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Warum manchen Menschen das Lesen so schwer fällt: Ursachen, Diagnostik und Therapie der Teilleistungsstörung Dyslexie

©2012 Bachelorarbeit 46 Seiten

Zusammenfassung

Schriftsprache ist eine der elementaren Kommunikationsmöglichkeiten in unserer alphabetisierten Gesellschaft, so dass Menschen, die diese Fähigkeiten nicht beherrschen große Probleme in vielen Lebensbereichen bekommen. In diesem Buch wird in mehreren Schritten versucht, sich dieser Teilleistungsstörung zu nähern. Dabei werden Erkenntnisse aus mehreren wissenschaftlichen Bereichen genutzt. Die Entwicklungspsychologie erklärt, wie Kinder zu ihrer Sprache finden. Die Neuropsychologie versucht dem Lese-lern-Prozess auf die Spur zu kommen. Durch die Neurobiologie erfahren wir, wie unser Gehirn Buchstaben und Wörter verarbeitet. Die Molekularbiologie versucht auf der kleinsten Ebene die Veränderungen im Gehirn zu erklären, die eine Dyslexie auslösen können. Alle zusammen sind dann bestrebt Lösungen für die Störung zu finden. Die tatsächlichen Abläufe und Prozesse des Lesens sind bis heute nicht eindeutig geklärt, aber die Erkenntnisse verdichten sich und sind auf einem guten Weg. Deshalb sind die im Buch vorgestellten Ansätze auch eher hypothetisch zu verstehen, die sich auf biologische und psychologische Untersuchungen stützen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


3. Die Neurobiologie des Lesens und der Dyslexie

Welche Prozesse während des Lesens im menschlichen Gehirn ablaufen, ist nicht eindeutig geklärt. So sprechen die Neurowissenschaftler Bruce D. McCandliss, Laurent Cohen & Stanislas Dehaene von einem speziellen «visuellen Wortform-Areal» imGyrus fusiformis(McCandliss, Cohen, Dehaene 2003). Die zentrale visuelle Verarbeitung ist im Gegensatz dazu neurobiologisch gut beschrieben. Im Folgenden wird die Verarbeitung visueller Reize von der Netzhaut bis zum primären visuellen Kortex und die Weiterverarbeitung von der primären Sehrinde zu anderen kortikalen und subkortikalen Gebieten des Gehirns ausführlicher dargestellt.

Denn wie sich zeigen wird, ist der Weg von der Analyse abstrakter Formen – zu denen auch Buchstaben und Wörter gehören – bis zu deren Wahrnehmung ein komplexer Prozess, dem bestimmte Strukturen unerlässlich zugrunde liegen.

3.1 Die visuelle Verarbeitung von der Netzhaut bis zum primären visuellen Kortex

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1:Darstellung des binokularen und monokularen Gesichtsfelds und Projektion des visuellen Reizes durch die entsprechenden Retinazellen(Bear, Connors, Paradiso 2009, S. 343)

Der gesamte durch die Augen wahrnehmbare Raum wird «Gesichtsfeld» genannt. Der menschliche Wahrnehmungsbereich umfasst horizontal einen Kegel von etwa 180° und vertikal von etwa 100° (Zihl 2006). Das Gesichtsfeld wird unterteilt in ein binokulares und ein monokulares Gesichtsfeld (Abbildung 1). Der folgende Test verdeutlicht diesen Unterschied: Ein Stift wird in einiger Entfernung vor das Auge gehalten und fixiert. Dann werden erst das linke und danach das rechte Auge geschlossen. Dabei ist zu erkennen, dass ein Ausschnitt des Gesichtsfeldes von beiden Augen, ein Teil aber nur von einem Auge wahrgenommen wird. Wie aus Abbildung 1 ersichtlich, wird dabei die linke Gesichtsfeldhälfte von der nasalen Retina des linken Auges und der temporalen Retina des rechten Auges abgebildet (Bear, Connors, Paradiso 2009). Trifft ein visueller Reiz auf die Netzhaut (Retina) wird dieser über den Sehnerv – die gebündelten Axonen der Retinaganglienzellen – weitergeleitet. Die Sehnerven beider Augen vereinen sich imChiasma opticum(vgl. Abbildung 1) und ziehen danach alsTractus opticusin die verarbeitenden Gebiete des Gehirns. Dabei kreuzen sich die Axone der nasalen Retinaganglienzellen imChiasma opticumund ziehen in die kontralaterale Hemisphäre (vgl. Abbildung 1). Die Axone desTractusopticusbilden Synapsen in verschiedenen subkortikalen Gebieten des Gehirns (Bear, Connors, Paradiso 2009).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.2: Colliculus superior (oberer kleiner Hügel) im Mittelhirndach (Bear, Connors, Paradiso 2009, S. 346)

Ein Teil der Axone innerviert den Hypothalamus. Diese Projektionen spielen eine wichtige Rolle für den Schlaf-Wach-Rhythmus. (Bear, Connors, Paradiso 2009) Ungefähr 10% der retinalen Ganglienzellen ziehen in einen Bereich des Mittelhirns, den Colliculus superior (Abbildung 2). Dieser Teil des Gehirns ist für die Kontrolle der Augen- und Kopfbewegung sowie die Steuerung der Pupillenweite zuständig (Bear, Connors, Paradiso 2009). Diese Eigenschaft ist für das Lesen von großer Bedeutung, da hier die Augenbewegungen während des Lesens – die sogenannten «Sakkaden» – gesteuert werden. Ein weiteres Gebiet, welches an der visuellen Wahrnehmung beteiligt ist, ist das Pulvinar. Es handelt sich dabei um eine Struktur im posterioren Thalamus, die aus vier Hauptkernen besteht: dem oralen, dem medialen, dem lateralen und dem inferioren Kern. Außerdem oralen Kern sind alle anderen Kerne an der visuellen Wahrnehmung beteiligt. Die Pulvinarkerne erhalten Eingänge aus dem Colliculus superior, dem Prätektum, dem primären visuellen Kortex sowie weiteren visuellen Verarbeitungsgebieten des Parietal und des Temporallappens. Die Ergebnisse tierexperimenteller und krankheitsbedingter Läsionsstudien legen nahe, dass das Pulvinar eine Rolle bei der Entscheidung spielt, welchem visuellen Reiz die Aufmerksamkeit zukommt – was wiederum eine wichtige Voraussetzung für das Lesen ist. (Bear, Connors, Paradiso 2009; Zihl 2006) Der Großteil der retinalen Axone projiziert in das Corpus geniculatum laterale (CGL), das im dorsalen Thalamus lokalisiert ist. Hier werden Informationen verarbeitet, die dann zum primären visuellen Kortex weitergeleitet werden und für die bewusste visuelle Wahrnehmung bedeutsam sind. Deshalb wird diese Bahn auch Sehstrahlung (Radiatio optica) genannt (Bear, Connors, Paradiso 2009; Kandel, Mason 1995). Da sowohl das CGL als auch der primäre visuelle Kortex für die Wahrnehmung – und damit für das Lesen – eine wichtige Rolle spielen, werden diese Strukturen im Folgenden ausführlicher vorgestellt.

3.1.1 Das Corpus geniculatum laterale (CGL)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3:Lokalisation des CGL eines Makaken im dorsalen Thalamus und Unterteilung der Schichten im Querschnitt(Bear, Connors, Paradiso 2009, S. 347)

Das CGL ist im dorsalen Thalamus lokalisiert. Es ist die erste postchiasmatische Schaltstation und empfängt Informationen von den Retinaganglienzellen, den Axonen des primären visuellen Kortex, dem Hirnstamm und anderen Kerngebieten des Thalamus. Etwa 90% der Retinaganglienzellen führen in den primären visuellen Kortex. (Goldstein 2002) Im Querschnitt lassen sich sechs dunkel gefärbte Schichten erkennen. Dabei zeigt sich, dass die Schichten 1 und 2 durch großkörnigere Zellstrukturen gekennzeichnet sind, während die Schichten 3 bis 6 kleinere Zellen besitzen (Abbildung 3). Entsprechend werden die ersten beiden Schichten «magnozellulär» oder «M-Zellen» genannt und die Schichten 3 bis 6 als «parvozellulär» oder «P-Zellen» bezeichnet. Die Schichten zwischen den dunkel gefärbten Bereichen werden koniozelluläre Schichten genannt. Das CGL ist im Gehirn paarig angelegt. Dabei erhält das linke CGL die visuellen Informationen der rechten Gesichtsfeldhälfte. Wie in Abbildung 1, S. 8, zu sehen ist, wird die rechte Gesichtsfeldhälfte von der rechten nasalen Retina und der linken temporalen Retina abgebildet. Die Axone der Retinaganglienzellen des rechten Auges bilden ipsilateral Synapsen mit den Schichten 2, 3 und 5 des CGL und kontralateral mit den Schichten 1, 4 und 6 des CGL. Die rezeptiven Felder (siehe Glossar) der versorgenden Neurone sind nahezu identisch mit denen ihrer Zielstrukturen. Dabei bilden die M-Zellen der Retina Synapsen mit den magnozellulären Schichten des CGL, die P-Ganglienzellen dagegen mit den parvozellulären Schichten des CGL. Die koniozellulären Schichten des CGL erhalten Eingänge von den non-M- und non-P-Zellen der Retina. Die unterschiedlichen Zelltypen analysieren unterschiedliche visuelle Merkmale.

3.1.2 Der primäre visuelle Kortex

Der primäre visuelle Kortex ist im Okzipitallappen lokalisiert. Weitere synonyme Bezeichnungen sind V1, striärer Kortex, primäre Sehrinde oder Brodmann-Areal 17. Der primäre visuelle Kortex ist das einzige Projektionsgebiet des CGL; er ist in sechs Schichten angeordnet. Wie Abbildung 4 zeigt, ist dabei Schicht IV in vier Unterschichten unterteilt, nämlich in in IVA, IVB, IVC und IVCβ (Bear, Connors, Paradiso 2009). Im primären visuellen Kortex befinden sich verschiedene

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Abb .4:Ausschnitt aus der primären Sehrinde mit Darstellung der einzelnen Schichten(Bear, Connors, Paradiso 2009, S. 352)

Zelltypen (Abbildung 3.5(b), S. 11). Es lassen sich Sternzellen und Pyramidenzellen unterscheiden, die jeweils andere Verbindungen eingehen und Lokalisationen in der primären Sehrinde haben. Sternzellen kommen überwiegend in Schicht IVC vor und bilden Verbindungen innerhalb des primären visuellen Kortex. Außerhalb der Schicht IV kommen überwiegend Pyramidenzellen vor, deren Axone die primäre Sehrinde verlassen und Verbindungen mit anderen Bereichen des Gehirns bilden (Bear, Connors, Paradiso 2009). Die Informationen aus den jeweiligen Augen werden getrennt voneinander in der Schicht IVC des primären vi

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Abb.5(a) Afferenzen aus dem CGL – I = Interlaminare (Koniozelluläre) Schichten des CGL; P=Parvozelluläre Schichten des CGL; M=Magnozelluläre Schichten des CGL (b) Zelltypen in den jeweiligen Schichten des primären visuellen Kortex (c) Efferenzen aus der primären Sehrinde in die sekundären Verarbeitungsgebiete Übersicht über die zellulären Zusammenhänge im primären visuellen Kortex (Wurtz, Kandel 2000a, S. 533)

Verbindungen mit anderen Bereichen des Gehirns bilden (Bear, Connors, Paradiso 2009). Die Informationen aus den jeweiligen Augen werden getrennt voneinander in der Schicht IVC des primären visuellen Kortex abgebildet. Dies geschieht nicht lückenlos, sondern es zeigt sich, dass in regelmäßigen Abständen streifenförmige Anordnungen zu sehen sind. Diese Anordnungen werden Augendominanzsäulen genannt. Wie schon im CGL, bleibt auch in V1 eine retinotope (siehe Glossar) Projektion aufrechterhalten. Wie bereits erwähnt, sind die verschiedenen Zelltypen in unterschiedlichen Schichten der primären Sehrinde lokalisiert und bilden Verbindungen mit unterschiedlichen Bereichen im primären visuellen Kortex (Abbildung 3.5(a)). Sternzellen aus der Schicht IVC projizieren mit aufsteigenden Axonen hauptsächlich in Schicht IVB und Schicht III. Hier werden die Informationen des rechten und linken Auges erstmals zusammengeführt. Die Augendominanzsäulen sind nicht mehr so scharf getrennt, weil sich die rezeptiven Felder überlagern und die Informationen beider Augen vermischen. Sie werden binokulare rezeptive Felder genannt. Ohne diese rezeptiven Felder wäre der Mensch vermutlich nicht in der Lage, die getrennten Informationen beider Augen zu einem einheitlichen Bild zusammenzufügen (Bear, Connors, Paradiso 2009). Die anatomische Trennung der M- und P-Verarbeitungs­ströme bleibt auch im primären visuellen Kortex erhalten (Abbildung 3.5(a)). Dabei bekommt die Schicht IVCα magnozelluläre Eingänge vom CGL und projiziert überwiegend in die Schicht IVB (Abbildung 3.5(a) und 3.5(c)). Die parvozellulären Verarbeitungsströme vom CGL werden an die Schicht IVCβ geleitet und projizieren hauptsächlich in die Parvo-Interblobs (für Blobs siehe Glossar) von Schicht II und Schicht III (Abbildung 3.5(c)). Wie aus Abbildung 3.5(a) und 3.5(b) ersichtlich, können die Pyramidenzellen der Schichten III und IVB Synapsen zu den Dendriten von Pyramidenzellen aller Schichten der primären Sehrinde bilden (Bear, Connors, Paradiso 2009; Kandel, Mason 1995). Die Neuronen der primären Sehrinde reagieren auf unterschiedliche Merkmale visueller Reize. So gibt es spezielle Nervenzellen, die nur auf eine Orientierung des Objektes reagieren. Sie erhalten Afferenzen aus den parvozellulären Schichten des CGL (Abbildung 3.5(c)); es wird angenommen, dass diese Zellen die Objektform analysieren. Andere Neuronen reagieren nur auf die Richtung des Reizes. Sie erhalten Eingänge aus den magnozellulären Schichten des CGL und sind vermutlich mit der Analyse der Objektbewegung befasst. Die Neuronen der Blobs erhalten direkte Eingänge aus den koniozellulären Schichten des CGL und sind vermutlich für Farbanalyse visueller Reize zuständig. Von der Netzhaut bis zur primären Sehrinde zeigen sich parallele Verarbeitungspfade -komplexe visuelle Reize werden also getrennt voneinander verarbeitet (Roth 2011). Dabei lassen sich ein magnozellulärer Pfad, ein Parvo-Interblob- und ein Blob-Pfad unterscheiden (Bear, Connors, Paradiso 2009).

3.1.3 Die visuelle Verarbeitung jenseits des primären visuellen Kortex

Jenseits des primären visuellen Kortex zeigt sich eine zunehmende Komplexität und Spezialisierung der verarbeitenden Areale. Diese Gebiete werden auch sekundäre Verarbeitungsgebiete und tertiäre Verarbeitungsgebiete genannt. Die Weiterverarbeitung visueller Merkmale verläuft entlang von zwei Pfaden, dem dorsalen und dem ventralen Pfad. Obwohl jeder der Pfade Eingänge aus allen in der primären Sehrinde noch getrennten Verarbeitungsströme erhält, kann im weitesten Sinne von einer Fortführung des magnozellulären, Blob- bzw. Parvo-Interblob-Pfades gesprochen werden. Dabei bilden der Parvo-Interblob- und der Blob-Pfad den ventralen Pfad, der auch als der Was-Pfad bezeichnet wird; der magnozelluläre Pfad dagegen bildet den dorsalen Pfad, den sogenannten Wo-Pfad. Wie Abbildung 6 zeigt, ziehen die Projektionen zunächst von V1 über V2 zu V3. Ab hier beginnen die parallelen Pfade (Bear, Connors, Paradiso 2009; Kandel, Mason 1995). Der dorsale Pfad verläuft weiter in den medialen Temporallappen (MT oder V5) und in den Parietallappen. Spezielle Bereiche – etwa mediale superiore Temporallappen (MST) – sind vermutlich für die Kontrolle der Augenbewegungen und der Wahrnehmung bewegter Objekte verantwortlich (Abbildung 6). Der ventrale Pfad verläuft, wie aus Abbildung 6 ersichtlich, über V4 in den

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 6:(a) Detaillierte Abbildung der Verbindungen, (b) Schematische Gesamtübersicht der Verarbeitungswege im Gehirn Darstellung der visuellen Verarbeitung von der Retina bis zu den sekundären visuellen Arealen(nach Wurtz, Kandel 2000b, S. 550)

Kontrolle der Augenbewegungen und der Wahrnehmung bewegter Objekte verantwortlich (Abbildung 6). Der ventrale Pfad verläuft, wie aus Abbildung 6 ersichtlich, über V4 in den..................inferioren Temporallappen (IT). Das Areal V4 ist vermutlich mit Farbwahrnehmung befasst, denn aus Läsionsstudien ist bekannt, dass Verletzungen in diesem Bereich zu Achromatopsie – der Farbenblindheit – führen. Der inferiore Temporallappen scheint mit der Verarbeitung abstrakter Formen in Verbindung zu stehen. Des Weiteren wird vermutet, dass das visuelle Gedächtnis in diesem Areal lokalisiert ist. Es gibt einen kleinen Anteil von Neuronen im IT, der auf das Wahrnehmen und Wiedererkennen von Gesichtern spezialisiert ist (Bear, Connors, Paradiso 2009).

3.2 Die neuronalen Vorgänge beim Lesen – ein hypothetisches Modell des Lesens

Wie im letzten Abschnitt gezeigt wurde, ist der Prozess der visuellen Verarbeitung ein komplexer Vorgang, bei dem schon alleine in der primären Sehrinde komplizierte Verbindungen und Verflechtungen zu berücksichtigen sind. Obwohl die visuelle Verarbeitung nur einen Teilaspekt des Lesens darstellt, ist dieser doch ein sehr elementarer – denn ohne funktionierende Augen und ein intaktes Verarbeitungssystem wäre nicht einmal das Blatt zu erkennen, auf dem die Buchstaben und Worte geschrieben sind. Das bedeutet allerdings nicht, dass blinde Menschen nicht lesen könnten – sie tun dies nur mit anderen Sinnesmodalitäten. Wie bereits in Kapitel 1 erwähnt wurde, sind die neuronalen Vorgänge beim Lesen nicht eindeutig aufgeklärt und Neurowissenschaftler, Psychologen sowie Kognitionswissenschaftler auf der ganzen Welt versuchen, dieses Rätsel zu lösen. Im Folgenden wird ein mögliches Modell vorgestellt, das die neuronalen Abläufe während des Lesens und die Veränderungen im Gehirn beim Lesenlernen beschreibt. Dieses Modell von Maryanne Wolf stützt sich auf eine Vielzahl aktueller und auch älterer neuropsychologischer und bildgebender Studien (Wolf 2009). In diesem Modell werden Annahmen zugrunde gelegt, die experimentell zwar belegt, aber nicht uneingeschränkt anerkannt sind. Dies sind das Hebbsche Postulat derNeuronenverbändeund besonders das von Bruce D. McCandliss, Laurent Cohen & Stanislas Dehaene postuliertevisuelle Wortform-Areal. Diese beiden Postulate werden in zwei kurzen Exkursen vorgestellt, worauf dann ausführlich auf das Modell von Maryanne Wolf eingegangen wird.

Exkurs 1: Die Neuronenverbände (nach Hebb)

Donald O. Hebb postulierte, dass die interne Repräsentation eines Objekt von den Neuronen abgebildet wird, die durch den äußeren Reiz gleichzeitig aktiviert werden (Hebb 1949). Diese gleichzeitig feuernden Neuronen hat er als Neuronenverband bezeichnet. Hebb nahm an, dass all diese Zellen reziprok miteinander verschaltet sind. Daraus folgerte er, dass die Repräsentation so lange im Kurzzeitgedächtnis bestehe, wie der Reiz anhält. Eine weitere Hypothese war, dass es zu einer Konsolidierung des Neuronenverbands komme, wenn der Reiz lange genug andauere. Dies bewirke einen Wachstumsprozess, der die reziproken Verschaltungen effektiver mache, so dass gemeinsam feuernde Zellen auch synaptisch stark verknüpft blieben. In der Folge müsse dann nur noch ein Teil der Neurone aktiviert werden, um den gesamten Neuronenverband zu aktivieren, der die gesamte Repräsentation des Reizes auslöst (Bear, Connors, Paradiso 2009). Bezogen auf das Lesen ergibt sich daraus, dass die visuellen, orthografischen und phonologischen Repräsentationen so effektiv miteinander verschaltet sein müssen, dass innerhalb von Millisekunden (ms) ein sinnhaftes Wort wahrgenommen wird.

Exkurs 2: Das Wortform-Areal (nach McCandliss, Cohen & Dehaene)

Die Schriftsprache hat sich erst vor etwa 5400 Jahren entwickelt. Daher erscheint es paradox, bei der funktionellen Spezialisierung der extrastriären visuellen Areale von evolvierten Merkmalen, die einem Selektionsdruck unterstanden, auszugehen. Bruce D. McCandliss, Laurent Cohen & Stanislas Dehaene gehen von einem Entwicklungsprozess aus, in dem die Leseerfahrung eine langsame Spezialisierung des ventralen Verarbeitungspfades verursacht hat, die zur Herausbildung eines «visuellenWortform-Areals» (VWFA) geführt habe. Er vergleicht die Fähigkeit der Worterkennung mit dem Expertenwissen eines Ornithologen, der Vögel aufgrund von bestimmten Merkmalen schnell bestimmen kann. Dieses Expertenwissen sei ebenfalls in einem langen Lernprozess mit häufigen Wiederholungen erlangt worden und stelle eine Spezialisierung der Objekterkennung dar. In diesem Sinne ist das VWFA auch mit den Neuronenverbänden von Donald O. Hebb in Einklang zu bringen. Das VWFA ist nach McCandliss, Cohen & Dehaene im okzipitotemporalen Sulcus – an der Grenze zumGyrus fusiformis– lokalisiert. (McCandliss, Cohen, Dehaene 2003) Wie in Abschnitt 2.3 dargestellt wurde, erfordert der Schriftspracherwerb einenjahrelangen Lernprozess, in dem stufenweise spezielle Fertigkeiten erlernt werden. Diese entwicklungspsychologische Beobachtung findet ihre Entsprechung in dem VWFA, denn auch dieses wird im Wesentlichen durch Erfahrung und Übung ausgebildet, um später weitgehend automatisiert zu funktionieren (McCandliss, Cohen, Dehaene 2003). So verändere das Lesen lernen die Physiologie der Sehrinde (Wolf 2009). Dieser Vorschlag ist jedoch nicht unumstritten. Beispielsweise wurde in anderen Untersuchungen gezeigt, dass die Region, in der das VWFA lokalisiert sein soll, auch bei anderen Handlungen – wie zum Beispiel dem Hören gesprochener Sprache oder dem taktilen Lesen der Blindenschrift – aktiviert ist (Pammer et. al. 2004). Zudem ergab eine MEG-Studie, dass vor der Aktivierung des VWFA Bereiche im inferioren temporalen Gyrus – in der Umgebung des Broca-Areals – aktiviert wurden. Dieser Bereich wird unter anderem mit der phonologischen Aufzeichnung in Verbindung gebracht. Dieses Ergebnis wurde dahingehend interpretiert, dass der Worterkennung imGyrus fusiformiseine phonologische Verarbeitung vorausgehe (Pammer et. al. 2004).

3.2.1 Die Aufmerksamkeit

Bevor ein Text gelesen werden kann, muss die Aufmerksamkeit auf den Text gerichtet werden. Da die Aufmerksamkeit und das Bewusstsein ein kapitelfüllendes Thema in Lehrbüchern sind, erhebt diese Darstellung keinen Anspruch auf Vollständigkeit; sie beschränkt sich vielmehr auf die für das Lesen wichtigen Aspekte der Aufmerksamkeitssteuerung. Dabei wird zwischen einer «oberen» kontrollierenden und ausführenden – Aufmerksamkeitsebene und einem «tieferen» Aufmerksamkeitsaktivierungssystem unterschieden: während die Aufmerksamkeitsaktivierung Vigilanz (siehe Glossar) voraussetzt, ist für die selektive Aufmerksamkeit zusätzlich eine phasische Aktivierung notwendig (Hanisch 2005). Die Aufmerksamkeitsaktivierung beinhaltet drei kognitive Operationen, und zwar die Lösung der Aufmerksamkeit vom bisherigen Objekt, die Zuwendung der Aufmerksamkeit auf den Text und die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf den Text (Hanisch 2005; Wolf 2009). Die Entscheidung, welche Informationen in den parietalen Kortex gelangen, wird im präfrontalen Kortex getroffen; das Lösen der Aufmerksamkeit erfolgt jedoch in den temporoparietalen Assoziationsarealen. Dieser Prozess erfordert eine ständige und sich wiederholende Aktivität zwischen den primären Projektionsarealen und den entsprechenden Assoziationskortizes. Die Zuwendung der Aufmerksamkeit auf den Text geht mit einer höheren Aktivierung desPulvinarsund derColliculi superioreseinher. Wenn ein visueller Reiz (bevorzugter Reiz) zusammen mit anderen potenziell ablenkenden Reizen (nicht bevorzugte Reize) auftritt, innervieren die Pulvinarzellen die striären und extrastriären visuellen Areale, so dass dem visuellen Reiz die Aufmerksamkeit zukommt. (Goldstein 2002)

DerColliculus superiorist an der Steuerung der Augenbewegung beteiligt und hat damit ebenfalls einen Anteil an der Zuwendung der Aufmerksamkeit. Das Fokussieren der Aufmerksamkeit wird vomNucleus reticularisdes Thalamus, dem präfrontalen Kortex, dem parietalem Kortex, demGyrus cinguliund von Teilen der Basalganglien gesteuert (Birbaumer, Schmidt 2006). Die exekutiven Funktionen – zu welchen die Inhibition, das Aktivieren und das Verschieben der Aufmerksamkeit sowie die Aktualisierung des Arbeitsgedächtnisses gehören – des «oberen» kontrollierenden Aufmerksamkeitssystems sind in allen Phasen des Lesevorgangs aktiv (Altemeier, Abbott, Berninger 2008). Diese Funktionen werden im Gehirn vom anterioren Teil desGyrus cinguli, dem lateralen und ventralen präfrontalen Kortex und den Basalganglien gesteuert (Hanisch 2005).

3.2.2 Die Sakkaden

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 6:Foveale und parafoveale Verarbeitung. Es ist zu erkennen, dass außerhalb des des fovealen Bereiches die Wahrnehmung unschärfer wird. Der foveale Bereich entspricht etwa 1° des gesamten Gesichtsfeldes, der parafoveale Bereich entspricht etwa 2 – 3° und der periphere Bereich entspricht etwa 5° des gesamten Gesichtsfeldes.(Schotter, Angele, Rayner 2012, S. 6)

Damit ein Text flüssig gelesen werden kann, müssen die Verarbeitungs- und Worterkennungsprozesse weitgehend automatisiert ablaufen. Dabei werden innerhalb von Millisekunden visuelle, orthografische und phonologische Repräsentationen zu einem gelesenen Wort verarbeitet. Zur Automatisierung dieser Prozesse trägt unter anderem die Art und Weise bei, in der die Augen über den Text gleiten. Diese Augenbewegungen werden «Sakkaden» genannt. Die Funktion dieser Augenbewegungen ist die Fokussierung des dargebotenen Wortes in die Fovea (siehe Glossar), da hier die Verarbeitung effizienter und genauer ist als in den parafovealen Bereichen (Abbildung 7). Etwa 10 – 15% der Sakkaden sind Regressionen, die dazu dienen, zuvor entgangene Informationen einzuholen. Eine Sakkade dauert ungefähr 20 – 50 ms und entspricht etwa einem Winkelgrad des gesamten Gesichtsfeldes (1°). Die Sakkade wird von einer etwa 200 – 250 ms langen Fixation unterbrochen. Während der Fixation werden in der Fovea visuelle Informationen gesammelt und die Bedeutung des Wortes mit Hilfe des semantischen Wissens ermittelt. Eine Sakkade deckt bei Erwachsenen ungefähr acht Buchstaben, die ungefähr 1° des gesamten Gesichtsfeldes entsprechen, ab. Diese Anzahl wird durch die parafoveale Wahrnehmung auf etwa 12 – 15 Buchstaben, die etwa 2 – 3° des gesamten Gesichtsfeldes entsprechen, erhöht (Abbildung 7). Die zusätzlich wahrgenommenen Buchstaben werden in der nächsten Sakkade in die Fovea fokussiert, so dass die Wahrnehmung jetzt schneller abläuft. Dies ist ein weiterer Vorgang, der den Lesevorgang automatisiert (Schotter, Angele, Rayner 2012; Wolf 2009).

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Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2012
ISBN (PDF)
9783958205253
ISBN (Paperback)
9783958200258
Dateigröße
2.7 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Bremen
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1
Schlagworte
LRS Neurobiologie Neuropsychologie Lesenlernen Schriftsprachenerwerb Kortex
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