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Suizid im Alter: Ursachenforschung, Diagnostik und Möglichkeiten zur Vermeidung

©2010 Bachelorarbeit 62 Seiten

Zusammenfassung

Zehntausende Menschen nehmen sich jährlich in Deutschland das Leben. Es ist bewiesen: Je älter der Mensch, desto mehr steigen die Suizidraten. Dieses Buch beleuchtet das Thema Freitod im Alter näher. Es beschäftigt sich mit der Frage, welche Faktoren für das suizidale Verhalten vieler alter Menschen ursächlich sind, wie Selbstmordtendenzen erkannt werden und was die Gesellschaft präventiv leistet, um Selbstmorde im Vorfeld zu verhindern. Die Autorin erfasst Einzelergebnisse und wissenschaftlich begründete Behauptungen aus der Literatur, um ein nachvollziehbares Bild der Situation entstehen zu lassen. Persönlich durchgeführte Interviews werden diese Ergebnisse ergänzen. Suizid im Alter betrifft auch in hohem Maße die Profession der sozialen Arbeit und Sozialarbeiter können einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, suizidale Verhaltensweisen zu verhindern. Aus diesem Grund stellt die Autorin zusätzlich einen Bezug zu dieser Konfession her.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2. Risikofaktoren Suizid im Alter

Ältere Menschen befinden sich häufig in problematischen Lebenssituationen. Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Abhängigkeit belasten die Psyche, Lösungen für die vielfältigen Probleme erscheinen unerreichbar fern. Auch einfühlsame Gesprächspartner und emotionale Nähe fehlen häufig. Die Bereitschaft, über Suizidgedanken zu sprechen, ist bei Älteren geringer. Deshalb ist der Selbstmord für einen betagten Menschen manchmal der einzige Ausweg aus einem Leben ohne Hoffnung. Bis dieser letzte Schritt getan ist, tragen folgende Faktoren dazu bei, dass das Leben für die Senioren an Freude verliert:

2.1 Körperliche Faktoren

Ob sich ein Mensch wohl fühlt, hängt oft vom körperlichen Befinden ab. Im Alter ist es nicht selten, dass der Mensch mit einer körperlichen Belastung leben muss, die dessen Lebensqualität einschränkt. Mit den Jahren nimmt auch die Multi morbidität zu: Studien beweisen, dass fast jeder zweite Patient über 65 Jahren an mindestens drei Krankheiten leidet, die chronisch sind (Theisen, 2007, S. 30 - 34) Das Problem ist aber in vielen Fällen nicht „nur“ die körperliche Erkrankung sondern die oftmals damit zusammenhängende psychische Belastung bzw. die Angst, ein „Pflegefall“ zu werden und anderen zur Last zu fallen. Körperliche Erkrankungen gelten somit eher als Einflussfaktor auf Alterssuizidalität und nicht als unabhängiger Risikofaktor (Erlemeier, 2002, S. 62). Die Arbeitsgruppe Alte Menschen im Nationalen Suizidpräventionsprogramm für Deutschland zählt die häufigsten Beschwerden in ihrer Broschüre auf:

- „Chronischer Schmerz
- Atemnot
- Bewegungseinschränkungen,

Lähmungen

- Verlust der Ausscheidungskontrolle (Inkontinenz)
- Minderung oder Verlust der Sehschärfe
- Minderung oder Verlust des Gehörs
- Sturz oder Sturzangst“

(Arbeitsgruppe Alte Menschen im Nationalen Suizidpräventionsprogramm für Deutschland, 2006, S. 12).

Diese Angaben ergänzt eine retrospektive Studie im Raum Düsseldorf für die Jahre 1986 - 1996. Hier wurden zum Thema Altersselbstmord Gutachten und Obduktionsberichte von 152 Männern und 129 Frauen ausgewertet, die sich selbst umgebracht hatten. Die untersuchten Personen waren dabei 65 Lebensjahre und älter. Viele hatten mehrere Gesundheitsprobleme, aus diesem Grund ergaben sich anstatt der ursprünglichen 281 Aussagen insgesamt 395 Aussagen über die Gesundheitszustände.

Abbildung 1: Gesundheitszustand; Quelle: Lieske (2000, S. 19)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Bezüglich des Gesundheitszustandes kam Lieske (2000) zu dem Ergebnis, dass dieser eine entscheidende Rolle für oder gegen den Alterssuizid spielen kann. Körperliche Erkrankungen wie Herz- und Gefäßleiden stehen an Platz Zwei der gesundheitlichen Probleme (18,2 %). Unter Herz- und Gefäßleiden fallen z.B. die koronare Herzerkrankung, -Herzinsuffizienz- bzw. –rhytmus­störungen, Zerebralsklerose und arterielle bzw. venöse Gefäßprobleme. 12,7 Prozent der Fälle litten zu Lebzeiten an bösartigen Erkrankungen – interessant ist hier jedoch, dass davon 11,9 Prozent zum Zeitpunkt des Selbstmordes eine gute gesundheitliche Verfassung hatten. 8,4 % Prozent der Personen klagten über Schmerzen. Auf dem sechsten Platz finden sich die „anderen Leiden“. 7,3 Prozent der Betroffenen litten an Magen-Darm-Problemen, Leberzirrhose, Diabetes Mellitus oder chronische Cholezystitis-/lithiasis. Danach kommen die neurologischen Erkrankungen mit 3,8 Prozent. Diese Personen hatten mit rezidivierenden Schwindelattacken, Vergesslichkeit, Morbus Parkinson, Apoplex und dem Zustand nach intracerebralen Blutungen zu kämpfen.

Viele dieser körperlichen Beschwerden beeinflussen die Mobilität des Betroffenen (Arbeitsgruppe Alte Menschen im Nationalen Suizidpräventionsprogramm für Deutschland, 2006, S. 11). Die Angst, von anderen abhängig zu sein, ist groß. Der alte Mensch kann seinen Alltag und menschliche Beziehungen nicht mehr selbständig gestalten und fühlt sich der Situation ausgeliefert. Dies führt häufig dazu, dass soziale Kontakte verloren gehen und die Person einsam und depressiv wird. Die Psyche ist angeschlagen und genau dies birgt eine Gefahr für suizidales Verhalten.

2.2 Psychische Faktoren

Lieske (2000) kam in seiner Studie zu dem Ergebnis, dass im Gesundheitsbereich die psychiatrischen Erkrankungen mit 19,5 Prozent aller Beteiligten primär als Belastung gesehen werden. Insbesondere Depressionen und Demenzen haben dabei einen hohen Stellenwert, der nachfolgend in den Punkten 2.2.1 und 2.2.2 konkret erläutert wird (Arbeitsgruppe Alte Menschen im Nationalen Suizidpräventionsprogramm für Deutschland, 2006, S. 11). Als weitere psychische Faktoren werden Angststörungen, Wahnerkrankungen und Süchte genannt. Das Thema Alkohol und Suizid findet besondere Beachtung. Es ist erwiesen, dass sich bei einem Drittel der älteren Menschen mit Alkoholsucht diese erst ab dem 50. Lebensjahr entwickelt hat (Walter, 2008, S. 525 – 531). Dies hat vor allem mit spezifischen altersabhängigen Begünstigungs- bzw. Auslösefaktoren zu tun. Ältere Alkoholabhängige haben im Vergleich zu jüngeren auch eine höhere Morbidität und vermehrt somatische Belastungen. Folgeproblem kann dann die Depression sein, welche in Kombination mit Alkoholabhängigkeit ein gravierendes Suizidrisiko mit sich bringt. Nach Erlemeier (2002, S. 69) ist der Zusammenhang zwischen alten Menschen und Alkoholsucht jedoch noch nicht abschließend geklärt.

2.2.1 Depressionen

Depressionen gehören zur Gruppe der affektiven Störungen. Bei einer affektiven Störung ist das emotionale Gleichgewicht gestört (Gerrig & Zimbardo, 2008, S. 565). Eine Depression lässt sich demnach wie folgt umschreiben: „Eine depressive Störung ist gekennzeichnet durch eine länger anhaltende (mindestens zwei Wochen) depressive Verstimmung oder Freudlosigkeit sowie eine Anzahl von Symptomen, die diese depressive Stimmung oder Freudlosigkeit begleiten.“ (Bronisch, 1995, S. 38)

Etwa jeder vierte Mensch über 65 Jahren erkrankt an einer Form der Depression. Ältere Menschen leiden dabei zu 14 Prozent an ernsthaften Depressionen und zu 33 Prozent an depressiven Symptomen bzw. leichteren Formen der Schwermut. Bei älteren Menschen, die in Heimen leben, zeigt sich ein prozentualer Anteil bis über 30 Prozent. Dabei erhöhen körperliche Erkrankungen das Risiko, eine Depression zu bekommen. Dann steigt der prozentuale Anteil schon über 40 Prozent (Hautzinger, 2006, S. 28 - 29).

Alte Menschen zeigen häufig verschiedene Symptome, wenn sie an einer Depression erkranken:

- „Gedrückte Stimmung, besonders morgens
- Freudlosigkeit, Gefühllosigkeit
- Verminderung von Antrieb und Interessen (Typisch ist, dass geliebte Dinge und Aktivitäten gleichgültig werden)
- Rückzug aus sozialen Beziehungen
- Verminderte Konzentrationsfähigkeit
- Ermüdbarkeit und schnelle Erschöpfung
- Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
- Gefühl der Wertlosigkeit und irrationale Schuldgefühle
- Negative Zukunftserwartungen
- Ungewohnte Ängstlichkeit
- Schlafstörungen
- Appetitlosigkeit
- Gewichtsabnahme
- Verdauungsstörungen
- Ängstliche Körperwahrnehmung
- Schmerzen ohne organische Ursache
- Suizidgedanken“

(Arbeitsgruppe Alte Menschen im Nationalen Suizidpräventionsprogramm für Deutschland, 2006, S. 11).

Im höheren Lebensalter treten oft Ereignisse auf, die eine Depression eher begünstigen als im jüngeren Lebensalter (die wichtigsten werden in Punkt 2.3 näher erläutert). Leider werden dabei 40 Prozent der Depressionen im Alter nicht vom Arzt diagnostiziert (Eichenberg & Portz, 2006, S. 174). Selbsttötung ist dann in vielen Fällen die einzige Möglichkeit, dem Gefühl der Wert- und Hoffnungslosigkeit zu entfliehen.

Personen, die an Demenz erkranken, sind ebenso eine Risikogruppe für suizidales Verhalten.

2.2.2 Demenz

Alte Menschen sind besonders bei Beginn einer demenziellen Erkrankung gefährdet, sich selbst umzubringen (Arbeitsgruppe Alte Menschen im Nationalen Suizidpräventionsprogramm für Deutschland, 2006, S. 11). Sie stellen fest, dass ihr Gedächtnis schlechter wird bzw. sie an Selbständigkeit verlieren und das verursacht ein bedrückendes Gefühl der Ohnmacht. In Deutschland leben derzeit ca. 1 Million Menschen mit einer Demenz (Niklewski, Nordmann & Riecke-Niklewski, 2006, S. 5). Im Jahr 2030 werden es Schätzungen zufolge zwischen 1,9 und 2,5 Millionen sein. Medizinisch gesehen ist eine Demenz eine fortschreitende Erkrankung des Gehirns. Das Gedächtnis, das räumliche Orientierungsvermögen oder die Sprache funktionieren nicht mehr wie gewohnt. Der alte Mensch verliert seine Geistes- und Verstandesfähigkeit, seine Persönlichkeit und das Verhalten ändert sich. Am Ende steht der Verlust über die Kontrolle der Körperfunktionen. Häufig ist es schwierig, eine Demenz von einer Depression zu unterscheiden, denn auch bei einer Depression kann es zu Störungen von Merkfähigkeit, Gedächtnis, Konzentrationsvermögen und Aufmerksamkeit kommen. All diese Merkmale können aber genauso auf eine beginnende Demenz hinweisen. Eine einwandfreie Diagnostik ist hier sehr wichtig. Es ist nachzuvollziehen, dass sich aus einer Demenz leicht eine depressive Störung entwickeln kann, durch die ein alter Mensch – zumindest im Anfangsstadium der Krankheit - leicht in eine suizidale Krise gerät (Arbeitsgruppe Alte Menschen im Nationalen Suizidpräventionsprogramm für Deutschland, 2006, S. 11). Zu einem späteren Zeitpunkt nimmt die Gefahr wieder ab, suizidale Handlungen auszuführen – die betroffene Person ist sich dann ihres Krankheitszustandes häufig nicht mehr bewusst. Es gibt jedoch nach Junkers (1995, S. 171) auch Fälle, bei denen der Tod in einem späteren Stadium der Demenz eintritt. Dann aber nicht, weil sich der Mensch absichtlich umbringen will, sondern weil er sich aufgrund hirnorganischer Funktionseinbußen nicht mehr zurechtfindet. Ein todbringender Unfall (z.B. Putzmittel trinken anstatt Wasser) ist in einer solchen Situation schnell geschehen.

Im nächsten Punkt werden soziale Faktoren aufgezeigt, die das Risiko für einen Suizid im Alter begünstigen.

2.3 Soziale Faktoren

Soziale Faktoren beinhalten Netzwerke älterer Menschen, soziale Unterstützung und natürliche Veränderungen, die sich aus dem eigenen Lebenslauf ergeben. Oft entstehen Konflikte aus Kommunikationsschwierigkeiten, Verlusten oder verschiedenen Ängsten der Senioren. Diese Faktoren wirken sich zusammen mit den körperlichen und psychischen Problemen sehr häufig auf den Gesundheitszustand des alten Menschen aus. Die wichtigsten werden in dieser Bachelorarbeit nun genannt.

2.3.1 Familiensituation

Teising (1992, S. 44) befragte im Jahre 1988 38 Suizidenten im Alter von über 60 Jahren zu Lebensbereichen, die sie am meisten belasteten. Der Verlust emotional nahestehender Bezugs­personen (hauptsächlich der Verlust des Ehepartners) wurde damals als zweithäufigstes Problem genannt. Auch Lieske (2000) kam in seiner retrospektiven Studie im Raum Düsseldorf für die Jahre 1986 – 1996 zu dem Ergebnis, dass verwitwete ältere Menschen eine größere Wahrscheinlichkeit haben, einen Selbstmord zu vollziehen als ledige Personen. Männliche und weibliche Verwitwete stellten in der Gesamtbetrachtung der Selbstmorde mit 43,4 Prozent einen großen Anteil dar. Peters (2004, S. 200) stellt fest, dass viele ältere Menschen einen Psycho­therapeuten aufsuchen, weil der Ehepartner gestorben ist. Beide Ehepartner haben ein Leben miteinander verbracht, in ihrem Rollengefüge gelebt und ein gemeinsames Ich entwickelt. Der Tod eines Partners bedeutet für den anderen eine komplette Lebensveränderung und eine schmerzende Verlusterfahrung. Viele alte Menschen haben dann das Gefühl, einen Teil von sich selbst verloren zu haben, was sie in tiefe Trauer stürzt. Es ist niemand mehr da, der ihnen Anerkennung, Freude oder Lob schenkt. Das Selbstwertgefühl beginnt zu sinken. Faltermaier, Mayring, Saup und Strehmel (2002, S. 198 - 200) beschreiben Gefühle wie Schock, Betäubtheit, Nichtwahr­habenwollen, Angst, Beklemmung, Aggression, Kontrollverlust, Gefühle der Verzweiflung, Schuld usw., mit denen der zurück­bleibende Mensch zu kämpfen hat. Er fühlt sich dann oft den Anforderungen des Alltags nicht mehr gewachsen und flüchtet schlimmstenfalls in die Suizidalität.

Suizidforscher sind sich nach Erlemeier (2002, S. 72) in diesem Punkt einig: Geschiedene, getrennt Lebende, Verwitwete oder Ledige üben häufiger Selbstmord aus als andere. Dies ist insbesondere bei alten Männern zu beobachten.

Die Familiensituation ist aber nicht der einzige soziale Faktor, der einen Suizid auslösen kann, auch zwischenmenschliche Bindungsfaktoren spielen eine entscheidende Rolle.

2.3.2 Zwischenmenschliche Faktoren

Beziehungen zwischen Menschen lösen häufig Konflikte aus. Entscheidend für alte Menschen ist besonders die Beziehung zu den eigenen erwachsenen Kindern (Rahn & Mahnkopf, 2005, S. 706). Diese haben aber nach Peters (2004, S. 185) emotional den größeren Abstand zu den Eltern als umgekehrt. Das bedeutet, dass sie häufig auch nicht ein so intensives Kontaktbedürfnis wie diese haben. Die Eltern wünschen sich also eine konfliktfreie Beziehung mit viel Nähe, die erwachsenen Kinder wollen aber häufig ihr eigenes Leben führen. Viele alte Menschen haben Angst, dass sich die Beziehung und der Kontakt zu ihren Kindern bei einem Streit oder einer Krise verschlechtern könnte. Diese Angst ist durchaus berechtigt, da es generationenbedingt oft verschiedene Einstellungen zu Dingen gibt.

Gründen z.B. Kinder ihre eigene Familie, fühlen sich Senioren oft zurückgesetzt. Die Nachkommen führen ein eigenes Leben und bei den Eltern schleicht sich ein Gefühl von Macht- und Kontrollverlust ein. Nun ist der Ehepartner für den Sohn oder die Tochter zunächst bedeutsamer als die eigene Person – ein Zustand, der nicht so einfach zu akzeptieren ist. Auch die Geburt von Enkelkindern kann zu Konflikten mit den eigenen Kindern führen (Rahn & Mahnkopf, 2005, S. 706). Zunächst als freudiges Ereignis erlebt, können Enkelkinder sehr schnell zur Überforderung führen. Die unterschiedlichen Vorstellungen der Generationen über Erziehungsstile stellen ebenso einen nicht zu unterschätzenden Konfliktfaktor dar. Lehr (2003, S. 283 – 285) weist darauf hin, dass erwachsene Kinder immer einen starken Einfluss auf die Eltern ausüben. Häufig wirken sich die Schicksale der erwachsenen Kinder negativ auf das elterliche Befinden aus. Lehr nennt dabei beispielsweise Drogenabhängigkeit der Nachkommen, sehr auffälliges Verhalten oder psychisch behinderte erwachsene Kinder. Sie stellt fest, dass die Beziehung erwachsene Eltern zu den Kindern abnehmen kann, wenn die Eltern krank werden. Es kann aber auch sein, dass sie dadurch erst intensiviert wird. Dies hängt immer davon ab, wie gut die Qualität der Beziehung vor der Problematik war (Erlemeier, 2002, S. 70 - 74). Nehmen Familienkonflikte überhand, mangelt es dem alten Menschen an vertraulichen Gesprächen und emotionalem Austausch - weitere Faktoren, die Suizid im Alter auf Dauer begünstigen. Ist ein alter Mensch irgendwann nicht mehr erwerbstätig, birgt das zusätzlich ein Risiko für suizidales Verhalten.

2.3.3 Ausscheiden aus dem Erwerbsleben

Gibt ein Mensch seinen Beruf für die Verrentung auf, ändern sich viele Dinge. Der Kontakt zu Arbeitskollegen, der Bezug zu Macht, Ansehen und Status ist ein anderer (Kretschmar et. al, 2000, S. 417). Bekommt ein älterer Mensch kein Lohn- und Gehalt mehr, sondern Rente, sieht er sich häufig auch als einen „Kostenfaktor“, der dem Staat eher auf der Tasche liegt. Der verdiente Ruhestand wird dann nicht unbedingt mehr als positiv wahrgenommen. Rollen verändern sich, der Alltag funktioniert anders als bisher, die zeitliche Organisation ist eine neue (Faltermeier, Mayring, Saup & Strehmel, 2002, S. 195 - 198). Ein Ausstieg aus dem Beruf heißt, dass keine Leistungen mehr zu erbringen sind und es infolge dessen auch keine Anerkennung und Selbstbestätigung von Außen mehr gibt. Autonomie und Unabhängigkeit, die sich ein Mensch durch seinen Beruf geschaffen hat, gehen ein Stück weit verloren. Finanzielle Einbußen in der Rente treffen häufig die Frauen, weil sie insgesamt eine geringere Anzahl von Berufsjahren gearbeitet haben als Männer. Nicht selten liegt dann die Rente nur knapp über dem Existenzminimum. Teising (1992, S. 45) fand bei seiner Befragung der 38 über 60jährigen Suizidenten (bereits näher erläutert im Teil 2.3.1) heraus, dass insgesamt 13 Prozent unter belastenden finanziellen Problemen nach der Verrentung litten. Veränderungen im sozialen Netzwerk (Faltermeier, Mayring, Saup & Strehmel, 2002, S. 195 - 198) spielen ebenso eine große Rolle. Die Ehepartner müssen ihre Aufgaben (z.B. Haushalts­führung) in der Rente wieder neu verteilen und sich oft mit latenten Partnerschaftskonflikten auseinandersetzen. Wo früher der Arbeitskollege Ansprechpartner war, ist es jetzt die Ehefrau, die vielleicht nicht alles so versteht wie dieser. Plötzlich ist auch zeitlich alles anders geregelt. Der alte Mensch muss nicht mehr früh aufstehen, um seiner Arbeit nachzugehen. Der Ablauf der Tage, Wochen und Monate wird nicht mehr durch den Beruf bestimmt. Freizeit ist nicht mehr so kostbar, wie sie einmal war. Sie ist in Hülle und Fülle vorhanden und sie zu füllen, ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Der Rentner muss sich neue Ziele setzen und sein Leben neu organisieren. Viele Senioren fühlen sich dieser Herausforderung nicht gewachsen.

Als letzten Risikofaktor für Suizid im Alter ist noch die soziale Isolation und Einsamkeit zu nennen, mit der viele Betroffene zu kämpfen haben.

2.3.4 Soziale Isolation und Einsamkeit

Teising (1992, S. 44) stellte bei seiner Untersuchung fest, dass der Hauptgrund für suizidales Verhalten Isolation und Kontaktprobleme waren. Es ist bekannt, dass die Psyche eines alten Menschen sehr eng mit der subjektiv gefühlten Isolation zusammenhängt. Isolation bedeutet, dass der Mensch an einem Mangel an sozialen Beziehungen leidet. Sie besteht dann, „wenn die Zahl sozialer Kontakte unter einem für notwendig erachteten Minimum liegt“ (Tesch-Römer, 2000, S. 163). Viele Menschen leben im Alter alleine. Befragt man Familiensoziologen, kommen diese zu dem Ergebnis, dass Zwei- und Mehrgenerationenhaushalte in Deutschland abnehmen, während Eingenerationenhaushalte zunehmen (Peters, 2004, S. 209). Fakt ist, dass in Deutschland 18 Prozent aller Männer und 68 Prozent aller Frauen in einem Singlehaushalt leben. Dies betrifft vor allem Menschen über 75 Jahren. Dies hat oft die Folge, dass Sozialkontakte rar sind und eine Person leicht in das soziale Abseits geraten kann. Es ist aber nicht nur so, dass Einsamkeit entsteht, wenn ein alter Mensch alleine wohnt. Einsamkeit kann auch innerhalb eines guten Sozialnetzes entstehen – wenn die Kontakte oberflächlich und unverbindlich sind und der Betroffene nicht das Gefühl hat, nicht „wirklich“ dazuzugehören. Lieske (2000) fand in seiner retrospektiven Studie im Raum Düsseldorf für die Jahre 1986 – 1996 heraus, dass 19,9 Prozent (fast jeder fünfte!) aller Selbstmörder nur selten oder fast keine Sozialkontakte hatten. In 21 Prozent der Fälle konnte zu dieser Frage gar keine Antwort gegeben werden. Erlemeier unterscheidet in seiner Netzwerk­for­schung zwischen „quantitativen und qualitativen Parametern“ (Erlemeier, 2002, S. 71). Er behauptet, dass Einsamkeitsgefühle nicht hauptsächlich durch die Anzahl der Kontaktpersonen sondern durch qualitative Eigenschaften ausgelöst werden. Damit bezieht er sich auf den fehlenden vertraulichen Austausch und die Emotionalität in den Beziehungen. Demnach kann ein Anteil von 25 – 30 Prozent der über 65jährigen als „sozial isoliert“ bezeichnet werden. 5 – 10 Prozent der alten Menschen sagen selbst, dass sie sich auch einsam fühlen. Erlemeier vermutet in diesem Bereich die suizidal gefährdeten Personen.

2.4 Exemplarisches Beispiel einer Studie zu Suizidmotiven im Alter

Lieske (2000) fasste in seiner Studie die Suizidmotive der Personen über 65 Jahren insgesamt zusammen. Als Informationsgrundlage standen ihm Vernehmungsprotokolle der Verwandten und Angehörigen, Ärzte und diverse Abschiedsbriefe der Suizidenten zur Verfügung.

Er kam dabei auf folgende Ergebnisse:

Abbildung 2: Suizid und deren Motive; Quelle: Lieske (2000, S. 34)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Im Allgemeinen wurden zwei Gruppen, die sich für den Suizid entschieden haben, beschrieben. Die eine Gruppe hatte private oder persönliche Motive, die andere finanzielle Probleme. Es gibt dabei noch Untergruppen, die zu erläutern sind. „Gesundheitsprobleme“ und die dazugehörigen Krankheiten wurden in dieser Bachelorarbeit schon in Punkt 2.1 genauer aufgegliedert. „Affekt­handlungen“ bedeutet, dass verschiedene Einflussfaktoren zu einer Kurzschlusshandlung führten, auf deren Ursache der Suizident vor seinem Tode nicht hingewiesen hat. Es werden persönliche, finanzielle oder auch psychische Gründe gewesen sein, die einen Selbstmord begünstigten, die sich die Angehörigen bei der Befragung aber nicht erklären konnten. Es gab auch Fälle, bei denen die Motive gänzlich unklar waren und bei der nicht ansatzweise ein Grund für den Selbstmord zu erkennen war. Die gesamte Anzahl der Selbstmordmotive ist mit 359 Angaben wieder erhöht, weil es in vielen Fällen mehrere Punkte waren, die für den Selbstmord eine Rolle spielten.

Bei der näheren Betrachtung der wichtigsten Ergebnisse waren finanzielle Ursachen bei 248 Fällen nicht die Ursache der Selbsttötung. Gesundheitsprobleme standen dafür mit 20 Prozent als Motivgruppe für beide Geschlechter an erster Stelle. Danach finden sich mit 8,9 Prozent als Suizidursache die Partnerverluste, reaktive Depressionszustände (beinhaltet z.B. die Reaktion auf Gesundheitsbeschwerden, soziale Ausgrenzung usw.) gaben 4,0 Prozent der Angehörigen als Motiv an. An sozialer Isolation und Einsamkeit litten 3,5 Prozent aller Suizidenten. Alle weiteren Angaben lassen sich aus der obigen Abbildung 2 entnehmen.

Im Folgenden stellt sich nun die Frage, wie diese Personen als suizidal erkannt werden können. Welche Vorboten und Signale gibt es für eine Gefährdung?

3. Vorboten und Signale einer Suizidgefährdung

Die Arbeitsgruppe Alte Menschen im Nationalen Suizidpräventionsprogramm für Deutschland (2006, S. 7) erklärt nach Prüfung der Erkenntnisse, dass Senioren, die suizidgefährdet sind, häufig von einem Gefühl der „Einengung“ sprechen. Sie ziehen sich zurück, nehmen nicht mehr am Sozialleben teil und verzichten auf ihre Hobbys oder jegliche kulturelle Veranstaltungen. Auch zwischenmenschliche Kontakte werden nicht mehr gepflegt. Die Betroffenen fangen an, in ihren trüben Gedanken zu versinken und fühlen sich in ihrem Denken eingeschränkt. „Schraubstock“-Gefühle sind dabei nicht selten.

Konkret fasst die Arbeitsgruppe alle Anzeichen folgendermaßen zusammen:

- „Gefühl der Einengung
- Grübeln, Suizidgedanken
- Aufgeben gewohnter Interessen und Aktivitäten
- Rückzug aus zwischenmenschlichen Beziehungen
- Ankündigung des Suizids (direkt oder indirekt)
- Unerwartet auftretende Ruhe nach Suizidäußerungen (´Ruhe vor dem Sturm´)“

(Arbeitsgruppe Alte Menschen im Nationalen Suizidpräventionsprogramm für Deutschland, 2006, S. 7).

Oft bemerken alte Menschen im Gespräch mit anderen, dass sie eigentlich nicht mehr leben wollen und ihnen der Sinn im Leben fehlt. Manchmal weisen sie auch direkt darauf hin, dass sie sich töten wollen. Häufig kommt es ebenfalls vor, dass ein alter Mensch zunächst Suizidgedanken äußert und dann zu einem späteren Zeitpunkt sehr entspannt und ruhig wirkt. Das kann ein Zeichen dafür sein, dass er jetzt tatsächlich den Entschluss gefasst hat, sich umzubringen und sich nicht mehr mit dem quälenden „ich will mich töten“ und dem „vielleicht gibt es ja irgendwo noch Hilfe für mich“ befassen muss.

Dorrmann (2002, S. 40) zählt Beispiele für Äußerungen eines Menschen auf, die Hinweise für Selbsttötungsabsichten geben könnten: Z.b. wenn er bemerkt, dass er das Gefühl hat, jedem zur Last zu fallen oder er nur noch schlafen bzw. seine Ruhe haben und nichts mehr hören und sehen will. Auch die Meinung eines alten Menschen, dass sich seine Lage nie bessern wird und er das nicht mehr mitmachen will, kann ein indirekter Hinweis auf eine Selbstmordabsicht sein. Es gibt noch viele weitere Aussagen, die alarmierend sind. Die Verfasserin hat hier nur die ihr am wichtigsten erschienenen wiedergegeben.

Teising (1992, S. 113) beschreibt in seinem Buch, dass Menschen oft auch bestimmte Verhaltensweisen zeigen, wenn sie vorhaben, sich umzubringen. Es kann sein, dass sie sich von ihren persönlichen Besitztümern trennen, Medikamente sammeln, häufig zum Arzt gehen (ohne, dass ein offensichtlicher Grund vorhanden ist) oder sich eine Waffe zulegen. Indirekt schädigendes Verhalten zeigt sich darin, dass die Betroffenen nichts mehr essen wollen oder ihre Medikamente verweigern. Es ist möglich, dass sie die Medikamente überdosieren oder zu Suchtmitteln wie z.B. Alkohol greifen.

Nach Wolfersdorf (2000, S. 38) gibt es nur bis zu einem bestimmten Punkt im Ablauf der suizidalen Handlung eine Möglichkeit, den Entschluss des alten Menschen umzukehren. Er hat dazu eine aussagekräftige Abbildung erstellt, die es zu erläutern gilt.

Abbildung 3: Ablauf zur suizidalen Handlung; Quelle: Wolfersdorf (2000, S. 38)

Hoffnungslosigkeit

Todeswunsch

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Suizididee Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Suizidale

Handlung

Er stellt fest, dass es bis zur suizidalen Handlung eine zeitliche Abfolge gibt. Zunächst liegt eine Suizididee vor. Der Mensch fühlt sich hoffnungslos, hat vielleicht auch einen Todeswunsch. Das heißt aber nicht, dass bereits ein Entschluss zu einer suizidalen Handlung vorliegt. Handlungsdruck ist noch nicht vorhanden (betrifft häufig depressive Patienten). Ist der Entschluss gefasst, eine suizidale Handlung auszuführen, gibt es immer noch einen gewissen Zeitraum, bis der tatsächliche Entschluss zur Umsetzung gefasst wird. Genau dieser Abschnitt ermöglicht der Suizidprävention, einzugreifen und den suizidalen Menschen vom Selbstmord abzuhalten. Dies geht natürlich nur, wenn eine entsprechende Information der Suizidabsicht auch geäußert wurde. In diesem Zeitraum kann sich noch viel positiv verändern, so kann es z.B. sein, dass therapeutisch-pflegerische Interventionen oder viel Kommunikation den Wunsch nach einer suizidalen Handlung wieder abklingen oder unterbrechen lassen. Trifft der Betroffene jedoch die Entscheidung zur Umsetzung, muss nur noch der Ort und das „wie“ des Suizides geklärt werden.

In der Öffentlichkeit bestehen nach Teising (1992, S. 112) oft falsche Annahmen über Suizidalität. Es wird vermutet, dass suizidale Personen ihren Suizid vorher nicht ankündigen bzw. die Personen, die ihn ankündigen, es sowieso nicht tun. Auch traut sich niemand, das Thema Suizid gegenüber dem Betroffenen anzusprechen – aus Angst, er könnte es dann erst recht tun. Es herrscht auch das Vorurteil, dass Menschen, die über Suizid sprechen, sich nur „wichtig“ machen wollen oder dass die beste Reaktion auf eine Suizidankündigung doch die Ermunterung, es zu tun, sei. All diese Vorstellungen sind falsch und es ist die Aufgabe der Prävention, diesen Vorurteilen durch konkrete Aufklärung zu begegnen. Denn ältere Menschen wollen mit ihren Ankündigungen andere Menschen nicht einschüchtern. Sie meinen es ernst und Hilfe kommt dann in vielen Fällen leider zu spät. Um diesem Extremfall entgegen zu wirken, gibt es gute Möglichkeiten, Selbstmordabsichten zu diagnostizieren.

4. Diagnostik Suizidalität

4.1 Gespräch

Um Suizidalität eines Betroffenen einschätzen zu können, braucht es ein Gespräch, das einen fürsorglich-schützenden Charakter vermittelt. Es muss eine offene, direkte, ernstnehmende und empathische Kommunikation zwischen den Gesprächspersonen herrschen (Wolfersdorf, 2000, S. 122 - 124). Bei depressiven Patienten gelingt der Gesprächseinstieg in der Regel am leichtesten. Sie empfinden direktes Nachfragen nach Suizidwünschen eher als Erleichterung und können so ihre Schuldgefühle loswerden. Beispielsweise könnte der Diagnostizierende fragen, ob der alte Mensch seine Situation als stark belastend versteht und deswegen daran denkt, es nicht mehr lange auszuhalten. Weiterhin sind Fragen nach Todeswünschen und inwiefern sie schon konkret sind, sinnvoll. In einem Artikel des deutschen Ärzteblattes beschreibt Sonnenmoser (2008, S. 79), dass die Häufigkeit, Intensität und Dauer der Suizidgedanken zu erfragen sind. Es ist wichtig zu wissen, wie detailliert Suizidpläne bereits geplant wurden oder der Betroffene schon spezielle Vor­bereitungen getroffen hat.

Ob der Patient seine suizidale Äußerung wirklich „ernst“ meint, ist fraglich, grundsätzlich muss aber jede Suizididee oder Ankündigung immer ernst genommen und hinterfragt werden. Wolfers­dorf (2000, S. 128) hat in seinem Buch verschiedene Kriterien der „Ernsthaftigkeit“ aufgestellt:

1. „Jede Äußerung von Hoffnungslosigkeit, Todeswünschen, jede Suizidankündigung oder –erwägung ist ernst zu nehmen – und ernstnehmend direkt zu hinterfragen!
2. ´Nicht-ernst-nehmen´ verstärkt das Gefühl von Wert- und Sinnlosigkeit, Hoffnungs- und Hilflosigkeit und kann suizidfördernd sein.
3. Ort einer suizidalen Handlung, Wahl der Methode und/oder Ankündigungen bedürfen der Interpretation im interaktionellen Beziehungskontext, sind als Kriterien für ´Ernsthaftigkeit´ weniger brauchbar.
4. Wahl harter Methoden, Rückzug (´nicht kommunizierte´ Suizidalität), psychopathologische Abwandlung (tiefe Hoffnungslosigkeit, psychotisches Erleben) normalen Erlebens sind Hinweise auf eine erhöhte Gefährdung (erhöhter Handlungsdruck) hinsichtlich drohender Umsetzung von Suizidideen.
5. Impulshaftes Auftreten von Suizidalität, Gefahr von Kontrollverlust
6. Psychische Störung/Krankheit
7. Mehrfache Suizidversuche, besonders, wenn mit Methodenwechsel“

(Wolfersdorf, 2000, S. 128).

Beantwortet der Betroffene die Fragen hinsichtlich seiner Todeswünsche mit Zustimmung und genaueren Erklärungen, ist es notwendig, nach früheren suizidalen Krisen, Suizidversuchen in der Vorgeschichte und ebenso nach deren Bewältigung zu fragen. Sonnenmoser (2008, S. 79) beschreibt in ihrem Artikel, dass frühere Suizidversuche Anzeichen für weitere Versuche sein können. Hat sich ein Mensch bereits zweimal versucht, das Leben zu nehmen, spricht man von einem chronischen Suizidrisiko. Das Risiko ist aber auch nicht geringer, wenn der Betroffene nicht früher schon einmal einen Selbstmordversuch unternommen hat. Die Art des Suizidversuchs ist ebenso ein zuverlässiger Indikator für eine Wiederholung der Handlung. Im Gespräch muss auch nach Faktoren, die das Suizidrisiko erhöhen, gefragt werden. Dazu gehören Risikogruppen wie z.B. Personen mit Depressionen, Schizophrenie, Suchterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen usw. Die Frage nach dem Handlungsdruck ist die nächste, die in Erfahrung gebracht werden sollte. Unter „Handlungsdruck“ wird die Intensität des Antriebes verstanden, mit welchem der Patient seinen Suizid umsetzen will. Der Handlungsdruck kann hoch oder auch niedrig sein. Wenn der Betroffene z.B. von Angst-Gedanken oder Gedanken des Untergangs geplagt wird, ist der Handlungsdruck meist stark ausgeprägt. Dem entgegenstehend kann es aber ebenso sein, dass der Patient viele positive Faktoren in seinem Leben hat, die ihn dazu antreiben, erst eine Therapie vor dem Selbstmord in Anspruch zu nehmen. Diese Faktoren sind im weiteren Gesprächsverlauf zu erfragen. Wer oder was hält den Betroffenen am Leben? Hier wird zwischen externen Bindungen (z.B. Familie, Partner, Kinder) und Bindungen für sich selbst (z.B. positive frühere Erfahrungen, Hoffnung auf Veränderungen usw.) unterschieden. Am Ende des Gespräches sollte die Frage nach der Hoffnung bzw. der Hoffnungslosigkeit gestellt werden. Es muss geklärt werden, ob der Patient an eine Besserung des eigenen Befindens glaubt und er für eine Therapie und Unterstützung von Außen zugänglich ist. Des Weiteren muss der Betroffene sich dazu mitteilen, ob er Verabredungen für die Zukunft (z.B. den nächsten Tag, die nächste Woche) einhalten kann bzw. was er bereit ist, für Zugeständnisse zu machen, wenn sich eine Verschlechterung seines Zustandes ergibt. Ein Beispiel hierfür könnte der „Anti-Suizidvertrag“ sein: Das ist eine „Absprache, zwischen dem Helfer/Therapeuten und dem suizidalen Patienten, die am Ende eines Erstgespräches wegen der suizidalen Krise steht und den Umgang des Patienten mit seinen Todeswünschen, Suizidideen oder Suizidimpulsen regeln soll.“ (Wolfersdorf, 2000, S. 115). In diesem Vertrag wird vereinbart, dass der Betroffene bis zum nächsten Kontakt bei einer ambulanten Behandlung (bzw. innerhalb der nächsten zwei bis drei Stunden während einer stationären Behandlung) vermeidet, suizidale Handlungen durchzuführen und sich selbst zu verletzen. Er verpflichtet sich weiterhin, beim Auftreten von Suizidgedanken Hilfe von Außenstehenden (z.B. Therapeut, Pflegepersonal usw.) in Anspruch zu nehmen. An dieser Stelle wird dann entschieden, ob der Patient ambulant oder stationär weiter versorgt wird. Lässt sich der Patient auf einen „Anti-Suizidvertrag“ ein, reicht es zunächst aus, ihn ambulant und engmaschig zu betreuen. Kommt für ihn dieser Vertrag nicht mehr in Frage, wird eine stationäre Versorgung dringend notwendig. Grundsätzlich kann leider niemand Suizidalität und eine erhöhte Selbstmordgefährdung absolut sicher diagnostizieren. Es kommt immer auf die subjektive Einschätzung des Beurteilers und sein eigenes Wissen über Suizidalität an. Es gibt aber Möglichkeiten, die Suizidalität zusätzlich anhand eines Fragenkataloges einzuschätzen.

4.2 Abschätzung Suizidalität

Um Ärzten die Diagnostik von Suizidalität zu erleichtern, wurden bestimmte Fragen entwickelt. Rahn und Mahnkopf (2005, S. 613) stellen folgendes Beispiel dar:

Abbildung 4: Fragenkatalog zur Abschätzung der Suizidaliät; Quelle: Rahn & Mahnkopf (2005, S. 613)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Haben Sie in der letzten Zeit daran denken müssen, sich das Leben zu nehmen? ja
2. Häufig? ja
3. Haben Sie auch daran denken müssen, ohne es zu wollen? ja Haben sich die Gedanken aufgedrängt?
4. Haben Sie konkrete Ideen, wie Sie es machen würden? ja
5. Haben Sie Vorbereitungen getroffen? ja
6. Haben Sie schon zu jemandem über die Selbstmordabsichten gesprochen? ja
7. Haben Sie einmal einen Selbstmordversuch unternommen? ja
8. Hat sich in Ihrer Familie oder in Ihrem Freundes- und Bekanntenkreis schon jemand das Leben genommen? ja
9. Halten Sie Ihre Situation für aussichts- und hoffnungslos? ja
10. Fällt es Ihnen schwer, an etwas anderes als an Ihre Probleme zu denken? ja
11. Haben Sie in letzter Zeit weniger Kontakt zu Ihren Verwandten, Bekannten und Freunden? ja
12. Haben Sie noch Interesse daran, was in Ihrem Beruf und in Ihrer Umgebung vorgeht? Interessieren Sie noch Hobbys? nein
13. Haben Sie jemand, mit dem Sie vertraulich und offen über Ihre Probleme sprechen können? nein
14. Wohnen Sie zusammen mit Familienmitgliedern oder Bekannten? nein
15. Fühlen Sie sich unter starken familiären oder beruflichen Verpflichtungen stehend? nein
16. Fühlen Sie sich in einer religiösen bzw. weltanschaulichen Gemeinschaft verwurzelt? nein

Anzahl der entsprechenden Antworten:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Diese Methode hat sich für Mediziner schon oft bewährt, um einen suizidalen Menschen (unabhängig vom Alter) besser einschätzen zu können.

Der nächste Abschnitt beschäftigt sich nun mit präventiven Maßnahmen. Wie kann ein Suizid schon im Vorfeld verhindert werden? Was kann getan werden, wenn ein Suizid kurz bevor steht oder wie oder wem kann geholfen werden, wenn der Selbstmord schon unternommen wurde?

[...]

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2010
ISBN (PDF)
9783958207073
ISBN (Paperback)
9783958202078
Dateigröße
5.9 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Fachhochschule Regensburg
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,7
Schlagworte
Alterssuizid Prävention Soziale Isolation Einsamkeit Demenz Depression

Autor

Nicole Zeitler, B.A., wurde 1978 in Regensburg geboren. Ihr Studium der Sozialen Arbeit an der OTH Regensburg schloss die Autorin im Jahre 2010 ab. Bereits während des Studiums sammelte sie umfassende praktische Erfahrungen in verschiedenen Bereichen der Seniorenhilfe. Diese Erfahrungen motivierten sie, sich der Thematik des vorliegenden Buches zu widmen.
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Titel: Suizid im Alter: Ursachenforschung, Diagnostik und Möglichkeiten zur Vermeidung
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