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Der GKV-Spitzenverband: Rolle und Funktion im Neokorporatismus

©2014 Masterarbeit 67 Seiten

Zusammenfassung

Das Politikfeld ‚Gesundheit’ gehört in der Bundesrepublik Deutschland, wie in den meisten sozialstaatlich hochentwickelten Staaten, zu den dynamischsten und komplexesten Politikfeldern überhaupt. Unter der Prämisse sich dynamisch wandelnder Ausgangsbedingungen bedeutet Gesundheitspolitik allzuoft die Notwendigkeit zu Reformen, die jedwede Bundesregierung in einer Legislaturperiode zu bewerkstelligen hat, unabhängig davon, ob sie in einem Koalitionsbündnis eingebunden ist oder mit absoluter Mehrheit regiert, ob sie sozialdemokratisch ausgerichtet oder marktliberal orientiert ist.
Das bundesdeutsche Gesundheitssystem weist dabei im Vergleich zu anderen Industrienationen eine politikspezifische Besonderheit auf: Es hat den Charakter eines neokorporatistisches Politikfeldes mit zahlreichen Akteuren, die ihre organisierten Interessen in diversen institutionalisierten Arenen zur Geltung bringen. Dabei handelt es sich um zentralisierte Verbände mit einem Repräsentationsmonopol, die öffentliche Aufgaben anstelle des Staates erfüllen, wobei der Staat sich deren organisatorischen Ressourcen zunutze macht. Bei Reformvorhaben, wie der Verabschiedung des GKV-Wettbewerbstärkungsgesetzes, stand die Bundesregierung vor der Problematik der umfassenden Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems, ohne die Beitragszahler durch Erhöhung der Sozialabgaben übermäßig zu belasten und den Leistungskatalogs allzusehr auszudünnen. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit den Auswirkungen der GKV-Reform hinsichtlich der Ausgabenbegrenzung im Gesundheitssektor.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1.1 Neokorporatismus und organisierte Interessenvermittlung nach G. Lehmbruch und P. C. Schmitter

Der politikwissenschaftliche TerminusNeokorporatismusbezeichnet „unterschiedliche Formen der Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen an politischen Entscheidungsprozessen“ (Nohlen 2002: 265f). Dabei handelt es sich um zentralisierte Verbände, die ein staatlicherseits zugewiesenes Repräsentationsmonopol innehaben, um öffentliche Aufgaben zu erfüllen (vgl. Lehmbruch 1988: 11). Der Staat verfolgt damit folgende Ziele: erstens die Nutzung des verbandlichen Expertenwissens und deren Ressourcen und zweitens soll dies im Idealfall zur Entlastung und Effizienzsteigerung der staatlichen Institutionen führen. Dazu müssen die korporatistischen Akteure die jeweiligen Mitgliederinteressen bündeln und mit den staatlichen Politikzielen zur Deckung bringen. Neokorporatismus in der Gesundheitspolitik umfaßt somit dauerhafte Verhandlungssysteme zur sektoralen Ressourcenverteilung, in denen das Kollektivvertragsmodell zum Tragen kommt (vgl. Döhler 2002: 29). Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, daß demokratische Staat-Verbände-Beziehungen im Gegensatz zu staatlich-autoritären und totalitären Zwangskorporatismus[1]freiwillig zustandekommen und jederzeit aufgelöst werden können (Lehmbruch 1988: 14). Grundlage dieser Beziehungen ist der Artikel 9 Abs. 1 und 3 GG zur Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit sowie die Verbandsautonomie.

Die weitere Ausdifferenzierung des Korporatismusbegriffs erfolgt nach den Ebenen, auf denen er praktiziert wird. Beim Makrokorporatismus handelt es sich um Beziehungen zwischen tripartistischen Akteuren auf oberster Ebene. Dazu gehören Arbeitgeber, Gewerkschaften und die Exekutive als staatliche Ebene. Bekanntestes Beispiel ist die Konzertierte Aktion der 70er Jahre, die zur Wiederbelebung der Makroökonomie durch eine vorher abgestimmte keynesianische nachfrageorientierte Wachstumspolitik ins Leben gerufen wurde (Lehmbruch 1996: 22). Der Mesokorporatismus umfaßt Politikfelder wie Gesundheit und Landwirtschaft auf mittlerer Ebene, deren korporatistische Ausformungen unterschiedlich stark ausgeprägt sind (Kaiser 2006: 18f).

Für Kremendahl bilden organisierte Interessen die Grundlage für politische Willensbildung, „in welchem aus einer Gesellschaft atomisierter Individuen mittels intermediärer Organisationen und makropolitischer Institutionen eine Gesamtheit gebildet wird, die als Einheit in der Vielfalt verfaßt ist“ (Kaiser 2006: 25). Durch Übertragung staatlicher Steuerungsaufgaben sollen gesellschaftliche Gruppierungen integriert werden und dabei ausgehandelte Arrangements zur „Verstaatlichung der Gesellschaft“ und „Vergesellschaftung des Staates“ führen (ebda: 26).

Heinze und von Alemann entwickelten einen Korporatismusansatz[2], der sich erstens an dergesellschaftlichen Reichweiteund zweitens angesellschaftlicher Determinationorientiert; wobei die gesellschaftliche Reichweite in‚Systemcharakter’(A) und‚Strukturvariante’untergliedert wird. Ersterer betont den gesamtgesellschaftlichen Systemzusammenhang, der andere löst bestehende Systeme ab (Korporatismus ersetzt den Pluralismus), wogegen der Korporatismus als‚Strukturvariante’das System organisierter Interessen ergänzt. Die Unterteilung dergesellschaftlichen Determination(B) erfolgt in zwei Kategorien:‚soziopolitische Integration’und‚soziökonomische Grundstruktur’(siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Vier Felder des Korporatismus

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Alemann v. / Heinze, 1981, S. 50, in: Kaiser 2006: S. 37.

Für die Analyse des Politikfeldes ‚Gesundheit’ sindsoziopolitische Integration, alsgesellschaftliche Determination, undgesellschaftliche Reichweiterelevant, da auch die Konzepte von Philippe C. Schmitter (konstitutioneller Ansatz) und Gerhard Lehmbruch (prozessualer Ansatz) darauf aufbauen.

Schmitter definiert Korporatismus einerseits alspolitische Formationund andererseits als einSystem der Interessenvermittlung, der insozialerundstaatlicherForm auftritt (vgl. Kaiser 2006: 37f). Um als Korporatismus identifiziert zu werden, müssen folgende Kriterien im System der Interessenvermittlung erfüllt sein:

- Es dürfen keine miteinander konkurrierende Zwangsverbände sein.
- Diese müssen hierarchisch strukturiert,
- funktional unterscheidbar sein,
- ein Repräsentationsmonopol innehaben,
- über eine staatliche Legitimation verfügen
- und als Gegenleistung müssen die Verbände staatlicherseits übertragene Aufgaben erfüllen (Kaiser 2006: 37f, Bandelow 2005: 84, vgl. Beljanski 2013: 8f).

Nach Schmitter existierenKorporatismus,PluralismusundSyndikalismus[3]im System organisierter Interessen nebeneinander (Kaiser 2006: 39). Für den Pluralismus ist kennzeichnend, daß diverse organisierte Interessen um Mitglieder konkurrieren, dabei ist die Struktur nicht hierarchisch organisiert und kommt freiwillig zustande. Diese pluralistischen Verbände verfügen über kein Repräsentationsmonopol und unterliegen darüber hinaus keiner staatlichen Kontrolle. Ferner benötigen sie keine staatliche Lizenzierung, um ihre Interessen zu organisieren. Pluralismus und Korporatismus zusammen bilden die steigende Bedeutung verbandlicher Interessenartikulation ab, wobei wechselseitig private und staatliche Entscheidungsarenen zusammenwirken. In Schmitters Korporatismuskonzept löst der Korporatismus den Pluralismus sukzessive bei der Interessenvermittlung ab und erhält damit Systemcharakter. Des weiteren wird der Korporatismus als viertes Modell gesellschaftlicher Ordnung nebenMarkt,GemeinschaftundStaatverstanden, welcher mittels „inter- und intraorganisatorischer Konzertierung“ (Lehmbruch 1988: 15) Koordinierungs- und Allokationsaufgaben übernimmt.

Der Staat nimmt im Pluralismus eine passiv-neutrale Rolle ein, hingegen er im Korporatismus eine aktiv-interventionistische Rolle einnimmt (vgl. Kaiser 2006.: 41). Eine weitere Unterscheidung ergibt sich aus der Form der Politikgestaltung. Im Korporatismus werden die Akteure in den politischen Prozeß inkorporiert, d. h. Politikgestaltung erfolgt durch Konzertierung auf Makro- oder Mesoebene. Dagegen ist im Pluralismus eine direkte Politikbeteiligung durch ‚pressure groups’ ausschlossen (ebda.: 45). Der soziale Korporatismus - auch gesellschaftlicher Korporatismus genannt - entsteht in politischen Systemen mit zahlreichen territorialen Einheiten und einen auf Wettbewerb ausgerichteten Wahl- und Parteiensystem.

Lehmbruch betrachtet seinen Korporatismusansatz als eine strukturelle Weiterentwicklung zum Pluralismus, der in einer liberalen und autoritären Variante auftritt. Die Unterscheidung entspricht im wesentlichen Schmitters staatlichem und sozialem Korporatismus (Kaiser 2006: 47f). Beide Wissenschaftler sehen im Neokorporatismus die Ablösung des Pluralismus und das Ende pluralistischer ‚pressure groups’, wobei Lehmbruch „die Wirkung des Korporatismus auf die öffentliche Politikgestaltung“ betont, hingegen Schmitter das System der Interessenvermittlung und politische Formation in den Vordergrund stellt (ebda.: 62). Bei beiden Konzepten handelt es sich um tripartistische Staat-Verbände-Beziehungen, die Positionen und Gegensätze nichtstaatlicher Akteure (Arbeit versus Kapital) abbilden. In der Sozial- und Gesundheitspolitik - auf korporatistischer Mesoebene - erfolgen Steuerungsleistungen, indem Aufgaben staatlicherseits auf Verbände übertragen werden und in deren Folge ein politischer Tauschprozeß zustandekommt.

Bei korporatistischen Arrangements geht es in aller Regel um Ressourcenverteilung und –umverteilung, die allzuoft konfliktreich ausgetragen wird, wie im Gesundheitssektor, wo Interessengegensätze zwischen Leistungserbringern (niedergelassenen Ärzten) und Finanzierungsträgern der GKV (Krankenkassen) überbrückt werden müssen. Bevor es zu korporatistischen Arrangements kommt, muß auf Binnenebene der jeweiligen Verbände eine Aggregation der Mitgliederinteressen stattfinden. Dabei können Verbandsführungen in Interessenkonflikte zwischen Interessenvertretung (Mitgliedschaftslogik) und korporatistischen Verhandlungszwängen (Einflußlogik) geraten, da die Verbände untereinander in einem Austauschverhältnis und gegenüber dem Staat in einem Steuerungsverhältnis stehen (Czada 1994: 57).

Im liberalen Korporatismus verfügen die beteiligten Akteure über eine Exitoption, d. h. sie können Verhandlungen jederzeit verlassen, was im autoritär verfaßten Korporatismus nicht denkbar ist. Grundlage sind historisch erstrittene demokratische, liberale Werte, wie Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit sowie Verbandsautonomie, die es neben den Eigeninteressen, auch für das Gemeinwohl zu nutzen gilt. In Konkordanzdemokratien mit liberalem Korporatismus besteht eine symbiotische Beziehung zwischen Parteienparlamentarismus und Verbändesubsystem (vgl. Kaiser 2006: 56f). In Konkurrenzdemokratien (Westministermodell) sind dagegen Wettbewerb und Pluralismus vorherrschend (vgl. Nohlen/Schultze 2002: 431).

Weil die nichtstaatlichen Akteure keiner unmittelbaren demokratischen Kontrolle und Verantwortlichkeit durch den Souverän unterstehen, wird der Neokorporatismus aus demokratischem Blickwinkel kritisch betrachtet. Verantwortlichkeit besteht in erster Linie gegenüber den Mitgliederinteressen. Daraus folgt ein weiterer Kritikpunkt, daß organisierte Interessen immer wieder „ eine Balance zwischen zentraler Koordination des Organisationshandeln und Rückkopplung an die Mitgliederinteressen [...] vollführen“ müssen (Lehmbruch 1970: 70), was zu einer gewissen Unvorhersehbarkeit der Politikergebnisse führen kann und folglich zu kontingenten Reformergebnisse führt. Abbildung 2 zeigt zusammenfassend die wesentlichen Unterscheidungsmerkmale beim Neokorporatismus und Pluralismus.

Abbildung 2: Merkmalausprägungen zwischen Korporatismus und Pluralismus

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Czada, Roland 1994: Konjunkturen des Korporatismus S. 45 u. Beljanski 2013: 11.

1.2 Methodisches Vorgehen und Fragestellung

Zur Untersuchung der Fragestellung im komplexen Politikfeld ‚Gesundheit’ wird ein zweidimensionaler Ansatz gewählt. Um die vielfältigen Institutionenstrukturen, Akteurskonstellationen und Prozesse auf verbandlich-korporatistischer sowie staatlicher Ebene darzustellen, ist die interorganisatorische oder strukturelle Ebene von Interesse (erste Dimension). Daher werden im Abschnitt 2 der Arbeit zunächst die relevanten Akteure und ihre Verbände im Gesundheitssektor vorgestellt. Der Abschnitt endet mit der Darstellung des Gemeinsamen Bundesausschusses als Akteur und korporatistische Arena. Es folgt im Abschnitt 3 die Darstellung der involvierten staatlichen Akteure auf der politisch-staatlichen Ebene. Als gesetzgeberischer Initiator des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes (GKV-WSG) arbeitete die zweite Große Koalition aus CDU/CSU und SPD (2005 – 2009) dieses Gesetz aus, das am 01.04.2007 inkrafttrat. Dabei ist von Interesse, unter welchen politischen Bedingungen es zur Verabschiedung des GKV-WSG gekommen ist. Des weiteren wird in diesem Abschnitt der neue neokorporatistische Akteur, der GKV-Spitzenverband, als Interessenvertretung der Gesetzlichen Krankenkassen auf Mesoebene vorgestellt, der auf normativer Grundlage des GKV-WSG entstand. Die Abschnitte 2 und 3 bilden den ersten Teil der wissenschaftlichen Ausarbeitung, die zur Beantwortung der ersten Forschungsfrage führt:

Welche neue Rolle nimmt der GKV-Spitzenverband im neokorporatistischen Politikfeld ‚Gesundheit’ ein?

Ferner besteht die Masterarbeit aus einem zweiten Teil, der mit Abschnitt 4 beginnt, und der dieWirksamkeit des GKV-WSG hinsichtlich der Ausgabenbegrenzung im Gesundheitssektor untersucht. Dafür werden Daten verwendet, die die Einnahmen- und Ausgabenseite der Gesetzlichen Krankenkassen vor dem Inkrafttreten des Gesetzes für den Zeitraum 2003 bis 2007 aufzeigen. Es handelt sich dabei um eine Sekundärdatenanalyse auf Basis empirischer Daten des Statistischen Bundesamts, des Bundesministeriums für Gesundheit und des GKV-Spitzenverbandes. Danach werden die Daten nach der Reform für den Zeitraum 2007 bis 2012 analysiert, um durch einen Vorher-Nachher-Vergleich die Wirksamkeit bzw. Nichtwirksamkeit des GKV-WSG hinsichtlich einer Ausgabenbegrenzung zu eruieren. Dabei gilt es zu ermitteln, ob Effizienzsteigerungen und Synergieeffekte zu Ausgabenreduktionen geführt haben oder nicht. Die Beurteilung der Wirksamkeit der Reform von 2007 geschieht vor dem Hintergrund der Veränderung neokorporatistischer Strukturen im Gesundheitssektor.

Im abschließenden fünften Abschnitt werden die strukturellen Auswirkungen des GKV-WSG auf den Neokorporatismus im allgemeinen diskutiert und dabei auf die neue Rolle des GKV-Spitzenverbandes im besonderen eingegangen. Des weiteren werden die neuen Wettbewerbselemente des Gesetzes kritisch betrachtet und die daraus resultierenden Auswirkungen auf handlungsleitende Prinzipien, wie das Solidaritäts- und Sozialstaatsgebot, aufgezeigt. Am Ende der Analyse soll ein Ausblick gewagt werden, ob das GKV-System mit der Reform eine zu starke marktwirtschaftliche Ausrichtung erhalten hat und in welche Richtung sich der Neokorporatismus im Politikfeld Gesundheit entwickelt.

2 Das neokorporatistische Politikfeld Gesundheit und seine Akteure

Im folgenden werden die relevanten Akteure im neokorporatistischen Politikfeld ‚Gesundheit’ und ihre Organisationsstrukturen vorgestellt. Zu den staatlichen Akteuren gehören die Bundesregierung, das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) sowie der Bundesrat auf der Makroebene des Neokorporatismus. Auf korporatistischer Mesoebene sind dies die Vertreter der Finanzierungsträger, der GKV-Spitzenverband und die Krankenkassen, sowie auf seiten der Leistungserbringer, die niedergelassenen Ärzte und Zahnärzte und der Apothekerverband ABDA als Körperschaften öffentlichen Rechts. Des weiteren sind die pluralistisch verfaßte Krankenhausgesellschaft für den stationären Gesundheitssektors und die verbandlich organisierten Arzneimittelhersteller zu nennen. Außerdem wird auf der korporatistischen Mikroebene die Rolle der Patientenvertreter in der GKV beleuchtet. Abgeschlossen wird der Abschnitt mit der Darstellung der besonderen Rolle des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) als Akteur und Verhandlungsarena.

2.1 Die Bundesregierung, das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und der Bundesrat auf Makroebene

Zur Rolle des Staates und der Funktion der Exekutiven als hierarchischer[4]Handlungskoordinator und Steuerungsakteur zunächst folgender Auszug aus dem Governance-Handbuch:

Hierarchische Organisations- und Verfahrensabläufe sind weder aus gesellschaftlichen noch aus ökonomischen und auch nicht aus politischen Regelungszusammenhängen verschwunden, sondern gelangen – wenn auch in modifizierter Form – nach wie vor zur Anwendung (Döhler 2007: 46).

Politische Steuerung und/oder Koordination in neokorporatistischen Regelungssystemen geschehen mittel- oder unmittelbar durch Institutionen der Exekutive. Der Gesetzgeber gewährt den neokorporatistischen Akteuren insoweit Handlungsfreiheit, wie sie die ihnen übertragenen politischen Vorgaben top-down umsetzen. Bei Blockadesituationen und Konfliktfällen tritt das BMG in Ersatzvornahme, d. h. daß dann das verantwortliche GKV-Ressort zum handlungsleitenden ‚Schatten der Hierarchie’ wird. Ob Gesetzgebung, Verordnung seitens des BMG oder Richtlinien der gemeinsamen Selbstverwaltung des G-BA, alle gesetzlichen Regelungen unterliegen sozialstaatlichen und solidarischen Normen. Die Rolle der Bundeskanzlerin im Gesetzgebungsverfahren zur GKV-WSG-Reform wird im Abschnitt 3.1 und 3.2 detailliert behandelt.

Die Bundesländer sind u. a. für die Belange der Krankenhäuser und damit für den stationären Sektor verantwortlich, dazu gehören Raumordnungsvorgaben und die Krankenhausbedarfsplanung, um die gesundheitliche Versorgung der Versicherten sicherzustellen. Als Rechtsgrundlage dienen dazu die Landeskrankenhausgesetze (Hess 2013: 384f u. Reiners 2009: 50). Darüber hinaus sind die Länder als Akteure im Gesetzgebungsverfahren zur WSG-Reform über den Bundesrat involviert (Artikel 74 GG) gewesen. Zu den weiteren Aufgabengebieten der Länder im Gesundheitssektor gehören der öffentliche Gesundheitsdienst (schulärztliche Untersuchungen, allgemeine Sozialhygiene, Impfschutz, Sucht- und Drogenprävention), der Rettungsdienst, die Aufsicht über die KVen und Krankenkassen und die psychiatrische Versorgung, um nur die wesentlichen zu nennen (vgl. Reiners 2009: 50f). Da es in den meisten Bundesländern kein eigenes Gesundheitsressort gibt, übernehmen i. d. R. die Ministerien für Arbeit und Soziales die Aufgaben, wobei die Zuständigkeiten von Bundesland zu Bundesland stark variieren. Zur länderübergreifenden Koordination der Politiken treffen sich die Gesundheitsminister der Länder einmal im Jahr zu einer Konferenz, der Gesundheitsministerkonferenz (GMK), ähnlich der Kultusministerkonferenz (KMK) im Bildungssektor, die von den jeweiligen Amtschefs bzw. Staatssekretären vorbereitet werden. Dabei erfolgt die fachliche Ausarbeitung der Materie durch die Arbeitsgemeinschaft der obersten Landesgesundheitsbehörden (AOLG), die zweimal im Jahr zusammenkommen. In den insgesamt zehn Arbeitsgruppen werden bspw. Fragen zur Krankenhausplanung oder zum Rettungswesen behandelt, an denen dann auch die Landeskrankenhausgesellschaften auf seiten der Leistungserbringer beteiligt sind. Auf Bundesebene vertritt die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) die Belange der Krankenhäuser, die sich in öffentlicher, gemeinnütziger oder privater Trägerschaft befinden.

Der Bundesrat, als Länderkammer, verfügt über Vetomöglichkeiten im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung, allerdings nicht für Gesetze und Verordnungen der Krankenhausplanung. In der Praxis werden größere Gesetzespakete aufgeschnürt: Einerseits in zustimmungspflichtige Gesetze den Bundesrat betreffend und andererseits in einen Gesetzesteil, die der Bundestag mit der Kanzlermehrheit verabschiedet (vgl. Reiners 2009: 52). Daher ist es für jede Bundesregierung von Bedeutung, daß die Länderkammer einem großen Reformprojekt zustimmt und das Gesetz nicht in den Vermittlungsausschuß des Bundestages verwiesen wird, wo unter Umständen vorwiegende parteipolitische Erwägungen zum Scheitern der Vorlage führen können. In einer Großen Koalition sind die Ausgangsbedingungen folglich besser, da eine der beiden Koalitionspartner über eine Mehrheit im Bundesrat verfügt und die Ministerpräsidenten ‚auf Linie’ gebracht werden können. In der Vergangenheit kamen Reformvorhaben, wie das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) 1992, aus dem Bundesrat sowie der kassenartenübergreifende Risikostrukturausgleich (RSA) zwischen Kassen, aus der Feder der SPD-geführten Länderkammer (vgl. ebda.: 54). Eine gesundheitspolitische Reform, die auf Makroebene geplant wird, ist ein umfangreiches Unterfangen, da die Partikularinteressen der Länder und parteipolitische Befindlichkeiten berücksichtigt werden müssen.

2.2 Die Krankenkassen als neokorporatistische Akteure in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)

Die Gesetzlichen Krankenkassen sind seit Inkrafttreten des GKV-WSG in einem stetigen Konsolidierungsprozeß eingebunden, was an der Reduzierung auf derzeit 132 Krankenkassen (Stand: 01.01.2014) abzulesen ist (GKV-Spitzenverband 2014). Der staatlicherseits verordnete Modernisierungsdruck soll zu effizienteren Versorgungsstrukturen innerhalb des GKV-Systems führen und gleichzeitig hohe Qualitätsstandards für die Versicherten sicherstellen. Mit dem Paradigmenwechsel in der GKV hat sich die Rolle der Kassen gewandelt; die Finanzierungsträger sind vom vormaligen ‚payer’ zum ‚player’ im Gesundheitsmarkt avanciert (siehe Abschnitt 3).

Der Gesetzgeber schafft ein immer dichteres Netz von Vorschriften und Regeln für eine neue Wettbewerbsordnung unter Marktbedingungen in der GKV. Dabei entsteht paradoxerweise eine staatliche Re-Regulierung, die durch Maßnahmen, wie Liberalisierung der Vertragspolitik und Qualitätssicherung, flankiert werden. Entscheidend ist jedoch der Bedeutungsverlust korporatistischer Regulierung (vgl. Gerlinger 2009: 37). Nichtsdestotrotz möchte die Exekutive nicht auf korporatistische Steuerungsleistungen verzichten, besonders in Detailfragen der Mikrosteuerung, d. h. in Fragen der Bewertung medizinischer Leistungen greift sie auf das Spezialwissen der Verbände zurück.

Der Neokorporatismus wird vielschichtiger und verlagert sich von der Meso- auf die Mikroebene – des Wettbewerbs zwischen den Akteuren (vgl. ebda. 38). In der wissenschaftlichen Literatur, anlehnend an den Begriff ‚competitive corporatism’ Martin Rhodes’, wird bereits vom „staatlich domestizierten Wettbewerbskorporatismus“ gesprochen (Gerlinger 2009: 39). Im gewandelten Korporatismus hat der GKV-Spitzenverband eine Schlüsselposition staatlicherseits zugewiesen bekommen; es sind inkrementelle Veränderungen in Form von Individualverträgen, die den Gesundheitssektor nachhaltig verändern werden.

Kernelemente der GKV sind weiterhin das Sachleistungsprinzip für die Versicherten und das verfassungsmäßig determinierte Solidaritätsprinzip. Das kasseninterne Selbstverwaltungsprinzip wurde durch den staatlicherseits festgesetzten Beitragssatz eingeschränkt, und lediglich die Höhe des Zusatzbeitrags wird durch die Kassen selbstbestimmt festgelegt (Matusiewicz u. a. 2012: 34f). Im Gegensatz dazu ist das gemeinsame Selbstverwaltungsprinzip gestärkt worden, indem das G-BA-Gremium erweiterte Aufgabenkompetenzen zugewiesen bekam (vgl. Rau 2008: 45f).

2.3 Die organisierten Interessen der Leistungserbringer in der GKV

2.3.1 Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), die KVen, KZBV im ambulanten Sektor

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) ist die korporatistische Interessenvertretung der niedergelassenen Ärzte und Psychotherapeuten auf Bundesebene, die von den 17 Landes-KVen[5]gebildet wird. KVen und KBV stellen als Selbstverwaltungskörperschaften öffentlichen Rechts primär die wohnortnahe und qualitätsgesicherte ambulante Versorgung der Bevölkerung in Deutschland sicher (vgl. Stillfried v./Gräf 2009: 159). Gleichfalls vertreten sie die Rechte und Interessen ihrer Pflichtmitglieder, den niedergelassenen Ärzten, gegenüber den Kassen (§ 75 SGB V). Dazu werden allgemein verpflichtende Kollektivverträge mit den Verbänden der Kassen abgeschlossen. KBV und KVen erfüllen somit eine Doppelfunktion: Sie sind Interessenvertretungen ihrer Pflichtmitglieder innerhalb des GKV-Systems sowie Implementationsakteure der Exekutive im bundesdeutschen Mehrebenensystem.

Die Ausgestaltung und Präzisierung des GKV-Leistungskatalogs erfolgt durch die Akteure in der Arena des Gemeinsamen Bundesausschusses, wobei Notwendigkeits- und Wirtschaftlichkeitsaspekte im Vordergrund stehen. Den Kern der korporatistischen Selbstverwaltung bildet das Kollektivvertragsmodell, das im Rahmen der vergangenen Reform und im besonderen mit dem GKV-WSG sukzessive ausgehöhlt wurde. Mit dem vermehrten Abschluß von Selektivverträgen mit einzelnen Arztgruppen und einem verstärkten Vertragswettbewerb werden die machtvolle Position und der innere Zusammenhalt der Vertragsärzte weiter geschwächt. Daher positioniert sich der KBV-Verband als Dienstleister in der Bedarfsplanung, und die KVen beabsichtigen, sich zu Unternehmensverbünden auf Länderebene zusammenzuschließen, wie man es ihren Strategiepapieren entnehmen kann:

Die KBV und die KVen rücken stärker zusammen und bilden gemeinsame Kompetenzzentren, zum Beispiel zur Abrechnung und zur überregionalen Datenanalyse, zur Entwicklung gemeinsamer Vertragsstrategien, für das Benchmarking von Qualitätsindikatoren und zur Steuerung der Versorgung (Stillfried v./Gräf 2009: 167).

Noch dominiert die korporatistische Ausrichtung der Verbände, doch sind vermehrt Veränderungstendenzen zu beobachten. In der Vergangenheit sind Konfliktlinien zwischen den niedergelassenen Allgemeinmedizinern und Facharztgruppen aufgebrochen, bezüglich der Stärkung der Hausärzte bei der hausarztzentrierten Versorgung (§ 73b SGB V) und des Abschlusses von Selektivverträgen zwischen Hausärzten, Krankenkassenverbänden und Medizinischen Versorgungszentren in einzelnen Bundesländern (vgl. AOK Bundesverband 2013). Die Aushandlung der Ärztevergütung war bisher eine Kernkompetenz der KBV, die aber durch den vermehrten Abschluß von Selektivverträgen in den Hintergrund rücken könnte.

Die Ärzteschaft ist darüber hinaus in freien Verbänden organisiert. Dazu gehört zum einen der Hartmannbund, der als Standesorganisation der niedergelassenen Ärzte auftritt. Er wurde bereits im Jahre 1900 zum Zwecke der Einführung eines Kollektivvertragsmodells und als Gegenmacht zu den Gesetzlichen Krankenkassen gegründet (vgl. v. Alemann 1987: 105ff). Zum anderen vertritt der Marburger Bund die Interessen der angestellten und verbeamteten Ärzte in Krankenhäusern und im öffentlichen Dienst.

Die KZBV, Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung, bildet wie die KBV auf bundesstaatlicher Ebene die Interessenvertretung der Zahnärzte in Deutschland ab. Sie wird aus den Mitgliedsorganisationen, den Kassenzahnärztlichen Vereinigungen der Länder gebildet. Als Körperschaft öffentlichen Rechts stellt sie die zahnärztliche Versorgung entsprechend der gesetzlichen und vertraglichen Bestimmung sicher und wirkt an der Ausgestaltung der Bundesmantelverträge mit. Auf der Mitgliederebene ist ihr Auftrag, eine angemessene Vergütung für die Zahnärzte auszuhandeln. Ebenso ist sie als Partner für die vertragszahnärztliche Versorgung und bei der Ausarbeitung von Richtlinien in den Ausschüssen des Gemeinsamen Bundesausschusses tätig. Die Organisationsstruktur entspricht im wesentlichen den korporatistischen Akteuren in der GKV, dazu gehören die 17 KZVen als Mitglieder auf Länderebene, die Mitgliederversammlung, der Vorstand, der Beirat sowie fünf Ausschüsse (Haushalts-, Kassenprüfungs-, Satzungs-, Wahl- und Datenschutzkontrollausschuß) (vgl. KZBV 2014).

2.3.2 Die Deutsche Krankenhausgesellschaft e. V. (DKG) im stationären Sektor

Die 2.045 deutschen Krankenhäuser sind einerseits föderal in den jeweiligen 16 Landeskrankenhausgesellschaften (LKG) organisiert und andererseits in trägerspezifischen Verbänden Mitglied. Träger sind kommunale Gebietskörperschaften, ein Bundesland, die Bundesrepublik oder private Krankenhausunternehmen, die nach marktwirtschaftlichen Prinzipen geführt werden. Ebenso betreiben freie, gemeinnützige Organisationen, wie die Caritas, Krankenhäuser. Des weiteren sind öffentliche Spitäler entweder in der Universitätsklinika Deutschlands oder im Deutschen Städtetag interessenorganisiert und die Privaten sind im Bundesverband der Privatkliniken zusammengeschlossen. Die genannten Verbände und Landeskrankenhausgesellschaften haben sich freiwillig in der Deutschen Krankenhausgesellschaft e. V. (DKG) zusammengefunden. Die stationären Leistungserbringer haben im Gegensatz zu den korporatistisch verfaßten Krankenkassen und KVen pluralistische Verbandsorganisationen. Dies erkennt man an der Rechtsform des ‚eingetragenen Vereins’ ihres Spitzenverbandes (vgl. Heins 2009: 152).

Hauptaufgabe der LKG ist die Mitwirkung an der Krankenhausplanung auf Länderebene. Die DKG agiert hingegen auf Bundesebene als pluralistischer Akteur in dem gemeinsamen Selbstverwaltungsgremium (G-BA) neben den niedergelassenen Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten sowie dem GKV-Spitzenverband. In Verhandlungen tritt diese Interessenvertretung für eine angemessene Vergütung im Krankenhaussektor ein und handelt mit den korporatistischen Akteuren kollektivvertragliche - d. h. bundeseinheitliche - Bewertungsrelationen für stationäre Leistungen aus (vgl. Gerlinger 2009: 38).

Als Dachverband der Krankenhäuser repräsentiert die DKG neben den sechzehn LKG weitere zwölf Trägerspitzenverbände gegenüber der Politik auf bundesstaatlicher, korporatistischer und internationaler Ebene. Die DKG wirkt am Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) mit und ist in der europäischen Krankenhausvereinigung HOPE und in der International Hospital Federation (IHF) Mitglied (Heins 2009: 153). Mit 83,4 Milliarden Euro Jahresumsatz und rund 1,1 Millionen Beschäftigen ist der Krankenhaussektor ein bedeutender Gesundheitsmarkt (vgl. DKG 2014), der auch in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen wird. Im Rahmen des GKV-WSG hat der G-BA beschlossen, daß bestimmte Krankheitsdiagnosen wie Krebs/HIV und Behandlung von Rheuma und Herzinsuffizienz zum zukünftigen erweiterten Aufgabenspektrum des stationären Sektors gehört (Heins 2009: 153). Perspektivisch ist eine stärkere Vernetzung des ambulanten und stationären Sektors in Gestalt der Integrierten Versorgung (§ 140 a SGB V) in Deutschland zu erkennen.

Für die Krankenhäuser zeichnen sich mit dem GKV-WSG und dem eingerichteten Gesundheitsfond aber auch negative Entwicklungstendenzen ab, zumal eine nachhaltige finanzielle Ausstattung der Krankenhäuser nicht in Angriff genommen wurde (Hartmann 2010: 329). Ganz im Gegenteil hat der Gesetzgeber restriktive Vorgaben für Preiserhöhungen im Krankenhaussektor vorgegeben, was wiederum zu verstärkten Rationalisierungsmaßnahmen in den Krankenhäusern führte. Derzeit weist der bundesdeutsche Krankenhaussektor, infolge der gesteigerten Personalproduktivität, im internationalen Vergleich die geringsten Fallkosten pro Patient auf (vgl. Heins 2009: 155).

2.3.3 Die ABDA als organisierte Interessenvertretung der Apothekerschaft

Zu den Aufgaben der Apotheker in Deutschland gehören die Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln sowie das Prüfen und Herstellen von Medikamenten. Apotheken treten somit primär als Dienstleister im Gesundheitssektor auf. Sie haben daher den Patienten die notwendigen Informationen bereitzustellen und entsprechend gesetzlicher Vorgaben zu beraten. Ebenso sind sie verpflichtet, preisgünstigere, wirkstoffgleiche Arzneimittel abzugeben. Für Apotheker sind das Arzneimittelrecht, Standes- und Wettbewerbsrecht normativ handlungsleitend (vgl. BMG 2013 u. Bandelow 1998: 87).

Die Apotheker werden auf Bundesebene durch dieBundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände(ABDA; ursprünglich: Arbeitsgemeinschaft der Berufsvertretungen Deutscher Apotheker) vertreten. Die ABDA setzt sich aus den siebzehn Apothekerkammern und Apothekerverbänden auf Länderebene zusammen. ABDA, Bundesapothekerkammer (BAK), als Zusammenschluß aller Kammern, und der Deutsche Apothekerverband (DAV) bilden die drei relevanten Interessenvertretungen ab (ABDA 2013). Die Gesamtzahl der Apotheken ist seit 2008 rückläufig; 2012 gab es im Bundesgebiet 20.921 Apotheken mit 48.422 Apothekern (ABDA 2013).

Die Organisationsstruktur der Apothekerschaft in freie und körperschaftliche Organisationen entspricht im wesentlichen derjenigen der Ärzte und Zahnärzte, ohne jedoch so stark ins neokorporatistische Politikfeld Gesundheit eingebunden zu sein. Die ABDA verhandelt in Fragen der Arzneimittelversorgung mit den relevanten Institutionen und agiert im wesentlichen als Informationsforum für ihre Mitgliederorganisationen. Im Gegensatz zu den Arzneimittelherstellern gelten sie als politisch nicht so gut vernetzt:

Während die Apotheker bisher nur Einzelfragen der Krankenversicherungspolitik wesentlich mitbestimmen konnten, wird der pharmazeutischen Industrie ein entscheidender Einfluß auf die gesamte Gesundheitspolitik zugeschrieben (Bandelow 1998: 88).

Im Gefolge des GKV-WSG und der damit einhergehenden Umgestaltung der Preisfindung durch das Durchschnittspreismodell wird es für die Apothekerschaft in Zukunft schwieriger, die bisherigen Margenkalkulationen aufrechtzuerhalten. Außerdem erwächst den Apotheken mit den Versandgroßhändlern und ihrem Apotheken-Franchise-System ernstzunehmende Konkurrenz (Brauner 2009: 186).

2.3.4 Die Arzneimittelproduzenten

Die organisierten Interessen der pharmazeutischen Industrie gehören nicht zu den korporatistischen Akteuren im Gesundheitssektor. Vielmehr sind es pluralistische Verbände, die als ‚pressure groups’ auftreten und versuchen, auf bundes- und landespolitischer Ebene ihren Einfluß geltend zu machen. Mit sieben Verbänden sind Deutschlands Arzneimittelproduzenten im internationalen Vergleich recht fragmentiert (Brauner 2009: 175f). Primäres Ziel ist die ökonomische Planungssicherheit für ihre Mitglieder zu gewährleisten, damit diese die Marktchancen ihrer Produkte frühzeitig ausloten können (Bandelow 1998: 88). Die mittelständischen Arzneimittelproduzenten sowie die transnationalen Pharmakonzerne sind im besonderen Maße exportorientiert und unterliegen einem verschärften globalen Marktwettbewerb. Aus diesem Grund vollzieht sich deren Interessenvermittlung auf suprastaatlicher Ebene der Vereinten Nationen (WHO) und in den europäischen Institutionen in Brüssel (EU-Kommission und Europäisches Parlament) (ebda.: 176).

Die in der Vergangenheit auf nationaler Ebene vollzogenen Kostendämpfungsmaßnahmen haben zu einem verstärkten Ressourcenwettstreit in der Branche geführt und infolgedessen zu einer Spaltung der Interessenvertretung geführt. Die Transnationalen Konzerne (TNK), 41 an der Zahl, haben sich zum Verband Forschender Arzneimittelhersteller zusammengeschlossen und forcieren seitdem ihre Interessenpolitik auf europäischer Ebene (Bandelow 2005: 89f). Daneben gibt es den Bundesverband der Arzneimittelhersteller (323 Mitglieder), der als Produzentenvertretung verschreibungsfreier Arzneimittel fungiert sowie zwei Verbände der Hersteller generischer Arzneimittel (Deutscher Generikaverband und Pro Generika). Schließlich gibt es den Bundesverband der Arzneimittelimporteure und den VAD – Verband der Arzneimittelimporteure Deutschlands (Brauner 2009: 176).

Der Gesundheitsmarkt mit Produkt- und Dienstleistungen hat zur Zeit einen jährlichen Gesamtumsatz von 230 bis 250 Milliarden Euro, in dem rund 4,2 Millionen Menschen arbeiten. Zweidrittel des Umsatzes, 160 Milliarden Euro, entfallen auf das GKV- und PKV-System, wobei der Sektor der Gesetzlichen Krankenversicherung 145 Milliarden ausmacht und 15 Milliarden Euro auf die PKV entfallen (vgl. Brauner: 178). Mit der Einführung der Integrierten Versorgung werden den pharmazeutischen Unternehmen durch Selektivverträge der Kassen und durch Eingliederung der Palliativmedizin in den GKV-Pflichtleistungskatalog vermutlich neue Absatzmärkte geschaffen (ebda.: 185). Ob es sich lediglich um eine Umschichtung innerhalb des Gesundheitsmarktes oder eine Expansion in neue Märkte handelt, wird die Zukunft zeigen. Zusammenfassend ist festzustellen, daß im Arzneimittelsektor ein Interessen- und Organisationspluralismus im Schmitter’schen Sinne vorliegt (Bandelow 2005: 90).

2.3.5 Die Patientenvertretung

Mit dem Amt des‚Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Patienten und Patientinnen’hat man im Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GMG) 2004 eine Interessenvertretung für die Patienten geschaffen. Der Beauftragte wird jeweils für eine Legislaturperiode von der Bundesregierung bestellt. In der vergangenen Periode war es Wolfgang Zöller (CSU), der die Belange der Versicherten auf Rechtsgrundlage des Paragraphen 140 h SGB V zu vertreten hatte. Der allgemeine Auftrag des Amts ist, Patienten bei Fragen über die Sicherstellung der medizinischen Versorgung und hinsichtlich ihrer Rechte gegenüber Leistungserbringer, Kostenträger und Behörden umfassend zu beraten.

Des weiteren wird Interessenvertretungen der Patienten und Selbsthilfegruppen auf Bundesebene ein Mitberatungsrecht im Gemeinsamen Bundesausschuß (G-BA) eingeräumt (§140 f Absatz 2 SGB V). Die Patientenvertreter beteiligen sich an Diskursen mit Ärzte- und Krankenkassenvertretern, ohne jedoch in weiten Teilen über das fachliche Detailwissen und die Strukturen der neokorporatistischen Akteure zu verfügen, wobei es für die Patientenvertreter sehr oft schwierig ist, zwischen sachlichen und interessengeleiteten Argumenten zu unterscheiden (vgl. Etgeton 2009: 228). Für die zahlreichen Entscheidungsorgane, sechs Beschlußkörper mit je neun und 25 Unterausschüsse mit bis zu fünf Patientenvertretern, ist es ein hoher Koordinationsaufwand, die entsprechend sachkundigen Personen auszuwählen, um das vorgeschriebene Einvernehmen mit den Patientenvertretern zu gewährleisten (ebda.: 227). Die Gruppe der Patientenvertreter bildet die schwächste Einflußgruppierung im G-BA, doch ist es ihre primäre Aufgabe, für mehr Transparenz und Verständlichkeit zu sorgen. Auf jeden Fall hat der Gesetzgeber allen relevanten gesellschaftlichen Gruppierungen ein Mindestmaß an Partizipation eingeräumt. Politische Willensbildung ist nicht Hauptaufgabe des G-BA oder der Selbstverwaltung, denn sie vollzieht sich hauptsächlich über intermediäre Organisationen, wie die Parteien und Medien (siehe Abschnitt 5.4).

2.4 Der Gemeinsame Bundesausschuß als Akteur und Verhandlungsarena

Der Gemeinsame Bundesausschuß (G-BA) ist das oberste Normsetzungsorgan der Gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen in Deutschland. Er agiert auf Rechtsgrundlage des SGB V und ist eine rechtsfähige Körperschaft des öffentlichen Rechts (§ 91 Abs. 1 Satz 2 SGB V). Die vom G-BA beschlossenen Richtlinien haben den Status untergesetzlichen Normen, die für alle Akteure der GKV rechtsbindend sind. Daher wird der G-BA auch „kleiner Gesetzgeber“ genannt. Das BMG übt jedoch die Rechtsaufsicht über die einheitlichen Vorgaben (Richtlinien) des G-BA aus, und das Ministerium kann ggf. Änderungen auf Basis der Ersatzvornahme durchsetzen (vgl. Bronner 2009: 211f u. Hess 2009: 108f).

Die G-BA-Richtlinien umfassen die ambulante Behandlung bei niedergelassenen Ärzten, Zahnärzten und Psychotherapeuten, den Leistungskatalog für Arzneimittel, Heil- und Hilfsmittel sowie die Behandlung in Krankenhäusern und dazugehörige Reha-Maßnahmen nach § 92 SGB V. Ebenso überwacht der G-BA die Qualitätssicherung im Gesundheitssektor, die ihm seitens des Gesetzgebers übertragen worden ist. Entscheidend dafür sind der therapeutische Nutzen, die medizinische Notwendigkeit sowie die Wirtschaftlichkeit einer Leistung im Rahmen des Pflichtkatalogs der Gesetzlichen Krankenkassen (vgl. ebda.: 212). Die Überprüfung der Qualität nimmt das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) vor, das in Trägerschaft des G-BA ist (Bandelow 2005: 103).

Seit der Verabschiedung des GKV-WSG besteht das Beschlußgremium aus insgesamt 13 stimmberechtigten Mitgliedern: An der Spitze steht der unparteiische Vorsitzende mit zwei weiteren unparteiischen Mitgliedern, die ihre Aufgaben hauptamtlich wahrnehmen. Die drei Unparteiischen haben jeweils ehrenamtlich tätige Vertreter und Stellvertreter, falls sie verhindert sein sollten. Ferner sind fünf Stimmberechtigte des GKV-Spitzenverbandes auf Finanzierungsträgerseite sowie fünf Vertreter aus der Riege der Leistungserbringer im Gremium vertreten. Auf Leistungserbringerseite entsendet die KBV für den ambulanten Sektor und die DKG für den stationären Sektor je zwei Vertreter. Der fünfte im Bunde ist der Stimmberechtigte der Kassenzahnärztlichen Vereinigung (KZBV). Die korporatistischen Selbstverwaltungsorgane entsenden ihre ehrenamtlichen Vertreter gemäß ihren Satzungen, die DKG bestimmt die Vertreter gemäß des Votums ihrer Mitgliederversammlung (Zimmermann 2012: 27f). Darüber hinaus nehmen fünf Patientenvertreter an den Sitzungen des G-BA teil, die mit einem Antrags- und Mitberatungsrecht, jedoch ohne jegliches Stimmrecht ausgestattet sind (vgl. G-BA 2013 u. Bronner 2009: 212).

Josef Hecken vertritt als amtierender Vorsitzender des G-BA die Körperschaft gerichtlich und außergerichtlich. Seine Amtszeit beträgt sechs Jahre (Juli 2012 bis Juli 2018). Bei Beratungen haben die unparteiischen Mitglieder den jeweiligen Vorsitz in den einzelnen Unterausschüssen (UA) inne. Die UA, in denen Beschlußempfehlungen ausgearbeitet und dann an das Plenum weitergeleitet werden, bilden das ganze Aufgabenspektrum der GKV ab – dazugehören: ambulante spezialfachärztliche Versorgung, Arzneimittel, Bedarfsplanung, Disease-Management-Programme, Psychotherapie, Qualitätssicherung, veranlaßte Leistungen und zahnärztliche Behandlung.[6]

Unabhängig von der GKV-WSG-Reform bleibt die Hauptaufgabe des Selbstverwaltungsorgans G-BA die gesetzliche Ausgestaltung des GKV-Pflichtleistungskatalogs mittels Richtlinienkompetenz. Dazu werden medizinisch wirksame Therapieanwendungen stetig konkretisiert und erweitert. Der G-BA ist zugleich Akteur und Konsensarena im neokorporatistischen Politikfeld ‚Gesundheit’, der Koordinierungs- und Steuerungsleistungen erbringt. Grundsätzlich wird ein Konsens nach dem Einstimmigkeitsprinzip angestrebt, obwohl die einfache Mehrheit mit sieben Stimmen zur Beschlußfassung ausreicht. Es können zudem Arbeitsausschüsse gebildet werden, um spezifische Richtlinien auszuarbeiten, wobei die Größe des Gremiums auf sechs Mitglieder begrenzt ist. Die Zusammensetzung entspricht der paritätischen Sitzverteilung - je zwei Mitglieder - der jeweiligen Trägerorganisationen (vgl. G-BA 2013). Der G-BA als Akteur bringt die widerstreitenden Interessen der jeweiligen Repräsentationsträger zur Deckung und erfüllt somit eine Brückenfunktion nach innen und gegenüber der demokratisch legitimierten Instanz BMG nach außen.

3 Die zweite Große Koalition aus CDU/CSU und SPD und das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz

Das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung, kurz: GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) trat am 01.04.2007 inkraft. Es handelte sich dabei um ein umfangreiches gesundheitspolitisches Reformvorhaben, welches im wesentlichen auf Veränderung der Institutionenordnung und des GKV-Finanzierungssystems abzielte (Paquet/Schroeder 2009: 11). Da weder die ‚Bürgerversicherung’ (SPD) noch die von konservativer Seite bevorzugte ‚solidarische Gesundheitsprämie’ (Kopfpauschale) in der Regierung eine Mehrheit fand, einigten sich die Koalitionäre auf einen Kompromiß. Das aus den Niederlanden bekannte Gesundheitsfondmodell (Hartmann 2010: 332) fand in abgewandelter Form die Zustimmung der Bundeskanzlerin, Angela Merkel, und der Bundesministerin für Gesundheit, Ulla Schmidt (SPD). Bezogen auf die Institutionenordnung stellte das Gesetz eine signifikante strukturelle Organisationsreform der Krankenkassen auf neokorporatistischer Mesoebene dar. Das Bundeskanzleramt und das BMG waren von Anfang an federführend an der Ausarbeitung und Implementierung des Gesetzes beteiligt. Die Reform erhielt oberste Priorität und war damit „Chefsache“ des Bundeskanzleramts. Daher ist es ex-post zu erklären, daß es zu keinen nennenswerten Widerständen in den Fraktionen von CDU/CSU und SPD und der Bund-Länder-Arbeitsgruppe kam (ebda.: 30).

Nichtsdestotrotz verliefen die Aushandlungsprozesse nicht immer konsensual. Obwohl es einzelne Kritiker in den Reihen der Bundesregierung gab, gingen besonders die Opposition und Verbände mittels gerichtlicher Klagen und Kampagnen gegen das Gesetz vor. Die Widersacher argumentierten, daß der Gesundheitsfonds ein viel zu großes Wagnis sei und daß das GKV-WSG „wohl [zu] den größten sozialpolitischen Experimente[n] der jüngeren bundesdeutschen Geschichte [...]“ gehören wird (zit. n. Schroeder 2009: 31).

[...]


[1]Heutzutage wird der Begriff des Neokorporatismus verwendet, um eine strenge Trennung vom ‚Korporativstaat’ Benito Mussolinis und vom ‚Zwangskorpoatismus’ im Nationalsozialismus von 1933 - 1945 vornehmen zu können (vgl. Lehmbruch 1988: 15).

[2]Die Wiederbelebung des Korporatismusbegriffs erfolgte in den 70er Jahren durch Schmitter und Lehmbruch, ohne jedoch eine Korporatismustheorie „im engeren Sinne hervorzubringen“ (vgl. Streeck 1999: 281). Daher ist lediglich von Korporatismusansatz oder –ansätzen die Rede.

[3]Beim Syndikalismus handelt es um Vereinigungen, die nicht in Konkurrenz zueinanderstehen. Sie verfügen - wie pluralistische Verbände - ebenso über keine staatliche Lizenz und sind staatlicherseits nicht anerkannt. Es handelt sich hierbei um keine Interessenvermittlung, sondern lediglich um Interessenaggregation (Kaiser 2006: 39).

[4]Max Weber verwendet den Begriff ‚Hierarchie’ im Zusammenhang mit rationaler säkularer Herrschaft. „Sie ist Bestandteil einer legalen Ordnung, die sich insbesondere durch Regelhaftigkeit und Berechenbarkeit auszeichnet. Weber siedelt Hierarchie nicht nur in der öffentlichen Verwaltung an, sondern in allen Arten von Organisationen, die bürokratische Merkmale aufweisen [...]“ (Döhler 2007: 46f).

[5]Jedes Bundesland verfügt über eine Kassenärztliche Vereinigung (KV); das Land Nordrhein-Westfalen (NRW) verfügt mit der KV Nordrhein und KV Westfalen-Lippe über zwei KVen, womit 17 KVen insgesamt im Bundesgebiet tätig sind.

[6]vgl. Organigramm des G-BA: http://www.g-ba.de/downloads/17-98-2436/AufbauVorsitz_13-01-2013_deutsch.pdf), Zugriff am 25.01.2014.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783958205260
ISBN (Paperback)
9783958200265
Dateigröße
1.9 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
FernUniversität Hagen
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2
Schlagworte
Politische Interessenvermittlung Gesundheitswesen Gesundheitsreform Ausgabenbegrenzung Gesundheitssektor politische Steuerung

Autor

Sascha Beljanski, M. A. wurde 1969 in Loznica/Jugoslawien geboren. Sein Studium in den Fächern Wirtschaftswissenschaft, Kunstgeschichte und Geographie führte ihn u. a. an die Universitäten in Aachen, Bonn und an die Freie Universität in Berlin. 2014 beendete er das Masterstudium im Fach Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Governance. Zur Zeit ist der Autor freiberuflich tätig.
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Titel: Der GKV-Spitzenverband: Rolle und Funktion im Neokorporatismus
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