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Realityfernsehen und Fremdschämen: Eine fMRT-Studie

©2013 Bachelorarbeit 62 Seiten

Zusammenfassung

Menschen schämen sich fremd, wenn sie jemanden dabei beobachten, wie er oder sie sich öffentlich blamiert. In der vorliegenden Studie wurde untersucht, in welcher Form neuronaler Aktivität sich Fremdschämen manifestiert und inwieweit interindividuelle Unterschiede im Erleben von Fremdscham auszumachen sind. Es soll betrachtet werden, ob das verwendete Stimulusmaterial (Ausschnitte aus Reality-Fernsehformaten) starkes Fremdschämen auslöst und dieser Effekt weder durch die Lustigkeit noch die mitleiderregende Wirkung erklärt werden kann. Mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) soll gezeigt werden, dass der linke superiore temporale Gyrus, ein subgyraler Bereich im Grenzgebiet von Parietal- und Frontallappen der rechten Hemisphäre und ein Bereich im Grenzgebiet von medialem frontalen Gyrus und Gyrus cinguli bei dem Erleben von Fremdscham eine Rolle spielen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1.5 Fremdschämen - Definition und aktueller Erkenntnisstand

Menschen schämen sich fremd, wenn sie jemanden dabei beobachten, wie er oder sie öffentlich eine soziale Konvention verletzt und sich blamiert. Dabei besteht das wesentliche Merkmal der Situation darin, dass der Beobachter sich fremdschämt, obwohl keinerlei Gefahr besteht, dass das Fehlverhalten der beobachteten Person auf den Beobachter zurückfallen könnte (Miller, 1987; Miller, 1992). Dabei ist es egal, ob die beobachtete Person versehentlich oder absichtlich handelt oder sich der peinlichen Situation bewusst ist oder nicht. Nur der Beobachter muss den normverletzenden Charakter der Situation verstehen, damit Fremdscham entsteht (Krach et al., 2011). Miller (1992) führt das Entstehen von Fremdscham auf das starke menschliche Bedürfnis zurück, in sozialen Situationen das Gesicht zu wahren. Die beobachtete Herabwürdigung desjenigen, der das Fehlverhalten zeigt, lasse uns gewahr werden, dass wir ebenfalls beständig der Gefahr ausgeliefert sind, sozial zurückgewiesen zu werden. Dies führe zu einer abgeschwächten, aber ähnlichen emotionalen Antwort beim Beobachter.

Vor dem Hintergrund der dargestellten Definitionen und Abgrenzungsversuche zwischen Scham und Verlegenheit, scheint es eine naheliegende Schlussfolgerung, das Phänomen Fremdschämen eher in konzeptueller Nähe zur Emotion Verlegenheit zu verstehen, als zur Emotion Scham. Die in der Forschung seit den 1980er Jahren verwendeten englischsprachigen Begriffe empathic oder vicarious embarrassment, also empathische oder stellvertretende Verlegenheit, scheinen das hier untersuchte Phänomen präziser zu bezeichnen, als der derzeit prominente deutsche Begriff Fremdscham.

Nicht verwechselt werden darf das hier untersuchte Fremdschämen mit stellvertretender oder kollektiver Scham oder Verlegenheit in Bezug auf Gruppen. Diese kann als Reaktion auf eine Regelverletzung eines Gruppenmitglieds entstehen, wenn dadurch das geteilte Selbstbild der Gruppe gefährdet wird. Der Begriff vicarious shame ist in der Literatur mitunter in Zusammenhang mit beiden Forschungsansätzen zu finden (Welten, Zeelenberg & Breugelmans, 2012). Der wesenliche Unterschied zwischen den beiden Phänomenen besteht darin, dass in Bezug auf Gruppen das Verlegenheit empfindende Individuum mit der Gruppe in Beziehung steht und die Zugehörigkeit zur Gruppe im Selbstkonzept des Individdums verankert ist. Das Fehlverhalten eines Gruppenmitglieds kann daher andere Gruppenmitglieder gleichermaßen in schlechtem Licht erscheinen lassen. Dahingegen ist es beim Fremdschämen wie bereits beschrieben charakteristisch, dass für die Fremdscham empfindende Person keinerlei Gefahr besteht, mit dem fehlerhaften Verhalten der beobachteten Person in Verbindung gebracht zu werden (Miller, 1992).

Das Ausmaß, in dem Fremdschämen erlebt wird, unterliegt dem Einfluss von Faktoren sozialer Wahrnehmung, interaktionalen Prozessfaktoren und Persönlichkeits­variablen, wie z.B.: interindividuellen Unterschieden in der Disposition, Verlegenheit zu empfinden (Miller, 1987); interindividuellen Unterschieden in der Empathiefähigkeit (Krach et al., 2011); sozialem Kontext (Müller-Pinzler, Paulus, Stemmler & Krach, 2012); Zuneigung zur normverletzenden Person (Stocks, Lishner, Waits & Downum, 2011); kooperativer vs. kompetitiver vorangehender Interaktion zwischen Protagonist und Beobachter (Miller, 1987) und vorangegangene Involviertheit des Beobachters in eine peinliche Situation (Shearn et al., 1999).

Bei der Entstehung von Fremdscham sind unter anderem empathische Prozesse beteiligt. Empirische Evidenz für diesen Zusammenhang wiesen unter anderem Krach et al. (2011) nach. Sie zeigten, dass Menschen, die sich selbst als empathischer einschätzten, stärkeres Fremdschämen beim Beobachten von sozialen Missgeschicken Anderer erlebten. Darüber hinaus korrelierte auch die für Fremdscham gefundene spezifische Aktivierung im anterioren cingulären Cortex und in der linken anterioren Insula positiv mit interindividuellen Unterschieden in Empathiefähigkeit. Für einen Überblick über die Vielzahl an distinkten Phänomenen, die in der Forschung der letzten Jahre mit Empathie überschrieben wurden, wird an dieser Stelle auf den Beitrag von Batson (2009) verwiesen.

Mit den neuronalen Grundlagen des Phänomens Fremdschämen beschäftigte sich bisher nur die genannte Arbeitsgruppe um Krach et al. (2011). Sie präsentierten Pbn in einer fMRT-Untersuchung in Form von gezeichnetem Bildmaterial Situationen, in denen Protagonisten sich öffentlich blamierten und gesellschaftliche Konventionen verletzten. Dabei wurde systematisch variiert, ob die peinliche Handlung dem Protagonisten bewusst oder unbewusst war bzw. absichtlich oder unabsichtlich geschah. Es zeigte sich in Beantwortung der Fremdscham auslösenden Situationen neuronale Aktivität vor allem in der linken anterioren Insula und dem linken anterioren cingulären Cortex. Aktivität in diesen Arealen wurde zuvor vor allem mit affektiv-motivationaler Verarbeitung von eigenem körperlichen Schmerz in Zusammenhang gebracht. Darüber hinaus zeigten sich Thalamus, periaquäduktales Grau im Hirnstamm und Cerebellum aktiviert – Strukturen die zuvor mit der empathischen Wahrnehmung von körperlichen Schmerzen Anderer assoziiert wurden. Die Autoren schlussfolgern, dass Fremdschämen neuronal wahrscheinlich ähnlich prozessiert wird, wie empathisches Erleben von körperlichem Schmerz. Davon ausgehend verstehen sie Fremdschämen als Erleben von sozialem Schmerz.

1.6 Mögliche Entstehungsprozesse von Fremdschämen - ein Ordnungsversuch

Relativ unbeantwortet lassen die Forschungsbestrebungen der letzten Jahre allerdings die Frage, welche Prozesse bei der Entstehung von Fremdscham eine Rolle spielen. Daher wird im Folgenden ein theoretischer Versuch unternommen, aus einer Auswahl vorhandener Erkenntnisse zum Phänomen Fremdschämen vier verschiedene Prozesse herauszuarbeiten, die möglicherweise bei der Entstehung von Fremdscham eine Rolle spielen könnten. Dies soll dazu dienen, infolge dessen theoretische Überlegungen in Bezug auf an der neuronalen Antwort von Fremdschämen möglicherweise beteiligte Areale zu schließen.

Bei der Entstehung von Fremdscham ist möglicherweise ein ideosynkratischer Bewertungsprozess beteiligt. Damit ist gemeint, dass das beobachtete normverletzende Verhalten in Bezug zu eigenen moralischen und normativen Grundsätzen gesetzt wird und ein Vergleichsprozess zwischen verschiedenen mentalen Repräsentationen stattfindet. Resultiert der Vergleichprozess in einer starken Abweichung des beobachteten Verhaltens von den eigenen Moralvorstellungen, wird Fremdscham ausgelöst. Fremdscham könnte in diesem Sinne ein salienter affektiver Indikator für die soziale Relevanz der wahrgenommenen Unterschiedlichkeit der mentalen Repräsentationen sein, die in den Vergleichsprozess mit einbezogen werden. Für die Existenz eines solchen oder ähnlichen Bewertungsprozesses sprechen u.a. die Ergebnisse von Marcus et al. (1996). Sie zeigen, dass Fremdschämen ein deutlich subjektiver Prozess ist und das Ausmaß der empfundenen Fremdscham eher vom Beobachter abhängig ist, als von der Charakteristik der beobachteten Situation. Auch die Erkenntnis von Krach et al. (2011), dass nur der Beobachter den normverletzenden Charakter der beobachteten Situation verstehen muss, damit Fremdscham entsteht, spricht für die Beteiligung eines eher subjektiv geprägten Bewertungsprozess. Epley, Keysar, Van Boven und Gilovich (2004) zeigten, dass auch der Prozess der Perspektivübernahme zu weiten Teilen einer egozentristischen Verzerrung unterliegt. Die eigene Perspektive wird dabei als Anker genutzt und schrittweise in Richtung der vermuteten des Gegenübers adjustiert. Diese Adjustierung ende, sobald eine einigermaßen plausible Antwort generiert wurde. In diesem Sinne wäre vorstellbar, dass im Fall des Fremdschämens die schrittweise Adjustierung durch das Erleben der aversiven Emotion Fremdscham vorzeitig abgebrochen werden könnte, was die starken Beobachtereffekte erklären würde.

Letztere Ergebnisse geben außerdem einen Hinweis darauf, dass bei der Entstehung von Fremdscham möglicherweise Prozesse der kognitiven Perspektiv­über­nahme beteiligt sind. Dafür spricht einerseits, dass im Speziellen die Vorstellung, wie man selber an Stelle der in die peinliche Situation involvierten Person denken und fühlen würde (imagine self-Perspektive), das Erleben von Fremdscham nach sich zieht (Stocks et al., 2011). Andererseits zeigte Krach et al. (2011) positive Korrelationen zwischen kognitiver Subskala des verwendeten Empathiemaßes[1] und dem Fremdscham-Erleben sowie der Aktivität im anterioren cingulären Cortex und in der linken anterioren Insula. Auf neuronaler Ebene basieren solche kognitiven Mentalisierungsfähigkeiten auf der intakten Funktionsweise eines neuronalen Netzwerks bestehend aus medialem präfrontalen Cortex (mPFC), den superioren temporalen Sulci (STS) und den temporalen Polen (Shamay-Tsoory, 2009).

Möglicherweise sind bei der Entstehung von Fremdscham aber auch emotionale empathische Prozesse beteiligt. Vorstellbar wäre, dass wenn die beobachtete Person selber Verlegenheit zeigt, Prozesse emotionaler Ansteckung aktiviert werden und dieselbe Emotion beim Beobachter ausgelöst wird - in diesem Fall stellvertretende Verlegenheit. Dass Fremdschämen irgendetwas mit emotionaler Empathie zu tun haben muss, zeigen die von Krach et al. (2011) nachgewiesenen positiven Korrelationen zwischen emotionaler Subskala des verwendeten Empathiemaßes[2] und dem Fremdscham-Erleben sowie der Aktivität im anterioren cingulären Cortex und in der linken anterioren Insula. Andererseits zeigte Stocks et al. (2011), dass wenn Pbn aufgefordert werden, sich die Gedanken und Gefühle der Person vorstellen, die sich blamiert (imagine other-Perspektive), vermehrt empathische Sorgen berichtet werden, jedoch nicht Fremdscham. Zudem nehmen in diesem Fall Pbn vermehrt das Angebot an, auch nach Untersuchungsende in regelmäßigen Abständen über sechs Wochen hinweg weitere Informationen über die Person zu erhalten, die die peinliche Situation erlebt hat (Annäherungsverhalten). Ein solches Annäherungsverhalten tritt nicht auf, wenn Pbn wie beschrieben die imagine self-Perspektive einnehmen sollten, die mit dem Erleben von Fremdscham assoziiert wurde. Die neuronale Basis affektiver Empathie ist nicht so eindeutig. Shamay-Tsoory (2009) schlägt vor, dass affektive Mentalisierungsfähigkeiten auf der intakten Funktionsweise desselben neuronalen Netzwerks wie kognitive Mentalisierungsfähigkeiten (mPCF, STS, temporale Pole) beruhen. Allerdings seien zusätzlich orbitofrontale mediale Regionen beteiligt, wo die Integration von kognitiven und affektiven Prozessen stattfindet.

Ungeachtet der Beteiligung empathischer Prozesse beim Fremdschämen, ist außerdem die starke aversive Emotionsqualität zu betonen, die ihrerseits auch mit einer spezifischen neuronalen Aktivierung einhergehen kann. So behauptete Miller (1996, nach Stocks et al., 2011), dass das Erleben von Fremdscham in erster Linie aversiv sei, was zur Folge habe, dass Verlegenheit Anderer ausgewichen wird und Situationen, die Verlegenheit bei anderen auslösen vermieden werden. Die Ergebnisse von Stocks et al. (2011) passen auch in dieses Bild. Er zeigte, dass das Erleben von Fremdscham signifikant und in relativ hohem Ausmaß positiv mit dem Erleben von persönlichem Stress in der Untersuchungssituation korreliert. Außerdem zeigte er wie bereits beschrieben, dass nach Situationen in denen Fremdscham empfunden wurde, kaum bis kein Annäherungs­verhalten in Bezug auf die Person gezeigt wird, deren Verhalten das Fremdschämen ausgelöst hat.

Abhängig von kontextueller Einbettung der peinlichen Situation, persönlichen Werten und Normen des Beobachters sowie Trait- und Statevariablen in Bezug auf den Beobachter unterscheiden sich sicherlich die an der Entstehung von Fremdscham beteiligten Prozesse. Der dargestellte Ordnungsversuch erhebt weder Anspruch auf Vollständigkeit noch auf Gültigkeit. Nichtsdestotrotz dient er der Vermittlung einer ersten Idee, welche affektiven und kogitiven Bewertungsprozesse bei der Entstehung von Fremdscham zusammenwirken oder sich gegenseitig inhibieren könnten.

2 Fragestellungen und Überlegungen

Die vorliegende Arbeit untersucht das Phänomen Fremdschämen und zugrunde­liegende neuronale Prozesse. In einer Pilotstudie wurde dazu Stimulusmaterial validiert und ausgewählt. Funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) und ein Computer­experiment wurden verwendet, um folgende Fragestellungen zu untersuchen:

1. Sind systematische Unterschiede im Erleben von Fremdscham während der Verarbeitung von Experimental- vs. Kontrollvideos festzustellen?

2. Sind systematische Unterschiede in der neuronalen Aktivität während der Verarbeitung von Experimental- vs. Kontrollvideos bzw. -bildern festzustellen?

3. Zeigen sich interindividuelle Unterschiede in der Stärke der erlebten Fremdscham in Bezug auf das dargebotene Videomaterial?

4. Zeigen sich interindividuelle Unterschiede in der neuronalen Aktivität während der Verarbeitung von Experimental- vs. Kontrollvideos bzw. -bildern?

Zusätzlich wurden Fragebogendaten erhoben, um zur Beantwortung folgender Frage erste Hinweise zu explorieren:

5. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dispositioneller Scham-Neigung und dem Ausmaß der erlebten Fremdscham beim Betrachten des Stimulusmaterials?

Darüber hinaus wurden ausgehend von den dargestellten Prozessen, die bei der Entstehung von Fremdscham möglicherweise beteiligt sein könnten, weitere theoretische Überlegungen in Bezug auf assoziierte neuronale Aktivierungsmuster angestellt. Sollte es sich bei dem Phänomen Fremdschämen vor allem um einen kognitiv dominierten Prozess handeln, bei dem empathische Perspektivübernahmefunktionen eine wesentliche Rolle spielen, sollte systematische Aktivierung vor allem in den von Shamay-Tsoori (2009) postulierten Arealen (mPFC, STS und temporale Pole) zu finden sein. Sollte es sich bei dem Phänomen Fremdschämen vor allem um einen affektiv dominierten empathischen Prozess handeln, sollte systematische Aktivierung im mPFC, den STS, den temporalen Polen und orbitofrontalen medialen Regionen zu finden sein (vgl. Shamay-Tsoori, 2009). Sollte Fremdschämen neuronal ähnlich prozessiert werden, wie empathisches Erleben von körperlichem Schmerz, sollten sich Aktivierungen in ähnlichen Arealen, wie den von Krach et al. (2011) postulierten (Insula, cingulärer Cortex, Thalamus, periaquäduktales Grau und Cerebellum) nachweisen lassen. Die Ergebnisse dieser Studie werden vor dem Hintergrund aktueller Forschungsergebnisse und den hier angestellten theoretischen Überlegungen diskutiert.

3 Methode

In den folgenden Abschnitten werden wesentliche Informationen zum Ablauf der Pilot- und fMRT-Studie, zu den untersuchten Stichproben und den verwendeten Datenanalyseverfahren beschrieben. Die Ergebnisse der Pilotstudie werden dargestellt und im Hinblick auf ihre Bedeutung für die fMRT-Studie diskutiert. In besonderem Umfang werden das Vorgehen bei der Zusammenstellung des Stimulusmaterials und Kriterien beschrieben, die bei der Auswahl des Materials eine Rolle spielten.

3.1 Pilotstudie: Auswahl und Validierung des Stimulusmaterials

Um Auswahl und Validierung geeigneten Stimulusmaterials für die nachfolgende Untersuchung vorzunehmen, wurden Pbn in einer Voruntersuchung gebeten, Videomaterial aus verschiedenen Reality-Fernsehformaten deutscher privater Fernseh­sender zu bewerten. Es konnte gezeigt werden, dass einige dieser Filme starkes Fremdschämen in den Beobachtern auslösen und die experimentelle Manipulation die Varianz in den Bewertungen in vergleichsweise größtem Ausmaß hinsichtlich der Fremdschäm-Ratings aufklärt. Auf Grundlage der gewonnenen Daten wurde die vorab getroffene Zuordnung des Videomaterials in Experimental- und Kontrollbedingung weitestgehend bestätigt.

3.1.1 Stichprobe

Es nahmen insgesamt N = 14 Pbn an der Pilotstudie teil, wobei N = 3 männlichen und N = 11 weiblichen Geschlechts sind. Das Alterspanne der Stichprobe reicht von
18 bis 39 Jahren und liegt im Mittel bei 23.0 Jahren (SD = 5.63). Die Pbn wurden über Aushänge im Institut für Psychologie der Universität Bonn und über persönliche Ansprache akquiriert.

3.1.2 Versuchsmaterial

Das verwendete Stimulusmaterial besteht aus insgesamt 56 kurzen Video­ausschnitten, die Reality-Fernsehformaten diverser deutscher privater Fernseh­sender entnommen wurden. Dazu wurde von verschiedenen Video-on-Demand-Plattformen digitales Videomaterial auf Anfrage von den entsprechenden Internetanbietern heruntergeladen.

Zur Kontrolle von Materialeffekten wurde das Videomaterial für Experimental- und Kontrollbedingung ähnlichen Sendeformaten entnommen (Doku-, Lebenshilfe- und Coaching-Soaps sowie Casting-Shows). Bis auf die Videosequenzen, die Casting-Shows entnommen wurden, ist allen Fremdschäm- und Kontrollvideos gemein, dass scheinbar authentische Protagonisten beim Bewältigen von Alltagssituationen beobachtet werden und so ein Einblick in die Privatsphäre von Einzelpersonen, Familien oder Partnerschaften gewährt wird. Der Zuschauer bleibt dabei im Unklaren, inwieweit die portraitierten Menschen instruiert wurden oder tatsächlich reale Lebenssituationen abgebildet werden. In jedem Fall prägen Regeln der filmischen Dramaturgie den Verlauf der Reality-Fernsehfolgen, sodass beispielsweise starke Emotionen und Gefühlsausbrüche der Protagonisten in besonderem Maße fokussiert werden. Bei der Auswahl der Videos wurde versucht, eine thematische Vielfalt abzubilden. In einigen Videos werden Kandidaten bei einer wesentlichen Veränderung in ihrem Leben begleitet (z.B. Renovierung, Umzug in ein fremdes Land), einige Videos geben Einblick in den Ablauf von Alltagsgeschehnissen. In einigen Videos spielt das Thema Partnerwahl eine Rolle und einige Videos zeigen Kandidaten, die im Rahmen von Talentshows an Castingprozessen teilnahmen. Bei letzteren steht die Darstellung der Gesangs- und Auftrittsfähigkeit potentieller Teilnehmer der Castingshow im Mittelpunkt (vgl. Grundtypen der Reality-Formate nach Borstnar, Pabst & Wulff, 2008).

Das Hauptaugenmerk bei der Materialauswahl wurde auf das Vorhandensein vs. Nichtvorhandensein von subjektiv als peinlich und Fremdscham auslösend empfundenen Situationen in den Videos gelegt. Besonders prägnant empfundene Szenen wurden mithilfe von Windows Live Movie Maker (Version 16.4, 2012) aus den Fernsehfolgen geschnitten und in eine einheitliche Bildgröße gebracht. Auf diese Weise wurden
48 Experimental- und 8 Kontrollvideos zusammengestellt. Die Dauer der einzelnen Videoausschnitte variiert im Bereich von 00:39 min bis 02:56 min. Die Lautstärken der Tonspuren wurden einander angeglichen.

Die Programmierung des Versuchsablaufs erfolgte mithilfe von E-Prime
(Version 2.0.10.182). Um die Wahrscheinlichkeit technischer Fehler des Experimentalprogramms während der Versuchsdurchführung zu minimieren - diese gründet in der großen Datenmenge des Stimulusmaterials - wurde der Ablauf des Experiments in drei Teilen à 19, 19 und 18 Videos realisiert. Sowohl die Reihenfolge der einzelnen Videos innerhalb der drei Teile, als auch die Abfolge der drei Experimentalteile wurde randomisiert. Letzteres wurde mithilfe des Research Randomizers
(Urbaniak & Plous, 2012) umgesetzt und eine Liste von 15 zufälligen Nummernsätzen im Zahlenbereich von 1 bis 3 (ohne Zurücklegen) erstellt. Anhand dieser Liste wurden die drei Abschnitte des Experiments von der Versuchsleiterin manuell gestartet.

3.1.3 Versuchsdurchführung

Die Durchführung der Pilotstudie wurde an PCs im Experimentallabor des Instituts für Psychologie der Universität Bonn realisiert. Die Versuchsinstruktion erfolgte computergesteuert (s. Anhang B). Vor der Präsentation jedes Videos wurde ein kurzer Einführungstext von ein bis zwei Sätzen eingeblendet, um den inhaltlichen Einstieg in die Videos zu erleichtern. Die Namen der im Video beteiligten Personen und das Thema wurden darin kurz benannt (Bsp.: „Dennis sucht eine Frau in Osteuropa. Eine potenzielle Kandidatin aus Minsk lädt er zum Abendessen ein...“, „Pascal und seine Freundin besuchen zum letzten Mal vor ihrer Auswanderung die Eltern…“). Die insgesamt 56 Videos wurden in Bildschirmmitte präsentiert, die Tonausgabe erfolgte über individuelle Kopfhörer. Nach jedem Video wurden nacheinander folgende vier Fragen eingeblendet: (1) „Wie stark schämen Sie sich, wenn Sie diesen Filmausschnitt sehen?“, (2) „Finden Sie diesen Filmausschnitt lustig?“, (3) „Tut Ihnen die dargestellte Person leid?“ und (4) „Kennen Sie den Filmausschnitt?“ Die Beantwortung der ersten drei Fragen erfolgte auf einer Likert-Skala von 1 (gar nicht) bis 5 (sehr stark) und Frage vier konnte dichotom mit ja oder nein beantwortet werden. Eine Definition von Fremdscham wurde den Probanden im Versuchsablauf nicht zur Verfügung gestellt.

Alle Teilnehmer wurden über den Hintergrund der Studie informiert. Es wurde zugesichert, dass alle gewonnenen Daten nicht an Dritte (außer den beteiligten Wissenschaftlern) weitergegeben werden. Die Teilnehmer wurden darauf hingewiesen, dass sie die Studienteilnahme jederzeit ohne Angabe von Gründen abbrechen können. Die Durchführung des Experiments nahm insgesamt ca. 120 min in Anspruch, was für Studierende der Psychologie mit 2.5 Versuchspersonenstunden vergütet wurde.

3.1.4 Experimentelles Design

Fremdschäm- vs. Kontrollfilme dienen als unabhängige within-subject-Variable der systematischen Beeinflussung der Antworttendenz (einfaktorielles Design). Die Reihenfolge der Filme wurde randomisiert. Die Ratings auf den vier beschriebenen Skalen stellen abhängige Variablen dar, wobei die Ratingskalen Lustigkeit und Mitleid von vornherein zur Verwendung als Kovariaten in den statistischen Auswertungsmodellen angedacht wurden.

3.1.5 Datenanalyse

Die Daten wurden mit IBM SPSS Statistics (Version 21.0, 2012) analysiert. Die Ratings auf der Skala Fremdschämen wurden für beide Filmkategorien und einzeln für jeden Film gemittelt. Um den Effekt der experimentellen Manipulation auf die einzelnen Ratings (Fremdschämen, Lustigkeit und Mitleid) zu schätzen, wurden drei univariate Varianzanalysen durchgeführt. Zusätzlich wurden Häufigkeiten bzgl. der Bekanntheit der Filme ausgegeben.

3.1.6 Ergebnisse

Von den 48 Fremdschäm-Filmen werden 11 Filme auf der 5-Punkt-Fremdschämen-Skala im Mittel über 4 bewertet und bei weiteren 9 Filmen liegen die gemittelten Ratings im Bereich von 3.5 bis 4. Dahingegen erreichen die einzelnen Kontrollfilme gemittelte Fremdschäm-Ratings im Bereich von 1.00 bis 2.64. In Tabelle 1 sind Mittelwerte pro Versuchsbedingung und Ratingskala, die Ergebnisse der drei einzeln durchgeführten univariaten Varianzanalysen und der Signifikanzprüfungen sowie Effektstärken aufgeführt.

Tabelle 1

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Anmerkungen. Ratingskala Fremdschämen: „Wie stark schämen Sie sich, wenn Sie diesen Filmausschnitt sehen?“, Ratingskala Lustigkeit: „Finden Sie diesen Filmausschnitt lustig?“, Ratingskala Mitleid: „Tut Ihnen die dargestellte Person leid?“, Beantwortung auf einer 5-Punkt-Skala von 1 (gar nicht) bis 5 (sehr stark). Partielles η2 bezeichnet die geschätzte Varianzaufklärung einer Variablen auf Stichprobenebene.

Aus Tabelle 1 wird deutlich, dass die unabhängige Variable Filmkategorie einen systematischen Einfluss auf die Antworttendenz bzgl. aller drei einzelnen Ratingskalen hat. So lösen Experimentalfilme im Vergleich zu Kontrollfilmen signifikant stärkeres Fremdschämen (F (1,782) = 188.60, p < .001) aus, sie werden signifikant lustiger bewertet als Kontrollfilme (F (1,782) = 93.61, p < .001) und lösen stärkeres Mitleid aus
(F (1,782) = 63.73, p < .001). Die Filmkategorie erklärt 19.4 % der Varianz der Fremdschäm-Ratings, 10.7 % der Varianz der Lustigkeits-Ratings und 7.5 % der Varianz der Mitleids-Ratings auf. Daneben sind insgesamt 24 der Experimental- und Kontrollfilme allen Probanden unbekannt, die restlichen 32 Filme werden von durchschnittlich M = 1.66 (SD = 1.00) Probanden gekannt.

[...]


[1] Krach et al. (2011) verwendeten die E-Scale (Leibetseder, Laireiter & Köller, 2007) zur Messung von Empathiefähigkeit im Selbstbericht. Die kognitive Subskala misst hier kognitive Sensitivität in fiktiven Situationen und kognitive Sorgen in Bezug auf reale Situationen.

[2] Die emotionale Subskala der E-Scale (Leibetseder, Laireiter & Köller, 2007) misst hier emotionale Sensitivität in fiktiven Situationen und emotionale Besorgnis in Bezug auf reale Situationen.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2013
ISBN (PDF)
9783958207622
ISBN (Paperback)
9783958202627
Dateigröße
1.2 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,1
Schlagworte
Perspektivübernahme Reality-TV Empathie Fremdschämen Persönlichkeitspsychologie

Autor

Maria Pauline Buss wurde 1988 in Forst (Lausitz) geboren. Ihr Studium der Psychologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn schloss sie 2013 mit dem akademischen Grad Bachelor of Science erfolgreich ab. Getragen von ihrem besonderen Interesse für Biopsychologie und Neurowissenschaften setzte sie sich im Rahmen ihrer Bachelorarbeit über ein Jahr intensiv mit der neuronalen Verarbeitung und dem Erleben von Fremdscham auseinander. Derzeit studiert die Autorin an der Hochschule für Musik und Tanz Köln im Bereich Instrumentalpädagogik.
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Titel: Realityfernsehen und Fremdschämen: Eine fMRT-Studie
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