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Auswirkungen der Individualisierung auf das Stadtbild Münchens nach der Individualisierungstheorie von Ulrich Beck

©2014 Bachelorarbeit 51 Seiten

Zusammenfassung

Die Individualisierung stellt ein Phänomen der Moderne dar, welches das Stadtbild vor allem in Großstädten in vielerlei Hinsicht veränderte und in einem andauernden Prozess bis heute noch immer beeinflusst. Hierbei untersucht der Autor explizit, nach der Individualisierungstheorie von Ulrich Beck, die Veränderungen im rollenspezifischen Zusammenleben von Männern und Frauen, einen immer flexibler werdenden, dezentralisierten Arbeitsmarkt und eine Herauslösung aus einem alten ständischgeprägtem Klassenmodell. Darüber hinaus wird die Frage aufgeworfen, welche sozialen Folgen ein hieraus resultierendes gesellschaftliches System, welches den Einzelnen nur noch wenige Sicherheiten im täglichen Leben bietet, für die Stadtbewohner hat. Droht aus den aufkommenden Folgen der Individualisierung ein Zerfall des gesellschaftlichen Systems oder haben sich neue soziale Prozesse entwickelt, die eine Integration der Individuen ermöglichen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


4. Individualisierung nach Beck

Ulrich Beck wurde am 15.05.1944 in der Stadt Stolp/Pommern geboren. Er doziert Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, sowie an der London School of Economics and Political Science. Er gilt unter anderem durch seine Theorie der Risikogesellschaft zu einem der meist zitierten Soziologen unserer Gegenwart. (vgl. Hillmann, S. 74)

In seinen Publikationen Risikogesellschaft Auf dem Weg in eine andere Moderne und Reflexive Modernisierung Eine Kontroverse beschreibt Beck den sozialen Wandel aus der Moderne der Industriegesellschaft zu einer reflexiven Moderne der Risikogesellschaft. Seine Definition zur Risikogesellschaft lautet wie folgt:

„Der Begriff der Risikogesellschaft bezeichnet einen System- und Epochenwandel in drei Bereichen: Es handelt sich erstens um das Verhältnis der Industriegesellschaft zu ihren Ressourcen, die sie aufbraucht. Zweitens um das Verhältnis der Gesellschaft zu den von ihr erzeugten Gefahren, die die Grundannahmen der bisherigen Gesellschaftsordnung erschüttern. Drittens um den Prozeß der Individualisierung, da alle kollektiven Sinnquellen erschöpft sind.“ (Beck 2012, Außenseite Cover)

Bevor wir uns dem für die vorliegende Ausarbeitung thematisch zutreffenden Bereich der Individualisierung als System und Epochenwandel in die Risikogesellschaft zuwenden, soll zunächst eine kurze Einführung in Becks gesamte Theorie gegeben werden.

Beck hat mit seiner Ausarbeitung „Risikogesellschaft Auf dem Weg in eine andere Moderne“ und „reflexive Modernisierung Eine Kontroverse“ den Anspruch, dem sich vollziehenden sozialen Wandel, von der Moderne in eine Postmoderne, eine theoretische Gestalt zu geben. Währenddessen die vorherige wissenschaftliche Betrachtungsweise den Sozialen Wandel aus der Industriegesellschaft der Modernen undefiniert unter dem Terminus Post, als einen Zustand nach der Moderne beschreibt, versucht Beck die Begrifflichkeit Post näher zu definieren. (vgl. Beck 2012, S. 12)

Er entwirft hierzu ein Szenario der fortgeschrittenen Moderne, in welchem sich neue Risiken durch die Produktion von Reichtum für die Gesellschaft entwickelt haben. Wohingegen sich die Mangelgesellschaft durch Verteilungsprobleme und -konflikte kennzeichnen würde, seien nach Beck Probleme aus der Produktion, Definition und Verteilung wissenschaftlich-technisch produzierter Risiken entstanden. (Beck 2012, S. 25)

Den zeitlichen Entwicklungskontext beschreibt Beck, indem er zwischen einer einfachen Modernisierung, die eine Ablösung von traditionellen hin zu industriellen Gesellschaftsformen beinhaltet und einer reflexiven Modernisierung, welche die Auflösung der Industriegesellschaft zu einer neuen Moderne, der Risikogesellschaft, impliziert, differenziert. „Der Unterschied der zwei Phasen moderner Gesellschaften liegt also darin, daß das eine Mal vorindustrielle Traditionen, das andere Mal die Traditionen und Sicherheiten der Industriegesellschaft selbst zum Gegenstand von Auf- und Ablösungsprozessen werden.“ (Beck u .a. 1996, S. 39)

Beck nennt folgend 6 Unterscheidungen/Merkmalsgruppierungen zwischen der einfachen und der reflexiven Modernisierung:

1. Durch entstehende Nebenfolgen verselbständigt sich die einfache Modernisierung zu einer reflexiven Modernisierung, welche ein hohes Maß an Ungewissheit mit sich bringt.
2. Die einfache Modernisierung sieht ausschließlich die Zwecksrationalität als antreibende Modernisierungskraft. Die reflexive Modernisierung hingegen betrachtet auch die entstehenden Nebenfolgen der Modernisierung.
3. Einfache Modernisierung wird als Halbmoderne wahrgenommen, in welcher die Moderne, Vormoderne und die Gegenmoderne sich gegenseitig ablösen. Die Modernisierung des 21. Jahrhunderts beschäftigt sich deshalb mit einem gleichzeitigen Gegeneinander von reflexiver Modernisierung und Gegenmodernisierung
4. Währenddessen die einfache Modernisierung ihre Sozialstruktur, Lebenslagen und Lebensführung in Großgruppen kategorisiert, treten in der reflexiven Modernisierung die Individualisierung und ihre Folgen der sozialen Ungleichheit in den Fordergrund.
5. Durch die funktionale Differenzierung der Teilsysteme in der Industriegesellschaft wird die Frage nach Koordinationen und Vernetzungen der einzelnen Teilsysteme aufgeworfen.
6. Wohingegen die politische Strukturierung der Industriegesellschaft lediglich auf die Grundunterscheidung zwischen linker und rechter politischer Attitüden beruhte, werden in der reflexiven Modernisierung „…politisch- ideologisch -theoretische Auseinandersetzungen, die sich in den Dichotomien Sicher – Unsicher, Innen – Außen, Politisch – Unpolitisch umreißen lassen“, ersichtlich. (Beck u.a.1996, S. 65 ff.)

Zunächst sei darauf hinzuweisen, dass Beck den Begriff der Individualisierung unter einem makrosoziologischem Gesichtspunkt, als institutionellen Wandel der Gesellschaft sieht. Um eine Verwechslung mit einer mikrosoziologischen Auslegung des Terminus Individualisierung entgegenzuwirken, schlägt Beck vor, zwischen Individualisierung und Individualismus zu differenzieren:

„Mit anderen Worten: Individualisierung muss klar unterschieden werden von Individualismus oder Egoismus. Während Individualismus gewöhnlich als eine persönliche Attitüde oder Präferenz verstanden wird, meint Individualisierung ein makro-soziologisches Phänomen, das sich möglicherweise – aber vielleicht eben auch nicht – in Einstellungsveränderungen individueller Personen niederschlägt. Das ist die Krux der Kontingenz: Es bleibt offen, wie die Individuen damit umgehen.“ (Beck 2008, S. 303)

Was genau Beck unter einer Individualisierung auf der Makroebene versteht, macht er folgend in seiner Definition der Individualisierung deutlich.

Modernisierung führt nach Beck zu einer dreifachen Individualisierung: „Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und –bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge (Freisetzungsdimension), Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen (Entzauberungsdimension) und –womit die Bedeutung des Begriffes gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt wird –eine neue Art der sozialen Einbindung (Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension).“ (Beck 2012, S. 206)

5. Die Freisetzungsdimension

Die oben unter der Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne von Herrschafts- und Versorgungszusammenhängen beschriebenen Freisetzungsdimensionen bilden den Grundstein des Sozialen Wandels in Becks Theorie. Durch sie kommt es erst zu einer Handlungsunsicherheit der Gesellschaftlichen Mitglieder in Form einer Entzauberungsdimension, sowie der Notwendigkeit einer neuen sozialen Einbindung im Sinne einer Reintegrationsdimension. Folgend soll anhand verschiedener sozialer Phänomene die eingetretenen gesellschaftlichen Veränderungen der Freisetzungsdimension näher untersucht werden. Die Entzauberungsdimension wird hierbei immer wieder angeschnitten werden, da sie als Folgeerscheinung der Freisetzungsdimension nahe mit dieser verbunden ist. In einem Kapitel 5 soll nach den folgenden Ausführungen zur Freisetzungsdimension jedoch noch einmal explizit auf die Entzauberungsdimension eingegangen werden.

5.1 Herauslösung aus ständisch geprägten sozialen Klassen

Als erste Freisetzungsdimension nennt Beck eine Herauslösung aus Klassen und Schichtzugehörigkeiten der deutschen Bevölkerung in der Nachkriegsentwicklung. Als auslösenden Faktor führt er hierbei den Fahrstuhleffekt und die damit einhergehende Individualisierung und Diversifizierung von Lebenslagen an, welche die Individuen aus Klassen und Schichtidentitäten herauslöst. Unter weiterhin bestehenden Ungleichheiten in der Bevölkerung kommt es beim Fahrstuhleffekt zu einem kollektiven Mehr an Einkommen, Bildung, Mobilität, Recht, Wissenschaft und Massenkonsum. Dieses kollektive Mehr führt nun dazu, dass die Klassengesellschaft eine Etage höher gefahren wird. (vgl. Beck 2012, S. 122)

Durch eine Zunahme an finanziellen Mitteln und einer Erhöhung der Freizeit verändern sich schließlich die Lebensbedingungen und Lebensstile der Bevölkerung. Wohingegen in der früheren Klassengesellschaft die Freizeitgestaltung noch weitestgehend klassenintern vollzogen wurde, werden nun die einzelnen sozialen Kreise untereinander vermischt. Durch das Mehr an monetären Ressourcen können folglich weitere Teile der Bevölkerung am Konsum teilhaben. So entsteht ein Massenkonsum, der sich in unterschiedlichen Konsumstilen erkennbar macht. Konsumstile, wie unterschiedliche Wohnungseinrichtung, Kleidungsstile und die Nutzung von Massenmedien ersetzen so die vorher bestehende Differenzierung nach Klassenwelten zu einer Differenzierung nach Individuallagen, welche eine neue Form der sozialen Ungleichheiten implizieren. (vgl. Beck 2012, S. 124 f.)

Auch die oben erwähnte Zunahme von Bildung innerhalb der Gesamtbevölkerung trug dazu bei, dass sich die Klassenverhältnisse auflockerten. Die in den sechziger und siebziger Jahren entstandene Bildungsexpansion führte zu einer Steigerung der Absolventen von weiterführenden Schularten (Realschule und Gymnasium), sowie einer Zunahme bei Studienanfängern sowohl unter der männlichen, als auch unter der bis dahin noch wenig im Bildungssystem integrieren weiblichen Bevölkerung. Währenddessen in der Vorkriegszeit klassenkulturelle Bindungen und Vorgaben des Herkunftsmilieus über die Bildung des Einzelnen entschieden, wurde der Bildungssektor nun nach dem Leistungsprinzip der Gesamtbevölkerung zugänglich gemacht. Dies hatte zur Folge, dass sich traditionale Orientierungen, Denkweisen und Lebensstile der Klassengesellschaft durch universelle Lehrbedingungen und Wissensinhalte abschwächen. Durch diese Veränderung musste der Einzelne, im Gegensatz zur Klassengesellschaft, im Laufe seines Bildungs- und Berufslebens selbst seine Stellung im Gesellschaftsgefüge finden. (vgl. Beck 2012, S. 127 ff.)

Desweiteren ist eine Zunahme der sozialen Mobilität erkennbar. Durch den Ausbau des Dienstleistungssektors seien die sozialen Aufstiegschancen im unteren Drittel der sozialen Hierarchie bei wiederum gleich bleibenden Abständen zu den anderen Großgruppen der Angestellten und Beamten beträchtlich verbessert worden. ( Beck 2012, S. 125)

Soziale, geographische und alltägliche Mobilität bilden zusammen ein Gefüge, welches das Leben des Individuums maßgeblich beeinflusst, da es auf verschiedenen Bedingungen der einzelnen Mobilitätsanforderungen eingehen muss. (vgl. Beck 2012, S. 126)

Die oben aufgeführten sozialstrukturellen Veränderungen haben zur Folge, dass der Klassenbegriff seine soziale Wahrnehmbarkeit verliert. Die vom Akteur realisierten sozialen Ungleichheiten werden nicht mehr einzelnen Klasse zugeordnet, sondern werden als individuelles Schicksal wahrgenommen. So wird das entstehende Problem der Massenarbeitslosigkeit beispielsweise nicht als klassenkollektives Phänomen wahrgenommen. In Folge dessen, dass eine Vielzahl von unterschiedlichen Berufs und Qualifikationsgruppen von der entstehenden Arbeitslosigkeit betroffen ist, wird diese im Gegensatz zu einem Klassendenken als persönliches Schicksal des Einzelnen wahrgenommen. Dies wird dadurch verstärkt, dass die Arbeitslosigkeit auf einzelne Lebensphasen begrenzt ist. Phasen der Erwerbstätigkeit werden von Phasen der Arbeitslosigkeit, welche wiederum in Phasen der Arbeitsbeschäftigung übergehen, abgelöst. Somit entsteht ein Wechsel des Ungleichheitsverständnisses von alten Klasseerklärungen hin zu einem Leistungsprinzip, das als Erklärung für die soziale Lage des Individuums fungiert. (vgl. Beck 2012, S. 139 ff.)

Folgend stellt sich Beck die Frage, in welche Richtung die Suche nach Sozialidentitäten und neuen Lebensformen in einer durch die Individualisierung von Klassen freigesetzten Gesellschaft verläuft. Beck führt hierzu 3 verschiedene, sich jedoch nicht zwingend ausschließende Zukunftsszenarien an:

Ein erstes Szenario beinhaltet eine aus der Freisetzung von traditionalen Klassen entstehende Neustrukturierung der Klassen heraus aus regionalen und partikularen Beschränkungen. „Es beginnt ein neues Kapitel der Klassengeschichte, das erst noch geschrieben und entziffert werden müßte. Der Enttraditionalisierung der Klassen im wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus könnte eine Modernisierung der Klassenbildung entsprechen, die das erfolgte Niveau der Individualisierung aufgreift und neu sozial und politisch zusammenfaßt.“ (Beck 2012, S. 152)

In einem zweiten Szenario führt die Freisetzung aus der Klassengesellschaft zu neuen Formen der Identitätsbildung und daraus resultierend zu neuen Konflikten, die das Individuum zu bewältigen hat. Im Kontext der Selbstverwirklichung begeben sich die Individuen auf die Suche nach ihrer eigenen Identität. Diese Suche nach der eigenen Identität erprobt das Individuum schnelllebig durch unterschiedliche Lebensführungen (Sport, Reisen, Weiterbildungen). Durch den angetretenen ungewissen Weg werden die Individuen mit einer Vielzahl von Selbstverunsicherung, Selbstbefragung und Selbstvergewisserung konfrontiert. Diese gilt es zu lösen. (vgl. Beck 2012, S. 155ff.)

In einem letzten möglichen Szenario entsteht eine individualisierte Nachklassengesellschaft, die von einer flexiblen, pluralen und individualisierten Unterbeschäftigung geprägt ist. Die in einer beruflichen Vollzeitbeschäftigungsgesellschaft aufgetretene Fokussierung auf Konflikte und Lebensschwerpunkte des Berufslebens wird in diesem Sinne minimiert. Stattdessen bilden sich durch neu zu gestaltende Lebensformen und Stile, neue Arten des Konfliktes. Konflikte anhand von zugewiesen Merkmalen wie Geschlecht, Rasse, ethnische Zugehörigkeit, Alter und körperliche Behinderungen gewinnen so zunehmend an Bedeutung. (vgl. Beck 2012, S. 157 ff.)

5.2 Veränderung der Lage der Frauen und Männer

Auch die gesellschaftliche Lage von Männern und Frauen veränderte sich gerade durch den oben erwähnten Fahrstuhleffekt in vielerlei Hinsicht. Dies impliziert nicht nur eine soziale Veränderung für die einzelnen Geschlechter, sondern auch eine Umstrukturierung der familiären Strukturen.

Beck postuliert hierzu, dass Frauen aus der Eheversorgung, dem materiellen Eckpfeiler der traditionellen Hausfrauenexistenz, freigesetzt werden würden. Damit sei das gesamte familiäre Bindungs- und Versorgungsgefüge unter Individualisierungsdruck geraten. Weiterhin schreibt Beck, dass sich folgend ein Typus der Verhandlungsfamilie auf Zeit herausgebildet hätte, in welchem die bildungs-, arbeitsmarkt- und berufsorientierten Individuallagen ein widerspruchsvolles Zweckbündnis zum geregelten Emotionalitätsaustausch auf Widerruf eingehen würden. (Beck 2012, S. 208 f.)

Als auslösende Faktoren für eine Freisetzung der Frauen aus ihrer bis dahin bestehenden Hausfrauenrolle sind hierbei folgende soziale Ereignisse anzusehen: Die mit der Bildungsexpansion einhergehende Angleichung des Bildungsstandes von Frauen und Männern führte zu einem erhöhten Bewusstsein über die soziale Lage bei der weiblichen Bevölkerung. Folglich begannen sich die Frauen für mehr Gleichheit in Beruf und Familie gegenüber ihrem damaligen Hausfrauendasein einzusetzen. (vgl. Beck 2012, S. 162)

Auch das 1977 überarbeitete Ehe- und Familienrecht trug zu einer Freisetzung der Frauen aus der traditionellen Hausfrauenexistenz bei. Mit dem neu entstanden Recht wurde eine weitere rechtliche und finanzielle Abhängigkeit der Frauen in Hinblick auf den Mann als Versorger rechtlich minimiert. (vgl. Beck 2012, S. 165)

Währenddessen noch in den sechziger Jahren Familie, Ehe und Beruf eine Einheit in der Lebenslage der Bevölkerung bildeten, lässt sich nun eine Entkopplung und Ausdifferenzierung von verschiedenen Lebenslagen und Verhaltensweisen beobachten. Allein erziehende Väter oder Mütter, Hausmänner, uneheliche Kinder, Frauenwohngemeinschaften, Patchworkfamilien usw. bilden hierbei neue, differenzierte Lebensweisen der Bevölkerung. (vgl. Beck 2012, S. 163 f.)

Trotz der oben genannten Veränderungen im Bildungs- und Rechtssektor ist ebenfalls ein Gegentrend auf Seiten der beruflichen Realität und dem Denken der männlichen Bevölkerung über die Veränderung der Frauenrolle ersichtlich. Der Anteil an erwerbslosen Frauen bspw. lag 1982 mit 8,6% über einem Wert von 6,8% der männlichen Bevölkerung. Auch die Akademikerarbeitslosigkeit der weiblichen Bevölkerung, gemessen an den Jahren von 1980 bis 1982, lag mit 39% zu 14% weit über dem Wert der Männer. Auch die Denk- und Handlungsweisen der Männer stehen der strukturellen Veränderung skeptisch gegenüber. Bei einer Befragung, wie sich die Männer die Koordination des familiären Lebens mit Berufsarbeit, Haushalt und Kindererziehung vorstellen, antworteten 80 % der Befragten mit: „Die Frau bleibt zu Hause, der Mann ist berufstätig.“ (vgl. Beck 2012, S. 168ff.)

Dies steht in einem Kontrast zu der von den Männern nach außen hin gezeigten Toleranz für die Gleichberechtigung der Geschlechter. Beck zitiert hierzu Helge Pross mit folgenden Worten:

„Die Männer sind in ihren Reaktionen geteilt. Womit sie mit dem Kopf eintreten, setzen sie in die Tat nicht um. Hinter den Parolen von Gemeinsamkeiten verstecken sie faktisch Ungleichheiten.“

(Pross 1978, S. 178 )

Die eben genannten Gegenbewegungen zu einer Freisetzung der Frauen aus einer Hausfrauenexistenz implizieren eine Erschwerung des Freisetzungsprozesses, schließen diesen nach Becks Überlegungen jedoch nicht aus. In seinen fortlaufenden Überlegungen nennt Beck vier weitere Indikatoren, an denen sich ein andauernder Prozess der Freisetzung der Geschlechterrollen ablesen lässt:

In einem ersten Punkt spricht Beck eine demographische Freisetzung der Frauen an. Durch die zunehmende Lebenserwartung der weiblichen Bevölkerung ist die damals noch den Lebenszyklus einnehmende Zeit der Kindererziehung zu einem Lebensabschnitt geworden. Die nach der Kindererziehung bestehende Zeit gilt es nun von den Frauen außerfamiliär zu gestalten. Zweitens führen Modernisierungsprozesse dazu, dass die Hausarbeit eine soziale Isolierung der Hausfrauenexistenz beinhaltet. Desweiteren werden durch technische Rationalisierungsprozesse die Hausarbeitszeiten durch Konsumgüter und Maschinen deutlich verkürzt und erleichtert. Aufgrund des entwickelten Bewusstseins über eine soziale Isolierung und der Erleichterung der Ausübung der Hausarbeitstätigkeiten entsteht eine Dequalifizierung der Tätigkeit. Auf der Suche nach gesellschaftlicher Anerkennung lösen sich die Frauen folglich aus ihrer Hausfrauenexistenz heraus und suchen in anderen Bereichen, wie der Berufstätigkeit, ihre gesellschaftliche Erfüllung. Ein dritter Indikator für eine Freisetzung des Geschlechterschicksals ist in der Zunahme von Empfängnisverhütungsmethoden zu sehen. Hierdurch wird die biologische Bindung der Frauen an ihre Mutterschaft zur Gunsten einer freien Entscheidung über den weiteren Lebensverlauf der Frauen herausgelöst. Als letzten Punkt führt Beck die signifikant gestiegene Scheidungsrate an. Fast 70% der alleinerziehenden Mütter müssten nach Becks Angaben mit weniger als 1200 DM im Monat auskommen. Aufgrund des wachsenden Bewusssteins über eine nicht mehr ewig andauernde ökonomische Absicherung durch Seiten des Mannes, werden die Frauen freigesetzt und drängen auf den Arbeitsmarkt. (vgl. Beck 2012, S. 182f.)

Die oben genannten Freisetzungen und entstandenen Konflikte zwischen den Geschlechterrollen führen nach Becks Überlegungen zu drei möglichen Szenarien des Familienlebens, welche sich wie Beck betont keineswegs gegeneinander ausschließen müssen.

Das erste mögliche Entwicklungsszenario stellt eine Rückentwicklung zur traditionellen Familienform dar. Die aus der Ausdifferenzierung und Pluralisierung hervorgegangenen Lebenslagen werden von einem Teil der Gesellschaft als ein ausufernder Individualismus wahrgenommen, der eine Gefahr für kulturelle Werte beinhaltet. Neben diesen Vorbehalt von einem Teil der Gesellschaft bildet der ausgelastete Arbeitsmarkt, der nicht genug Arbeitsplätze für die männliche und weibliche Bevölkerung bereitstellen kann, ein Argument für eine tendenzielle Entwicklung zurück zu traditionellen Familienformen. Beck führt hierzu eine Statistik an, in der im Jahre 1984 nur 51,7% der Frauen erwerbstätig waren. Die Erwerbstätigenquote der Männer hingegen belief sich im Jahre 1984 auf 81,4% der männlichen Bevölkerung. Desweiteren könnte ein bestehender Kinderwunsch der Frauen zu einer Zunahme von Befürwortungen des traditionellen Familienkonzepts führen. Beck nimmt aufgrund dessen an, dass es bei den kommenden Generationen der Frauen zu einer Polarisierung zwischen den verschiedenen Lebenslaufmustern, je nach unterschiedlichen Bildungsständen, kommen könnte. Beck betont weiterhin, dass eine Zurückführung zur traditionellen Kleinfamilie nur durch die Wiederaufhebung der entstandenen Veränderungen möglich sei. So müssten die Frauen beispielsweise erneut aus dem Berufsleben und dem Bildungssektor verdrängt werden. (vgl. Beck 2012, S. 194 ff.)

Ein zweites mögliches Zukunftsmodell der Rollenverteilung beinhaltet eine Gleichstellung von Mann und Frau im Hausarbeits-, Familien-, Einfluss-, Mitbestimmungs- und Arbeitssektor. Beck weist in diesem Sinne darauf hin, dass eine Gleichstellung in der Arbeitsmarktgesellschaft zu einer vollmobilen Single-Gesellschaft führen könnte. Die Erfordernisse der Arbeitsmarktgesellschaft stehen hier im Widerspruch zu denen, die ein Ehe-, Familienleben mit sich bringt. Diese Tendenz zu Lebensformen außerhalb der Familie ist auch statistisch in einem Anstieg an Einpersonenhaushalten und einem Zuwachs an alleinerziehenden Vätern und Müttern erkennbar. (vgl. Beck 2012, S. 198 ff.)

Als ein letztes mögliches Zukunftsszenario nennt Beck die Erprobung von neuen Lebensformen außerhalb der Frauen- und Männerrollen. Anders als bei den beiden vorhergehenden Modellen beschäftigt sich dieses mit einem Lösungsweg für die entstandenen Widersprüche zwischen dem Familienleben und dem Arbeitsmarkt. „Mit der Individualisierung der Familie wird die Trennung zwischen Produktion und Reproduktion sozusagen in einem zweiten historischen Schritt in der Familie vollzogen. Die damit aufbrechenden Widersprüche können entsprechend nur dann bewältigt werden, wenn institutionelle Wiedervereinigungsmöglichkeiten von Arbeit und Leben auf dem Stand der erreichten Trennung, und zwar in allen Komponenten der auseinanderstrebenden Marktbiographien, angeboten bzw. ermöglicht werden.“ (Beck 2012, S. 201)

Folgend müsste zum einen die vom Arbeitsmarkt geforderte Mobilität familienfreundlicher gestaltet werden. Momentan wird die von einem Arbeitnehmer geforderte Mobilität noch als eine individuelle Mobilität definiert. Hierbei wird außer Acht gelassen, dass die geforderte Mobilität Auswirkungen auf die berufliche Zukunft beider Geschlechter haben kann. Die zu wählenden Alternativen bestehen so aus der Wahl zwischen einer Spagatfamilie oder dem Austritt der Frau aus der Erwerbstätigkeit. Um den Bestand der Familie unter Berücksichtigung der Mobilität zu unterstützen, schlägt Beck partnerschaftliche Formen der Arbeitsmarktmobilität als Zukunftsszenario vor. So müsste gewährleistet werden, dass im Falle einer Einstellung auch der Ehepartner eine Beschäftigung erhalten würde. Dieses Szenario könnte in die Tat umgesetzt werden, indem das Arbeitsamt Berufsberatungen und Vermittlungen für Familien anbieten würde. Desweiteren müssten der Staat und die einzelnen Arbeitgeber partnerschaftliche Beschäftigungsmodelle einführen, mit denen die Struktur der Familie gestärkt würde. Auch der Zusammenhang zwischen der Existenzsicherung und der Erwerbstätigkeit könnte zu Gunsten der Familie gelockert werden. Eine auf den Mindestlohn erhobene Sozialhilfe oder die Abkoppelung der Erwerbstätigkeit von Gesundheits- und Alterssicherungen könnte familienfreundliche Strukturen schaffen. Eine weitere notwendige Veränderung bezieht sich auf die Architektur und Stadtplanung. Durch die Zunahme an Mobilitätserfordernissen erschweren Wohnverhältnisse ein familiäres Leben. In der Stadtplanung herrscht der Trend zu immer kleiner werdenden Wohnungen, die auf die Arbeitsmarktmobilität und das Single-Dasein zugeschnittenen sind. Um diese Wohnverhältnisse familienfreundlicher zu gestalten, müsste folglich auch in der Stadtplanung ein Umdenken einkehren. (vgl. Beck 2012, S. 201 ff.)

5.3 Flexibilisierung der Erwerbsarbeitszeit und Dezentralisierung des Arbeitsortes

Neben der oben beschriebenen Freisetzung aus Familien- und Klassenstrukturen, geht Beck auf zwei weitere Freisetzungspunkte ein, die teilweise in der oben genannten Ausarbeitung ersichtlich wurden. In diesem Zusammenhang sind hier die Flexibilisierung der Erwerbsarbeitszeit und die Dezentralisierung des Arbeitsortes gemeint. Beck postuliert hierzu:

„Sie haben ihren Ausgangspunkt nicht mehr in der Reproduktions-, sondern in der Produktionssphäre und vollziehen sich als Freisetzungen relativ zum Beruf und zum Betrieb. Gemeint sind insbesondere die Flexibilisierung der Erwerbsarbeitszeit und die Dezentralisierung des Arbeitsortes.“ (Beck 2012, S. 2009)

Währenddessen das in der Vergangenheit bestehende standardisierte Vollbeschäftigungssystem durch Arbeitsverträge, betriebliche Organisationen als Arbeitsort und lebenslange Ganztagsarbeit definiert worden war, werden diese Wurzeln des Arbeitssystems durch eine rationalisierungsbedingte Flexibilisierung durchbrochen und umstrukturiert. Auf diese Weise verschwimmen die Grenzen von Arbeit und Nichtarbeit und die Formen pluraler Unterbeschäftigung werden vielfältiger. Die Tendenz der Arbeitszeiten verändert sich von einem Vollzeit- hin zu einem Teilzeitarbeitssystem, in dem die Arbeitnehmer gleich mehreren Einzeljobs nachgehen. Dies hat zur Folge, dass ein System der Arbeitsunterbeschäftigung entsteht, welches eine Umstrukturierung des Einkommens, der sozialen Sicherung und der Aufstiegschancen im Beruf beinhaltet. ( vgl. Beck 2012, S. 226)

Desweiteren sei eine räumliche Dezentralisierung in der Lockerung von Anwesenheitsregelungen, ortsdiffusen Neuvernetzungen von Abteilungen und Teams bis hin zur Auslagerung von Teilfunktionen in Gestalt teilweiser oder vollständiger elektronischer Heimarbeit ersichtlich, so Beck. (Beck 2012, S. 225)

In Folge dessen verlieren Arbeitsgebäude wie Fabriken oder Bürokomplexe zunehmend an arbeitsorttechnischer Bedeutung. Die Kommunikation zwischen einzelnen arbeitsteiligen Betriebsteilbereichen kann tendenziell durch die zunehmende Entwicklung von Technik jenseits von einem zentralen Arbeitsort vollzogen werden. Beck spricht deshalb in diesem Zusammenhang von einer zunehmenden Verwaisung von großräumigen Arbeitsgebäuden. (vgl. Beck 2012, S. 225f)

Auch der Bildungsmarkt ist von der aufkommenden Unterbeschäftigung des neuen Teilzeitarbeitsmodells betroffen. Wohingegen vorher eine gut abgeschlossene Ausbildung oder ein Studium ein Garant für die Aufnahme im Erwerbssystem gebildet hat, steigt nun der Anteil an arbeitslosen Ausgebildeten und Akademikern stetig. Aufgrund dessen entwickelt sich bei den Betroffenen ein Trend dazu, mehrere Ausbildungen und Weiterbildungen zu absolvieren, um der drohenden Erwerbslosigkeit entgegenzuwirken. Die Gefahr, trotz Bildungsabschlusses erwerbslos zu werden, impliziert hierbei das Risiko, dass die Bildung nicht mehr als Grundlage für den Eintritt ins Berufsleben wahrgenommen wird. Bildungsanstalten wirken in diesem Zusammenhang wie Wartesäle auf dem Weg ins Berufsleben. (vgl. Beck 2012, S. 237 ff.)

6. Die Entzauberungsdimension

„Was Entzauberung meint, liegt auf der Hand: Es gibt keine verbindlichen Sinnsysteme mehr, auf die sich alle bezögen. ...Entzauberung heißt denn auch, dass naives Vertrauen auf irgendeinen Sinn nicht mehr möglich ist. Das Individuum muss im Grunde ohne Netz und doppelten Boden alles selbst erfinden, entscheiden – und vor anderen rechtfertigen!“ (Abels a 2009, S. 356)

So wird das Individuum durch die Freisetzungsdimension aus Erwartungssicherheiten, die ihm zuvor durch ein klar strukturiertes Klassensystem, die Rolle von Männern und Frauen, Religion und dem Arbeitsmarkt gegeben waren, gelöst/entzaubert. Wohingegen beispielsweise im alten Klassensystem die Zugehörigkeit des Vaters zur Arbeiterklasse, den Sohn Erwartungssicherheit über seinen gleichsam späteren Eintritt in die Arbeiterklasse verlieh, bestehen nun eine Vielzahl von Möglichkeiten über den beruflichen Verlauf des Sohnes. Die damit verbundenen Unsicherheiten und Reflexionen über die eigene Identität hat das Individuum in diesem Sinne selber zu tragen und ist im Falle eines Scheiterns selbst für sein eigenes Handeln verantwortlich.

[...]

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783958208018
ISBN (Paperback)
9783958203013
Dateigröße
2.3 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
FernUniversität Hagen
Erscheinungsdatum
2015 (Februar)
Note
2,1
Schlagworte
Durkheim Simmel Erwerbsarbeitszeit Dezentralisierung Entzauberungsdimension

Autor

Jan-Hendrik Block, Jahrgang 1987, studierte Soziologie mit dem Abschluss Bachelor of Arts an der Fern-Universität Hagen.
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