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Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII: Chancen und Grenzen multiprofessioneller Kooperation zwischen Jugendamt und Kinder- und Jugendpsychiatrie

©2014 Bachelorarbeit 46 Seiten

Zusammenfassung

Aufgrund der weitreichenden Kompetenzen, der interdisziplinären und multiprofessionellen Beteiligung im Hilfeverfahren sowie der rechtlich unklar definierten Rolle der SozialpädagogenInnen genießt die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche vielerorts in der Jugendhilfe noch Respekt – auch nach der mittlerweile 21-jährigen Existenz.
Die Fachkraft im Jugendamt muss daher über weitreichende Kompetenzen, nicht nur in der Sozialen Arbeit, sondern ebenso in den Bezugsdisziplinen wie der Psychologie, Psychiatrie und der Rechtswissenschaft verfügen. Nur durch das Zusammenführen von entwicklungspsychologischem Wissen, der Entstehung und der Ursachen von psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter sowie der Wirkung der Klientel im gesellschaftlichen, psychosozialen Umfeld kann den Entstehungsfaktoren einer seelischen Behinderung entgegengewirkt werden und können Ressourcen in der Hilfeplanung der Eingliederungshilfe genutzt werden.
Dieses Buch richtet sich aufgrund der Multiprofessionalität und Interdisziplinarität neben dem Bereich des Jugendamtes ebenso für die Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie für die Schule.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Einleitung und Relevanz der Thematik

Die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche ist eine Hilfe, bei der die Rollenausgestaltung der Sozialen Arbeit in der Jugendhilfe oft weniger klar und intransparent ist.

Aufgrund der weitreichenden Kompetenzen, der interdisziplinären und multiprofessionellen Beteiligung im Hilfeverfahren sowie der rechtlich unklar definierten Rolle der SozialpädagogenInnen genießt die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche vielerorts in der Jugendhilfe noch Respekt – auch nach der mittlerweile 21-jährigen Existenz.

Laut rechtlicher Vorschrift des § 35a SGB VIII besteht im Hilfeverfahren eine zweigeteilte Diagnostik. Die nicht der gesellschaftlichen Normativität entsprechende seelische Beeinträchtigung des Kindes oder Jugendlichen wird durch eine Stellungnahme seitens Kinder- und JugendlichenpsychotherapeutenInnen oder -psychiaterInnen, eingeschätzt und festgestellt. Die aus dieser diagnostizierten (drohenden) Abweichung der seelischen Gesundheit resultierende psychosoziale Teilhabebeeinträchtigung der Klientel beurteilen die SozialpädagogenInnen in der Jugendhilfe, wodurch der Leistungstatbestand zur Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche gemäß § 35a SGB VIII erfüllt und die Hilfe gewährt wird. Diese Trennung erweist sich in der Praxis jedoch häufig keineswegs als trivial.

Die unbestimmten Rechtsbegriffe im Gesetzestext des § 35a SGB VIII, der „Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft“ und der „Abweichung der seelischen Gesundheit, die mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate vom für das Lebensalter typischen Zustand anhält“, gilt es in sozialpädagogischer Kompetenz auszulegen, was den Leistungstatbestand zur Gewährung einer Eingliederungshilfe erfüllt.

Die Fachkraft im Jugendamt muss daher über weitreichende Kompetenzen, nicht nur in der Sozialen Arbeit, sondern ebenso in den Bezugsdisziplinen wie der Psychologie, Psychiatrie und der Rechtswissenschaft verfügen. Nur durch das Zusammenführen von entwicklungspsychologischem Wissen, der Entstehung und der Ursachen von psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter sowie der Wirkung der Klientel im gesellschaftlichen, psychosozialen Umfeld kann den Entstehungsfaktoren einer seelischen Behinderung entgegengewirkt werden und können Ressourcen in der Hilfeplanung der Eingliederungshilfe genutzt werden.

Indes ist „Seelische Behinderung […] keine ärztliche Diagnose, sondern der Begriff meint die sozialrechtlich relevante Feststellung, [sic!] daß ein Mensch aufgrund einer psychischen Störung oder Erkrankung an seiner Teilnahme am gesellschaftlichen [sic!] Prozeß, d.h. an seiner Eingliederung, behindert wird“.[1]

Psychische Störungen wirken bei jedem Betroffenen in unterschiedlichem Ausmaß und in unterschiedlichen Lebensbereichen. Die Generierung der Eingliederungshilfe muss daher immer individuell gesteuert werden. Die Auswirkungen von seelischen Behinderungen sind gerade im Kindes- und Jugendalter äußerst prägend. Während eine Behinderung seelischer Art bei Erwachsenen auf eine ausgebaute Persönlichkeitsstruktur trifft, wirkt diese im Kindesalter oder in der Adoleszenz auf eine höchst instabile, gerade im Entstehungs- und Ausbauprozess befindliche Persönlichkeit, die durch eine seelische Behinderung vulnerabel beeinflusst wird. Somit kann eine Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung nicht nur auf Teilgebiete beschränkt werden, sondern diese muss die individuellen Gesamtbedürfnisse der Heranwachsenden einbeziehen.[2] „Es handelt sich ja auch bei Kindern nicht um eine Rehabilitation, sondern um eine „Habilitation“, d.h. um den Erwerb von Fähigkeiten und nicht um den Wiedererwerb derselben“.[3]

Die globale Kompetenz, über die eine Fachkraft in der Jugendhilfe zur Installation einer Eingliederungshilfe nach dem SGB VIII, unter Einbezug von Nachbardisziplinen, verfügen muss, stellt oftmals eine Herausforderung dar. Dieser Herausforderung, der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche, welche in der Fachliteratur oftmals eine Lücke darstellt, soll unter Anbetracht der Aufgaben (-abgrenzung) von Kinder- und Jugendpsychiatrie, Jugendhilfe und der Institution Schule als Exkurs im Rahmen der Inklusion einerseits, und deren gelingendem Zusammenspiel andererseits, in der Bachelor-Thesis unter interdisziplinärem Einbezug begegnet werden und vor allem als Hürde abgebaut werden.

Im Jahr 2008 wurden bundesweit 30626 Eingliederungshilfen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche gewährt. Bereits im Folgejahr 2009 stieg die Zahl der Gewährungen auf 35244 Eingliederungshilfen, was eine Steigerung von 13 Prozent in lediglich einem Jahr bedeutet. 2012 wurden insgesamt 46992 Eingliederungshilfen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche gewährt, was, verglichen mit den Gewährungsbescheiden von 2008, eine Steigerung von 34,83 % innerhalb von fünf Jahren bedeutet.[4]  Eine kontinuierliche und keineswegs zu ignorierende jährliche Steigerung der Inanspruchnahmen von Eingliederungshilfen seelisch behinderter Kinder und Jugendlicher verdeutlicht die Notwendigkeit dieser Hilfeform.

Vergleicht man die Zahl der Gewährungsbescheide zwischen Eingliederungshilfen mit jenen der Erziehungsbeistandschaft oder Erziehung in Tagesgruppen, so werden erstgenannte Leistungen häufiger gewährt als solche genannten Hilfen zur Erziehung, was die steigende Relevanz von Eingliederungshilfen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche deutlich hervorhebt. Die Schwierigkeit, die diese Hilfe sowohl in der Auslegung der Rechtsnorm, als auch in der Durchführung mit deren Kooperationspartnern birgt, bestätigt abermals die Relevanz der Thematik und verweist zugleich auf die Wichtigkeit einer Auseinandersetzung mit der Eingliederungshilfe für SozialpädagogenInnen und SozialarbeiterInnen in den Allgemeinen Sozialen Diensten der Jugendhilfebehörden.[5]

Nachfolgende Abbildungen (Abb. I u. II) zeigen die bundesweiten Anstiege von Eingliederungshilfen seelisch behinderter Kinder und Jugendlich jeweils am Jahresende von 2008 bis 2012.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. I.[6]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. II.[7]

Folgende Forschungsfragestellung soll in der Ausarbeitung dieser Bachelor-Thesis nachgegangen werden:

Ist das Jugendamt dafür qualifiziert, die Zuständigkeit für Eingliederungshilfen psychischer Störungsbilder, vielmehr einer seelischen Behinderung im Kindes und Jugendalter, zu übernehmen und geeignete Hilfen für diese Klientel auf Grundlage sozialpädagogischer Expertise zu installieren?

In dieser Arbeit werden zunächst historische Bezüge zur Einordnung der Eingliederungshilfe in früheren gesetzlichen Regelungen dargestellt, bevor der Gesetzestext inklusive der Verweise  in aktueller Fassung ausgelegt wird.

Die Begriffe der „Abweichung der seelischen Gesundheit, die mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate vom für das Lebensalter typischen Zustand anhält“ sowie der „Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft“ sind keineswegs eindeutig und verweisen auf das Neunte sowie das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch, was die Ausgestaltung der Eingliederungshilfe erschwert.

Nach der Auslegung obiger unbestimmter Rechtsbegriffe, die die Tatbestandsvoraussetzung für die Leistung der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII darstellen, werden die psychischen Störungsbilder erläutert, welche bei einer auftretenden Chronizität und damit verbundener mangelnder Partizipation folglich zur seelischen Behinderung führen können.

Die Kooperation zwischen Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie dient zur Feststellung der Abweichung der seelischen Gesundheit und der Teilhabebeeinträchtigung, woraus eine seelische Behinderung folgt, sowie zu späterem Zeitpunkt zu einer Hilfesteuerung im multiprofessionellen Team. Der Weg, indem die Jugendhilfebehörde eine Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft feststellen kann, wird im Rahmen der Psychosozialen Diagnostik vertieft. Studien und Datenmaterial, wie der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey zur psychischen Gesundheit junger Menschen des Robert-Koch-Instituts, aber auch der 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung geben dieser wissenschaftlichen Arbeit die nötige empirische Brisanz.

Eine kritische Darstellung und Hinterfragung der in dieser Arbeit benannten Inhalte findet ebenso statt, bevor diese auf Grundlage der Forschungsfragestellung resümiert wird.

Es wird an dieser Stelle der wissenschaftlichen Arbeit ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Begriffe, wie „Behinderung“ und „seelisch behinderte Kinder und Jugendliche“ ausschließlich benutzt werden, da diese aus dem  rechtlichen Kontext des § 35a SGB VIII resultieren und bei terminologischer Veränderung möglicherweise Verwirrung hervorgerufen werden könnte, was nicht das Ziel ist. Die Behinderungsbegriffe, die hier der Eindeutigkeit halber als solche verwendet werden, jedoch lediglich eine Abweichung der normativen Gesundheit darstellen, stellen keineswegs eine Abwertung gegenüber den Menschen, die in dieser Arbeit gemeint sind, dar. Zugleich wird aufgrund der Vermeidung von Diskriminierung und des einfacheren Leseflusses das weibliche sowie das männliche Geschlecht in einem Wort verschriftlicht und durch ein großgeschriebenes „i“ getrennt (bspw.: KlientenInnen, SozialarbeiterInnen, SozialpädagogenInnen).

Um immer direkt auf den Gesetzestext zurückgreifen zu können, wird dieser hier dargestellt:

§ 35a  SGB VIII Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche [8]

(1) Kinder oder Jugendliche haben Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn

1. ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und
2. daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.

Von einer seelischen Behinderung bedroht im Sinne dieses Buches sind Kinder oder Jugendliche, bei denen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. § 27 Absatz 4 gilt entsprechend.

(1a) Hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Stellungnahme

1. eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie,
2. eines Kinder- und Jugendpsychotherapeuten oder
3. eines Arztes oder eines psychologischen Psychotherapeuten, der über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfügt,

einzuholen. Die Stellungnahme ist auf der Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten in der vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information herausgegebenen deutschen Fassung zu erstellen. Dabei ist auch darzulegen, ob die Abweichung Krankheitswert hat oder auf einer Krankheit beruht. Die Hilfe soll nicht von der Person oder dem Dienst oder der Einrichtung, der die Person angehört, die die Stellungnahme abgibt, erbracht werden.

(2) Die Hilfe wird nach dem Bedarf im Einzelfall

1. in ambulanter Form,
2. in Tageseinrichtungen für Kinder oder in anderen teilstationären Einrichtungen,
3. durch geeignete Pflegepersonen und
4. in Einrichtungen über Tag und Nacht sowie sonstigen Wohnformen geleistet.

(3) Aufgabe und Ziel der Hilfe, die Bestimmung des Personenkreises sowie die Art der Leistungen richten sich nach § 53 Absatz 3 und 4 Satz 1, den §§ 54, 56 und 57 des Zwölften Buches, soweit diese Bestimmungen auch auf seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Personen Anwendung finden.

(4) Ist gleichzeitig Hilfe zur Erziehung zu leisten, so sollen Einrichtungen, Dienste und Personen in Anspruch genommen werden, die geeignet sind, sowohl die Aufgaben der Eingliederungshilfe zu erfüllen als auch den erzieherischen Bedarf zu decken. Sind heilpädagogische Maßnahmen für Kinder, die noch nicht im schulpflichtigen Alter sind, in Tageseinrichtungen für Kinder zu gewähren und lässt der Hilfebedarf es zu, so sollen Einrichtungen in Anspruch genommen werden, in denen behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam betreut werden.

1.1 Historie von seelischer Behinderung und Eingliederung

In den früheren Jahrhunderten wurde der Begriff der „Behinderung“ immer mit einer körperlichen Dysfunktion assoziiert. Schon in der jüngeren Geschichte wurde das Ausmaß von körperlichen Behinderungen, Entstellungen und Missbildungen klassifiziert und eingestuft.[9]

Im Zeitraum der Industrialisierung wurden geistige Behinderungen, die damals „Schwachbegabungen“ genannt wurden, bekannt. Eine seelische Behinderung ist die jüngste Kategorie der Behinderungen, die erst erkannt wurde, als die Menschen herausfanden, dass  psychische Defizite mit erhaltener geistiger und körperlicher Fähigkeit einhergehen können. Die Ursachen für solche psychischen Dysfunktionen, früher als „Psychopathen“ oder „Schwachsinnige“ mit diffizilen, gar schlechten Erbanlagen ausgegrenzten Menschen, war lange unbekannt.[10]

Blickt man in die Historie der Eingliederungshilfe seelischer Behinderung von Kindern und Jugendlichen zurück, so wurde diese bis 1991 im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) geregelt. Mit Inkrafttreten des Achten Buches Sozialgesetzbuch (Kinder- und Jugendhilfegesetzbuch), dem SGB VIII, im gleichen Jahr hatte die Jugendhilfe Vorrang für die Eingliederungshilfe von seelisch behinderten Kindern und Jugendlichen, wobei es sich damals um eine triviale Formulierung handelte und zusammen mit den Hilfen zu Erziehung im § 27 SGB VIII erbracht wurde.[11]

Der § 35a wurde 1993 als eigener Leistungstatbestand im SGB VIII implementiert und ist seit 2005 mit heutiger Formulierung als eigener Leistungstatbestand in der Jugendhilfe integriert. Zum 01.07.2001 wurde der zweigliedrige Behinderungsbegriff des Neunten Buches Sozialgesetzbuch mit dem „Gesetz zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“ ebenso für die Eingliederungshilfe der seelisch behinderten jungen Menschen nach Achtem Buch Sozialgesetzbuch übernommen.[12] Seitdem beurteilen SozialpädagogenInnen in multiprofessioneller Zusammenarbeit mit PsychologenInnen, Kinder- und JugendlichenpsychotherapeutenInnen und –psychiaterInnen die Erfüllung des Leistungstatbestandes.

2. Rechtsvoraussetzungen für Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII und Nebengesetzen

Zunächst - aufgrund der Besonderheit halber zu erwähnen ist - dass die Anspruchsberechtigung bei Maßnahmen der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche, entgegen der bei den Hilfen zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII Personensorgeberechtigte Person, eben dem jungen Menschen selbst obliegt.[13] Das heißt, die Eingliederungshilfe erhält das junge Individuum selbst, die Hilfen zur Erziehung richten sich jedoch an die Inhaber der Personensorge.[14] „Mit Vollendung des 15. Lebensjahrs erlangen die Jugendlichen allgemeine sozialrechtliche Handlungsfähigkeit nach § 36 SGB I und können Leistungen der Eingliederungshilfe selbst beantragen und entgegennehmen […]“,[15] was jedoch das den Personensorgeberechtigten obliegende Aufenthaltsbestimmungsrecht hinsichtlich stationärer Hilfen nicht außer Kraft setzt.

Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe hat, sofern der Tatbestand einer Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII erfüllt ist, kein Ermessen, ob dieser die Hilfe leistet, oder nicht.[16] Er hat lediglich bei der Ausgestaltung oder Bedarfsbemessung der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche Spielraum.

Der § 35a des Achten Buches Sozialgesetzbuch richtet sich lediglich an Kinder und Jugendliche, welche eine seelische Behinderung beziehungsweise eine drohende seelische Behinderung aufweisen. Junge Menschen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen erhalten hingegen Leistungen aus dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, also nicht seitens der Jugendhilfe. Die §§ 53 ff. des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch regeln die Hilfen für Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung (sowie für Erwachsene mit seelischer Behinderung), wobei hier eine Definition zu finden ist, welche ebenso den Behinderungsbegriff der seelischen Behinderung von Kindern und Jugendlichen zu erklären vermag. § 35a Abs. 3. SGB VIII verweist bezüglich Aufgaben, Zielen sowie Leistungsart der Hilfe und dem entsprechenden Personenkreis dieser auf § 53 Abs. 3, 4 Satz 1, §§ 54, 56, 57 SGB XII.[17]

Installiert der Träger der öffentlichen Jugendhilfe eine Eingliederungshilfe, so tritt dieser zugleich als Rehabilitationsträger auf, da Maßnahmen nach § 35a SGB VIII immer im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 6 SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - durchgeführt werden.[18]

Im Rahmen der Frühförderung und Früherkennung wird der Jugendhilfeträger nach § 30 SGB IX in Verbindung mit der Frühförderungsverordnung und auf Grundlage der oben genannten Rechtsnormen, welche sich aus dem Neunten sowie dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch ergeben, an die Koordination sogenannter Komplexleistungen für Kinder und Jugendliche mit einer seelischen oder drohenden seelischen Behinderung ebenso zur Koordination der Leistungen gebunden. Solche Komplexleistungen medizinisch-rehabilitativer oder heilpädagogischer Art scheinen keineswegs dem Aufgabenspektrum der Jugendhilfe zu obliegen, sondern diesem der Sozialhilfe und der Krankenversicherung. In einer Positionsbestimmung regelte der Gemeinsame Ausschuss nach § 5 AG SGB XII die Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers und die Hilfen nach § 35a SGB VIII, sofern es sich um eine teilstationäre Leistung, wie diese in einer integrativen oder heilpädagogischen Kindertagesstätte, handelt. Hierbei handelt es sich nicht um eine Frühförderung nach Frühförderungsverordnung in Verbindung mit dem Neunten und dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, sondern um eine teilstationäre Leistung nach § 35a SGB VIII, welche betreffend Kindern und Jugendlichen mit seelischer oder drohender seelischer Behinderung immer der Jugendhilfe obliegt.[19]

Bei einer Mehrfachbehinderung von Kindern und Jugendlichen, also einer Kombination aus beispielsweise einer seelischen Behinderung mit einer körperlichen und/ oder geistigen Behinderung,  tritt die Eingliederungshilfe des Sozialhilfeträgers nach SGB XII vorrangig in Zuständigkeit, nicht diese der Jugendhilfe nach § 35a SGB VIII.[20] Die Bestimmung der Zuständigkeit kann daher zu Problemen führen.

Beachtenswert ist, dass ein allgemeingültiger Behinderungsbegriff nicht existiert, sondern dieser je nach Rechtsgrundlage unterschiedlich definiert ist. Beispielsweise sind die Voraussetzungen zur Erlangung eines Schwerbehinderten-Ausweises nicht identisch mit denen der Eingliederungshilfe.

Es wird anhand der Rechtsnorm der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII deutlich, dass diese mit vielen unbestimmten Rechtsbegriffen geschmückt ist und auf einige Nebengesetze und –verordnungen verweist. Aufgrund dessen bestehen starke Abgrenzungsschwierigkeiten, wie dies auch schon in der Einführung dieser Arbeit erwähnt ist. Um den Gesetzestext noch tiefgreifender verstehen zu können, werden im nächsten Kapitel die unbestimmten Rechtsbegriffe der Abweichung der seelischen Gesundheit vom für das jeweilige Alter typischen Zustand sowie der Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ausgelegt.

3. Begriffsbestimmungen und Auslegungen der unbestimmten Rechtsbegriffe

Der Gesetzestext des § 35a Abs. 1 SGB VIII verweist auf die Zweigliedrigkeit des Behinderungsbegriffs, nämlich der Differenzierung „zwischen der Abweichung der seelischen Gesundheit (Nr. 1) und der Teilhabebeeinträchtigung (Nr. 2).“[21] Somit haben seelisch behinderte Kinder und Jugendliche also erst einen Anspruch auf Eingliederungshilfe wenn deren seelische Gesundheit beeinträchtigt ist oder deren Beeinträchtigung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist und die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zugleich bedroht ist. Um diese unbestimmten Rechtsbegriffe des § 35a SGB VIII auszulegen und eine eindeutige Definition zu treffen, werden diese im Unterkapitel differenziert dargestellt.

3.1 Abweichung oder drohende Abweichung der seelischen Gesundheit von dem für das Lebensalter typischen Zustand

Als erste Tatbestandsvoraussetzung für eine Eingliederungshilfe  seelisch behinderter Kinder und Jugendlicher gilt, wer eine Abweichung vom Lebensalter typischen Zustand der psychischen Gesundheit aufweist, die mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Zeitraum von sechs Monaten überdauert. Der Begriff der Behinderung bezeichnet also einen Menschen, der entweder behindert ist, oder die Phase einer „normativen Gesundheit“ bis hin zu einer Behinderung.[22] „Dies gilt für Kinder und Jugendliche im Besonderen, da sie sich in einem nicht abgeschlossenen Entwicklungsprozess befinden.“[23] Reinhart Lempp bestätigt das Ausmaß psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter, denn „Eine von früher Kindheit an […] bestehende Behinderung wirkt […] dagegen auf die psychische […] Entwicklung des Kindes ein und prägt die sich erst entwickelnde Persönlichkeit mit.“[24]

Diese Abweichung der seelischen Gesundheit von dem für das Lebensalter typischen Zustand muss seitens eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, eines Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten oder eines psychologischen Psychotherapeuten erfolgen, der über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet der seelischen Störungen im Kindes- und Jugendalter verfügt.[25]

Die Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys, welchen das Robert-Koch-Institut erhob, sind die ersten bundesweit repräsentativen Daten zur gesundheitlichen Lage der Kinder und Jugendlichen von 0 – 17 Jahren in der Bundesrepublik.[26]

Im Gesamtdurchschnitt der erwähnten repräsentativen Basiserhebung von 2003 – 2006 der Langzeitstudie weisen 9,7% der befragten Kinder und Jugendlichen eine wahrscheinliche psychische Auffälligkeit auf.[27] Hier gilt es zu beachten, dass psychische Auffälligkeiten keineswegs zu einer seelischen Behinderung mit einer Dauer von mindestens sechs Monaten führen. Die Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys sollen in dieser Arbeit lediglich einen Abriss zur Einordnung des psychischen Gesamtzustandes der Kinder und Jugendlichen geben.

3.2 Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft

Die Prüfung der Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (kurz: Teilhabebeeinträchtigung) ist die zweite Leistungstatbestandsvoraussetzung, um den Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfe seelisch behinderter Kinder und Jugendlicher erfüllen zu können. Die Partizipation im psychosozialen Umfeld bezieht sich auf alle gesellschaftlichen Faktoren und Einflüsse. Bei Kindern und Jugendlichen sind hier die Bereiche der Bildungsinstanzen, wie Kindertagesstätte, Hort und Schule sowie die Bereiche der Peer-Groups, Familie und Freizeit von besonderer Bedeutung.

Es ist also denkbar, dass bei einem Kind oder Jugendlichen zwar seine seelische Gesundheit von dem für sein Lebensalter typischen Zustand abweicht, die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft jedoch nicht beeinträchtigt ist. Beispielsweise wenn das Kind oder der Jugendliche trotz seiner Erkrankung gut in der Familie, der Peer-Group oder der Schule integriert bzw. inkludiert ist.

„Die Prüfung der Teilhabe ist somit keine isoliert zu erbringende Teilleistung, sondern das Ergebnis der Gesamtschau und Integration aller Teilinformationen auf Basis sozialpädagogischer Fachlichkeit.“[28] Während der sozialpädagogischen Diagnose ist jedoch fraglich, wie sich die Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft im Einzelfall beurteilen lässt.

Als ein Instrument zur Beurteilung der Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft entwickelte die Weltgesundheitsorganisation (kurz: WHO), basierend auf einem bereits diagnostiziertem Störungsbild nach internationalem Klassifikationsschema ICD-10, die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit ICF.[29] Auf die genaue Anwendung der ICF wird in Kapitel fünf eingegangen.

4. Anspruchsberechtigte psychische Störungsbilder für Eingliede­rungshilfe nach multiaxialem Klassifikationsschema für psychi­sche Störungen des Kindes- und Jugendalters  -ICD-10 der WHO - zur Feststellung einer (drohenden)seelischen Behinde­rung.

[30] Folgende psychische Störungsbilder können eine Anspruchsberechtigung auf Eingliederungshilfe unter dem Teilleistungstatbestand der Gesundheitsbeeinträchtigung ergeben. Diesem Tatbestand als Teilvoraussetzung geht eine Diagnostik seitens Kinder- und JugendlichenpsychotherapeutenInnen oder PsychiaterInnen im klinischen Bereich voraus. Bedeutsam bei allen hier beschriebenen anspruchsberechtigten Störungsbildern sind der Schweregrad sowie die Chronifizierung dieser. Eine leichte bis mittlere Ausprägung der Störungsbilder, die weniger als sechs Monate andauern und nach sozialpädagogischer Diagnose nicht zu einer Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft führen, sind einhergehend mit einer Teilhabebeeinträchtigung keine seelischen oder drohenden seelischen Behinderungen und fallen folglich nicht unter das System der Eingliederungshilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch.

Im Einzelfall ist es die Aufgabe der in Absatz 1a des § 35a SGB VIII genannten Professionen, nämlich der Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie oder der Kinder- und JugendlichenpsychotherapeutenInnen, die Abweichung der seelischen Gesundheit von dem für das Lebensalter typischen Zustand zu prüfen und zu bescheinigen.

[...]


[1] Fegert (1999): 12.

[2] Vgl. Kunz (2011): 1 ff.

[3] Lempp (2006): 14.

[4] Vgl. Statistisches Bundesamt (2014): ZR.

[5] Vgl. Jordan/ Maykus/ Stuckstätte (2012): 261.

[6] Vgl. Statistisches Bundesamt (2014): ZR.

[7] Vgl. Dito: Visualisierendes Diagramm der Steigerung von Eingliederungshilfen.

[8] Vgl. § 35a AGB VIII.

[9] Vgl. Lempp (2006): 20.

[10] Vgl. Lempp (2006): 21.

[11] Vgl. Meysen (2013): 374.

[12] Vgl. Niedersächsisches Landesamt für Jugend, Familie und Soziales (2012): 7.

[13] Vgl. § 35a SGB VIII.

[14] Vgl. § 27 SGB VIII.

[15] Meysen (2013): 377.

[16] Vgl. Meysen (2013): 377.

[17] Vgl. Meysen (2013): 374.

[18] Vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 6 SGB IX.

[19] Vgl. Niedersächsisches Landesamt für Soziales, Jugend und Familie (2012): 9 f.

[20] Vgl. Kunkel/ Haas (2006): 148 ff.

[21] Meysen (2013): 377.

[22] Vgl. Meysen (2013): 377.

[23] Meysen (2013): 377.

[24] Lempp (2006): 14.

[25] Vgl. § 35a SGB VIII.

[26] Vgl. Robert-Koch-Institut (2014): 10 f.

[27] Vgl. Hölling/ Robert-Koch-Institut u.a. (2007): o. S.

[28] Niedersächsisches Landesamt für Soziales, Jugend und Familie (2012): 27.

[29]   Vgl. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2006): o. S.

[30] Vgl. Weltgesundheitsorganisation (2000): o.S.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2014
ISBN (PDF)
9783958207981
ISBN (Paperback)
9783958202986
Dateigröße
866 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Frankfurt University of Applied Sciences, ehem. Fachhochschule Frankfurt am Main
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
1,7
Schlagworte
seelisch behindert Soziale Arbeit multiprofessionelle Kooperation Kinderpsychiatrie

Autor

Yannick Mindnich, B.A., wurde 1993 in Ehringshausen bei Wetzlar im Lahn-Dill-Kreis geboren. Sein Studium der Sozialen Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences (ehemals FH Frankfurt) schloss der Autor und Sozialpädagoge 2014 mit dem akademischen Grad eines Bachelor of Arts erfolgreich ab. Bereits vor und während des Studiums sammelte der Autor Erfahrungen in den Bereichen der Jugendarbeit, vor allem aber in der Jugendhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Als Spezialisierungen und Vertiefungen während des Studiums wählte der Autor die Bereiche der Hilfen zur Erziehung sowie Kinderschutz und Kindeswohlgefährdungen. Die Schnittstelle beider obiger Tätigkeitsbereiche wurde als brisantes Thema seiner Bachelor-Thesis und zugleich dieses Fachbuches.
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