Ein Toleranzartikel für die Bundesverfassung der Schweiz? Darstellung und Bewertung des Vorschlags von J.P. Müller und D. Thürer
Zusammenfassung
Am 29.11.2009 wurde die Minarettinitiative von Volk und Ständen deutlich angenommen. Die BV wurde daraufhin um Art. 72 Abs. 3 ergänzt, der den Bau neuer Minarette untersagt. Nach der Abstimmung wurde die im Vorfeld geführte kontroverse Diskussion weiterverfolgt. Debattiert wird darüber, ob die Initiative zur Abstimmung hätte zugelassen werden dürfen, welche Bedeutung und Auswirkungen die Annahme haben wird und ob das Verbot im Rahmen der verfassungsrechtlichen und völkerrechtlichen Bestimmungen überhaupt umsetzbar ist. Für die Baugesuchsteller bleibt vorerst nur der Weg durch die Instanzen bis zum Bundesgericht. Anschliessend wäre eine Klageeinreichung beim EGMR möglich. Da bis zur Entscheidungsfindung mehrere Jahre verstreichen könnten, formulierten die Rechtsprofessoren Jörg Paul Müller und Daniel Thürer im Dezember 2009 bereits einen Verfassungstext, der Art. 15 BV ergänzen und Art. 72 Abs. 3 BV ersetzen soll. Den Grund für das unverzügliche Handeln sehen Müller/Thürer in der Verletzung der Religionsfreiheit und der Diskriminierung von Muslimen durch den neuen Verfassungsartikel, der im Widerspruch zu BV und EMRK stünde. Mittels einer neuen Initiative zugunsten ihres sogenannten Toleranzartikels könne das Ansehen der Schweiz im In- und Ausland wieder gesteigert und Schaden abgewandt werden.
In der vorliegenden Studie werden der Inhalt und die möglichen Auswirkungen der von Müller und Thürer vorgeschlagenen Aufnahme eines Toleranzartikels in die Bundesverfassung im Austausch für das Minarettverbot in Art. 72 Abs. 3 BV analysiert. Dabei werden zunächst der unmittelbare Auslöser für den Vorschlag (die Minarettabstimmung) und die gesetzliche Ausprägung der Religions- und Diskriminierungsfreiheit in der Schweiz vor dem Hintergrund offizieller Neutralität und Toleranz kurz geschildert. Daraufhin werden die einzelnen Elemente des Artikeltextes mithilfe der juristischen Auslegungsmethoden kritisch analysiert. Es wird untersucht, in welchen Konstellationen die im Toleranzartikel genannten Elemente, wie rituelle Kleidung, Symbole, Kundgebungen und Bauwerke, in der Praxis auftreten und Diskussionsbedarf hervorrufen können und wie bislang damit umgegangen wurde.
Es folgen Überlegungen zur Durchsetzbarkeit […]
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Inhaltsverzeichnis
Literaturverzeichnis
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Materialienverzeichnis
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1.Einleitung
In dieser Arbeit sollen der Inhalt und die möglichen Auswirkungen der von den Rechtsprofessoren Jörg Paul Müller und Daniel Thürer vorgeschlagenen Auf-nahme eines Toleranzartikels in die Bundesverfassung im Austausch für das Minarettverbot in Art. 72 Abs. 3 BV analysiert werden.[1] Im zweiten Kapitel werden zunächst der unmittelbare Auslöser für den Vorschlag (die Minarettabstimmung) und die gesetzliche Ausprägung der Religions- und Diskriminierungsfreiheit in der Schweiz vor dem Hintergrund offizieller Neutralität und Toleranz kurz geschildert. Da sich das Minarettverbot konkret auf den Islam bezieht, werden die gesellschaftlich-kulturellen Bedingungen, auf die der Islam in Europa trifft, näher beleuchtet.
Im Hauptteil der Arbeit (Kapitel 3) werden die einzelnen Elemente des Artikeltextes mithilfe der juristischen Auslegungsmethoden kritisch analysiert. Dazu werden die davon betroffenen Artikel in der BV bzw. der EMRK hinsichtlich ihrer Schutzbereiche und ihrer Bedeutung anhand von Urteilen des Bundesgerichts und des EGMR detailliert betrachtet. In der BV sind dies vor allem Art. 15 (Glaubens- und Gewissensfreiheit), Art. 8 Abs. 2 (Diskriminierungsverbot), Art. 35 (Verwirklichung der Grundrechte) und Art. 72 (Kirche und Staat); in der EMRK sind Art. 9 (Religionsfreiheit) und Art. 14 (Diskriminierungsverbot) relevant. Es wird untersucht, in welchen Konstellationen die im Toleranzartikel genannten Elemente, wie rituelle Kleidung, Symbole, Kundgebungen und Bauwerke, in der Praxis auftreten und Diskussionsbedarf hervorrufen können und wie bislang damit umgegangen wurde. Dann wird beurteilt, wie eindeutig der Vorschlagstext ist bzw. in wieweit er ausgelegt werden müsste und zu Unklarheiten und Rechtsstreitigkeiten führen könnte. Mögliche Auslegungstendenzen von behördlicher und gerichtlicher Seite werden herausgear-beitet. Anschliessend wird das Verhältnis des Vorschlagstextes zu den bestehenden Artikeln der BV und der EMRK und deren bisherige Auslegung durch das Bundesgericht und den EGMR untersucht. Die Vor- und Nachteile der bestehenden im Vergleich zu den vorgeschlagenen Regelungen werden aus juristischer Sicht aufgezeigt. Auch der Konflikt mit den kantonalen Kompetenzen in den Bereichen Raumplanung und Religion wird thematisiert. Es folgen Überlegungen zur Durchsetzbarkeit des geltenden Minarettverbots auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten und den möglichen Folgen, zum Minderheitenschutz und zum Wesen der Demokratie. Abschliessend findet eine gesamthafte Beurteilung der Sinnhaftigkeit des Toleranzartikels aus juristischer und nichtjuristischer Sicht statt.
2 Ein Toleranzartikel zur Deeskalation religiöser Konflikte
Religiöser Pluralismus in Europa ist eine Erscheinung nicht erst der letzten Jahrzehnte, sondern der letzten Jahrhunderte. Seit dem Frühen Mittelalter befinden sich die monotheistischen Religionen Christentum und Islam in Konflikten, die von Eroberung, Rückeroberung, zeitweiliger Toleranz und plötzlichen Gewaltausbrüchen gekennzeichnet sind. Beginnend mit der Eroberung Südspaniens im Jahre 711 durch die Araber waren einzelne Regionen Europas gezwungen, sich mit dem Islam als Religion, Kultur und Machthaber auseinander zu setzen.[2] Die Ausbreitung des Osmanischen Reichs, die in der Eroberung von Teilen des Balkans und schliesslich im Fall Konstantinopels 1453 gipfelten, sind weitere Eckpunkte der Geschichte, deren Folgen bis heute andauern (Jugoslawien-Krieg in den 1990er Jahren). Innerhalb des Christentums traten im Nachgang zur Reformation blutige Kriege zwischen den Angehörigen der christlichen Konfessionen auf, die mittels Toleranzedikten bewältigt werden mussten.[3] Die innerchristlichen Konflikte sind in der Schweiz heute beigelegt, die Zuwanderung von Menschen nichtchristlicher Religionen stellt dagegen neue Herausforderungen an Politik und Rechtsprechung. Toleranz und religiöse Neutralität des Staates scheinen daher im Hinblick auf das enge Zusammenleben verschiedener Religionsgemeinschaften in der Schweiz und in Europa ein unerlässliches Mittel, um kriegerische Auseinandersetzungen zu verhindern.
2.1 Entstehungshintergrund des Toleranzartikels – das Minarettverbot
Am 29.11.2009 wurde die Minarettinitiative von Volk und Ständen deutlich angenommen. Die BV wurde daraufhin um Art. 72 Abs. 3 ergänzt, der den Bau neuer Minarette untersagt.[4] Nach der Abstimmung wurde die im Vorfeld geführte kontroverse Diskussion weiterverfolgt. Debattiert wird darüber, ob die Initiative zur Abstimmung hätte zugelassen werden dürfen, welche Bedeutung und Auswirkungen die Annahme haben wird sowie ob das Verbot im Rahmen der verfassungsrechtlichen und völkerrechtlichen Bestimmungen überhaupt umsetzbar ist.[5] Für die Baugesuchsteller bleibt vorerst nur der Weg durch die Instanzen bis zum Bundes-gericht. Anschliessend wäre eine Klageeinreichung beim EGMR möglich.[6] Da bis zur Entscheidungsfindung mehrere Jahre verstreichen könnten, formulierten die Rechtsprofessoren Jörg Paul Müller und Daniel Thürer im Dezember 2009 bereits einen Verfassungstext, der Art. 15 BV ergänzen und Art. 72 Abs. 3 BV ersetzen soll. Den Grund für das unverzügliche Handeln sehen Müller/Thürer in der Verletzung der Religionsfreiheit und der Diskriminierung von Muslimen durch den neuen Verfassungsartikel, der im Widerspruch zu BV und EMRK stünde. Mittels einer neuen Initiative zugunsten ihres sogenannten Toleranzartikels könne das Ansehen der Schweiz im In- und Ausland wieder gesteigert und Schaden abgewandt werden.[7]
2.2 Religiöse Toleranz und Säkularisierung
Im Zuge von Reformation, Aufklärung und wissenschaftlich-technischer Entwicklung wurde der Einfluss der christlichen Kirchen auf Staat und Gesellschaft in den vergangenen Jahrhunderten in Europa immer weiter zurückgedrängt. Religiosität wurde weitgehend zur Privatsache.[8] In der Schweiz verpflichtet sich der Staat zu religiöser und weltanschaulicher Neutralität. Es muss der gleiche Massstab für alle Religionsgemeinschaften angewandt werden. Begründet wird dies mit Art. 8 Abs. 2 (Diskriminierungsfreiheit) und Art. 15 (Glaubens- und Gewissensfreiheit) der BV sowie der Religions- und Diskriminierungsfreiheit in Art. 9 bzw. 14 der EMRK.[9] Das Neutralitätsgebot gilt jedoch nicht absolut. So beginnt die Präambel der BV mit „Im Namen Gottes des Allmächtigen“. Die christliche Symbolik muss nicht aus allen Wappen, Fahnen oder Strassennamen entfernt werden. Auch darf der Staat einigen Religionsgemeinschaften die öffentlich-rechtliche Anerkennung gewähren, aber eine Gleichsetzung des Staates mit einer Religion ist nicht gestattet.[10] Eine Volksinitiative zur vollständigen Trennung von Kirche und Staat auf Bundesebene wurde 1980 abgelehnt. Nur in Genf und Neuenburg sind Kirche und Staat weitgehend getrennt, in den übrigen Kantonen geniessen die christlichen Konfessionen deutliche Privilegien.[11] Die infolge der Minarettabstimmung eingesetzte Diskussion um Religion, Werte und Toleranz hat Ansätze zur Lösung des Konflikts von christlichen Parteien, Organisationen und Verbänden hervorgebracht. Die EVP plante die Lancierung einer Volksinitiative, verzichtete aber nach der Vernehmlassung darauf.[12] Auch die CVP brachte ein Postulat in den Nationalrat ein, einen Religionsartikel zu formulieren, der die Regelungen zur Religionsfreiheit präzisieren und Art. 72 BV ersetzen solle.[13] Daran wird deutlich, dass kein gesellschaftlicher Konsens darüber besteht, welche Rolle die christliche Religion künftig spielen soll, ob eine weitere Säkularisierung zu befürworten ist oder das Christentum Leitkultur bleiben soll. Unbekannt ist dabei oft, dass viele positiv wahrgenommene Aspekte des modernen Lebens der frühchristlichen Tradition entspringen, so z.B. die Trennung von Kirche und Staat, die Armen- und Krankenfürsorge (Caritas) unabhängig von Stand und Religion und die Konsensehe. Ebenso ist der Vorrang staatlichen Rechts für die christlichen Kirchen selbstverständlich. Diese Grundsätze sind dem Islam wesensfremd. Andererseits muss ein säkularer Staat kein religionsloser Staat sein, wie man am Beispiel der USA sieht, wo die verschiedenen Kirchen gesellschaftlich stark organisiert sind und auch politisch Einfluss nehmen.[14]
2.3 Der Islam als Antithese zur freiheitlichen Gesellschaft?
Der Islam, wie er heute in vielen Ländern praktiziert wird, enthält aus europäischer Sicht vieles, was dem Gleichheitsgebot und der Religionsfreiheit wie sie in BV und EMRK geregelt sind, widerspricht. Da sich die Ausbreitung des Islam in Nordafrika und Teilen Südeuropas in relativ kurzer Zeit vollzog und eine zentrale Instanz wie z.B. der Papst fehlt, ist die Bandbreite, wie der Islam gelebt wird, sehr gross. Zudem ist die islamische Kultur angreifbar für sogenannte Fundamentalisten oder Rechtgläubige, wodurch bei vielen Europäern Ängste geschürt werden. Viele Muslime befinden sich auf Identitätssuche zwischen Orient und Okzident. Einerseits möchten sie Teil der modernen europäischen Gesellschaft sein, andererseits gelingt es vielen aufgrund ihrer Ausbildung oder kulturellen Einbindung nicht. Ein entstandenes Minderwertig-keitsgefühl wird mittels der Berufung auf den reinen Islam überkompensiert, wodurch es in ein Überlegenheitsgefühl umschlagen kann. Aggressivität kann entstehen, wenn die tatsächlichen Lebensumstände diesem nicht standhalten. Aus Sicht der schweizerischen Gesellschaft bietet die islamische Kultur auf den ersten Blick wenig Impulse zur gesellschaftlichen Erneuerung. Am meisten Anstoss erregen wohl die Rolle der Frau, der Aufruf zum Heiligen Krieg (Djihad) und eventuell noch die Tierschutzproblematik (Schächten).
Zwar kann man auch in der Schweiz Probleme wie Werteverlust, Materialismus, Drogenkonsum beklagen, aber hierfür hat der Islam keine adäquaten Lösungs-ansätze. Der Begriff Toleranz drückt die Beziehung zwischen christlicher/atheistischer Bevölkerung und Muslimen daher grundsätzlich gut aus, da tolerieren bedeutet, aus Nützlichkeitserwägungen oder humanitären Gründen etwas hinzunehmen, was man nicht gutheisst.[15]
3 Kritische Würdigung des Vorschlags
Im Kommentar zu ihrem Vorschlag nehmen Müller/Thürer hinsichtlich ihrer Motivation deutlichen Bezug auf die Minarettabstimmung. Der Artikeltext selbst verzichtet auf die Erwähnung von speziell muslimischen Bräuchen und Sitten und vermeidet damit die Diskriminierung einer Religionsgemeinschaft. Eine allgemeine, auf das Grundsätzliche ausgerichtete Norm wäre nach Ansicht von Müller/Thürer auch formell verfassungstauglicher als das klare und unmissverständliche Minarett-verbot. Die Aufhebung des Verbots mittels einer neue Initiative wäre aus Sicht der Verfasser wegen der zeitlichen Nähe zur Abstimmung inadäquat. Stattdessen solle das Minarettverbot durch den von ihnen vorgeschlagenen Toleranzartikel ersetzt werden, da dieser den Befürchtungen der Befürworter der Initiative ausreichend Rechnung trage.[16] Auf welchem Weg dieser Austausch von Verfassungsartikeln ohne Volksabstimmung stattfinden könnte, lassen die Autoren allerdings offen. Die Rechtfertigung für einen Ersatz der rechtsgültig zustande gekommenen Verfassungsänderung ziehen Müller/Thürer daraus, dass auch demokratische Entscheide fehlerhaft sein können und daher korrigiert werden müssen, um Verstösse gegen die Menschenrechte zu verhindern.[17]
[...]
[1] Der Artikeltext befindet sich auf S. 9.
[2] Riché, Karolinger, S. 64 - 66.
[3] Salewski, Europa, S. 12 - 24.
[4] Cirigliano, Umsetzungsszenarien, Rz 1.
[5] Wehrli, Minarette, S. 1.
[6] Müller, Bundesgericht, Rz 1.
[7] Schoch, Gegenstrategie, S. 1.
[8] Beck, Friedensfähigkeit, S. 34 - 35.
[9] Müller/Schefer, Grundrechte, S. 269.
[10] Biaggini, BV-Kommentar, N 15 zu Art. 15 BV.
[11] Hafelin/Haller/Keller, Bundesstaatsrecht, Nr. 443 - 444.
[12] EVP, Volksinitiative, S. 1.
[13] CVP, Religionsartikel, S. 1.
[14] Leggewie, Religionen, S. 329 - 330.
[15] Salewski, Europa, S. 15
[16] Müller/Thürer, Vorschlag, S. 1 - 2.
[17] Müller/Thürer, Vorschlag, S. 3 - 4.
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2010
- ISBN (PDF)
- 9783958205710
- ISBN (Paperback)
- 9783958200715
- Dateigröße
- 691 KB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Fernfachhochschule Schweiz
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Februar)
- Schlagworte
- Minarettverbot Islam Religiöse Vielfalt Diskriminierung Toleranz
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