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Bürgerhaushalte in Deutschland: Welche Rolle spielen Geld, Verwaltung und Beteiligung?

©2014 Magisterarbeit 72 Seiten

Zusammenfassung

Bürgerhaushalte haben sich im Bereich der Finanzierungsplanung einer Kommune mit Hilfe von partizipativen Instrumenten in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten einen Namen gemacht. Die Idee stammt aus Brasilien, doch sie findet sich heute in diversen Variationen weltweit wieder. Auch in Deutschland gibt es zahlreiche Lobeshymnen auf das Konzept, vor allem aus den Reihen der daran Beteiligten, welche die Möglichkeit sehen, informierte und engagierte Bürger an politischen Prozessen und Entscheidungen zu beteiligen.
Entscheidend an Beteiligung ist natürlich, ob sie Ergebnisse nach sich zieht, da der Prozess der Mitwirkung sonst obsolet ist. Auch der Bürgerhaushalt, der Vorschläge für den Finanzplan der Kommunen sammelt, bringt Ergebnisse mit sich. Wie viele der Ideen aus den Reihen der städtischen Anwohner tatsächlich umgesetzt werden, ist höchst verschieden. Letztendlich ist dies eine Entscheidung des Rates, der weiterhin die Hoheit über das Budget behält. Zu klären ist, von welchen Faktoren es abhängt, ob die Bürgervorschläge tatsächlich politische Zustimmung erhalten. Im Rahmen der vorliegenden Studie sollen Ansätze gefunden werden, welche Einflussfaktoren in Deutschland dafür in Frage kommen. Untersucht wird hierbei der Einfluss
a) der Finanzsituation einer Kommune,
b) der Anzahl der Teilnehmer an einem Bürgerhaushalt,
c) der Vorgaben der Verwaltung.
Die Arbeit bezieht sich auf die Verfahren in den Kommunen Köln, Oldenburg, Potsdam, Münster und Trier.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2. Theoretische Betrachtungen

In diesem Teil nähert sich die Arbeit den theoretischen Aspekten des Themas Bürgerhaushalt auf Grundlage einer Literaturrecherche. Zunächst folgt ein Überblick über die Entwicklung der Bürgerbeteiligung allgemein. Anschließend wird das Verfahren des Bürgerhaushalts in bestehende theoretische Überlegungen und Konzepte eingeordnet. Es folgt ein Betrag zur Geschichte des Bürgerhaushalts auf seinem Weg von den Ursprüngen in Brasilien bis nach Deutschland. Danach wird das Verfahren auf dem Weg hin zu einer Typologie, einer Definition und den damit verfolgten Zielen näher beleuchtet. Ein spezieller Fokus wird mit Blick auf das Thema dieser Arbeit auf den speziellen deutschen Weg bei der Umsetzung der Idee gelegt. Zum Abschluss dieses Kapitels werden die kritischen Stimmen bezüglich des Bürgerhaushalts aufgezeigt.

2.1 Entwicklung der Bürgerbeteiligung

Die Bürger zu beteiligen, gehört zu den Grundpfeilern einer demokratischen Gesellschaft. In welcher Form dies allerdings auf dem Weg zu politischen und administrativen Entscheidungen geschieht, ist je nach Staat, Land/Provinz und Kommune sowie der jeweiligen Entscheidungsebene höchst unterschiedlich. Vielfach hatten Bürger, gerade auf staatlicher Ebene, lediglich die Möglichkeit, ihren Willen in Form von alle paar Jahre stattfindenden Wahlen auszudrücken. In der Zeit dazwischen war es die alleinige Aufgabe der gewählten Repräsentanten, den so genannten Wählerwillen aufzunehmen und in politische Entscheidungen umzusetzen. Die Administrative/Regierung war derweil mit der Umsetzung betraut. Neben dem Warten auf die nächste Wahl hatte der Bürger indes bis auf öffentliche Proteste oder den Klageweg wenig Möglichkeiten, getroffene Entscheidungen oder die Ausführung anzufechten. Diese Führungsrolle von Politik und Verwaltung war in den meisten Fällen von den Mitgliedern ebendieser Institutionen auch gewollt. So wurde beispielsweise im Rahmen der gesellschaftlichen Bewegungen Ende der 1960er Jahre die Verwaltung als konservative Kraft, als „Bollwerk einer veralteten autoritären institutionellen Struktur“ angesehen, das „den Bürger immer noch als Untertan begreift und behandelt“ (Klages 2009: 104).

Bürgerbeteiligung war in den 1960er Jahren in Deutschland eine Ausnahme, auch auf lokaler Ebene. Neben der Wahl der Gemeindevertretung gab es in Bayern und Baden-Württemberg noch die Möglichkeit, die Bürgermeister direkt zu wählen – zu dieser Zeit eine Ausnahme (Vetter 2008: 11). Zudem gab es hauptsächlich für Einzelfälle interessante Informations- und Anhörungsrechte im Verfahrensrechtsschutz (Bogumil 2009: S. 89). Erste Ansätze auf dem Weg hin zu einer partizipativen Demokratie waren in diesem Jahrzehnt allerdings bereits zu erkennen, wozu Herzberg (2001: 9ff) auch direkte gewaltfreie Aktionen wie Sitzblockaden als wichtige Protestformen zählt. Getragen wurde diese Entwicklung von der studentischen Bewegungen an US-amerikanischen Universitäten. Von dort verbreitete sie sich weiter nach Europa. Diese Demokratisierungswelle zwang auch in Deutschland zu einem Überdenken der Vorstellung von Demokratie mit (auch von der Politik) öffentlichkeitswirksam geäußerten Zielen wie „Mehr Demokratie wagen“ oder „Demokratisierung aller Lebensbereiche“. Dabei ging es in erster Linie um die Demokratisierung sozialer Systeme wie Familie, Schule, Universitäten oder Wirtschaft. Diese Diskussion fand sowohl Befürworter als auch viele Kritiker. Die Umsetzung dieser Ideen gelang vor allem an den Hochschulen durch Beschlüsse der sozial-liberalen Koalition (Naßmacher 1997: 446).

In den 1970er Jahren, in denen Vetter (2008: 11) eine „partizipatorische Revolution“ ausgemacht hat, wurden in Deutschland neue Wege im Rahmen der Bürgerbeteiligung beschritten. Gesetzlich festgelegt wurden Informationsrechte, die in Bürgerversammlungen wahrgenommen werden konnten, Anhörungsrechte über Beteiligung an (Stadt-)Planungsverfahren und die Aufnahme sachverständiger Bürger in Ausschüsse. Außerdem wurden informelle Beteiligungsverfahren aus dem Bereich der „kooperativen Demokratie“ (siehe Kap. 2.2) eingeführt. Dazu gehörten Planungszellen, Runde Tische oder Mediation (Bogumil 2009: 89; Vetter 2008: 11). In der Folge dieser Entwicklung wurde zudem nach mehr Mitsprachemöglichkeiten des einzelnen gesucht, was vor allem in Bürgerinitiativen gelang (Naßmacher 1997: 446).

Der Trend zu mehr Mitbestimmung fußte auf extremer Kritik an den Vermittlungsinstitutionen, insbesondere Parteien und Politikern. Diskutiert wurde gar eine Demokratie ohne Parteien mit Runden Tischen zur Entscheidungsfindung (Naßmacher 1997: 447). Zur Überwindung des repräsentativen Systems kam es indes nicht. Allerdings ist in den 1990er Jahren eine weitere Reformwelle zu beobachten. Dazu gehören die flächendeckende Direktwahl der Bürgermeister und Landräte, zum Teil sogar mit der Möglichkeit, diese unter bestimmten Voraussetzungen abzuwählen. Der Bürger als Wähler bekam weiterhin das Recht, durch geänderte Wahlverfahren mit Elementen wie dem Kumulieren und Panaschieren mehr Einfluss auf die Ratsbesetzung auszuüben. Auch plebiszitäre Elemente wie Bürgerbegehren und -entscheide wurden in die Gemeindeordnungen aufgenommen. Zudem sind in diesem Jahrzehnt weitere freiwillige, dialogisch orientierte und auf kooperative Problemlösungen angelegte Verfahren auf dem Weg zur Politikformulierung und Politikumsetzung zu beobachten (Bogumil 2008: 89; Naßmacher 1997: 446f). Dies geschieht in einer Zeit der politischen Krise, die unter anderem durch sinkende Wahlbeteiligungen auf allen Ebenen ausgelöst wurde, die laut Herzberg (2001: 13) aber weniger eine Krise des Bürgers ist, weil dieser sich von der gesamten Politik vermehrt abgewendet habe. Und dennoch ist ein Aufschwung der partizipativen Demokratie zu beobachten, die sich allerdings weniger rebellisch zeigt, sondern eher aus der Mitte der Gesellschaft entspringt.

In den Folgejahren bis zur heutigen Zeit sind weitere Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung hinzugekommen. Dazu gehören vor allem beratende Mitwirkungsverfahren, die allerdings keine direkte Entscheidungskompetenz für den Bürger zur Folge haben, wie zum Beispiel der Agenda-21-Prozess. Fördernd für die Entwicklung ist dabei der Ausbau der Kommunikation und Information über das Internet, der Methoden einer so genannten E-Democracy ermöglicht (Vetter 2008: 11f). Der aktuelle Stand in Deutschland sieht so aus, dass kooperative Demokratieelemente und Engagementförderung, das zeigen einige Umfragen, durchaus Verbreitung finden. Kommunale Referenden dagegen führen eher ein Schattendasein, wenngleich dort indirekte Effekte auf Politik und Verwaltung, wie die öffentlichkeitswirksame Androhung eines Bürgerentscheids, zu beachten sind (Bogumil 2009: 89ff).

2.2 Theoretische Einordnung

Das frühere Demokratieverständnis der Nachkriegszeit, dass konkurrierende Eliten aufgrund von Wahlen die Bürger von eigenem politischen Handeln abseits der alle paar Jahre stattfindenden Stimmabgabe für die favorisierten Repräsentanten entbindet, ist kaum mehr zu beobachten (Roth 2011: 77). Stattdessen gibt es ein Beteiligungsbedürfnis seitens der Bürger, dem die Politik spätestens seit Beginn des 21. Jahrhunderts vor allem auf kommunaler Ebene nachkommt (Vetter 2008: 9). Zwar gibt es auch Kritiker aus der empirischen Demokratietheorie, die weiterhin ein Konkurrenzmodell der Demokratie favorisieren, in dem der Wähler nicht Sachentscheidungen trifft, sondern zwischen rivalisierenden Führungsgruppen auswählt. Begründet wird dies damit, dass Problemlösungskompetenz nur den Eliten zugesprochen wird, dass dem Bürger eine Apathie anhaftet und dass der schlecht informierte Wähler durch unüberlegte Entscheidungen die Demokratie gefährdet. Daher ist nach dieser Sicht eine Trennung von Problemauswahl (Wahlkampfthema) und Lösung (Aufgabe des politisch-administrativen Systems) bei den komplexen Problemen in der Politik notwendig (Herzberg 2001: 11f). In der Mehrheit ist allerdings die Forderung nach mehr Partizipation des Bürgers zu finden.

Der Begriff der Partizipation wird bereits lange diskutiert. Nach instrumentellem Verständnis der politischen Partizipation bezeichnet der Begriff zunächst alle Formen politischer Beteiligung, welche Bürger freiwillig, individuell oder kollektiv unternehmen, um politische Entscheidungen direkt oder indirekt zu beeinflussen. Im normativen Verständnis ist Partizipation zudem ein Wert an sich, da auf diese Weise Selbstverwirklichung im Prozess des direkt-demokratischen Handelns und politisch-soziale Teilhabe an der Gesellschaft angestrebt wird (Schultze 2004: 648). Beteiligung gehört damit zu den unabdingbaren Elementen der Demokratie: Sie schafft Legitimation, fördert die Rückbindung politischer Entscheidungen an die Interessen der Regierten, sie generiert Vertrauen in den politischen Entscheidungsprozess und sie generiert Unterstützung für die handelnden Akteure sowie das politische System insgesamt (Vetter 2008: 9).

Im Folgenden werden Grundlagen der politische Partizipation aufgelistet, die für den Prozess entscheidend sind (Roth 2011: S. 78f):

Anerkennung von Zugehörigkeit: Zu klären ist, wer Teil des Ganzen ist, für den die Beteiligung ermöglicht wird: Frauen, Kinder, Ausländer, Behinderte usw. Im politischen Raum gilt vor allem „citizenship“ (Bürgerschaft/Staatsbürgerschaft) als Voraussetzung.

Bei Mitgestaltung liegt die Betonung auf der Vorsilbe „Mit-“: Das bedeutet, dass es eine Mehrzahl von Beteiligten und damit eine Pluralität von Sichtweisen, Bedürfnissen und Interessen gibt. Dies gilt es anzuerkennen und im Partizipationsprozess auszuhandeln.

Mittel: Die konkrete Ausgestaltung des Verfahrens sowie die Rechte und Regeln für alle Beteiligten sind zu klären.

Ergebnisse: Resultate, Erfolge und Wirkungen sind wichtig. Der Prozess als reiner Selbstzweck wird keine nachhaltige Zukunft haben.

Legitimation durch Beteiligungsverfahren: Wer mitmacht, sollte das Ergebnis akzeptieren, selbst wenn er es bei nächster Gelegenheit (Veränderung der politischen Gegebenheiten) revidieren kann.

Die Debatte über Partizipation fordert indes den Politikbegriff heraus. Gibt es eine klare Trennung zwischen politischem und gesellschaftlichem Engagement (institutionell geprägter Politikbegriff) oder wird Politik als Gestaltung von Lebensweisen in allen gesellschaftlichen Bereichen (alltägliche Partizipation, die darüber entscheidet, ob sich Demokratie als Lebensweise etabliert hat) angesehen (Roth 2011: 80)?

Spätestens seit der partizipatorischen Revolution in den 1960er und 1970er Jahren ist letztere Sichtweise auf dem Vormarsch. Seitdem sind die konventionellen Partizipationsformen (Wahlen, Parteimitgliedschaft usw.) durch zahlreiche unkonventionelle Formen (Bürgerinitiativen, Demonstrationen usw.) ergänzt worden (Roth 2011: 80f; Schultze 2004: 648). Allerdings zeigt die Betrachtung der aktuellen Situation ein ambivalentes Ergebnis bezüglich der neuen Verfahren. Auf der einen Seite gehören die Möglichkeit zur Teilnahme durch Planungszellen, Bürgerbegehren oder Experimente wie den Bürgerhaushalt vielfach zum Standard. Auf der anderen Seite nimmt nur eine Minderheit der Bevölkerung an solchen Angeboten teil und die Zahl von Planungszellen und Bürgerbegehren ist gering (Klages 2009: 106f).

Klages (2009: 109ff) vertritt dennoch die These, dass die Bürger generell Lust und Potential haben, sich zu beteiligen, was sich an den viele Engagierten bei Vereinen und Freiwilligenprojekten zeigt. Sie fühlen sich aber besonders im politischen Bereich zu wenig unterstützt und gefördert und haben Sorge, dass ihre Arbeit nicht umgesetzt wird, sondern sie für die Schublade arbeiten. Es fehlt das Vertrauen in die Politiker und andere Verantwortliche, dass die Forderungen Gehör finden. Auf der anderen Seite führt der Vorwurf des Machtgehabes auf Seiten von Politik und Verwaltung von Vornherein zu Widerstand, die Bürger einzubeziehen. Die Verantwortlichen begegnen also dem lustlosen Bürger, ohne zu merken, dass sie Teil des Problems sind, sondern bemängeln allgemeines Desinteresse und Werteverfall. Die wechselseitigen Vorbehalte münden in einer „Misstrauensspirale“ (Klages 2009: 111).

Ein entscheidender Faktor auf dem Weg aus diesem Dilemma hinaus ist also, dass der Bürger Rückmeldungen auf seine Einwendungen aus dem politisch-administrativen System bekommt. Drei Aspekte der Demokratietheorie und der Beteiligungsforschung sind dabei zuletzt in den Fokus gerückt. Beteiligung führt zu einer besseren Responsivität, wenn Interessen möglichst repräsentativ geäußert werden, wenn Interessen möglichst präzise artikuliert werden (damit auf die Wünsche eingegangen werden kann) und wenn die Beteiligungsmöglichkeiten so verfasst sind, dass entsprechende Einflussmöglichkeiten garantiert sind (z.B. Regelmäßigkeit oder Verbindlichkeit der Umsetzung). Wahlen haben eine hohe Repräsentativität, vermitteln aber keine konkreten Interessen und verpflichten nicht zur Umsetzung bestimmter Forderungen. Bürgerbegehren und -entscheide sind bei allen drei Kriterien als am positivsten zu bewerten. Allerdings wird von ihnen noch wenig Gebrauch gemacht. Alle anderen Beteiligungsformen sind eine Sache von Minderheiten. Dafür vermitteln sie präzise Informationen (Vetter 2008: 13ff).

Auch der Bürgerhaushalt soll es den Teilnehmern ermöglichen, ihre Ideen und Vorschläge möglichst präzise an die politisch-administrative Ebene ihrer Kommune heranzutragen. Damit passen die Verfahren in aktuell diskutierte Konzepte der partizipativen Demokratie sowie der kooperativen Demokratie.

In der partizipativen Demokratie ist eine Ermächtigung (empowerment) des Bürgers vorgesehen:

„Das bedeutet, Partizipation ist nicht nur eine Frage der Übertragung öffentlicher Verantwortung auf zivile Gruppen, sondern auch eine wachsende Kontrolle des Bürgers über den Staat und die Verbesserung der Fähigkeiten gewöhnlicher Leute, Themen, die ihr Leben allgemein betreffen, zu verstehen und über sie zu entscheiden“ (Abers 2000, zit. nach Herzberg 2001: 14).

In diesem Konzept ist eine De-facto-Entscheidungsbefugnis für den Bürger vorgesehen. Zwar bleibt rein rechtlich der gewählte Rat die legitimierte letzte Instanz. Letztendlich sind die Ergebnisse aus Beteiligungsverfahren aber tatsächlich zu beachten und umzusetzen. Der Bürgerhaushalt von Porto Alegre, von dem später noch die Rede sein wird, ist ein gutes Beispiel dafür.

Die kooperative Demokratie steht der partizipativen Demokratie nahe, ist aber nicht so konsequent. Sie steht für dialogisch orientierte und auf kooperative Problemlösungen angelegte Verfahren der Bürgerbeteiligung, die Politikformulierung und Politikumsetzung gerade auf kommunaler Ebene zum Ziel haben. Die Beteiligung bleibt allerdings konsultativ, eine Übertragung von Entscheidungskompetenzen auf Bürger und Verbände ist nicht vorgesehen (Holtkamp et al. 2006: 103ff). Zu den Vorteilen für die Politik gehört, dass politischer Nachwuchs gewonnen werden kann und dass eine vermehrte Sensibilität der Mandatsträger durch Machtkontrolle der Bürger entsteht. Nötig ist ein kontrollierter Machtverzicht der demokratisch legitimierten repräsentativen Politik. Der Bürger gewinnt einen Kooperationszwang und Kompromissbereitschaft bei der Kommunalvertretung sowie eine höhere Zufriedenheit durch direkte Umsetzung der Vorschläge. Die Kommune muss zwar Geld zur Mobilisierung in die Hand nehmen, spart aber durch das steigende bürgerschaftliche Engagement (z.B. Übernahme städtischer Aufgaben durch Vereine). Die Konkordanz ist bei der Implementierung der kooperativen Demokratie wichtig, aber Konkurrenz zwischen den Parteien bleibt weiterhin erhalten (Buß 2008: 147f). Herzberg (2009: S. 59ff) kritisiert an dem Konzept, dass der Begriff ein Bild suggeriert, in dem Bürger, Politik und Verwaltung gleichberechtigt an einem Tisch nach Lösungen suchen, während in Wahrheit die Verwaltung gegenüber beiden einen Informationsvorsprung und Politiker die endgültige Entscheidungskompetenz innehaben. Der Bürger soll wie ein gleichberechtigter Partner wirken, ist aber Bittsteller. Die Betrachtung der deutschen Bürgerhaushalte, die in der Tradition der kooperativen Demokratie stehen, wird dies weiter beleuchten.

Neben der demokratietheoretischen Entwicklung sind zudem Veränderungen in der Verwaltung zu beachten, die dem Bürgerhaushalt den Weg ebneten. Im Zuge von Reformen der Administrative wurde in den 1990er Jahren das Leitbild des Neuen Steuerungsmodells (NSM) eingeführt, bei dem es darum ging, die Kosten besser zu kontrollieren und gleichzeitig die Leistungen für die Bürger, der in diesem Fall zum Kunden wurde, zu verbessern. Dadurch sollte der Bürger außerdem mehr Einfluss auf die Verwaltung bekommen. Durch die Modernisierung vornehmlich der Binnenstrukturen der Verwaltung blieb der Demokratisierungsaspekt allerdings auf der Strecke (Herzberg 2001: 27f; Bogumil und Holtkamp 2011: 41f). Auch aufgrund grassierender Haushaltsnot wurde dieses Leitbild in der Folge zur Bürgerkommune weiterentwickelt. Dieses Konzept nahm die bereits vorhandenen Leistungsverstärker aus dem NSM auf. Es kam zur Zusammenführung von Verwaltungsleistungen in Bürgerämtern und zur Einführung eines Beschwerdemanagements. Zudem wurden öffentliche Aufgaben an Vereine und Stiftungen übertragen. Das Leitbild sah aber auch die Förderung der Kunden-, Mitgestalter- und Auftraggeberrolle der Bürger vor. Die Auftraggeberrolle setzte bei der Politikformulierung und Planung an (Runde Tische, Bürgerforen). Die Kunden- und Mitgestalterrolle kam bei der Umsetzung/Output zum Tragen (Bogumil und Holtkamp 2011: 42). Ein wichtiger Aspekt bei der Bürgerkommune ist, dass die Bürger mit und an ihrer Stadt wachsen und ein Selbstverständnis für ihre Verantwortung entwickeln. Zugleich dürfen die repräsentativ-demokratischen Gremien nicht ausgehebelt werden. Vielmehr bedarf es einer engen Verknüpfung aller Beteiligter, damit die kooperativen Formen politischer Willensbildung eine demokratische Legitimität erlangen (Franzke und Kleger 2010: 23f).

Auch eine umfassende Beteiligung der Bürger am Haushalt wird als konsequente Fortsetzung der Idee der Bürgerkommune vielfach begrüßt (Holtkamp 2004: 12). Die Umsetzung weist allerdings große Schwächen auf, obwohl sogar die Transparenz der Finanzen gesetzlich vorgeschrieben ist. Die einfache öffentliche Auslegung des im Allgemeinen unverständlichen Haushaltsplanentwurfs ist aber von Bürgernähe weit entfernt (Banner 1998: 185). An dieser Stelle setzt die Idee des Bürgerhaushalts an. „Wegen der praktischen Bedeutungslosigkeit des formellen Verfahrens können die Bürgerhaushalte als informelle Ermöglichung des formalen Verfahrens verstanden werden“ (Vorwerk et al. 2008: S. 116).

2.3 Geschichte des Bürgerhaushalts

In den 1980er Jahren war die Größe der Bevölkerung im brasilianischen Porto Alegre aufgrund der Landflucht extrem angestiegen, wie in anderen Metropolen des Landes auch. Die wachsende Zahl von Elendsvierteln am Stadtrand führte in der Folge zu großen sozialen Ungleichheiten und Spannungen. Die Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores (PT), die ihre Wurzeln in der Gewerkschaftsbewegung und der christlichen Basisbewegung hat, konnte mit einem Linksbündnis 1988 die Bürgermeisterwahl gewinnen. Sie sah sich allerdings mit einer von der politischen Opposition dominierten Gemeindeversammlung konfrontiert, was die Arbeit enorm erschwerte. Um dennoch Reformen anstoßen zu können, entwickelte die Regierung neue Partizipationsstrukturen, welche die Bürger an den Haushaltsentscheidungen beteiligen sollten. Dabei gab es keine Vermischung von Staat und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Die gebildeten Gremien agierten eigenständig und unabhängig in einer gleichberechtigten Kooperation aus Zivilgesellschaft und Verwaltung. Was folgte, war ein jahrelanger Lernprozess, in dem Arbeiterpartei, lokale Initiativen und andere Basisgruppen Kompromisse aus ihren Ideen eines Bürgerhaushalts erarbeiteten. Erst 1992, zu Beginn der zweiten Regierungsperiode des Linksbündnisses sowie nach staatlichen Reformen in Richtung größerer kommunaler Finanzautonomie und weiteren Verwaltungsreformen, war das Konzept gefestigt. Der Bürgerhaushalt entstand insgesamt aus einer Kombination von Top-down- und Bottom-up-Prozessen: Sowohl der Sieg der PT, die ihre eigene Graswurzel-Arbeit aufs Regierungshandeln übertrug, als auch die Forderung der Zivilgesellschaft nach mehr Teilhabe förderten die Entwicklung. Diese war langsam, aber nachhaltig, so dass auch nach Ablösung der PT durch die Opposition der Bürgerhaushalt weiter bestand hatte (Sintomer et al. 2007: S. 116).

Der Bürgerhaushalt von Porto Alegre bezieht sich auf städtische Investitionen und beinhaltet zwei Komponenten: eine räumliche (in jeder Bürgerhaushalts-Region diskutieren und definieren Einwohner die Prioritäten) und eine thematische (Versammlungen und Komitees werden Verwaltungsfachbereichen zugeordnet). Dadurch sollen gesamtstädtische Themen auch in Zusammenhang mit den Problemen in einzelnen Stadtteilen diskutiert werden können. Das daraus resultierende Verfahren läuft wie folgt ab: Zunächst finden in den Wohnvierteln zahlreiche Versammlungen statt, in denen mikro-lokale Projekte diskutiert werden. Auf der nächst höheren Bezirksebene bieten danach Bürgerversammlungen und thematische Foren die Möglichkeit, aus diesen Ergebnissen Prioritäten herauszuarbeiten und in eine Rangfolge zu setzen. Diese werden wiederum auf der höchsten Ebene des Bürgerhaushalts, dem Bürgerhaushalts-Rat (besetzt mit Vertretern aller regionalen und thematischen Versammlungen), auf gesamtstädtischer Ebene in eine endgültige Reihenfolge gebracht. Darüber hinaus wird innerhalb des Rates das konkrete Verfahren für den kommenden Bürgerhaushalt festgelegt.

Die Prioritäten der Vorschläge werden über Berechnungen ermittelt, bei denen Faktoren wie Einwohnerzahl, Qualität der Infrastruktur oder das Angebot an öffentlichen Dienstleistungen einbezogen werden. Auf diese Weise sollen Mehrheitsentscheidung und soziale Gerechtigkeit in Einklang gebracht werden. Die im Laufe des Prozesses stattfindende Diskussion mit den Verwaltungsmitarbeitern gibt dem administrativen Verfahren eine Art demokratischen Anstrich. Die Legislative ist nur insofern beteiligt, als dass sie dem endgültigen Haushaltsplan zustimmen muss. Auch beim restlichen Budget, das nicht direkt durch den Bürgerhaushalt verteilt wird, haben die am Verfahren beteiligten Gremien eine beratende Funktion (Sintomer et al. 2010: 31ff).

Einer der Erfolge des Bürgerhaushalts von Porto Alegre war, dass besonders sozial Schwächere und Frauen am Prozess teilgenommen haben. Dieser Effekt schwächte sich auf dem Weg in die höheren Ebenen der Strukturen zwar aber, aber insgesamt repräsentierte der Bürgerhaushalt die städtische Bevölkerung besser, als es die Stadtparlamente oder Parteien vermochten. Weiterhin hat das Festlegen klarer Regeln bei der Verteilung von Ressourcen die Haushaltsaufstellung deutlich transparenter gemacht. Zudem gab es eine Umverteilung zugunsten benachteiligter Gebiete. Dieser soziale Aspekt war stets ein wichtiger Grundsatz des Bürgerhaushalts in seiner Geburtsstätte. Die unteren Klassen sind damit Akteure mit realem Gewicht bei der Entscheidungsfindung geworden. Porto Alegre hat sich insgesamt laut Sintomer et al. (2007: 115f) auch durch den Bürgerhaushalt zu einem besseren Ort gewandelt.

In der Folge erfuhr der Bürgerhaushalt von Porto Alegre als viel beachtetes Projekt internationale Anerkennung. In der Stadt wurde 2001 das erste Weltsozialforum veranstaltet und sie wurde inoffiziell zur Hauptstadt der globalisierungskritischen Bewegung erkoren (Sintomer et al. 2010: 34f). Der Erfolg führte naturgemäß zu zahlreichen Initiativen in anderen Städten und später auch Ländern, die sich durch eine Nachahmung der Idee ähnliche Effekte für ihre Heimatstadt erhofften. In der Legislaturperiode 2001 bis 2004 hat es in Brasilien über zweihundert Initiativen zur Einrichtung eines Bürgerhaushalts gegeben, zur Hälfte auf Drängen der Arbeiterpartei. Auch im Rest Lateinamerikas verbreitete sich das Konzept. Im Jahr 2006 hatten 1200 der 16000 lateinamerikanischen Gemeinden solch ein Verfahren eingerichtete, auch in größeren Städten.[1] Parallel wuchs über die Jahre durch Fortbildung, Kolloquien und Konferenzen ein Netzwerk mit Befürwortern und Förderern des Bürgerhaushalts, meist aus dem linken politischen Spektrum. So entstand eine Art „institutionelles Baukastensystem“, das dank der Erfahrung und des vorhandenen aufbereiteten Materials relativ problemlos an anderer Stelle angewendet werden konnte, ohne dabei lokale Besonderheiten außer Acht zu lassen (Sintomer et al. 2010: 36ff).

Gerade durch die Diskussionen auf dem Weltsozialforum fand das Konzept auch über die Grenzen Südamerikas hinaus viel Aufmerksamkeit. Dementsprechend kann man inzwischen auf dem gesamten Globus Beispiele für Bürgerhaushalte finden, die in verschiedenen Varianten durchgeführt werden. Die Ausbreitung hat zwar noch keine ausreichende Größe erreicht und die regionale Verbreitung ist noch zu unausbalanciert, um von einem stabilen globalen Trend zu sprechen. Aber inzwischen sind Beteiligungshaushalte mehr als nur lokale Initiativen, sondern an vielen Orten politische Realität. Teil dieser Entwicklung ist auch, dass sich der Bürgerhaushalt von seinen Wurzeln abgekoppelt hat. Das Projekt entsprang der Idee des linken politischen Flügels in Brasilien, inzwischen lassen sich auch Umsetzungen in anderen Umfeldern finden: auf der konservativen Seite ebenso wie in verschiedenen politischen Systemen, von Demokratien bis hin zu Autokratien. Letzteres ist auch damit zu erklären, dass das Konzept nicht nur zur Vertiefung der Demokratie genutzt wird, sondern in andern Fällen der Bekämpfung von Korruption oder der Öffnung geschlossener Strukturen dient (Herzberg et al. 2010: 7). Einmal etabliert, entwickeln die Bürgerhaushalte oft ein Eigenleben, das unabhängig von der politischen Struktur funktioniert (Sintomer et al. 2013: 1f).

Global gesehen gibt es einen sehr dynamischen Prozess mit weltweit zwischen 795 und 1469 Bürgerhaushaltsverfahren (entsprechend den später noch aufzugreifenden Kriterien). In Afrika und Nordamerika ist ebenso eine Entwicklung hin zum Bürgerhaushalt zu erkennen wie in Asien, wo 40 bis 120 Fälle bekannt sind. In Lateinamerika ist das Konzept aus der Tradition seiner Entstehung heraus weiterhin am weitesten verbreitet. Die letzten Zählungen gehen von 500 bis 920 auf diesem Kontinent aus (Sintomer et al. 2013: 3).

Wichtig als Vorbild für die Entwicklung später in Deutschland war das Aufgreifen der Idee in Neuseeland Anfang der 1990er Jahre, genauer gesagt in Christchurch, einer Stadt, die als reformfreudig angesehen wird. Der Bürgerhaushalt wurde hier nach einem Bottom-up-Prinzip erstellt. Der Prozess begann in sechs Community-Boards (Ortsbeiräten), in denen stadtteilorientierte Projektvorschläge und Hinweise zu öffentlichen Dienstleistungen gesammelt und diskutiert wurden. Die Ergebnisse bildeten die Grundlage für den Haushaltsentwurf der Verwaltung, der von Rat und Ausschüssen überarbeitet wurde, bevor er der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Die Bürger hatten im Anschluss die Möglichkeit, schriftliche Einwendungen einzureichen und weitere Vorschläge einzubringen. Die Verwaltung prüfte im weiteren Verlauf die Eingaben und wertet diese aus. Bei einer öffentlichen Versammlung hatten Bürger dann noch einmal die Gelegenheit, ihre Anliegen darzustellen, wobei sie sofort Rückmeldung erhielten, ob Geld für das Vorhaben vorhanden war, ob es in städtische Kompetenz fiel und ob es technisch umsetzbar war. Die letzte Entscheidung über den Haushalt fiel der gewählte Rat, es fand in Christchurch also keine De-facto-Übertragung von Entscheidungskompetenz statt. Den Abschluss des Prozesses in Neuseeland bildete ein leicht lesbarer Haushalt, der den Bürgern öffentlich zugänglich gemacht wurde. 1993 erhielt diese Art des Bürgerhaushalts den Preis für „Demokratie und Effizienz in der Kommunalverwaltung“ der Bertelsmann-Stiftung (Herzberg 2009: 105f).

Auch Europa hat sich der Idee nicht verschlossen, was einige Autoren insofern bemerkenswert finden, als dass eigentlich traditionell der alte Kontinent den südamerikanischen in vielfältiger Weise geprägt hat. Diesmal ist es andersherum. „Im globalen Süden erfunden, wurden [die Bürgerhaushalte] von den Ländern des Nordens aufgegriffen“ (Herzberg et al. 2010: 7). Oder noch ein wenig farbiger ausgestaltet:

„Bildlich gesprochen kann man sich vorstellen, dass die Karavellen, die die Entdecker zu Beginn der Neuzeit in die neue Welt brachten, nun zurückkommen. An Bord haben sie eine Innovation, die Bürger/-innen auf der einen Seite und Politiker/-innen und Verwaltung auf der anderen Seite zusammenführt.“ (Herzberg et al. 2010: 36)

Im Jahr 2000 war nur eine Handvoll Bürgerhaushaltsverfahren bekannt, Ende 2005 nutzten bereits 50 europäische Städte das Verfahren, drunter Großstädte wie Sevilla oder Stadtteile von Hauptstädten wie London, Paris, Rom und Berlin (Sintomer et al. 2007: 113f). Der europäische Süden war in diesem Fall engagierter, was die Umsetzung der Idee anging. In Spanien lebten 2005 bereits fünf Prozent der Bevölkerung in einer Stadt mit einem Bürgerhaushalt, in Italien gab es zumindest 100 Pilotprojekte (Herzberg 2010: 105f). Bis 2010 stieg der Zahl der Verfahren in ganz Europa auf mehr als 200, Tendenz weiter steigend (Sintomer et al. 2013: 3). Sie gehören damit neben Runden Tischen, Planungszellen und Perspektivwerkstätten, die zuletzt die repräsentative Demokratie ergänzt haben, zu den Partizipationsverfahren, die in Europa die meiste Verbreitung erfahren haben (Herzberg 2010: 106).

Deutschland hätte die Einführung von Bürgerhaushalten womöglich verpasst, wenn in den 1990ern nicht eine Finanzkrise die Kommunen befallen hätte, die neuen Ideen auf dem Weg zur Haushaltsplanung den Weg ebnete. Dazu passte die Entwicklungen des lokalen politischen Systems in Richtung der Süddeutschen Ratsverfassung mit direkt gewählten, starken Bürgermeistern und weiteren Elementen der Mitbestimmung wie Runden Tischen und Bürgerentscheiden (Herzberg 2013: 168; Sintomer et al. 2010: 112). In Westeuropa waren es normalerweise die Sozialdemokraten oder postkommunistische linke Parteien, die an der Einführung der Bürgerhaushalte beteiligt waren. In Deutschland allerdings waren die Bürgerhaushalte von Beginn an ein überparteiliches Phänomen. In Nord- und Westeuropa wurden die Verfahren zudem oftmals durch lokale Regierungsnetzwerke und staatliche Organisationen unterstützt (Sintomer et al. 2013: 11; Herzberg et al. 2010: 37).

Die Verbreitung der Bürgerhaushalte in Deutschland lässt sich in zwei Etappen unterteilen: Die ersten Phase wurde geprägt von ersten Gemeinden, die sich an den Bürgerhaushalt herantrauten, was in der Folge zu einem breit angelegten Pilotprojekt führte. In der zweiten Phase folgte eine Ausdifferenzierung der Verfahren, wobei neue Akteure daran beteiligt waren.

Ausgangspunkt war die Gründung des Netzwerks „Kommunen der Zukunft“ der Hans-Böckler-Stiftung sowie der Kommunalen Gemeinschaftsstelle (KGSt) mit dem Ziel, Werkzeuge für eine effizientere und bürgerfreundlichere Verwaltung zu erarbeiten. Auf Initiative des ehemaligen KGSt-Vorsitzenden Gerhard Banner sollten auch Bürgerhaushalte in diesem Netzwerk zum Thema werden. Banner hatte die Stadt Christchurch in Neuseeland als Vorbild auserkoren und erkannte Potenzial für mehr Bürgerbeteiligung bei der Haushaltsaufstellung auch in Deutschland. Die Idee war, die Verwaltung zu zwingen, den Haushalt in verständlicher Form vorzustellen und so Bürgern die Chance zur Einflussnahme zu geben. Zunächst nahm allerdings nur die kleine Schwarzwaldgemeinde Mönchweiler mit ihren 2500 Einwohnern die Idee auf. Der couragierte Bürgermeister nahm das Verfahren bei seinem Wechsel als Verwaltungschef in die schwäbische Stadt Rheinstetten im Jahr 2000 mit, wodurch die erste Stadt mit mehr als 20000 Einwohnern einen Bürgerhaushalt bekam. Eine große Ausbreitung unter den Städten des Netzwerkes „Kommunen der Zukunft“ war allerdings nicht zu beobachten (Sintomer et al. 2010: 117).

In den Jahren 2000 bis 2002 wurde dann in Nordrhein-Westfalen von der Landesregierung und der Bertelsmannstiftung das Pilotprojekt „Kommunaler Bürgerhaushalt“ mit sechs teilnehmenden Städten gestartet. Wichtig war dabei, dass alle teilnehmenden Kommunen den Bürgerhaushalt per Ratsbeschluss absichern mussten. Dies sollte einem Widerstand der Gemeindevertretung, die in vielen Fällen einen Machtverlust fürchtete, gegen die Bürgerbeteiligung vorbeugen (Sintomer et al. 2010: 120f). Als besonders nachhaltig kann das Projekt derweil nicht bewertet werden, da ein Großteil der Städte nach Projektende den Bürgerhaushalt nicht weiterführten (Herzberg 2009: 124).

Eine neue Dynamik erfuhr der Prozess ab dem Jahr 2005 durch den Einstieg neuer Akteure. Katalysator dafür waren unter anderem das ersten Weltsozialforum, die erste deutschsprachige Monographie über den Bürgerhaushalt von Porto Alegre (vgl. Herzberg 2001) und eine Dialogreise des Vereins Kate e.V. Stuttgart durch 18 deutsche Städte mit Vertretern aus Porto Alegre (Herzberg 2009: 124). Die Stadt in Brasilien gewann weiterhin als Praxisbeispiel an Bedeutung durch die Servicestelle „Kommunen in der Einen Welt“, die großflächig in Broschüren über das Konzept des Bürgerhaushalts informierte. Auch die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) begann, sich für die Idee zu interessieren.

Auf der zivilgesellschaftlichen Seite ist die Gründung von Gruppen wie „Bürgerhaushalt in Berlin“ zu beachten. Letztere brachte es zu einem viel beachteten Ergebnis. Nach lang andauernder Diskussion wurde von der SPD/PDS-Regierung der Berliner Bezirk Lichtenberg zu einem Testobjekt, das von der bpb beim Bürgerhaushaltsverfahren unterstützt wurde (vgl. Klages und Daramus 2007; Herzberg 2009: 133f; Sintomer et al. 2010: 128f).

Ebenfalls in Berlin versuchte man sich in Marzahn-Hellersdorf an einem Bürgerhaushalt, der sich besonders durch Stadtteilorientierung und dem Versuch der Einführung eines Quartiersfonds (der allerdings scheitert) auszeichnete. Bezeichnend war bei diesem Fall, dass es den Bürgern besonders gut gelang, das Verfahren nach ihren Vorstellungen zu gestalten, weil die Verwaltung selbst kaum konkrete Vorstellungen zum Ablauf einbrachte: Der zuständige Mitarbeiter war pensioniert worden, weshalb die Moderatoren keine klaren Anweisungen bekommen hatten (Herzberg 2009: 138).

Gleich um die Ecke in Potsdam, wovon später noch die Rede sein wird, war das „Bürger-Forum Potsdam“, ein Zusammenschluss von Stadtteilinitiativen, als zivilgesellschaftlicher Akteur in die Forderung nach einem Bürgerhaushalt involviert. 2001 kam es zunächst unter Mithilfe des Vereins Tierra Unida (welcher mit Servicestelle Kommunen in der Einen Welt kooperierte) zur Entwicklung eines Planspiels. Der Bürgerhaushalt selbst wurde im Kommunalwahlkampf 2003 zum Diskussionsthema. Dies wurde allerdings von den Parteien als Bühne benutzt, um sich mit Vorschlägen zu überbieten. Der Bürger spielte in diesem Prozess nur eine untergeordnete Rolle. Es folgte die Eskalation mit Schuldzuweisungen und Beleidigungen auf einer Rechenschaftsveranstaltung und der Weigerung des Rates, die Bürgervorschläge anzunehmen. Später richtete man sich beim Bürgerhaushaltsverfahren mit mehr Erfolg nach dem Vorbild Lichtenberg.

Die Stadt Esslingen bei Stuttgart war dann die erste Kommune, die den Versuch startete, einen Bürgerhaushalt im Internet zu organisieren. Die Initiative dazu ging vom Frauenhofer-Institut St. Augustin aus. Aufgrund von politischen Verwerfungen wurde das Verfahren allerdings nicht durchgezogen.

Im großen Stil und auch erstmals auf Landesebene wurde ein internetgestütztes Verfahren in Hamburg eingeführt, wobei am Ende eine Rechenschaftslegung ausblieb, weshalb die Ergebnisse des Verfahrens schwer einzuschätzen blieben.

In Leipzig wurde die Organisation des Bürgerhaushalts einer unabhängig agierenden Agendastelle übertragen. Vorschläge aus diesem Verfahren beantworte die Verwaltung zunächst allerdings nicht, was unter anderem am fehlenden Bekenntnis der Stadt zum Bürgerhaushalt lag. 2007 und 2008 konnte allerdings ein Bürgerhaushalt im Internet organisiert werden, der genug öffentlichen Druck erzeugte (vor allem aus den Reihen der freien Kulturszene), um das Kulturbudget um 2,5 Mio. Euro anzuheben (Herzberg 2009: 135ff).

Wichtig für die deutschen Bürgerhaushalte ist weiterhin die bpb. Sie betreibt seit einigen Jahren die Internetseite buergerhaushalt.org, auf der Parteien, Kommunen, NGOs und zivilgesellschaftliche Initiativen gebündelte Informationen zu dem Konzept finden. Zudem wird die Entwicklung von Verfahren beobachtet und öffentlich gemacht. Nach dem aktuellsten Statusbericht gibt es demnach in 104 Kommunen in Deutschland eine Diskussion über die Einführung eines Bürgerhaushalts. In 15 Städten gibt es einen positiven Beschluss, in acht eine Vorform. 70 Gemeinden haben das Verfahren eingeführt, 26 auch fortgeführt. In 28 Kommunen ist der Bürgerhaushalt bereits wieder ohne Fortsetzung beendet worden (Schröter 2013: 1).

2.3 Was ist ein Bürgerhaushalt

Der Begriff Bürgerhaushalt[2] ist derzeit nicht mehr als ein Titel, mit dem sich viele Verfahren schmücken, zum Teil auch nur, um Bürgerbeteiligung zu suggerieren. Kein Wunder, dass in der Literatur genannten Zahlen um mehrere hundert Fälle variieren und selbst die spezialisierten Autoren nicht präziser beziffern können, wie oft diese Möglichkeit der Bürgerbeteiligung tatsächlich Anwendung findet (vgl. u.a. Herzberg et al. 2010: 37). Eine präzise Eingrenzung des Begriffs und eines Konzepts, das weltweit unter zahlreichen unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten Anwendung findet, ist allerdings auch schwierig. Eine ontologische Definition, die zu jeder Zeit und an jedem Ort gültig ist, scheint daher nicht legitim: Die Variationen an durchführbaren Prozeduren und die involvierten Institutionen sind zu verschieden. Mehr Sinn macht daher eine methodologische Definition anhand von Mindestkriterien, die in diesem Kapitel anhand der vorhandenen Literatur zusammengestellt werden sollen (Sintomer et al. 2007: 118).

2.3.1 Typologie des Bürgerhaushalts

Sintomer et al. (2007: 119) haben auf dem Weg zu einer wissenschaftlichen Eingrenzung des Begriffs Bürgerhaushalt zunächst eine Typologie entworfen, mit der sich die weltweit genutzten Verfahren kategorisieren lassen. Dafür wurden folgende Kriterien herangezogen:

- Wo liegen die Wurzeln des Prozesses (bottom-up, top-down)?
- Wie ist die Organisationsform der Bürgertreffen (Nachbarschaft, Gesamtstadt, thematische Versammlungen, öffentliche/geschlossen Treffen)?
- Welche Art von Beratungen werden durchgeführt (Themen, Modalitäten)?
- Wie ist die Position der Zivilgesellschaft in diesem Prozess (welche Anwohner-Typen wirken mit; sind sie an der Ausarbeitung der Methode beteiligt)?

Die daraus folgende Typologie sieht folgendermaßen aus:

Adaption von Porto Alegre/ Porto Alegre adapted for Europe: Das Bürgerhaushaltsverfahren orientiert sich am Ursprung des Verfahrens in Brasilien. Das Verfahren bietet eine gute deliberale Qualität, wenn der Prozess integrativ abläuft, ein wechselseitiger Austausch von Argumenten gewährleistet ist und klare Regeln existieren. Die Teilnehmer diskutieren nicht nur in großen Foren sondern auch in kleineren Gruppen und Komitees. Die Entwicklung von detaillierten Vorschlägen und die Darstellung und Priorisierung wichtiger Themen sind möglich, wobei vor allem die Umsetzung konkreter Projekte im Ergebnis folgt. Soziale Belange werden dabei beachtet. Im Idealfall folgt im Laufe des Prozesses eine moderate Modernisierung der Verwaltung. Mögliche Konflikte zwischen teilnehmenden Gruppen und einzelnen Bürgern gilt es zu lösen. Formaljuristisch fällt die letzte Entscheidung die Gemeindevertretung, doch hat der Bürgerhaushalt eine hohe Verbindlichkeit, so dass den Bürgern eine De-facto-Entscheidungskompetenz zugesprochen wird.

Bürgernahe Partizipation/ Proximity participation: Dabei handelt es sich um ein konsultatives Verfahren, dessen Ergebnisse von der Verwaltung, nicht von den Bürgern selbst zusammengefasst werden. Soziale Kriterien spielen bei der Verteilung von Geldern keine Rolle. Einzelne Quartiere werden aber während des Prozesses mit einbezogen und können Gegenstand für Investitionen werden. Vorab sind allerdings vorherige Partizipationsinstrumente wie Nachbarschaftsfonds oder Räte nötig. Dieser Typ leistet kaum einen Beitrag zur Verwaltungsmodernisierung, bietet aber eine gute deliberale Qualität, da oft langfristig in Kleingruppen gearbeitet wird.

Konsultation öffentlicher Finanzen/ Consultation on public finances: Auch bei diesem Typ handelt es sich um ein konsultatives Verfahren, bei dem die Verwaltung die Ergebnisse zusammenfasst, organisierte Gruppen wenig Einfluss haben und sozialen Kriterien bei der Verteilung von Geldern keine Rolle spielen. Der Fokus liegt allerdings auf der zentralen Offenlegung der finanziellen Situation der Stadt. Möglichkeiten zur wirklichen Diskussion werden kaum eingeräumt. Dafür kann das Verfahren mit Prozessen der Verwaltungsmodernisierung verknüpft werden.

Multi Stakeholder-Partizipation/ Public/private negotiation table: Hier erfolgt die Bereitstellung eines Fonds mit öffentlichen Geldern, der allerdings mit Finanzmitteln aus der Privatwirtschaft ergänzt wird. Die letzte Entscheidung über die Verwendung fällen Ausschüsse oder Komitees, die Wirtschaft nimmt (je nach Höhe der bereitgestellten Mittel) Einfluss auf den Prozess. Auch andere organisierte Gruppen sind bei diesem Verfahrens-Typus intensiv beteiligt, es besteht allerdings wenig Verbindung zur lokalen Politik (auch wenn der lokale Rat Einfluss durch die Bereitstellung eines Teils des Geldes hat). Eine soziale Komponente wird hier leicht außer Acht gelassen. Diese Art des Verfahrens fördert eine starke Beteiligung der Bürger, da diejenigen, die mitmachen, auch für die Umsetzung verantwortlich sind.

Community-Bürgerhaushalt/ Community funds on local and city level: Bei diesem Typ geht es um die Bereitstellung eines Fonds mit Geldern aus nationalen Programmen oder von anderen unabhängigen Trägern. Die letzte Entscheidung über den Einsatz des Fonds fällen Ausschüsse oder Komitees. Die Teilnahme von organisierten Gruppen ist hoch, die Verbindung zur lokalen Politik allerdings niedrig. Nationale und europaweite Programme für die Förderung von Städten und Infrastruktur können hier mit Bürgerhaushalten verknüpft werden, auch um benachteiligte Quartiere und Bürger zu unterstützen. Auch hier sollen Teilnehmer die Ergebnisse umsetzen, was zur Beteiligungsmotivation beiträgt.

Partizipation organisierter Interessen/ Partizipation of organized interests: Dieser Typ ist nahe am Vorbild Porto Alegre, allerdings handelt es sich um ein rein konsultatives Verfahren, bei dem nur die Teilnahme von Organisationen wie Vereinen, Gewerkschaften, NGOs, Verbänden usw. vorgesehen ist. Bei gründlichen Diskussionen mit guter deliberaler Qualität geht es vor allem um die Formulierung politischer Ziele und die inhaltliche Ausrichtung der Kommune. Zur Aufgabe gehört es, mögliche Konflikte zwischen teilnehmenden Gruppen und einzelnen Bürgern zu lösen (Herzberg et al. 2010: 11ff; Sintomer et al. 2007: 121ff).

Anhand dieser Typologie lassen sich die verschiedenen Verfahren, die weltweit existieren, eingruppieren, was unter anderem die Vergleichbarkeit untereinander vereinfacht. Allerdings gibt sie noch keine Auskunft darüber, was (wenn man das Verfahren unabhängig von seiner Benennung betrachtet) ein Bürgerhaushalt ist.

2.3.2 Methodologische Definition des Bürgerhaushalts

In einer allgemeinen Formulierung ist der Bürgerhaushalt zunächst ein Verfahren, das Bürgern die Beteiligung an der Planung von Einnahmen und Ausgaben öffentlicher Mittel ermöglicht. „Participatory budgeting allows the participation of non-elected citizens in the conception and/or allocation of public finances” (Sintomer et al. 2007: 118). Die politische Vertretung ist dabei allerdings nicht außen vor, sondern hat (je nach Typus in unterschiedlichen Phasen des Verfahrens) weiterhin das letzte Wort.

Der Begriff „Beteiligung“ ist natürlich äußerst ambivalent. Es mag Verfahren geben, die sich selbst Bürgerhaushalt nennen, obwohl sie dies nicht sind. Auf der anderen Seite kann es Beteiligungsinstrumente geben, die allem Anschein nach als Bürgerhaushalt gelten, aber unter anderem Namen firmieren. Bislang hatte jedenfalls kein rund um das Konzept aktives Netzwerk genug Einfluss oder Legitimität, um eine allgemein anerkannte Definition zu schaffen. Ob dies für ein weltweites Phänomen, das überall unter völlig unterschiedlichen, zum Teil gegensätzlichen politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen eingesetzt wird, überhaupt allgemeingültig möglich ist, scheint fraglich.

Geißel (2008: 42) hält die Vergleichbarkeit auf internationaler Ebene, selbst wenn die zu vergleichenden Staaten in der selben Region liegen und ähnliche Voraussetzungen bieten, für schwierig, weil dennoch die Kontexte sehr unterschiedlich sind. So unterscheiden sich sozioökonomische und soziokulturelle Kontexte, politische Institutionen und der Grad der lokalen Autonomie. Deshalb führten die Bürgerhaushalte in Caracas (Venezuela), Montevideo (Uruguay) und Porto Alegre (Brasilien) zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen, je nach Ausmaß der nationalen Dezentralisierung.

Noch schwieriger vergleichbar sind die Verfahren von Porto Alegre in Brasilien und von Berlin in Deutschland. Bevölkerungsstruktur, Einkommen der Bewohner, politische Kultur – das sind nur drei von vielen Unterschieden, die auch auf die Art, wie und mit welchem Ziel ein Bürgerhaushalt durchgeführt wird, Auswirkungen haben. So sprechen Sintomer et al (2007: 117) von drei Prinzipien, die für das Verfahren in Porto Alegre wichtig waren:

- Graswurzel-Prinzip: Einwohner-Versammlungen legen Prioritäten fest und ernennen Delegierte.
- Soziale Gerechtigkeit: Ärmere Viertel bekommen mehr Geld als reichere Viertel.
- Kontrolle durch die Bürger: regelmäßig tagende Bürgerräte, die von unabhängigen NGOs unterstützt werden.

In Deutschland sind sowohl das Graswurzel-Prinzip, da die Bürgerhaushalte fast durchweg von oben implementiert wurden, als auch die soziale Gerechtigkeit kaum ein Thema während des Verfahrens. Dennoch gibt es auch hier Bürgerhaushalte, nur mit anderen Voraussetzungen und Zielen.

Um dennoch Vergleiche möglich zu machen, hat sich für die Untersuchung europäischer Bürgerhaushalte in der Literatur eine methodologische Definition mit einem Katalog von fünf Kriterien durchgesetzt, die im Rahmen eines umfassenden Forschungsprojekts von Sintomer et al (2010) zu diesem Thema erarbeitet wurde:

1. Der Bürgerhaushalt bezieht sich explizit auf finanzielle Angelegenheiten. Das Geld als begrenzte Ressource steht im Zentrum des Verfahrens.
2. Die Beteiligung findet auf der Ebene der Gesamtstadt oder eines Bezirks statt. Diesen Ebenen muss eine eigene politische Vertretung (Rat) sowie Verwaltung zugeordnet sein.
3. Das Verfahren ist auf Dauer und Wiederholung angelegt.
4. Das Verfahren beinhaltet eine eigenständige öffentliche Diskussion und findet nicht im Rahmen der üblichen öffentlichen Versammlungen wie Rats- oder Ausschusssitzungen statt.
5. Die Organisatoren müssen Rechenschaft ablegen, inwieweit die Vorschläge aus dem Bürgerhaushalt angenommen und umgesetzt wurden.

Wendet man diese Kriterien an, können zahlreiche Verfahren, die sich Bürgerhaushalte nennen, diesen nicht standhalten, weil zum Beispiel nur einzelne Projekte zur Diskussion gestellt werden, das Projekt als einmaliger Versuch angelegt ist oder am Ende keine Rechenschaft über das Erreichte abgelegt wird.

Für die konkrete Wahl des Verfahrens, das zeigt schon die umfangreiche Typologie der Bürgerhaushalte, gibt es kein „one size fits all“-Vorgehen (Krenjova und Raudla 2012: 7). Es müssen stets die lokalen Bedingungen und Kontexte beachtet werden. Bei den umweltbedingten Variablen sind sowohl die Staatenebene als auch die lokale Ebene zu beachten.

Einflussfaktoren auf der Staatenebene:

- Politische Kultur: Es braucht sowohl den Willen der Bürger, sich zu engagieren, als auch die Bereitschaft der politischen Eliten, diese Teilhabe zuzulassen.
- Grad der finanziellen Autonomie: Lokale Entscheider benötigen Autonomie auf der Ausgabenseite und möglichst auch auf der Einnahmenseite, um finanziellen Spielraum für einen Bürgerhaushalt zu haben.
Einflussfaktoren auf der lokalen Ebene:
- Stadtgröße: Die Größe der Stadt kann Auswirkungen darauf haben, auf welche Arte die Teilnehmer an einem Bürgerhaushalt ausgewählt werden (alle, Vertreterprinzip, Zufallsauswahl usw.). Außerdem kann sie Auswirkungen auf den Entscheidungsprozess haben (mehr Konsens und informellere Entscheidungsfindung in kleineren Städten).
- Heterogenität/Diversität: Ethnische Unterschiede bei den Bevölkerungsgruppen führen mitunter zu großen kulturellen oder sprachlichen Differenzen. Auch soziale Unterschiede sind zu beachten. Dadurch können Konflikte zwischen Gruppen auftreten, die einen streng formalen Prozess nötig machen. Auswirkung hat dies auch auf die Auswahl der Teilnehmer, damit alle Gruppen repräsentiert sind.
- Prosperität: Die Möglichkeiten zur Finanzierung eines Bürgerhaushaltes können Einfluss auf die Gestaltung haben (z.B. Einmischung von Geldgebern aus der Privatwirtschaft) (Krenjova und Raudla 2012: 11ff).

2.3.3 Der deutsche Weg

Neben der methodologischen Definition gibt es weitere Definitionsversuche, die in Ratgebern für die Praxis in Deutschland nachzulesen sind. Verfasst wurden diese von Verwaltungsfachleuten und/oder Wissenschaftlern, die oftmals an der Evaluation oder Begleitung der konkreten Verfahren in einzelnen Städten beteiligt waren. Diese nennen praxisorientierte Rahmenbedingungen für einen Bürgerhaushalt[3]. So bezeichnen beispielsweise Brangsch und Brangsch (2006: 26) einen Haushalt als Bürgerhaushalt, wenn

- „seine Erarbeitung, Durchführung und Abrechnung durch weitestgehende Transparenz und Öffentlichkeit gekennzeichnet ist,
- Bürger/innen, Verwaltung und Politik auf gleicher Augenhöhe zusammenarbeiten,
- der Prozess Formen der Aushandlung von Kompromissen unter den Bürger/innen sowie zwischen Bürger/innen einerseits und Verwaltung und Politik andererseits einschließt,
- der Prozess im günstigsten Fall von Bürger/innen in Kooperation, aber letztendlich unabhängig von Politik und Verwaltung organisiert und geführt wird,
- Politik und Verwaltung sich verpflichten, das Votum der Bürger/innen zu achten.“

Solche Definitionen entsprechen oftmals den Wunsch- und Idealvorstellungen der Autoren, die nicht selten selbst aktiv an den Projekten beteiligt sind, die Publikationen im Auftrag einer fördernden Stiftung oder eines Netzwerks herausgeben und dementsprechend dafür werben. Ob und wie diese hochgesteckten Bedingungen erfüllt werden können, bleibt dabei oft unbeantwortet. Das sieht auch Holtkamp (2008: 222) so, nach dessen Einschätzung das Konzept Schwächen und latente Konflikte beinhaltet, „die in den ,Hochglanzbroschüren‘ der Stiftungen und Stadtverwaltungen weitgehend ausgeblendet werden“.

Die in Deutschland Ende der 1990er entstandene Bürgerhaushalte standen unter dem Einfluss der Krise der Kommunalfinanzen. Das Vorbild war vor allem das Verfahren von Christchurch in Neuseeland (Herzberg 2010: 110). Gemäß dem verfolgten Konzept der Bürgerkommune waren die Projekte in der Anfangszeit darauf angelegt, Partizipation und Verwaltungsmodernisierung miteinander zu verbinden. Geprägt wurde die Möglichkeit zur Bürgerbeteiligung durch das von Herzberg (2009: 50) beschriebene „selektive Zuhören“. Dabei werden im Bürgerhaushaltsverfahren die Ergebnisse der Diskussion von Verwaltung und Politik zusammengefasst, nicht von den Teilnehmern selbst. Die politisch-administrative Seite hatte somit die Möglichkeit, die Ergebnisse in die aus ihrer Sicht richtige Richtung zu steuern. Die deutschen Bürgerhaushalte standen demnach zu Beginn dem Typus „Konsultation öffentlicher Finanzen“ nahe (Herzberg et al. 2010: 41; Herzberg 2010: 110). Diese Entwicklung war bei allen Verfahren in Deutschland zu beobachten, weil diese nicht von den Kommunen im Alleingang, sondern von Stiftungen und Netzwerken gefördert wurden, die daher den Prozess maßgeblich steuerten.

So wurde im Netzwerk „Kommunen der Zukunft“ in der Arbeitsgruppe Bürgerhaushalt nach dem Vorbild aus Christchurch ein allgemeiner Ablaufplan als Dreischritt erarbeitet, der bei allen Bürgerhaushalten in Deutschland bis heute erkennbar ist: Information, Konsultation, Rechenschaft. Zunächst wurde dabei auf Veranstaltungen, in Broschüren oder im Internet über die städtische Haushaltslage und die Haushaltsplanungen informiert. Danach erfolgte die Anhörung und Beteiligung der Bürger. Am Ende des Prozesses wurden die daraus resultierenden Ergebnisse öffentlich gemacht. Unterschiede bestanden bei der Wahl der Instrumente und bei der weiteren Ausdifferenzierung des Verfahrens (Herzberg 2009: 108). Probleme bereitete zu Beginn vielen die korrekte Rechenschaftslegung. Nicht immer war ersichtlich, ob die Bürgervorschläge Zustimmung erhielten. Nur sieben Städte hatten zu dieser Zeit Ende der 1990er Jahre einen Bürgerhaushalt, welcher der vorab genannten methodologischen Definition entsprach, während mehr als 40 Gemeinden dem Namen nach einen Bürgerhaushalt nutzen (Sintomer et al. 2010: 123f).

Der genannte Dreischritt wurde bei späteren Verfahren beibehalten, die Mittel zur konkreten Bürgerbeteiligung während der Konsultationsphase wurden allerdings verändert. Vorreiter dafür was der Bürgerhaushalt von Berlin-Lichtenberg. Den Bürgern wurde hier die Möglichkeit zur Benennung von Prioritäten gegeben. Fünf Stimmen waren unter Verwendung des Kumulierens und Panaschierens auf die Vorschläge verteilbar. Auf diese Weise wurde die bisherige Selektion durch die Verwaltung überwunden (Herzberg 2009: 133f). Andere Städte haben die Möglichkeit zur Hierarchisierung der Vorschläge durch die Bürger später übernommen. Heute ist es ein üblicher Verfahrensschritt bei einem deutschen Bürgerhaushalt.

Da trotz allem Verwaltung und Gemeindevertretung den Ablauf des Bürgerhaushalts und die Entscheidung über die Ergebnisse kontrollieren und den Teilnehmern an Bürgerhaushalten damit kein Entwicklung in Richtung einer De-facto-Entscheidungskompetenz eingeräumt wurde, sind die bisherigen Verfahren auch nach Lichtenberg im Verfahrenstypus „Konsultation öffentlicher Finanzen“ einzuordnen. Der Fokus liegt bei der Einbeziehung des Bürgers auf der Erstellung des Haushalts, nicht auf der Entscheidung über diesen (Masser et al. 2013: 115). Wobei immerhin das Problem des selektiven Zuhörens zum Teil überwunden wurde (Herzberg 2009: 134). Zwar gab es im weiteren Verlauf Versuche, Bürgerhaushalte aus dem Bereich der „Bürgernahen Partizipation“ einzurichten, zum Beispiel in Verbindung mit der Einrichtung eines Quartiersfonds in Berlin Marzahn-Hellersdorf. Diese und andere Projekte sind allerdings nach einer Probephase oder nach dem Wechsel der Regierung vielfach beendet worden (Sintomer et al. 2010: 136f).

Die heutigen Bürgerhaushalte in Deutschland folgen weiterhin dem Dreischritt Information – Konsultation – Rechenschaft. Das Prozedere vereinfacht hat die Nutzung des Internets, das in allen drei Phase eingesetzt werden kann und oftmals auch wird (Herzberg et al. 2010: 42f). Genutzte Instrumente sind persönliche Verfahren („face to face“) wie Bürgerversammlungen und Bürgerforen. Zum Teil werden feste Gruppen, die sich regelmäßig zur Beratung treffen, institutionalisiert. Weiterhin genutzt werden schriftliche Befragung. Teilweise geschieht dies ungesteuert, wenn zum Beispiel Fragebögen an öffentlichen Orten ausgelegt werden und das Ausfüllen auf dem Zufall basiert, teilweise kontrolliert, indem eine repräsentative Stichprobe aus der Bürgerschaft ausgewählt und angeschrieben wird. Das dritte Instrument ist das Internet, wo Informationen bereitgestellt werden, Bürger ihre Meinung abgeben sowie Vorschläge machen und bewerten können (Masser et al. 2013: 22f). Inzwischen basieren einige Verfahren ausschließlich auf Internetplattformen. Andere Bürgerhaushalte können als Multi-Channel-Verfahren mehrere Zugangswege für die Bevölkerung parallel anbieten (Masser et al. 2013: 25).

2.3.4 Ziele von Bürgerhaushalten

Die Ziele der Bürgerhaushalte hängen von der jeweiligen Perspektive ab, aus der man das Verfahren betrachtet. Dies fängt bereits mit dem Blick auf die jeweilige Region an. Global gesehen sind derzeit drei Trends zu beobachten:

Fundamentale Änderung der herrschenden Zustände: Das Verfahren basiert auf der Interaktion zwischen der Regierung und einer Graswurzel-Bewegungen, welche die treibende Kraft ist. Ziel ist es, einen Prozess gegen soziale Ungerechtigkeit und Korruption anzustoßen. Vor allem in Lateinamerika ist dies zu beobachten.

Reformagenda vorantreiben: Treibende Kraft ist in diesem Fall die Regierung, aber auch die Bürger sind aktiv involviert. Oftmals wird das Verfahren in Verbindung mit einem Bestreben nach Verwaltungsmodernisierung und Dezentralisierung durchgeführt. Verbesserungen für sozial Schwächere können inkludiert sein, allerdings ohne die gewohnte Struktur des Systems dabei zu ändern. Meist geht es um die Verbesserung der Kommunikation und die Stärkung des Vertrauens zwischen den teilnehmenden Akteuren.

Symbolische Bürgerhaushalte: Hier klafft eine große Lücke zwischen den genannten Zielen und der Wirklichkeit. Das Verfahren wird genutzt, um einen Weg zu legitimieren, auf dem man sich bereits befindet und dessen Änderung gar nicht gewünscht ist. Diese Variante ist sowohl in Demokratien als auch in Autokratien zu finden (Sintomer et al. 2013: 20f).

Der Vorbildhaushalt von Porto Alegre gehört zur ersten genannten Gruppe. Er ist, wie die meisten seiner Nachahmer in ganz Lateinamerika ein Instrument der Armen, die das Ziel hatten, sich eine Stimme zu geben. Der Bürgerhaushalt ist hier mehr als nur zur Imagepflege, sondern gilt als Mittel gegen Korruption, Klientelismus und Verschwendung öffentlicher Gelder sowie für eine bessere Kontrolle des Regierungshandelns, indem die Zivilgesellschaft zum Gegengewicht gegenüber der Politik hinter verschlossenen Türen wird (Sintomer et al. 2010: 34f/38f; Sintomer et al. 2007: 117).

In Europa und gerade in Deutschland ist man von solchen Zielsetzungen weit entfernt. Die Motive, einen Bürgerhaushalt einzuführen, waren und sind ganz andere. Die ersten Verfahren hierzulande standen (mit Blick auf die vorher dargelegte Typologie) der „Konsultation öffentlicher Finanzen“ nahe und dienten vor allem dazu, den Bürgern die prekäre finanzielle Situation der Kommune deutlich zu machen. Zum Teil wurde das Wissen der Bürger für Verbesserungsvorschläge genutzt, dabei ging es allerdings oftmals lediglich um kleine Einzelmaßnahme (Überdachung einer Einfahrt, Verlängerung eines Radweges). Große städtische Fragen wurden in der Regel ausgeschlossen (Herzberg 2009: 120). Die Grundidee war, in einer Phase der angespannten finanziellen Lage der Kommunen dem Bürger den Rotstift in die Hand zu geben, um zu verhindern, dass er gegen Streichungen protestiert und um Politikern zu ermöglichen, selbst aus dem Scheinwerferlicht heraustreten zu können. Die Nachhaltigkeit eines Konzepts, in dem der Bürger zu permanentem Streichen angehalten ist, ist allerdings fraglich. Langjährige Bürgerhaushalte, die dieser Idee folgen, sind daher auch nicht zu finden (Sintomer et al. 2013: 19).

Eine weitere Gruppe der Bürgerhaushalte in Deutschland hatte das Ziel einer öffentlichen Evaluation der kommunalen Serviceleistungen. Vorbild war nicht Porto Alegre, sondern Christchurch in Neuseeland. Es ging im Kern darum, welche Leistungen verbessert, verändert oder gestrichen werden konnten (Sintomer et al. 2010: 116). Die Auswirkungen auf die Verwaltung konnten vielfältig sein: mehr Transparenz über das Verwaltungshandeln; Verbesserung öffentlicher Serviceleistungen basierend auf Vorschlägen der Bürger; bessere Kooperation zwischen individuellen Verwaltungsabteilungen; schnellere Durchführung interner Verwaltungsvorgänge und bessere Ansprechbarkeit der Verwaltung (Sintomer et al. 2013: 11f). Den deutschen Weg sieht Herzberg (2013: 167f/180) in dieser Phase als Verbindung zwischen Bürgerhaushalten und Verwaltungsmodernisierung: als partizipative Modernisierung. Eine Modernisierung auf diesem Weg ist zum Teil möglich, kann aber den konventionellen Weg nicht ersetzen. Eine große Aufgabe ist dabei, auch gesamtstädtische Verbesserungen in diesem Prozess hervorzurufen, und nicht nur jene für einzelne Wohnviertel. Dies ist in Europa, gerade in großen Städten, bislang selten gelungen.

Im Zuge einer angenommenen Politikverdrossenheit und schwindender Wahlbeteiligung gerade auf kommunaler Ebene ist der Bürgerhaushalt der jüngsten Jahre in Deutschland zunehmend politischer geworden. Die politisch verfolgten Auswirkungen auf dieser Ebene sind: eine bessere Kommunikation zwischen Bürgern, Verwaltung und politischer Elite; eine vermittelnde Rolle zwischen Wählern und Repräsentanten, da diese Aufgabe immer weniger von den Parteien gewährleistet wurde; eine höheren Wahlbeteiligung (was bislang empirisch nicht belegt ist); eine Verbesserung der politische Kultur und die Erhöhung der Kompetenz der Teilhabenden; eine besseren Koordination der Zivilgesellschaft, die sich regelmäßig zu Beratungen trifft (Sintomer et al. 2013: 12). Im Zuge dessen wird mit dem Bürgerhaushalt zudem die Hoffnung auf ein Mittel gegen den so genannten NIMBY-Effekt[4] verbunden. Da die Diskussionen nicht mehr nur zwischen Bürgern einzelner Quartiere und Entscheidungsträgern stattfinden, sondern Bürger sich auch untereinander über das Gesamtbild austauschen, werden sie dazu angehalten, die Relevanz und Dringlichkeit ihrer Forderungen miteinander zu vergleichen, sich mit der aktuellen politischen Situation und der Funktionsweise ihrer Verwaltung auseinanderzusetzen (Sintomer et al. 2010: 19f),

In welchem Umfang man die Bürger bei der Planung des Haushalts tatsächlich beteiligen sollte, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen, die je nach Autor, Partei oder Akteursebene variieren können. Laut Günther (2007: 32) soll man durch die Haushaltsinformation Verständnis für die Haushaltspolitik und Finanzlage erzeugen sowie einen Dialog mit Politik und Verwaltung zur verbesserten Entscheidungsfindung und Transparenz bei den Entscheidungen des Rates erzeugen. Vorschläge der Bürger müssten dann im Rat Berücksichtigung finden, was eine ziemlich vage Formulierung ist, bezogen auf die tatsächliche Umsetzung. Brangsch und Brangsch (2006: 11) werden da schon deutlicher. Sie verweisen darauf, dass man bei der Durchführung des Bürgerhaushalts eine Entscheidung treffen muss: Ob man die Bürger am Verwaltungshandeln beteiligen und sie bezüglich politischer Entscheidungen umfassender informieren und konsultieren möchte oder ob man Bürgern die Möglichkeit gibt, sich eigenständig, politisch auftraggebend zu verhalten und ihnen neben den Wahlen und dem Bürgerentscheid/-begehren ein weiteres Instrument der Artikulation als eigenständige politische Größe neben Verwaltung, Repräsentanten und politischen Organisationen in die Hand gibt.

Ein Übersicht der Ziele, die mit der Einführung eines Bürgerhaushalts verbunden werden, aus Sicht der unterschiedlichen Beteiligten findet sich bei Buß (2008: 14ff/57):

- Bürger: Als Kunden kommunaler Leistung und politischer Auftraggeber (Input) sollen sie auch Mitgestalter im Gemeinwesen sein, sowohl beim Output als auch als Koproduzent kommunaler Leistung (z.B. Ehrenamt). Zudem werden sie als neuer Vetospieler im politischen Prozess eingesetzt.

- Parteien: Sie wollen in erster Linie Wahlen gewinnen und wichtige Positionen in der Verwaltung mit Parteimitgliedern besetzen. Die Vorgaben machen oftmals einzelne Experten (z.B. Fraktionsvorsitzende), die durch ihr Expertenwissen einen Informationsvorsprung haben. Die Politik hofft durch den Bürgerhaushalt auf eine Entlastung der Haushalte und möchte unbequeme Verantwortung (besonders bei Kürzungen) abgeben.

- Verwaltung: Die Mitarbeiter in der Administration möchten zunächst ihre Arbeitsplätze erhalten, weshalb Veränderungen oft nur schwerfällig umgesetzt werden. Durch ihren Wissensvorsprung dominiert die Verwaltung gegenüber dem größtenteils mit Laien besetzten Rat oft die politischen Prozesse, obwohl dies eigentlich politisch nicht legitimiert ist. Der Bürgerhaushalt soll die Legitimität der Handlungen vergrößern und Wissensinput bringen. Bürgermeister als direkt gewählte Verwaltungschefs erhoffen sich durch die Einführung zudem bessere Chancen zur Wiederwahl.

Die Erwartungen an den Bürgerhaushalt in der wissenschaftlichen Literatur findet sich zusammengefasst bei Holtkamp (2008: 225). So wird vielfach eine hohe Leistung für die Input- und Output-Legitimität des kommunalpolitischen Systems erwartet. Auf der Input-Seite erhoffen sich die Autoren höhere Transparenz, stärkere Akzeptanz von Konsolidierungsmaßnahmen und eine breite Inklusion der Bevölkerung. Auf der Seite des Output rechnet man mit mehr Effektivität und Effizienz beim Verwaltungshandeln, einer besseren Problemlösungen durch die Nutzung des gesellschaftlichen Wissens, im Nachgang mit einer Ergänzung zu den schwindenden kommunalen Ressourcen durch Implementationsressourcen gesellschaftlicher Akteure (Ehrenamt, Spende, usw.) sowie mit der Motivation zu sparsamerer Haushaltsführung. Der letzte Punkt wird auch als indirekte Folge in Betracht gezogen:

„Eine verbesserte demokratische Mitwirkung rechnet sich dabei auch unter ökonomischen Effizienzgesichtspunkten, da eine Nichtbeteiligung der Partikularinteressen Proteste und Klagen evoziert, mittelfristig die Wirtschaft abschreckt und die Städte ,teuer’ zu stehen kommt“ (Kersting 2004: 249, zit. nach Holtkamp 2008a: 104)

2.3.5 Kritik am Bürgerhaushalt

Gibt es auf der einen Seite zahlreiche Verfechter von Bürgerhaushaltsverfahren, sind auf der anderen Seite allerdings auch Kritiker zu finden, welche die Bürgerbeteiligung grundsätzlich oder zumindest in dieser Form nicht als sinnvoll erachten.

Repräsentationsorientierte Demokratietheoretiker zeigen sich gegenüber Beteiligungsverfahren generell skeptisch, da sie die Ansicht vertreten, dass nur demokratisch legitimierte Eliten das Gemeinwohl vertreten und man sich nicht von einer uninformierten, anonymen Masse leiten lassen sollten. Mitbestimmung von politischen Laien würde mehr schaden. Bei komplexen Verfahren könnten sie leicht überfordert werden, was in der Folge sogar zu innovationsfeindlichen Resultaten führen könne (Hill 2009: 217). Zudem könnten zu viele Vetospieler zu Ineffektivität in der Politik führen (Geißel 2008: 31). Dieses Legitimitätsargument ist indes bereits insofern zu revidieren, als dass auf kommunaler Ebene die Verwaltung eine starke Gestaltungsrolle einnimmt, obwohl bis auf die Direktwahl der Bürgermeister und die zum Teil politische Zustimmung zur Benennung von Fachbereichsleitern/Dezernenten ein umfassende Legitimation der gesamten Administrative nicht vorhanden ist.

Kritik gibt es zudem hinsichtlich der Repräsentativität dieser Art von Beteiligungsverfahren, die für die Bürger freiwillig sind, weit weniger Teilnehmer mobilisieren als Wahlen oder Referenden sowie eine hohe Motivationsbereitschaft hinsichtlich Teilnahme und Informiertheit verlangen. Geäußert werden Befürchtungen, dass unter dem Deckmantel der allgemeinen Beteiligung Einzelinteressen zum Nachteil des Allgemeinwohls durchgesetzt werden könnten, da politische bereits aktive Gruppen (Männer, Gebildete, Mittelschicht), ressourcen- und organisationsstarke Gruppen sowie Basis-Eliten die partizipativen Verfahren durch Zeit, Geld und Know-how dominieren würden (Geißel 2008: 31; Hill 2009: 217; Buß 2008: 148f). Eine umfassende Bürgermitwirkung bei solch einer aktiven Mittelschicht, die sich bei Planungen dem Sankt-Florians-Prinzip verschreibt und auf keine Kompromisse im Mediationsverfahren eingeht, erachten Bogumil und Holtkamp (2011: 47) als „illusorisch und wenig wünschenswert“.

Bei der konkreten Betrachtung des Beteiligungsinstruments Bürgerhaushalt in Deutschland wird daran erinnert, dass die für die Partizipation wichtige Erreichbarkeit potenzieller Teilnehmer keineswegs selbstverständlich ist. Umfragen lassen darauf schließen, dass nur wenige Bürger den Bürgerhaushalt kennen, obwohl sie sogar täglich Zeitung lesen. Das deutet auf Defizite bei der Vermittlung durch die Medien aber auch durch die Politik hin (Franzke und Kleger 2010: 33). Doch selbst wenn Einwohner an der Haushaltsplanung ihrer Stadt teilnehmen, können leicht Informations- und Wissensdefizite zum Problem werden. Naßmacher (2010: 13f) hat bei der Beobachtung des Oldenburger Bürgerhaushalts festgestellt, dass Teilnehmer mit den Stichwörtern der schriftlichen Befragung über die Haushaltsvorschläge überfordert waren, wenn sie sich nicht für Kommunalpolitik interessierten. Zudem zeigten bereits die eingereichten Vorschläge mit teils unfinanzierbaren Forderungen wie kostenlosem ÖPNV eine Fehleinschätzung darüber, was realistisch machbar ist. Insgesamt schätzt Naßmacher den Bürgerhaushalt eher als ein Ventil ein, das Betroffene nutzen, um ihre Politikverdrossenheit zu Protokoll zu geben.

Holtkamp (2008: 223) hält das Angebot von Politik und Verwaltung an die Bürger zur Mitbestimmung am Haushalt gar für „inszeniert“, da die gewählten Repräsentanten die letzte Entscheidung fällen und die Bürger bei der Umsetzung der Ergebnisse stark vom Stadtrat abhängig sind. Dazu passt die Aussage von Herzberg (2010: 115), der darauf hinweist, dass Bürgerhaushalte auch als politisches Marketing genutzt werden. So präsentiert sich der Bezirk Berlin-Lichtenberg bundesweit als gefragtes Vorbild. Bürgerhaushalt ist immer auch Teil einer symbolischen Politik in Zeiten von Politikverdrossenheit und nachlassender Wahlbeteiligung.

Holtkamp (2008: 229f; 2004: 12) ist weiterhin der Ansicht, dass Bürgerhaushalte gerade in kreisfreien Städten wenig effektiv sind, da er hier ein generell abnehmendes Interesse an der Haushaltspolitik beobachtet hat. Als Ursachen nennt er eine abnehmende Identifikation bei steigender Stadtgröße, die geringe Kenntnis über kommunalpolitische Fragestellungen sowie den niedrigeren Prozentsatz an Hauseigentümern, welche die Steuer- und Abgabelasten deutlicher wahrnehmen als Mieter und daher mehr Interesse an Eingriffen in den Haushalt hätten. Er favorisiert daher eine Budgetverantwortung von Bürgern und Verbänden in kleinen Teilprojekten, wie gedeckelten Bürgerbudgets mit gut informierten und motivierten Beteiligten sowie der Verbindlichkeit von Entscheidungen (Holtkamp 2004: 13).

Ein weiteres Problem sehen Kritiker in der kommunalen Haushaltskrise. Viele Gemeinden haben hohe Kassenkredite zur Finanzierung ihrer Kosten angehäuft. Immer öfter werden die nicht genehmigungsfähigen Haushalte in der Folge nichtöffentlich mit den Aufsichtsbehörden verhandelt. Eine Bürgerbeteiligung unter diesen Voraussetzungen wird in mehreren Beiträgen zu diesem Thema als zynisch bezeichnet (Bogumil 2009: 97f; Bogumil und Holtkamp 2011: 48; Holtkamp 2004: 12f).

[...]


[1] Wobei diese Zahlen den Angaben in anderen Publikationen widersprechen. Dies ist damit zu erklären, dass nicht jedes Verfahren, dass sich Bürgerhaushalt nennt, auch wirklich ein Bürgerhaushalt ist. Auf die Kriterien wird im Lauf dieser Arbeit noch eingegangen.

[2] Englisch: Participatory budget

[3] Weitere Beispiele für praxisorientierte Literatur: Günther 2007; Müller 2006

[4] Abkürzung für „Not in my backyard“: Der Effekt bezeichnet die Weigerung von Bürgern, Veränderungen im unmittelbaren Umfeld, die als Einschränkungen betrachtet werden, zu akzeptieren.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783958206465
ISBN (Paperback)
9783958201460
Dateigröße
774 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,7
Schlagworte
Partizipation Bürgerbeteiligung Participatory Budgeting Finanzpolitik Kommunalpolitik

Autor

Patrick Buck wurde 1981 in Hamburg geboren. Er studierte Politikwissenschaft und Sportwissenschaft an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und schloss 2014 mit dem Magister ab. Daneben arbeitete er als freier Journalist in Oldenburg und beobachtete sein Interessenfeld, die Lokalpolitik, auf diese Weise noch aus einer weiteren Perspektive.
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Titel: Bürgerhaushalte in Deutschland: Welche Rolle spielen Geld, Verwaltung und Beteiligung?
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