich darauf, dass es wissenschaftlich nachgewiesen ist, dass die "Erkrankung vererbbar" ist und sieht dies durch ihr heutiges Wissen, dass die Diagnose schon so oft in ihrer Familie aufgetaucht ist, bestätigt (299 - 307). Auch wenn sie sich vorstellen kann, dass Ärzte durch das Wissen um eine "familiäre Häufung" in ihrer Entscheidung beeinflusst werden können, sollten diese ihrer Auffassung nach darüber informiert sein - "damit sie die Diagnose besser stellen können und die richtige Entscheidung treffen können" (M., 295 - 297). Ein Problem sieht sie in der Diagnose, die mit einem chronischen Verlauf verbunden ist, nicht, auch dann nicht, wenn die "Symptome der Erkrankung" bei der Diagnosestellung erstmals auftreten. Vielmehr geht sie davon aus, dass ein chronischer Verlauf durch die Medikamente vielleicht verhindert werden kann (283 - 290). Somit wäre dieses Wissen für Ärzte eine positive Entscheidungshilfe.

B. hingegen kannte die Theorie der "genetischen Vorbelastung" zum Zeitpunkt der Diagnosestellung bereits - unter anderem durch seine Mutter. Beim diagnostischen Prozess wurde diese auch abgefragt, wodurch er die Entscheidung der Ärzte beeinflusst sah. Die Idee, nicht die "Erkrankung", sondern die Diagnose würde weitergegeben werden, findet er spannend (Appendix, Interview mit B., 24). Ob die Schwierigkeiten, die zur Diagnose führten, nun Veranlagung sind, von der Mutter abgeguckt wurden oder dadurch entstanden sind, dass er als Kind permanent damit konfrontiert war, kann er nicht sagen (78 - 81). Besonders belastend war es für ihn, dass ihm die Ärzte bei der Diagnosestellung (bipolar II) bereits vorausgesagt haben, dass er in ein paar Jahren genau die "Erkrankung" seiner Mutter (bipolar I) - verbunden mit einer schwerwiegenderen Ausprägung - bekommen würde (52 - 53). Aufgrund des Glaubens an eine "familiäre Vorbelastung" prognostizierten sie ihm einen chronischen Verlauf, obwohl seine Schwierigkeiten in dieser Zeit erstmals aufgetreten sind. B. war verärgert, dass er die "Krankheit" von seiner Mutter "geerbt" hat (28 - 29), was impliziert, dass er zu diesem Zeitpunkt selbst an eine "genetische Vorbelastung" glaubte.

Welche Auswirkungen diese Annahme haben kann, wird in der Interpretation der Ergebnisse untersucht.

3.2.2 Persönliche Bedeutung der Diagnose und Selbstbild

M. hatte bereits vor der Diagnose den Verdacht "bipolar" zu sein, da sie nach ihrer Aussage seitdem sie 12 Jahre alt war jedes Jahr zwei "Krankheitsphasen" hatte. In ihrer Ausbildung zur Fachkrankenschwester für Psychiatrie und Neurologie lernte sie das "Krankheitsbild" kennen und erkannte sich selbst darin wieder (Appendix, Interview mit M., 14). Für sie war die Diagnose das "Beste was ihr passieren konnte," weil sie dadurch den Beweis hatte, dass sie "kein Versager" - nicht "einfach nur faul" - sei, sondern eine "richtige Krankheit" hatte (44 - 47). Ebenso fand sie es positiv, dass sie durch die Diagnose merkte, mit ihren Problemen nicht allein zu sein, weil es noch andere gibt, denen es genauso geht wie ihr. Mit anderen Betroffenen konnte sie erstmals über ihre Probleme sprechen, fand auch eine Selbsthilfegruppe, die ihr einen Austausch über gemeinsame Probleme ermöglichte (47 - 52). Sie erhoffte sich durch die Diagnose Verständnis und sah diese als Möglichkeit, endlich durch Medikamente Hilfe zu bekommen (53 - 57). Eine andere Option, außer einer medikamentösen Behandlung, hat ihr die Diagnose aber damals (Jahr 1990) nicht eröffnet - in ihrer Ausbildung hat sie gelernt, dass diese Krankheit nur mit Medikamenten behandelt wird und Psychotherapie sogar als kontraproduktiv angesehen wird (62 - 65). Dass es noch andere Möglichkeiten gibt, hatte sie erst später erfahren.

Mit der Diagnose konnte sie sich vollends identifizieren - alles, was sie über die "bipolare Erkrankung" gelesen hat, hat auf sie zugetroffen, es gibt nichts, worin sie sich nicht wiedererkannt hat; was sie "einfach nur toll" gefunden hat (193 - 198). Die Diagnose stellte für sie eine volle Bestätigung und auch Entlastung - in dem Sinne, dass sie "krank" ist und nicht einfach nur "schlechte Eigenschaften" hat - dar.

Ganz anders sieht B. die Diagnose "bipolar." Er assoziiert mit ihr all das, was er in seiner Kindheit bei seiner Mutter als "krank" erlebt hat: ständige Stimmungsschwankungen, permanente Müdigkeit, traurig sein, viel Weinen, unzufrieden sein, sensibel sein, unfähig sein, tagelang irgendetwas zu schaffen, ein Leben lang Medikamente nehmen, einen Schwerbehindertenausweis bekommen, nicht mehr arbeiten können (Appendix, Interview mit B., 67 - 70/ 128 - 130). Die Krankheit seiner Mutter zu haben bzw. zu bekommen - wie ihm die Ärzte das vorausgesagt hatten - war das Letzte, was er wollte (60 - 62). Durch die Diagnose waren für ihn im Kopf Familie und eine Beziehung abgehakt, weil er das, was er in seiner Kindheit erlebt hat, seinen Kindern nicht antun wollte (73 - 93). "Eigentlich [war] mein schönes Leben vorbei, in dem Moment wo die gesagt haben: 'Sie kriegen das, was Ihre Mutter hat'", äußerte B. (61 - 62). Alles, was er sich für sein Leben vorgenommen hatte - unter anderem sein Ziel Berufsschullehrer zu werden - schien für ihn nicht mehr erreichbar zu sein. "Bipolar" zu sein, bedeutete für ihn, so zu sein, wie seine Mutter es war. Die Diagnose beschreibt er wie einen "Stempel", der besagt hat: "Dein Leben hat keinen Zweck mehr, weil du jetzt die Krankheit hast" (B., 127 - 128) - wodurch er nach seiner Aussage "mutlos und willenlos" wurde, in einer "Scheiß-egal-Stimmung" war und "erst recht keine Lust mehr hatte weiterzuleben" (115 - 117/ 132). Er konnte sich selbst aufgrund der Diagnose nur noch als "Kranken" sehen, fühlte sich "nicht mehr so stark", glaubte der Prognose der Ärzte, dass es mit ihm immer schlimmer werden würde, er sein Leben lang Medikamente nehmen müsse und dass es für ihn keine Möglichkeit gäbe, selbst etwas an diesem "neuen Lebenslauf", den ihm die Diagnose prophezeite, zu ändern (86 - 93).

Während M. durch die Diagnose "bipolar" entlastet wurde, stellte sie für B. eine enorme Belastung dar - in der Interpretation der Ergebnisse wird untersucht, woraus diese unterschiedlichen Einstellungen resultieren könnten.

3.2.3 Konsequenzen der Diagnose auf die berufliche Situation

M. war aufgrund der Diagnose mit vielen Vorurteilen konfrontiert, die dazu führten, dass sie auf ihrer Arbeit als Krankenschwester von den Kollegen gemobbt wurde. Das ging so weit, dass Patienten über ihre Diagnose informiert wurden, die sich von "einer Verrückten" nicht behandeln lassen wollten. Sechs Jahre nach der Diagnose war sie dazu gezwungen, eine Abfindung zu unterschreiben und ihren Beruf, der ihr viel bedeutet hat, aufzugeben. Sie bekam einen Schwerbehindertenausweis und erhält seitdem sie 33 Jahre alt ist Erwerbsunfähigkeitsrente (Appendix, Interview mit M., 121 - 127). "So schlimm krank - also dass ich dann laufend in die Klinik musste - bin ich erst geworden als ich die Arbeit verloren hatte und zuhause war. Das würde ich als Auslöser sehen", schilderte sie (M., 136 - 138). Sie war daraufhin fünf Jahre lang "ganz oft" und "fast das ganze Jahr lang nur krank und in der Klinik", weshalb sie auch glaubte, nicht mehr arbeiten zu können bzw. angibt, dass sie aufgrund dieser Entwicklung nicht mehr in der Lage war zu arbeiten (137 - 142). An diesem Zustand änderte auch die medikamentöse Behandlung nichts. Die Frage, ob dieser Verlauf auch ohne den Verlust ihrer Arbeitsstelle - wegen dem sie sich weniger wert gefühlt hätte - so gekommen wäre, bleibt (für sie) offen und im Nachhinein nicht mehr überprüfbar (142 - 143).

Fest steht, dass es ihr, nachdem sie sich zehn Jahre später wieder einen Beruf (Minijob) suchte, besser ging (153). Hier lässt sich klar ein Zusammenhang zwischen Berufstätigkeit, Selbstwertgefühl und Gefühlslage erkennen.

Da B. glaubte, dass er mit der Diagnose ohnehin keine Zukunft mehr hat, ist er nicht mehr arbeiten und nicht mehr an die Uni gegangen. Er hat versucht den ganzen Tag nur zu schlafen - hat Schlaftabletten genommen, um "nichts mehr vom Leben mitzukriegen" (Appendix, Interview mit B., 117 - 119). Die Diagnose hat dazu geführt, dass er seinen Studiengang gewechselt hat, da er ja glaubte mit dieser "Erkrankung" kein Lehrer werden zu können. Auch deshalb, weil die Ärzte ihm gesagt haben, dass psychische Diagnosen im Lebenslauf erscheinen, wenn man sich irgendwo bewirbt, dass dies nachgefragt wird und er mit der Diagnose einer psychischen Erkrankung kein Beamter werden kann (45 - 49). Seine Berufschancen sah er dadurch deutlich vermindert, weshalb er seine beruflichen Ziele nicht mehr verfolgte. Heute würde er seine Entscheidung gern rückgängig machen, wofür es seiner Meinung nach inzwischen aber zu spät ist. Weil er die berufliche Qualifikation - aufgrund der durch die Diagnose beeinflussten Entscheidung, seinen Studiengang zu wechseln - nicht erwerben konnte, kann er seinen Traumberuf als leidenschaftlicher Berufsschullehrer für Gartenbau nicht ausüben kann (412). Er beklagt, dass er ohne diesen Wechsel sein Studium bereits vor einem Jahr beendet hätte und dann das hätte machen können, was er eigentlich wollte. Stattdessen studiert er jetzt Fächer, die ihn nicht interessieren und von denen er seiner Aussage nach "keine Ahnung" hat (288 - 292).

Hieran wird erkennbar, welche extremen Auswirkungen die Diagnose einer "psychischen Erkrankung" für die Zukunftsplanung eines jungen Menschen haben kann.

Vergleicht man die Geschichten von M. und B., so wird deutlich, dass beide aufgrund der Diagnose "bipolar" daran gehindert wurden, den Beruf auszuüben, der ihnen wichtig war. Während M. ihren Beruf als Folge der Stigmatisierung durch andere aufgeben musste; gab B. seinen Beruf auf, weil er sich durch seine Diagnose selbst stigmatisierte.

3.2.4 Reaktionen anderer

M. hatte sich aufgrund ihrer Diagnose Verständnis durch andere erhofft, deshalb erzählte sie in der Anfangszeit jedem davon (Appendix, Interview mit M., 119 - 121). Durch die Diagnose hatte sie schließlich einen Begriff, der ihr Verhalten als etwas, an dem sie keine Schuld trägt, erklärt. Sehr bedauert sie, dass ihre Mutter ihr nicht geglaubt hat, dass sie "krank" ist - dass sich durch die Diagnose nichts daran änderte, dass diese ihrer Meinung nach ihre Probleme herunterspielte und dachte, sie sei faul und müsse sich einfach nur mal zusammenreißen (309 - 321). Ihr Mann wollte sie aufgrund ihrer Diagnose entmündigen lassen, auch von ihm bekam sie wenig Verständnis, wobei sie eingesteht: "andererseits verstehe ich es aber auch, dass man für sowas wenig Verständnis haben kann ... Also, wenn ich jetzt an der Stelle wäre und der Partner wäre dauernd krank, weiß ich nicht, ob ich da auch so viel Verständnis haben könnte" (M., 166 - 168).

Bei Kollegen, die M. nicht so gut kannten, hatte sie den Eindruck, dass sie ihr gegenüber aufgrund der Diagnose misstrauischer waren - sie vermutete, dass sie sie genauer beobachten, nach dem Motto: "Was macht die Verrückte jetzt wieder als nächstes?" (M., 169 - 170). Die Auswirkungen, die das auf ihre berufliche Situation hatte, wurden bereits beschrieben.

Eine Freundin von ihr hätte es hingegen "ganz toll" gefunden, dass sie eine "Verrückte" kannte und damit in der Kleinstadt angeben konnte - die Sonderstellung, die ihr durch die Diagnose zukam, hat aus M. für andere eine Art "Attraktion" gemacht, was sie anfangs lustig fand (155 - 158). Anderseits begegnete sie vielen Vorurteilen und Ungerechtigkeiten, die Auswirkungen auf die ganze Familie hatten - so durften andere Kinder beispielsweise nicht mehr mit ihren Kindern spielen (110 - 111).

Durch diese negativen Erfahrungen, die sie durch die Reaktionen anderer machen musste, erzählt sie heute niemandem mehr von ihrer Diagnose. Mehrfach betonte sie, dass das ein großer Fehler war und nur Nachteile bringt und dass sie es jedem, der eine solche Diagnose bekommt, empfiehlt, nicht darüber zu sprechen (121 - 122/ 250).

B. erzählte - wie seine Mutter - allerdings auch jedem von seiner Diagnose, sagte aber auch jedem, wie "doof er das fand" (Appendix, Interview mit B., 135 - 137). Die Reaktionen anderer auf seine Diagnose waren der Versuch ihn zu trösten, was ihn noch mehr genervt hätte. Er hatte das Gefühl, dass ihm jeder helfen wolle, war den ganzen Tag "nur noch am Telefonieren", weil ständig jemand anrief, um sich zu erkundigen, wie es ihm gehe - mit den meisten Anrufen konnte er nichts anfangen (137 - 145).

Seine Mutter (M.) hat die Nachricht - dass er jetzt auch die Krankheit hat - seiner Auffassung nach - "freudig" aufgenommen. Ihm kam es so vor, als ob seine Mutter sich durch das gemeinsame Schicksal erhofft hatte, wieder einen besseren Kontakt - der zu diesem Zeitpunkt nicht gut gewesen ist - zu bekommen. Die ständigen Vergleiche seiner Mutter mit ihm haben ihm aber überhaupt nicht geholfen, weshalb er den Kontakt erst recht nicht mehr herstellen wollte (154 - 163). Das wird verständlich, betrachtet man seinen Ärger darüber, die "Krankheit" von seiner Mutter "geerbt" zu haben und die negativen Assoziationen mit der Diagnose, die er durch das, was er bei seiner Mutter erlebt hat, hatte.

Geholfen haben ihm die Gespräche mit seinen Großeltern (den leiblichen Eltern seiner Mutter), da sie seinen Zustand nicht als "Krankheit" gesehen haben, sondern ihm zuhörten, mit ihm über seine Gefühle und bestimmte Situationen, die ihm Probleme bereiteten, sprachen, dabei überlegten, wie er sich vielleicht anders verhalten kann (163 - 173).

Während M. die Reaktion ihrer Mutter, dass diese ihr nicht glaubte, dass sie "krank" ist, als fehlendes Verständnis und Belastung erlebte, war es für B. hilfreich, dass M.s Mutter ihn darin bestärkte, dass er nicht "krank" sei, sondern mit ihm nach Lösungsmöglichkeiten suchte.

3.2.5 Eigene Erklärungen der Probleme und ihrer Lösungsmöglichkeiten

M. glaubt, dass die "bipolare Erkrankung" sehr stark von einem gestörten Gehirnstoffwechsel abhängt. "Grade in den manischen Phasen, da bist du ja wie unter Drogen. [...] da muss ja irgendwas passieren im Gehirn - sowas kommt ja nicht von selbst, also ... da bist du ja, wie wenn du Koks genommen hättest, oder sonst welche Drogen. [...] Ich denke, da schüttet das Gehirn schon irgendwelche Botenstoffe aus oder irgendwas, was das dann bewirkt, diesen Rausch", erklärt sie (Appendix, Interview mit M., 90 - 94). Aber sie äußert auch den Gedanken, dass man nicht alles auf den Gehirnstoffwechsel schieben kann - wie dies zur Zeit ihrer Diagnosestellung noch geglaubt wurde: "Heutzutage weiß man ja auch dass bestimmte Lebensereignisse oder auch Gedanken solche Phasen auslösen können" (M., 78 - 79). Als Auslöser für "Krankheitsphasen" kann sie sich den Verlust ihrer Arbeit, ihre schwierige Ehe und Kindheit vorstellen (153 - 158/ 74 - 77). Dennoch sind ihre Reaktionen auf solche Auslöser gegenüber "gesunden" Menschen viel zu extrem und deshalb "nicht mehr normal" (148 - 149). Da es ihr nach ihrer Aussage in den letzten Jahren deutlich besser geht, sie sich gar nicht mehr als "krank" sieht, lag die Frage nahe, wie sie sich diese Besserung erklärt. Als Gründe dafür gibt sie an, dass sie ihr Leben durch die Scheidung und die neue Arbeit verändert hat. Ebenso erklärt sie es sich durch die "guten Medikamente", die sie jetzt bekommt. Einen hohen Stellenwert misst sie der analytischen Therapie - dem "katatymen Bilderleben"[2]- bei, die ihr sehr dabei geholfen hat, ihre Kindheit aufzuarbeiten und ihr Leben verändert hat (219 - 221). Außerdem beruft sie sich auch hier auf wissenschaftliche Studien, die besagen, "dass die Krankheit bei vielen im Alter ausbrennt" (M., 243).

B. erklärt sich seine damaligen Probleme inzwischen durch einen "Burnout" - diese Diagnose ist bei seiner Therapie herausgekommen (Appendix, Interview mit B., 189). Sein Burnout resultierte für ihn neben "viel Arbeit, Stress, wenig Geld und lange[n] Nächten" (B., 198) daraus, dass er zu dieser Zeit eine Freundin hatte, die "Borderlinerin" ist und ihn mit ihren Eigenschaften an seine Mutter und seine Kindheit erinnert hat (190 - 192). Durch seine Beziehung sind "Schubladen" aufgemacht worden, in denen die nichtverarbeiteten Kindheitsprobleme "verstaut" waren. Seine Kindheit in einer Therapie noch einmal "aufzurollen" ist für ihn sehr hilfreich gewesen (299 - 317). Hier lässt sich eine Parallele zwischen M. und B. erkennen, die beide dem Zusammenhang von Kindheit und späterer Entwicklung eine große Bedeutung beimessen und die Aufarbeitung dieser in einer Therapie als große Bereicherung sahen.

Positiv hebt B. hervor, dass sein Therapeut gleich zu Beginn zu ihm gesagt hat: "Komm, jetzt ist die Diagnose erst mal vergessen" (B., 178 - 179) und stattdessen mit ihm geschaut hat, an welchen konkreten Problemen sie arbeiten können.

Das stellte eine klare Entlastung für B. dar, für den die Diagnose "bipolar" eine Belastung, die neue Probleme verursachte, und keine Hilfestellung war. Dass er aufgrund der Diagnose von Medikamenten abhängig gemacht wurde, war für ihn am schlimmsten. Durch die Medikamente ist er nicht mehr er selbst gewesen, hatte keine Emotionen mehr und das Gefühl, nichts daran ändern zu können (348 - 349). Da ihn alle Ärzte und "Beipackzettel" davor warnten die Medikamente abzusetzen, dachte er die ganze Zeit nur: "Oh, ich nehm jetzt die Tablette nicht - oh ich bring mich morgen um" (B., 344 - 345). Besonders kritisiert er, dass sein Psychiater, der ihn gar nicht kannte und nicht einmal mit seinem Therapeuten gesprochen hat, nur auf Grundlage der in der Klinik erstellten Diagnose über ihn bzw. die Gabe der Medikamente entschied (167 - 173). "Das hat natürlich einfach dazu geführt, dass ich ihm nicht mehr die Wahrheit gesagt habe und einfach nur noch pflichtgemäß dahin gegangen bin, zu den Terminen und dann ruckartig wieder raus bin und das Rezept hab' ich gleich in die nächste Mülltonne geknallt", äußerte er (B., 190 - 193). Diese Reaktion war wohl seine einzige Möglichkeit noch selbst zu bestimmen, was mit ihm passiert. Dass der Psychiater monatelang nicht merkte, dass B. gar keine Medikamente mehr nimmt, hat B. darin bestärkt, dass ein Arzt nicht innerhalb von 5 min einschätzen kann, wie es einem Patienten geht und schon gar nicht über die Art und Weise der Medikation entscheiden darf (156 - 164). Daran merkte er aber auch, dass er die Medikamente entgegen der Ansicht der Ärzte und der Diagnose "bipolar" nicht benötigte.

Heute ist er froh, dass er keine Medikamente nehmen muss und dass er - wie sein Therapeut feststellte - nicht "bipolar" ist (319 - 320). Die Therapie war das einzig Positive an der Diagnose, da ihm bewusst ist, dass man die Diagnose benötigt, um eine Therapie zu bekommen. Er fände es sinnvoller, wenn man sich in einer Therapie erst zwei Jahre kennenlernt, bevor gesagt wird, "was man hat." Anhand von Fragebögen und "Gesprächen mit Studenten" kann man nicht innerhalb einer Woche eine Diagnose stellen, so wie es bei ihm gewesen ist. Das Risiko, dass Symptome pauschalisiert und zu schnell einem "Obersymptom" - einer Diagnose - zusammengefasst werden, schätzt er als hoch ein - dabei würde nicht danach gefragt werden, worum es dem Patienten eigentlich geht, sondern so sehr "runter reduziert" und verallgemeinert, dass nur eine "Pauschaldiagnose" entstehen kann, die das, was den Diagnostizierten wirklich beschäftigt nicht vollständig erfassen kann (220 - 245).

3.3 Interpretation der Ergebnisse

3.3.1 Hypothese 1

Die Diagnose einer 'psychischen Erkrankung' schränkt bei dem 'Etikettierten' das Gefühl der Selbstwirksamkeit ein und hat deshalb einen negativen Einfluss auf Selbstwahrnehmung, Selbstwertgefühl und die eigene Entwicklung.

Insbesondere an B.s Fallbeispiel wurde deutlich, dass die Diagnose bei ihm dazu führte, dass er sämtliche Ziele - in beruflicher, privater wie familiärer Hinsicht - für unerreichbar hielt und deshalb auch, solange er daran glaubte "bipolar" zu sein, nicht mehr verfolgte. Würde man mit Rüsch u.a. (2004, 5ff) argumentieren, so läge hier eine extreme Selbststigmatisierung vor, aus der diese Entwicklung resultierte. B. generalisiert das, was er bei seiner Mutter als "krank" erlebt hat und kommt deshalb zu der Annahme, dass "bipolar" zu sein bedeutet, so zu sein, wie seine Mutter es war. Die enorme Belastung, die diese Diagnose für ihn darstellte, wird aufgrund der Bedeutung, die er ihr beimisst, verständlich. Dass er sich selbst und seine bisherigen Ziele aufgrund der Diagnose aufgab, impliziert, dass er mit dieser bestimmte Vorurteile verknüpft: wer "manisch-depressiv" ist, hat keine berufliche Zukunft, kann keine Beziehung führen und keine Familie gründen, weil er sein Leben lang "krank" und eine Belastung für andere ist. Geht man kognitivistisch davon aus, dass unser Denken und unser Handeln eng miteinander verwoben sind, so entscheidet die Art und Weise, wie wir Dinge bewerten und wahrnehmen, darüber, wie wir mit ihnen umgehen (vgl. Palmowski 2011, 9). Dadurch, dass B. mit der Diagnose derart negative Assoziationen verbindet - diese als etwas bewertet, das es einem fast unmöglich macht ein glückliches, erfolgreiches, erfülltes Leben zu führen - zeigte er ein solch resigniertes Verhalten, welches darin endete, dass er sich selbst, seine Aufgaben und Ziele völlig vernachlässigte. Klar wird dies an seiner Aussage, ihm sei ein Stempel aufgedrückt worden, der sagte: "Dein Leben hat jetzt keinen Zweck mehr, weil du jetzt die Krankheit hast" (Appendix, Interview mit B., 127). Dadurch, dass er sich durch die Diagnose nur noch als "Kranken" - als "hoffnungslosen Fall" - sehen konnte, war seine Motivation selbst etwas zu ändern, kaum mehr vorhanden; sah er für sich auch keine wirklichen Möglichkeiten selbst etwas an seiner Situation ändern zukönnen.

Betrachtet man hingegen M.s Fallbeispiel, so würde man darin auf den ersten Blick einen Widerspruch zu oben genannter Hypothese sehen. Für sie stellte die Diagnose "bipolar" doch wohl eher eine Entlastung dar, da sie nun wusste, dass sie eine "richtige Krankheit" hat, und somit eine Erklärung für ihre Auffälligkeiten hatte. Eine Erklärung, die nicht aus den "schlechten Eigenschaften", wie "Faulheit" - von denen sie vermutete, dass andere diese ihr aufgrund ihres Verhaltens zuschrieben - resultiert, sondern aus einem medizinischen Phänomen. Verbindet man diese Überlegung mit Palmowskis Aussage "Wir Menschen ziehen es vor, mit Theorien zu arbeiten, die uns selber schützen, auch wenn sie uns kaum brauchbare Handlungsmöglichkeiten anbieten" (2007, 76) - so ist die Diagnose "bipolar" für sie als ein Schutz vor derartigen Anschuldigungen zu verstehen. In dieser Schutzfunktion stellte diese zumindest für ihr Selbstwertgefühl keine Gefahr, sondern eher eine Bereicherung dar. Dennoch wurde ihr zum Zeitpunkt der Diagnosestellung vermittelt - da dies Anfang der 90er der Forschungsstand gewesen sei - dass die "Erkrankung" nur medikamentös behandelbar ist. Dies impliziert, dass man selbst eigentlich nichts machen kann, um den eigenen Zustand zu ändern - die Diagnose konnte M. also kein Gefühl der Selbstwirksamkeit vermitteln. Sie konnte bei ihr nur die Hoffnung aufkommen lassen, dass ihr endlich geholfenwird- durch Medikamente, etwas worauf sie - abgesehen von deren Einnahme - nur wenig Einfluss nehmen kann.

Da sie im Gegensatz zu B. die Diagnose trotz der verheerenden Auswirkungen, die diese letztendlich auf ihre berufliche Situation hatte, als vollends positiv bewertet, schien diese ihr Selbstbild nicht negativ zu beeinflussen - auf die Frage hin, was heute anders wäre, hätte sie die Diagnose nicht bekommen, antwortete sie: "Da würde ich vielleicht heute Drogen nehmen oder obdachlos sein" (Appendix, Interview mit M., 194). In dem Fall hat die Diagnose ihrer Meinung nach keinen negativen Einfluss auf ihre Entwicklung genommen - wie dies in der Hypothese vermutet wird - sondern sie davor bewahrt ein noch schlimmeres Schicksal zu erleiden.

Dadurch, dass die Diagnose für B. eine klare Belastung und für M. eine Entlastung darstellte, scheint der Umgang mit einer solchen Diagnose entscheidend dafür zu sein, ob und wie sich diese auf das Selbstbild auswirkt.

Eine Umformulierung der Hypothese in "Die Diagnose einer 'psychischen Erkrankung' schränkt bei dem 'Etikettierten' das Gefühl der Selbstwirksamkeit ein und kann dazu führen, dass man sich selbst stigmatisiert, was einen negativen Einfluss auf Selbstwahrnehmung, Selbstwertgefühl und die eigene Entwicklung haben kann" erscheint aufgrund dieser Ergebnisse sinnvoll. Beiden konnte die Diagnose schließlich im ersten Moment kaum Möglichkeiten zur Selbsthilfe bieten. Der Aspekt, dass für B. die Diagnose "bipolar" dazu führte, dass er sich als "Kranker" weniger wert fühlte; bei M. aber das Gegenteil bewirkte, weil sie durch die Diagnose den Beweis dafür hatte, dass sie "krank" und kein "schlechter Mensch" war, kann in diesem Zusammenhang allerdings nicht vernachlässigt werden.

Präzisierung der Hypothese - Selbststigmatisierung aufgrund von Stigmatisierung

Doch warum hatte die gleiche Diagnose bei M. und B. derart unterschiedliche Auswirkungen auf das Selbstbild - wie kommt die Selbststigmatisierung zustande, die eine Gefahr für den Selbstwert darstellt? Um sich einer Antwort auf diese Frage anzunähern scheint eine zweite Abwandlung der Hypothese in "Die Diagnose einer psychischen Erkrankung kann dazu führen, dass die 'Etikettierten' durch andere stigmatisiert werden, was einen negativen Einfluss auf ihre Selbstwahrnehmung, ihr Selbstwertgefühl und ihre Entwicklungsmöglichkeiten hat" als gewinnbringend. Im Folgenden soll dieser Erklärungsansatz anhand der Interviewergebnisse untersucht werden.

Dass die Diagnose "bipolar" für B. mit so vielen Vorurteilen behaftet ist, kommt natürlich - wie bereits beschrieben - einmal dadurch, dass er sie eng mit dem beobachteten "Krankheitsbild" seiner Mutter verknüpft. So äußerte er im Interview, dass er die Krankheit aus seiner Kindheit gut kennt (Appendix, Interview mit B., 274) und erklärt seine Assoziationen mit der Diagnose "bipolar" als das, was er sein Leben lang und in seiner Kindheit bei seiner Mutter gesehen hat (64 - 65). Andererseits liegt es nahe, dass diese Vorurteile auch durch gesellschaftlich geprägte - deren Auswirkung er bei seiner Mutter im extremsten Ausmaß u.a. auf ihre berufliche Situation miterlebt hat - und mit denen er sich selbst durch die Diagnose konfrontiert sah, entstanden sind. Entscheidend ist hier die Prognose der diagnosestellenden Ärzte, die es sich anmaßten, vorauszusagen, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis die "Krankheit" so schlimm ausbrechen würde, wie bei seiner Mutter; ihm mitteilen, dass seine beruflichen Chancen hiermit sinken würden. - Die einem jungen Mann, der gerade eine Krise durchmacht, sein Leben am liebsten beenden würde, mit einer solchen Äußerung auch noch die letzte Hoffnung auf Besserung nehmen. Solche Annahmen könnten vermuten lassen, dass diese Ärzte wohl selbst Vorurteile gegenüber "psychisch Kranken" haben - die sie vielleicht durch ihr "Expertendasein", ihre "Erfahrung", ihren ICD-10, der chronische Verläufe voraussagt oder wissenschaftliche Studien, die ganze Familien stigmatisieren, indem sie beweisen wollen, dass die Gene in diesen Familien ausschlaggebend dafür sind, dass Kinder "psychisch kranker" Eltern mit großer Wahrscheinlichkeit selbst "psychisch krank" werden, bewahrheitet und unantastbar sehen.

Eine Einteilung der Menschen in "psychisch gesund" und "psychisch krank", wobei die einen jede Möglichkeit zur Entwicklung haben und den anderen vermittelt wird, sie können aufgrund ihrer "Erkrankung" nicht so viel leisten und aushalten wie andere - im Extremfall wie M. als "schwerbehindert" eingestuft werden, was genau das aussagt - kann nicht hilfreich sein und somit nur einen negativen Einfluss auf die Entwicklung haben. Durch eine Diagnose werden die ganz individuellen Schwierigkeiten eines Menschen zu einem "Krankheitsbild" zusammengefasst - das "Kranksein" wird zu einer Eigenschaft, die eine bestimmte Gruppe von Menschen verbindet und sie somit auch auf dieses "Kranksein" reduziert. Wer in diese Gruppe einsortiert wird, wird vom Rest der Gesellschaft unterschieden und die Gefahr, dass man durch sie nur noch als "krank" erlebt und behandelt wird, steigt.

Wie schnell man aufgrund von Vorurteilen in eine solche Schublade gesteckt werden kann, zeigt B.s Erfahrung, dass er bereits nach einer Woche die Diagnose "bipolar" bekam und das, obwohl seine Schwierigkeiten erstmals aufgetreten sind. Ein chronischer Verlauf, der Auswirkungen auf sein gesamtes weiteres Leben haben würde, wurde ihm vorausgesagt. Zu einer derart schnellen Entscheidung, die von den Ärzten als unausweichliche Tatsache erklärt wurde, können diese nur gekommen sein, weil sie das, durch wissenschaftliche Studien erzeugte, extrem personenbezogene, Vorurteil "psychische Erkrankungen" seien vererbbar, als Wahrheit ansehen. Doch was wäre, wenn nicht die "Erkrankung" sondern die Diagnose innerhalb einer Familie weitergegeben werden würde - und zwar deshalb, weil Ärzte in ihrem Urteil durch die Überzeugung, eine "genetische Vorbelastung" existiere, in ihrer Entscheidung so beeinflusst und voreingenommen sind, dass sie andere Erklärungsmöglichkeiten gar nicht erst in Erwägung ziehen? - Nur das selektiv wahrnehmen (können), was ihre eigene Voreingenommenheit und die "wissenschaftlichen Erkenntnisse", die diese bewirken, bestätigt. Der extrem kurze diagnostische Prozess, nach dem B. als "bipolar" eingestuft wurde, spricht dafür. Auch wenn die Diagnose bei M. gestellt wurde, ohne dass die Ärzte von der familiären Häufung wussten, was ein Gegenargument darstellt, scheint diese Hypothese plausibel; wenn auch im Rahmen dieser Arbeit nicht klar zu beantworten.

Wird eine Diagnose so vermittelt, wie das bei B. seiner Aussage nach geschehen ist, so kann sie nicht Ausgangspunkt einer Hilfestellung darstellen, sondern nur - wie es Labeling-Approach besagt - eine gesellschaftlich zugeschriebene Rolle, die einen letztendlich "krank" macht. "Krank" in dem Sinne, dass man sich selbst mit so einer Diagnose als "krank" wahrnimmt, dass man von anderen "krank" wahrgenommen wird, dass durch diese (Selbst-)Wahrnehmung Vorurteile hervorgerufen und produziert werden, die einen glauben lassen, man könne als "Kranker" nichts erreichen, nichts an dem eigenen "Kranksein" ändern. Die Erfahrung der Selbststigmatisierung, die bei B. durch die Diagnose, die mit ihr verbundenen Vorurteile und die Art und Weise ihrer Übermittlung provoziert wurde, lässt also durchaus die Bestätigung der Hypothese zu, diese würde sich negativ auf das Selbstbild, das Selbstwertgefühl, die Selbstwirksamkeit und somit auch auf die Entwicklung auswirken.

Auch bei M. war es die aus der Diagnose resultierende Stigmatisierung, die letztendlich negative Auswirkungen auf ihre Selbstwahrnehmung, ihren Selbstwert und ihre Entwicklung hatte. Dadurch, dass andere aus ihrer Diagnose die Konsequenz zogen, dass sie als "psychisch Kranke" nicht mehr als Krankenschwester arbeiten kann, sie sogar als "schwerbehindert" eingestuft wurde, wurde sie in ihrer Entwicklung schwer behindert. Ihre Probleme nahmen daraufhin im extremen Ausmaß zu; "krank"gemachtwurde sie also dadurch, dass andere sie wie eine "Kranke" behandelten und aufgrund der Diagnose für sie entschieden, dass sie ihren Beruf nicht weiter ausüben kann. Und dadurch könnte ein Regelkreis entstanden sein, der nicht auf einen gestörten Gehirnwechsel zurückzuführen ist: Weil M. nicht mehr arbeiten konnte, wurde sie depressiv und weil sie depressiv wurde, konnte sie nicht mehr arbeiten. Weil sie aufgrund dieses entstandenen Regelkreises durch den Verlust ihrer Arbeit, fünf Jahre lang fast durchgängig in psychiatrischen Anstalten verbrachte, hat sich das Vorurteil für andere - und was noch gefährlicher ist, für sie selbst - bestätigt, dass jemand, der "bipolar" ist, nicht dazu in der Lage ist, die gleiche Arbeitsleistung zu erbringen, wie jemand, der als "psychisch gesund" gilt. Und dieses Vorurteil hat B. dann für sich übernommen, der - wie es auf den ersten Blick auch logisch erscheint - die langen und extremen "Krankheitsphasen" der Mutter als ausschlaggebend dafür gesehen hat, dass sie als "psychisch Kranke" nicht arbeiten kann. Dabei ist die Möglichkeit, dass ihre Probleme eben aufgrund der Folgen der Diagnose aufrechterhalten wurden, weil ihr vermittelt wurde, dass das so kommen wird, nicht außer Acht zu lassen. Hätte sie die Arbeit behalten, wäre diese Entwicklung vielleicht nicht so gekommen - diese Vermutung beruht darauf, dass es ihr, nachdem sie sich wieder eine Beschäftigung gesucht hatte, besser ging; denn dadurch hat sie den Regelkreis, in dem sich nicht arbeiten und Depression gegenseitig bedingen, verlassen. Eine weitere Überlegung - die ebenfalls durch einen Regelkreis, der aus ihrer familiären Situation heraus erklärbar wird - ist Folgende: dadurch, dass M. depressiv wurde, konnte ihr Mann ihr nur wenig Verständnis entgegenbringen und weil ihr Mann ihr nur wenig Verständnis entgegenbringen konnte, wurde sie depressiv - wiederum führte das Ende dieser Ehe dazu, dass ihre Probleme weniger wurden, was diese Theorie stützt. Somit sind durch die Diagnose - durch den Glauben daran, selbst "krank" zu sein und die Einschätzung anderer, dass sie "krank" ist - durchaus ungünstige Kontexte geschaffen worden, die zu einer negativen Entwicklung führten.

Dafür spricht auch, dass M. in der Zeit in der sie nicht arbeiten konnte und die schwierige Ehe führte, weder die vielen stationären Aufenthalte, noch Medikamente, noch Elektroschocks helfen konnten. Wäre es nun personenbezogenen gesehen, nur der "gestörte Gehirnstoffwechsel" gewesen, der ihre Probleme verursachte, so hätten Medikamente diesen doch ganz leicht wieder ins Gleichgewicht bringen können - was zu einer Besserung geführt hätte. Dass diese Besserung aber trotz Medikation nicht eintraf, lässt vermuten, dass es nicht allein die inneren Faktoren, sondern die "kranken Kontexte" und die aus den Folgen von Stigmatisierung entstandenen Regelkreise waren, in denen sie sich bewegte, die ihre "Krankheit" aufrechterhielten. Weil sich durch die Diagnose bipolar so stark darauf fixiert wurde, dass das Problem in ihrem Gehirn zu beheben ist, fand das ungünstige Zusammenspiel, sich gegenseitig bedingender, äußerer Faktoren keine Beachtung. Letztendlich war es ja aber das aktive Verlassen dieser Regelkreise, das es ihr ermöglichte wieder ein selbstbestimmtes und glückliches Leben zu führen.

3.3.2 Hypothese 2

Die Diagnose "bipolar" macht aus einem vorübergehenden Zustand eine chronische Erkrankung.

Die eben angestellten Überlegungen lassen eine weitere Hypothese aufkommen, nämlich die, dass die Diagnose "bipolar" aus einem vorübergehenden Zustand eine chronische Erkrankung macht. Nach M.s Aussage waren ihre Schwierigkeiten zum Zeitpunkt der Diagnosestellung schon chronisch (Appendix, Interview mit M., 201), was gegen diese Hypothese sprechen würde. Auf der anderen Seite entsteht die Frage, ob es sinnvoll ist, mit der eigenen Erfahrung zu argumentieren - also anzunehmen, dass etwas, was schon immer so war, auch immer so bleiben wird. Die Diagnose "bipolar" - verbunden mit einem chronischen Verlauf - scheint M.s eigene Erfahrung dann bestätigt zu haben, was ausschlaggebend dafür gewesen sein könnte, dass die Entwicklung genauso eingetroffen ist, wie sie und die Diagnose es vorausgesagt haben. "Der Mensch ist immer das, was der Mensch glaubt zu sein" (Palmowski 2007, 53) - glaubt der Mensch, dass er "bipolar" und damit "chronisch krank" ist, dann ist er es auch; dann wird er auch genau das selektiv an sich wahrnehmen, was seine Annahme bestätigt. Bei M. hat diese Identifikation mit der Diagnose extreme Ausmaße angenommen, was sich auf ihre Aussage im Interview stützt, dassalles, was sie über die "bipolare Erkrankung" gelesen hat, auf sie zugetroffen hat - dass esnichtsgab, in dem sie sich nicht wiederfinden konnte. Gibt man sich selbst die Chance, sich normal zu entwickeln, wenn man von seiner "kranken Identität" derart überzeugt ist? Birgt die Diagnose einer "psychischen Erkrankung" nicht die Gefahr in sich, dass man völlig in der Rolle des "Kranken" aufgeht - vor allem dann, wenn sie eine Bestätigung dessen darstellt, was man ohnehin schon weiß? - Was andere ohnehin schon wissen?

Der chronische Verlauf, den die "bipolare Erkrankung" bei M. nahm, ließe sich systemisch gesehen durch die oben beschriebenen Regelkreise, die durch die Konsequenzen, die die Diagnose "bipolar" mit sich brachte, entstanden sind, erklären - ohne diese Entwicklung automatisch auf eineihr eigene"Krankheit" zurückführen zu müssen. Die Diagnose könnte in ihrem Fall als eine aufrechterhaltende Bedingung interpretiert werden. Die Flucht in die "Krankheit" vielleicht sogar als etwas, das in diesem Kontext eine Funktionalität gehabt hat. Als M. in einem (nicht aufgezeichneten) Gespräch mit der systemischen Perspektive konfrontiert wurde, die besagt, dass jedes Verhalten in einem bestimmten Zusammenhang für den, der es zeigt, eine Bedeutung - einen Sinn - haben kann, antwortete sie: "Was soll denn an einer Depression sinnvoll sein?" (Zitat M., 17.06.13). Betrachtet man den enormen Leidensdruck, den dieser Zustand mit sich bringt, so ist diese Frage durchaus gerechtfertigt. Dennoch könnten die "Krankheitsphasen" für sie unbewusst die einzige Möglichkeit gewesen sein, der schwierigen familiären Situation zu entkommen - denn dadurch, dass sie nicht mehr arbeiten konnte, konnte sie nur noch zuhause sitzen und sich langweilen (Appendix, Interview mit M., 151). Ein stationärer Aufenthalt - der in diesem Zusammenhang eine Fluchtmöglichkeit darstellen könnte - wurde ihr erst durch solche Phasen "ermöglicht." In der Psychiatrie traf sie auf Menschen, die sie verstanden, mit denen sie reden konnte, in denen sie sich wiedererkannte und somit erlebte, dass sie mit ihren Schwierigkeiten nicht allein ist. Im Kontext der Psychiatrie war ihr "Kranksein" also normal und deshalb durchaus funktional - weil sie in diesem geschützten Raum so sein konnte, wie sie glaubte, dass sie es ist, ohne dafür kritisiert zu werden. Doch dadurch, dass sie sich immer mehr mit der "Krankheit" identifizierte, (durch die Diagnose) immer mehr die Rolle der "Kranken" annahm, wurden auch Bedingungen geschaffen, die einen chronischen Verlauf begünstigten. Durch die Diagnose wurde sie als "krank" eingestuft und somit wurde die Möglichkeit ausgeschlossen, dass ihre "Krankheitsphasen" innerhalb der Kontexte, in denen sie auftraten, eine Funktion hatten - die somit nicht durch eine medikamentöse Behandlung auszuschalten waren, sondern erst dann nachließen, als die Kontexte durch die Veränderung ihrer Lebensverhältnisse von ihr verlassen wurden. Auch wenn M. die Diagnose für sich als hilfreich erlebte, so liegt die Vermutung nahe, dass durch sie ein chronischer Verlauf konstruiert wurde.

B. hingegen konnte als die Diagnose "bipolar" bei ihm zurückgezogen wurde und weil er heute nicht mehr daran glaubt, "manisch-depressiv" zu sein, seinen Selbstwert wieder herstellen, hat seine Ziele wieder aufgenommen - steht heute vor seinem Abschluss, ist verlobt und seit einem Jahr Vater. Ob dies auch so gekommen wäre, hätte die Diagnose "bipolar" weiter Bestand gehabt, kann nicht beantwortet werden, scheint aber fraglich zu sein. Die Diagnose hatte ihm schließlich den Glauben an sich selbst genommen, in dem sie ihn glauben lies, er sei ein "Kranker", der die Entwicklung nehmen muss, die ihm die Diagnose prophezeite.

[...]


[1]Die Zahlenangaben beziehen sich auf die Zeilen des jeweils transkribierten Interviews, aus denen die zugrundeliegenden Informationen entnommen wurden.

[2]Ein tiefenpsychologisch fundiertes Verfahren, bei dem mit Hilfe von Imaginationen und Tagträumen systematisch und methodisch therapeutisch gearbeitet wird. Eingeführt von Hanscarl Leuner 1954 (vgl. Bahrke/ Nohr 2013, 1f).

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2013
ISBN (PDF)
9783958205529
ISBN (Paperback)
9783958200524
Dateigröße
805 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Erfurt
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,3
Schlagworte
Selbststigmatisierung Etikettierung bipolar Interview Diagnose psychische Erkrankung

Autor

Charlotte Fritsch wurde 1991 in Weimar geboren. Aufbauend auf ihren Bachelor in Förderpädagogik und Germanistik studiert sie derzeit im Magister Lehramt-Förderpädagogik an der Universität Erfurt. Die Autorin absolvierte bereits 12 Praktika im sozialen, psychiatrischen und (förder-)pädagogischen Bereich und leitete für ein Jahr ehrenamtlich vier Theatergruppen zur Förderung sozialer Kompetenzen in einer integrativen Grundschule. Nicht nur im Studium und in ihrer beruflichen Praxis setzt sie sich mit dem Einfluss psychiatrischer Diagnosen auf die Betroffenen auseinander, sondern auch auf literarischem Wege - so z.B. in ihrem Jugenddrama "Zwischen mir und mir. Sommerferien in der Psychiatrie", das 2013 im Periplaneta Verlag Berlin erschienen ist.
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Titel: Macht die Diagnose einer psychischen Erkrankung krank? - Auswirkungen der Diagnose: Selbstbild, Fremdwahrnehmung sowie private und berufliche Konsequenzen
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