Der Erlöser im modernen Film: Jugendliche Sinnsuche in „Harry Potter“ und „Matrix“
Zusammenfassung
So möchte dieses Buch beweisen, dass religiöse Muster, wie eine Erlöserfigur als Protagonist, im modernen Film interessant für Jugendliche sind. Untersucht wird, wie die Religions- und Sinnsuche bei einem jugendlichen Publikum funktioniert und ob religiöse Muster im Film sie in dieser Lebensphase überhaupt tangieren. Hierzu werden zunächst soziologische und danach entwicklungspsychologische Aspekte der Sinn und Religionssuche durchleuchtet. Weiter wird sich damit befasst, wie viel Religion und Erlöser eigentlich wirklich in den exemplarischen „Erlöserfilmen“ Matrix und Harry Potter stecken.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
2.2.1 Säkularisierung und die Wiederkehr der Religion
Unter Säkularisierung (=Verweltlichung) versteht man den Prozess, durch den sich die bürgerliche Gesellschaft und Regierung der religiösen Kontrolle entzieht.[1] So waren in vormodernen Gesellschaften Religion und deren Ausübung zentrale Themen des Alltags. Zudem regierte die Kirche zusammen mit dem Adel über das Volk.[2] In Europa begannen jedoch mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert die Säkularisierung sowie die Entzauberung der Welt (Max Weber). So verlor die Religion an etlichen Stellen an Einfluss und Bedeutung: Wirtschaft, Politik, Wissenschaft (Wissen statt Glauben), Bildung und Erziehung sowie an Kultur.[3] Dies führte soweit, dass man heute, auf den ersten Blick zumindest, von einer säkularen Gesellschaft sprechen kann.[4] Und doch kam es zu Beginn des 21. Jahrhunderts, entgegen der Annahme einer „radikalen Form von Säkularisierung“[5], zu einem „Bedeutungsanstieg des Religiösen“[6] ja sogar zu einer „Wiederkehr der Religion“.[7] So treibt auch die Maschinerie der Globalisierung, mit ihrer hochtechnisierten, komplexen Welt und der resultierenden Beschleunigung des Alltags, viele Menschen wieder zurück in Formen des Glaubens und der Religion.[8] Die Religiosität scheint also wieder auf dem Vormarsch zu sein, jedoch nicht in der Art und Weise wie dies früher der Fall war, sondern in transformierten und teilweise auch esoterischer Formen.[9]
2.2.2 Quantitative Entwicklung der Religiösen
Wie oben schon angedeutet, hat sich die Gesellschaft und mit ihr auch die stark Religionsausübenden verändert. So möchte ich hierbei zuerst auf den quantitativen und danach auf qualitativen Wandel eingehen.
Betrachten wir zur quantitativen Auswertung also die Mitgliederentwicklung der christlichen Religionsgemeinschaften (Römisch-katholische sowie die Evangelische Kirche):
Vor der Wiedervereinigung:[10]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Nach der Wiedervereinigung :[11]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Wie man an dieser Statistik also gut erkennen kann, geht die Zahl der Gläubigen immer weiter zurück. Auch wenn man den Mauerfall, der die Kontinuität der Darstellung etwas durcheinander bringt, ausblendet, ist alleine von 1990 – 2012 auf katholischer Seite ein Rückgang von 5,2 und auf evangelischer Seite von sogar knapp 8 Prozentpunkten erkennbar. Zudem waren 1950 gut 96% der Deutschen christlich, so waren es 2012 nur noch knapp 60%. Dies ist ein Rückgang von über 35 Prozentpunkten. In Ostdeutschland, bedingt durch den (konfessionslosen) Kommunismus der DDR, sind derzeit rund drei Viertel der Jugendlichen ohne Konfession.[12] Interessanterweise zeichnet sich in Österreich ein beinahe identischer Verlauf ab, obwohl dort der Sprung der Konfessionslosen bedingt durch die Wiedervereinigung nicht existiert. Hier ist der Anteil der Christen von 95,2% auf 66,1% geschrumpft.[13]
Dieses Ergebnis wirkt sich selbstverständlich auch auf die Jugend aus. Der gesellschaftliche Wandel ist klar erkennbar. Während damals konfessionslose Mitbürger noch fast so etwas wie Exoten waren, so führen sie heute diese Statistik mit einem guten Drittel sogar an. Da es also viele Menschen gibt, die ohne Glauben leben, ist es für die heutigen Jugendlichen nichts Besonderes mehr und gehört zum Alltag. Fokussieren wir nun zuerst die Konfessionslosen. Ein konfessionsloser Jugendlicher kommt höchstwahrscheinlich nur sehr selten mit fundiertem religiösen Wissen oder Ritualen in Kontakt. Neben dem Ethikunterricht, jedoch bleiben zum einen etliche besondere Ereignisse (Rituale) in der Gemeinschaft (Taufe, Kommunion/Konfirmation, Messe etc.) vorenthalten und zum anderen fehlt ein Konzept, dass Fragen zum Sein nach dem Tod sowie zum Übermenschlichen beantwortet. Da sich Religion und Gottesvorstellungen in beinahe allen Kulturen und Gesellschaften und teilweise sogar unabhängig voneinander entwickelt haben, kann man davon ausgehen, dass jeder Mensch sich früher oder später im Leben einmal diese Fragen stellt.[14] Zudem setzen viele Soziologen den Begriff „Religion“ unter psychologischen Aspekten durchaus dem Begriff „Heimat“ gleich. So entwickelt sich laut Linus Hauser, aus der immensen Wahlmöglichkeit des individuellen Lebenslaufes und der Pluralität der Lebensformen eine Art „Heimatlosigkeit im Kosmos“.[15]
Daraus resultiert eine Sehnsucht nach Mystik, Magie und Helden, die in Abwesenheit von Religiosität anderweitig gestillt werden will.
2.2.3 Qualitative Entwicklung der Religiösen
Wie gerade schon erläutert, sank die Zahl der Christen in Deutschland extrem ab. Nun möchte ich überprüfen, wie gläubig die restlichen Christen noch sind.
In der Shell-Jugendstudie 2010 wurden Jugendliche zwischen 12 und 25 Jahren über ihre Grundhaltungen zu bestimmten Themen befragt. Unter anderem auch zum Thema Religiosität. So wurden sie 2010, wie schon zuvor 2002 und 2006 gefragt, ob Gott in ihrem Leben eine besonders wichtige Rolle spielt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Bei den Katholiken fällt auf, dass ein gutes Drittel den Glauben im Leben als unwichtig einstufen. Diese Zahl ist im Vergleich zu 2002 sogar noch etwas angestiegen. Nur rund 44% schätzen den Glauben als wichtig ein, was noch einmal 6% weniger sind als 2002. Bei den Evangelischen ist dies sogar noch etwas extremer. Nur 39% geben an, den Glauben als wichtig zu empfinden. Jedoch ist dieser Wert im Vergleich zu 2002 um einen Prozentpunkt gestiegen. Am erstaunlichsten an dieser Tabelle ist jedoch, dass die Jugendlichen der anderen Religionen eine wesentlich intensivere Bindung zum Glauben haben. So schätzten 2010 rund 76% ihren Glauben als wichtig und nur 12% als unwichtig ein. Zudem gaben 51% den höchsten Skalenwert („außerordentlich wichtig“) an. Bei den Christen waren das hingegen jeweils nur 12%.[16]
Der Trend bei den jugendlichen Christen ist klar erkennbar und führt sie immer weiter weg vom traditionellen Glauben. Dies zeigt sich auch aus kirchensoziologischen Untersuchungen. So sinken die Besucherzahlen der Gottesdienste, kirchliche Rituale in der Familie werden weniger und der Abstand zu zentralen kirchlichen Aussagen nimmt zu.[17] Diese Enttraditionalisierung bedeutet jedoch nicht, dass Heranwachsende derzeit schlicht das Interesse an Religion an sich verlieren, sondern diese gegenwärtig eher in anderen Formen suchen und finden. So zählt Boschki als „Religiöse Phänomene der Gegenwart“[18] unter anderem auf, dass eine neue Suche nach Spiritualität erkennbar sei, die sich auch in einem Boom an spiritueller Ratgeber oder an der neuen Beliebtheit von Pilgerwegen zeigt. Weiter zählt er die esoterischen Strömungen auf, die sich in Unmengen an angebotenen Kursen oder Artikeln (z.B. bei Astro-TV) äußern.
2.2.4 Individualisierung und Pluralisierung der Lebensräume
Eine weitere Besonderheit unserer derzeitigen Gesellschaft und weitere Ursache des Bedeutungsverlusts von Religionen ist die Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen. Laut Ulrich Beck, einem der Begründer dieser Theorie, führte die Modernisierung zu einer dreifachen „Individualisierung“: „Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge (,,Freisetzungsdimension"), Verlust von traditionellen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen (,,Entzauberungsdimension") und - womit die Bedeutung des Begriffs gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt wird - eine neue Art der sozialen Einbindung (,,Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension"). “[19] Die Pluralisierung, kommt vom Wort „Plural“ (= Mehrzahl), und meint zum einen, eine Zunahme an Möglichkeiten, seinen individuellen Lebensentwurf zu leben, der durch etliche Optionen verändert werden kann. Zum anderen entwickeln sich etliche Lebensbereiche, wie Bildung, Freizeit und Medien immer weiter, werden komplexer und können zu „Unübersichtlichkeits- und Ohnmachtserfahrungen“ bei Menschen führen.[20]
Dies alles führt dazu, dass jeder sein Leben selbst zusammensetzen und gestalten kann wie er möchte. Beruf, Wohnort oder Familienform – alles kann und muss entschieden und ausgewählt werden. Dennoch ist zu erwähnen, dass es keine absolute Wahlfreiheit bzw. Freiheit an sich gibt.[21] Alle Entscheidungen sind immer an andere Faktoren und Parameter, wie Wohnraum oder Arbeitsplätze gekoppelt. Diese Freiheit zu wählen, zeigt sich selbstverständlich auch in den Religionen. Diese wird nicht mehr einfach von den Eltern vererbt, sondern wird auch, je nach momentanem Lebensentwurf gesucht und gewählt. Oft nur phasenweise, was zu lockeren bis gar nicht existenten Beziehungen in Gemeinschaften führt.
2.3 Entwicklungspsychologische Perspektive
2.3.1 Entwicklungsaufgaben der Jugendlichen
Der amerikanische Wissenschaftler Robert J. Havighurst (1900-1991) geht aus entwicklungspsychologischer Sicht davon aus, dass in jeder Lebensphase, die man als Mensch durchlebt, unterschiedliche Aufgaben, Themen oder Herausforderungen anstehen. Die Auseinandersetzung und Lösung dieser sogenannten Entwicklungsaufgaben bringen dann Kompetenzen und Fähigkeiten mit sich, die für die nächsten Lebensphasen von Bedeutung sind.[22] Das deutsche Wissenschaftler - Ehepaar Dreher hat dieses Model auf deutsche, sowie zeitgemäße Anforderungen abgeändert.
Entwicklungsaufgaben im Jugendalter
PEERS: einen Freundeskreis aufbauen
KÖRPER: Veränderungen des Körpers akzeptieren
ROLLE: sich mit der Rolle als Mann oder Frau auseinandersetzen
BEZIEHUNG: enge Beziehung zu einem Freund/Freundin aufbauen
ABLÖSUNG: anfangen, sich von den Eltern abzulösen
BERUF: sich über Ausbildung/Beruf Gedanken machen
PARTNERSCHAFT/FAMILIE: Vorstellungen entwickeln, wie man eigene Partnerschaft/Familie gestalten möchte
SELBST: sich selbst kennen lernen, Klarheit über sich gewinnen
WERTE: eigene Weltanschauung entwickeln
ZUKUNFT: Zukunftsperspektive entwickeln: Leben planen, Ziele ansteuern
Wie man in diesen Entwicklungsaufgaben sieht, dreht sich die Jugendphase stark um die Bildung erster (Lebens-)Ansätze, wie etwa eine eigene Weltanschauung, also persönlicher Vorstellungen und Sichtweisen auf das Leben, oder auch über sich selbst Klarheit zu gewinnen, also Stärken/Schwächen eingestehen und Ziele und Werte im Leben zu definieren. Konstrukte außerhalb von Religion, die diese Dinge thematisieren, gewinnen jetzt extrem an Bedeutung.
2.3.2 Psychosoziale Krisen der Adoleszenz
Ein weiteres interessantes Entwicklungsmodell stammt von Erik H. Erikson, einem deutsch-amerikanischem Psychoanalytiker. Erikson hat ebenfalls ein altersbezogenes Schema entwickelt. Hierin geht er davon aus, dass Krisensituationen spezifische Entwicklungsaufgaben enthalten und deren Lösungen, ähnliche wie im vorangegangenen Modell, einen Reifungsfortschritt ermöglichen:[23]
Identität durch Bewältigung von Lebenskrisen (Erikson)[24]
Lebensphase: zu bewältigende psycho-soziale Krise
Säuglingsalter Urvertrauen vs. Misstrauen
Kleinkind Autonomie vs. Scham und Zweifel
Schulalter Initiative vs. Isolierung
Adoleszenz Identität vs. Identitätsdiffusion
Frühes Erwachsenenalter Intimität vs. Isolierung
Erwachsenenalter Generativität vs. Selbst-Absorption
Reifes Erwachsenenalter Integrität vs. Lebens-Ekel
Relevant für diese Arbeit sind hauptsächlich die Lebensphasen der Adoleszenz, sowie teilweise die des frühen Erwachsenenalters. In der Adoleszenz-Phase hinterfragen die Jugendlichen sich selbst, sowie ihre Identität. Eine Auseinandersetzung und Infragestellung der Bezugspersonen, sowie die Stellungen innerhalb von Gruppen prägen diese Zeit. Falls zu wenig Selbstvertrauen und positive Erfahrungen vorhanden sind, kann dies zu einer Identitätsdiffusion (lat.; das Auseinanderfließen, Zersplitterung des Selbstbildes) führen. Diese wiederum führt oftmals zu einer Suche nach Gruppen und Konzepten mit klaren Regeln, um sich dieser unterzuordnen.[25] Diese werden dann häufig in neuen Freundeskreisen, Sportvereinen oder Fanclubs gesucht.
2.3.3 Identitätsentwicklung
Zuerst wird geklärt, was Identität überhaupt ist, und wie sie sich entwickelt. Danach werde ich zeigen, dass auch Medien einen großen Anteil an der Identitätsentwicklung haben. Und als letzten Punkt werde ich die religiöse Identitätsentwicklung genauer betrachten.
2.3.3.1 Allgemeine Aspekte
Um zu verstehen, wie sich jugendliche Moral- und Religionsorientierung vollzieht, muss man, wie gerade schon angedeutet, die Identitätsentwicklung der Heranwachsenden berücksichtigen. Doch was ist Identität? Der deutsche Theologe Reinhold Boschki meint das Fragen wie: „Wer bin ich?“,„Was gehört zu mir?“,„Was ist mir wichtig?“,„Was kann ich?“,„Wo sind meine Stärken und Schwächen?“,„Wo gehöre ich dazu?“, als typische Fragen nach der eigenen Identität gewertet werden können.[26] Der Theologe und Erziehungs- und Sozialwissenschaftler Hans-Georg Ziebertz erklärt zudem, dass „(...) Identität auf einer Balance zwischen Selbstbild und Fremdbild beruht und, dass diese Balance permanent in und durch Interaktion hergestellt werden muss.“[27] Dies bedeutet also, dass soziale Kontakte und Beziehungen essenziell für die Prägung einer eigenen Identität sind. Jedoch wird genau dieser Prozess der Identitätsfindung in Gruppen, durch die Pluralisierung der Lebensformen (= eine Vervielfältigung der möglichen Lebensformen) immens erschwert. So gab es für vorangegangene Generationen eine relativ überschaubare Anzahl an Möglichkeiten, die Jugendzeit auszuleben und Menschen wurden mehr oder weniger in ihre Identitäten hineingeboren. Heute hingegen müssen Jugendliche aus einem gigantischen Angebot einzelne, passende Elemente aussuchen und diese so kombinieren, dass ein subjektiv sinnvoller Zusammenhang entsteht.[28] Da sich das Selbstbild verändert, müssen die zu Beginn gestellten Fragen (s.o.) regelmäßig neu gestellt und beantwortet werden[29]. Daher folgert Boschki, dass Identität keine feststehende Größe ist, sondern ein „dynamischer und lebenslanger Prozess“(ebd).
Weiter geht Boschki davon aus, dass die heutige Jugendkultur vier prägende Kennzeichen hat, die sich allesamt auf die Identitätsfindung auswirken:
Pluriformität:
Man kann laut dieser Annahme also nicht von einer Jugendkultur sprechen, sondern muss von vielen verschiedenen Jugendkulturen wie Schul- und Bildungsjugend, arbeitsferne Jugend, Multi-Media-Jugend, Patchworkjugend, ego-ethnozentrische Jugend[30] etc. ausgehen.
Ambivalenz der Jugendzeit:
In diesem Punkt geht Boschki auf die Shell-Jugendstudie von 2002 ein. Dort wurde nämlich zum einen festgestellt, dass Jugendliche relativ optimistisch in die Zukunft blicken, andererseits sehen sie die globale Zukunft jedoch eher düster.
Ambivalenz als Suchprozess:
Damit ist gemeint, dass die Jugendphase eine Zeit der Suche ist. Man sucht nach den unterschiedlichsten Dingen, wie Beziehungen und Lebensentwürfen. Man probiert in dieser Phase auch sehr viel aus, auf der Suche zu sich selbst.
Beziehungsorientierung:
Unter Beziehungsorientierung ist hierbei die zu beobachtende hohe Konnexität[31] der Heranwachsenden zu verstehen. Die Beziehungswelt gewinnt durch ständige Verbundenheit via SMS, Email, Chat und Handy stetig an Bedeutung und beeinflusst dabei natürlich auch unsere Identität.
Betrachtet man diese Kennzeichen genauer, fällt auf, dass die Identitätsentwicklung ein sehr komplexer und durchaus anstrengender Vorgang für die Heranwachsenden ist.
2.3.3.2 Mediale Einflüsse auf die Identitätsentwicklung
Doch auch die Medien tragen einen bedeutenden Anteil zur Identitätsentwicklung bei. So müssen Jugendliche, um Identität zu entwickeln, verschiedene Erfahrungsfragmente so miteinander verknüpfen, dass ein subjektiv sinnvoller Zusammenhang entsteht.[32] Diese Verknüpfungsarbeit findet täglich statt. Und vor allem in Bezug auf Rollenidentitäten, also einem Schnittpunkt von Persönlichkeit und Gesellschaft, worin ein bestimmtes Handeln bzw. eine Einfügung in eine bestimmte Rolle sichtbar ist oder gar erwartet wird (z.B. Schule, Partnerschaft)[33], wird oftmals kopiert und nicht selbst vollzogen.
Dies wird im Sozialraum Schule sehr gut sichtbar. So ist das Schüler-Lehrer-Verhalten seit Jahrzehnten beinahe identisch. Kaum ein Schüler würde dieses Verhältnis, wenn auch nicht zum eigenen Selbstbild passend, komplett überwerfen und einfach neu entwickeln. So greift das Individuum bei der Identitätsentwicklung also stark auf externe Anregungen zurück. Und diese werden auch zu einem beeindruckenden Teil durch die Medien geliefert. Als interessantes Beispiel würde ich hier die Daily-Soap „Gute Zeiten, Schlechte Zeiten“ anführen, die seit nunmehr 16 Jahren, in über 5500 Sendungen und 2200 Stunden[34] zu einer exzellenten Sendezeit auf RTL läuft und täglich von durchschnittlich 3,5 Millionen Zuschauern eingeschalten wird. Die in der Sendung behandelten, meist familiären Themen wie Beziehung, Liebe, Betrug und Freundschaft, tragen zur Identität des Zuschauers bei. Vor allem dann, wenn diese Themen im eigenen Leben eine geringe Rolle spielen (z.B. geschuldet durch zerrüttete Familien oder alleinerziehende Eltern). Ich würde sogar soweit gehen zu behaupten, dass eben solche langewährenden, zwischenmenschlichen, aber unechten Beziehungen von Jugendlichen aktiv gesucht werden. Das bietet augenscheinlich eine wesentliche tiefere Beziehung zu Protagonisten, als bei normalen Filmen oder Romanen. Dies ist auch bei den „Harry Potter“ Filmen/Romanen, durch acht Filmen bzw. 7 Büchern eindeutig gegeben.
Zum anderen üben die Medien einen hohen Einfluss auf die soziale Anerkennung aus. So ist es dem Subjekt extrem wichtig, Feedback zur präsentierten Identität zu bekommen,[35] um sich weiterentwickeln zu können. Dies kann nur durch Kommunikation und Beziehungen mit anderen Menschen erfolgen, und diese wiederrum benötigen intensive Beziehungsarbeit, um sie aufzubauen und aufrecht zu erhalten.[36] Oftmals weichen Jugendliche (gewollt oder ungewollt) solchen aufwändigen Beziehungsarbeiten aus und eignen sich soziales Verhalten aus Medieninhalten an. So können angeeignete Medieninhalte ein „erweitertes indirektes, wenngleich zu einem gewissen Teil fiktives Sozialkapital sein“[37]. Der Aspekt der sozialen Anerkennung durch Medien wird aber noch um eine Dimension erweitert. Nämlich, wenn Inhalte aus Funk und Fernsehen in die Kommunikation der Subjekte einfließen und thematisiert werden. Vor allem bei Jugendlichen zu Beginn der Pubertät ist diese soziale Anerkennung notwendig. So ist es sehr wichtig, bestimmte Sendungen und Filme (meist aktuell) zu kennen, um in den Freundeskreisen mitreden und sich einbringen zu können.
Nachdem wir die Identitätsentwicklung genauer betrachtet haben, können wir festhalten, dass die Lebensphase Jugend eine besonders wichtige und komplexe Phase der Identitätsentwicklung ist, dass Gruppen und andere Beziehung essenziell für die richtige Entwicklung sind und, dass Medien die Identitäten mitprägen und sogar von Jugendlichen bewusst konsumiert werden, um weitere soziale Kontexte aufzunehmen aber auch um Defizite (wie zu wenig Freunde, schlechtes familiäres Umfeld) zu kompensieren.
[...]
[1] Vgl. http://www.global-ethic-now.de/gen-deu/lexikon/daten/inhalt_00.php?show1=s&show2=604 (26.07.2014)
[2] http://www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verhaeltnisse-eine-sozialkunde/138614/saekularisierung-und-die-rueckkehr-der-religion (13.07.2014).
[3] ebd.
[4] Vgl. Boschki 2008, S. 51 f.
[5] Dinter/Söderblom 2010, S. 9 f.
[6] Pollack 2003, S. 1.
[7] Pollak 2009, S. 27.
[8] Vgl. Boschki 2008, S. 53; Dinter/Söderblom 2010, S. 9.
[9] Vgl. Dinter/Söderblom 2010, S. 9.
[10] http://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Religionszugehoerigkeit/Religionszugehoerigkeit_Bevoelkerung_1970_2011.pdf (26.07.2014).
[11] ebd. und: http://www.dbk.de/zahlen-fakten/kirchliche-statistik/ (13.07.2014).
[12] Shell Jugendstudie 2010, S. 204.
[13] http://www.statistik.at/web_de/static/bevoelkerung_nach_dem_religionsbekenntnis_und_bundeslaendern_1951_bis_2001_022885.pdf und: http://www.katholisch.at/site/kirche/article/102078.html (26.07.2014).
[14] http://www.deutschlandfunk.de/warum-haben-alle-kulturen-eine-religion-entwickelt.1148.de.html?dram:article_id=180467 (27.07.2014).
[15] Hauser 2005, S. 7.
[16] Shell Jugendstudie 2010, S. 205.
[17] Vgl. Boschki 2008, S. 55.
[18] Vgl. Boschki 2008, S. 56.
[19] Beck 1986, S. 206 f.
[20] Vgl. Boschki 2008, S. 53 f.
[21] ebd. S. 54 f.
[22] Boeger, Annette (2014): Kindheit und Jugend / Einführung (Vorlesungsskript) - online: http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-10161/Einfuehrung_%20Jugendalter.pdf (19.07.14).
[23] Vgl. Hilger 2005, S. 125.
[24] Eriksson 1977, S. 72 .
[25] Stangl, Werner (2011): Phasen der psychosozialen Entwicklung nach Erik Homburger Erikson. Abrufbar: http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/PSYCHOLOGIEENTWICKLUNG/EntwicklungErikson.shtml (14.07.2014).
[26] Vgl. Boschki. 2008. S. 64 f.
[27] Ziebertz. 2005. S. 127.
[28] Vgl. Boschki, 2008. S. 65 f.
[29] Vgl. Keupp 2002. S. 23.
[30] Ferchhoff 2007, S. 286 f.
[31] Hilger 2004, S.165 f.
[32] Vgl. Oetliker, Franziska (2003): Die Rollentheorie J.L. MORENOS im Vergleich der postmodernen Identitätskonzeption von H. KEUPP – online: http://zrm.ch/images/stories/download/pdf/wissenschftl_arbeiten/seminararbeiten/seminararbeit_oetliker_20030701.pdf (20.07.2014).
[33] Vgl.http://www.eh-darmstadt.de/fileadmin/user_upload/lehrende/Schwinger/Rollenbegriff.pdf (20.07.2014) S. 3.
[34] Vgl. http://www.fernsehserien.de/gute-zeiten-schlechte-zeiten (22.07.2014).
[35] Würfel/Keilhauser 2009, S. 103 f.
[36] Vgl. Kneupp (2005) S. 11 f.
[37] Kneupp (2002), S. 205.
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2014
- ISBN (PDF)
- 9783958207950
- ISBN (Paperback)
- 9783958202955
- Dateigröße
- 989 KB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Februar)
- Note
- 2,7
- Schlagworte
- Messias Jesus Jugendkultur Religionspädagogik Soziologie