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Sigmund Freuds Traumdeutung im Lichte der Neurowissenschaften: Eine Kontroverse

©2013 Bachelorarbeit 53 Seiten

Zusammenfassung

Sigmund Freud sorgt bis heute mit seinem 1900 erschienen Werk „Die Traumdeutung“ für viele Diskussionen, auch innerhalb der Neurowissenschaften. Für Freud drücken sich im Traum unbewusste Wünsche aus, die durch einen psychologischen Mechanismus zensiert werden, damit der Träumer nicht aufwachen muss. Damit ist der Traum der „Hüter des Schlafs“. Der neurowissenschaftliche Traumforscher Allan Hobson postuliert 1977 seine „Aktivierungs-Synthese Theorie“, die sich explizit gegen die Freud’schen Thesen richtet. Nach Hobson entstehen Träume durch einen physiologischen Prozess des Gehirns (hauptsächlich im Hirnstamm) und haben keine spezifische psychologische Bedeutung. Für ihn sind Freuds Thesen mit seinen Erkenntnissen nicht in Einklang zu bringen und dessen Theorie nicht mehr als eine psychoanalytische Spekulation. Der Neurowissenschaftler und Psychoanalytiker Mark Solms übt hingegen scharfe Kritik an Hobsons Theorie. Er postuliert 1997 die Ergebnisse einer Studie, die er an Patienten mit Hirnläsionen durchführte: Solms beobachtet, dass regelmäßig ganz andere Regionen des Gehirns am Traumprozess beteiligt sind, als Hobson behauptet. Er sieht seine Ergebnisse - neben weiteren aktuellen Erkenntnissen aus den Neurowissenschaften - zudem sehr gut mit den Freud’schen Aussagen über den Traum im Einklang. Es beginnt ein wissenschaftlicher Streit rund um die Freud’schen Theorien zum Traumgeschehen, welche in den Neurowissenschaften bis Dato für veraltet galten. Im Jahr 2009 ersetzt Allan Hobson seine ehemals paradigmatische „Aktivierungs-Synthese Theorie“ durch eine neue Konzeption, der „Theorie des Protobewusstseins“. Dieses Modell weist – im Gegensatz zu seiner ursprünglichen Theorie - einige Ähnlichkeiten mit Freuds Annahmen auf.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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,,Niemand hat eine Ahnung davon, daß der Traum kein Unsinn, sondern eine
Wunscherfüllung ist" Sigmund Freud, 1897 (Briefe an Wilhelm Fließ)
1 Einleitung
Sigmund Freud gilt weltweit als einer der bekanntesten und angesehensten
Psychologen. Für viele Menschen ist er sogar einer der einzigen Psychologen den sie
beim Namen nennen können und das obwohl Freud eigentlich Neurologe war.
Allerdings war er auch Begründer der Psychoanalyse, die man als eine Teildisziplin
der Psychologie verstehen kann. Ferner ist das Medieninteresse für
neurowissenschaftliche Erkenntnisse derzeit sehr ausgedehnt - viele Menschen
interessieren sich dafür wie kognitive Leistungen in ihrem Gehirn zustande
kommen. Es verwundert daher kaum, dass die Medien mit großem Interesse die
Freud'sche Traumtheorie im Lichte der neueren neurowissenschaftlichen
Erkenntnisse zum Traum verfolgen und darin eine vermeintliche Renaissance der
Freud'schen Gedanken über die Neurowissenschaften entdecken mögen. Dabei rückt
der Neurowissenschaftler und Psychoanalytiker Mark Solms gerade im deutschen
Medienraum immer wieder in den Fokus der Diskussion, was man anhand diverser
Artikel und Interviews in Leitmedien wie dem Spiegel, der Zeit, dem
Deutschlandfunk oder auch in einigen Fernsehsendungen beobachten kann. Die
wissenschaftliche Traumforschung wird durch die genannten Medien selten
fachgerecht widergegeben, da deren Rezipienten im Normalfall Laien sind. Viele
Ergebnisse werden deshalb auch ,,Laiengerecht" dargestellt, was bisweilen dazu
führt, dass wichtige wissenschaftliche Aspekte unberücksichtigt bleiben.
Doch inwieweit untermauern die neueren empirischen Daten aus den
Neurowissenschaften - von einer sachlich wissenschaftlichen Perspektive aus
betrachtet - tatsächlich die Freud'schen Thesen zum Traum? Die Beantwortung
dieser Frage könnte gerade für psychoanalytisch interessierte Menschen nicht von

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unerheblichen Interesse sein, galten die Ansichten Freuds innerhalb der
naturwissenschaftlich orientierten Psychologie und Psychiatrie lange Zeit als veraltet
und spekulativ. Diese Haltung ging auch auf die Entdeckungen und Theorien des
neurowissenschaftlichen Traumforschers Allan Hobson zurück, der als einer der
einflussreichsten Kritiker der Freud'schen Traumtheorie gilt.
In der vorliegenden Arbeit wird die Fragestellung untersucht, inwieweit die
Freud'sche Traumtheorie durch empirische Daten aus der neueren
neurowissenschaftlichen Traumforschung gestützt wird. Diese Frage wird anhand
der Kontroverse zwischen Allan Hobson und Mark Solms ­ zweier renommierter
Traumforscher ­ diskutiert, die es erlaubt einen Einblick in die aktuelle
Forschungslandschaft zu bekommen. Die Arbeit ist theoretisch gestaltet und
chronologisch Aufgebaut: Die Reihenfolge der Gliederung orientiert sich an dem
Datum der Veröffentlichung der vorgestellten Theorien. Zu Beginn werden für den
Hintergrund wichtige Aussagen Freuds vorgestellt, die er 1900 in seinem Werk ,,Die
Traumdeutung" veröffentlicht. Dabei werden vor allem diejenigen Thesen erläutert,
die für die Diskussion im Zusammenhang mit den neurowissenschaftlichen
Erkenntnissen von Belang sind. Aufgrund der Komplexität der Freud'schen
Traumtheorie kann und wird diese aufgrund des Rahmens der Arbeit nicht in ihrer
Breite skizziert. Die psychoanalytischen bzw. psychodynamischen Ansätze zum
Traum haben sich seit Freuds Erkenntnissen in einem gewichtigen Maße
weiterentwickelt und weichen in Teilen auch von dessen Konzeption ab. Da sich
Hobson sowie Solms hauptsächlich auf Freuds Ansichten beziehen, ist die
psychoanalytische Weitereinwicklung der Freud'schen Theorien für die eingangs
aufgeworfene Fragestellung nicht zentral und deshalb ebenfalls nicht Teil der Arbeit.
Ferner ist es auch nicht das Anliegen der Arbeit, die aktuellen Ergebnisse der
neurowissenschaftlichen Traumforschung in ihrer Breite und Tiefe zu erläutern, da
das Volumen der aktuellen Forschungsdaten ebenfalls den Rahmen weit übersteigen
würde. Das dritte Kapitel beginnt mit der Einführung in die Hobson-Solms

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Kontroverse, dem eigentliche Kern des vorliegenden Aufsatzes: Es werden
verschiedene theoretische Konzeptionen der beiden Wissenschaftler vorgestellt, die
sich grob formuliert neben den neurowissenschaftlichen Mechanismen des Träumens
auch mit deren Bedeutung und Sinnhaftigkeit beschäftigen. Dabei wird zuerst die
,,Aktivierungs-Synthese Theorie" von Hobson vorgestellt, welche über Jahrzehnte
ein Paradigma in der neurowissenschaftlichen Traumforschung darstellte und sich
explizit gegen die Freud'schen Theorien zum Traum richtet. Anschließend wird die
neurowissenschaftliche Traumtheorie von Solms dargestellt, die auf neueren
wissenschaftlichen Erkenntnissen basiert und einen anderen Schein auf Freuds
Thesen wirft. Hobson hat 2009 seine" Aktivierungs-Synthese Theorie" durch eine
neue Konzeption - die ,,Theorie des Protobewusstseins" (Kapitel 3.3) ­ ersetzt und
liefert damit eine ebenfalls aktuelle Alternative zu Solms Ansichten. Das letzte
Unterkapitel der Hobson-Solms Kontroverse (Hobson versus Freud) ist der
Diskussion um die Freud'schen Thesen aus der Sicht von Hobsons
Protobewusstseins-Theorie gewidmet. Abschließend werden die dargestellten
Theorien und Erkenntnissen im Hinblick auf die Untermauerung der Freud'schen
Theorie verglichen, diskutiert und ein Ausblick auf weiterführende Fragestellungen
skizziert.
2 Freud (1900): Die Traumdeutung
Die erste bekannte Schrift über den Traum als psychologisches Konstrukt stammt
nach der Ansicht Sigmund Freuds (1925/1961) von dem berühmten griechischen
Philosophen Aristoteles. Dieser untersuchte schon vor mehr als 2000 Jahren das
Traumgeschehen und folgerte damals, dass Träume ,,die ersten bei Tag nicht
bemerkten Anzeichen einer beginnenden Veränderung im Körper dem Arzt
anzeigen können" (Freud, 1925/1961, S. 6). Für Aristoteles sind Träume im Grunde
ein fortbestehen von Sinneseindrücken, weshalb man aus heutiger Sicht seine

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Theorien der Sinnesphysiologie zuordnen und wegen seines systematischen
Vorgehens nicht als bloße Spekulation bezeichnen würde (Wiegand, 2006).
Die Faszination des Traums beschäftigte Menschen aber schon seit jeher. So waren
Träume vor und auch nach den Schriften Aristoteles häufig als göttliche
Eingebungen interpretiert worden. Man ,,unterschied wahrhafte und wertvolle
Träume, dem Schläfer gesandt, um ihn zu warnen oder ihm die Zukunft zu
verkünden, von eiteln, trügerischen und nichtigen, deren Absicht es war, ihn in die
Irre zu führen oder ins Verderben zu stürzen" (Freud, 1925/1961, S. 6).
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts veröffentlicht der österreichische Neurologe und
Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud (1925/1961) sein monumentales Werk
,,Die Traumdeutung". Freuds Schrift entwickelte sich zu einem der am meist
gelesenen und dadurch einflussreichsten Arbeiten des Jahrhunderts (Schlesier, 2000).
Abbildung 1 zeigt die erste Auflage ,,Die Traumdeutung" Sigmund Freuds, welche
1899 erschien und auf Verlangen Freuds ­ der sich wohl der Bedeutung bewusst war
- auf 1900 vordatiert wurde.
Abbildung 1: Freud, Sigmund (1900): Die Traumdeutung, 1. Auflage
Quelle: http://www.freud-biographik.de/td.jpg (20. März 2013)

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Freud skizziert über mehrere hundert Seiten eine Theorie, die sich nach der Ansicht
des bekannten Psychoanalytikers Stavros Mentzos (2010) wie folg zusammenfassen
lässt:
,,Freud kam zu der Schlussfolgerung, dass der Traum die verkappte Erfüllung
eines verdrängten Wunsches sei. Dadurch ermögliche der Traum die
Fortsetzung des Schlafes, der sonst durch die Mobilisierung solcher Wünsche
gestört zu werden drohe (Der Traum als Hüter des Schlafes). Der Traum [...] sei
in gewisser Hinsicht mit dem neurotischen Symptom vergleichbar, denn auch
im Traum findet eine Kompromissbildung statt zwischen dem Anspruch eines
verdrängten Impulses auf Befriedigung einerseits und den Widerständen
dagegen andererseits" (S. 73).
Diese verdrängten Impulse, meist unbewusste Wünsche, werden durch verschiedene
Mechanismen entstellt, die Freud (1925/1961) unter dem Begriff der Traumarbeit
zusammenfasst. Das Resultat dieser Verkleidung ist ein Kompromiss zwischen der
Zensur moralisch oder ethisch verwerflicher Inhalte auf der einen und der
Befriedigung des unbewussten Wunsches auf der anderen Seite.
Methodik
Freud entwickelt seine Traumtheorie in einem ersten Schritt durch die Sammlung
ausführlichen Materials. Dieses gewann er zum einen durch die Beobachtung seiner
Patienten, deren Traumberichte er sammelte und aus der Beobachtung seiner
eigenen Träume. Auf der anderen Seite geht seinem Werk eine sehr ausführliche
Literaturrecherche voraus, anhand derer Freud sich ein historisches und aktuelles
Bild des wissenschaftlichen Standes zur Traumforschung machte.

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Manifester Trauminhalt
,,Wir wollen das, was der Traum erzählt, den manifesten Trauminhalt nennen"
(Freud, 1916/1969, S. 134). Unter dem manifesten Trauminhalt versteht Freud alles,
woran der Träumer sich nach dem Aufwachen auch tatsächlich erinnern kann.
Synonym benutzt Freud auch den Begriff der Traumgedanken (Fischer, 1978), womit
er die für ihn wichtige Natur des Traumes konkretisiert: ,,Man vergisst zu leicht, dass
ein Traum zumeist nur ein Gedanke ist wie ein anderer, ermöglicht durch den
Nachlass der Zensur und die unbewusste Verstärkung und entstellt durch die
Einwirkung der Zensur und die unbewusste Bearbeitung" (Freud, 1975, S. 262). Der
manifeste Trauminhalt geht ,,aus latenten Traumgedanken hervor, die der
Entstellung und Veränderung unterliegen" (Fischer, 1978, S. 55).
Latenter Trauminhalt
Unter dem latenten Trauminhalt versteht Freud Elemente des Traums, die von
unbewussten sexuellen Wünschen aus der frühesten Lebensperiode stammen. Der
latente Trauminhalt stellt nach Freud die eigentliche Traumbotschaft dar und ist die
Gesamtheit dessen, was der Analytiker mittels der Assoziationen des Patienten zum
Traum und seinen Deutungen nacheinander enthüllt. Es ergeben sich dadurch
organisierte Gedanken, welche in Form einer Erzählung einen oder mehrere
Wünsche ausdrücken (Laplanche & Pontalis, 2002).
Traumarbeit
Die Traumarbeit ist der psychische Prozess, über den die latenten Trauminhalte in
den manifesten Traum umgewandelt werden. Dies geschieht indem die latenten
Inhalte mit Mechanismen wie der Verdichtung , Verschiebung und der Verwandlung
in dramatische Szenen umgewandelt werden (Nagera, 1974). Freud (1925/1961, S.
511) beschreibt die Traumarbeit wie folg:

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,,Sie [die Traumarbeit] denkt, rechnet, urteilt überhaupt nicht, sondern sie
beschränkt sich darauf umzuformen. Sie läßt sich erschöpfend beschreiben,
wenn man die Bedingungen ins Auge fasst, denen ihr Erzeugnis zu genügen
hat. Dieses Produkt, der Traum, soll vor allem der Zensur entzogen werden
und zu diesem Zwecke bedient sich die Traumarbeit der Verschiebung der
psychischen Intensitäten
bis zur Umwertung aller psychischer Werte; es sollen
Gedanken ausschließlich oder vorwiegend in dem Material visueller und
akustischer Erinnerungsspuren widergegeben werden, und aus dieser
Anforderung erwächst die Traumarbeit [...]"
Durch die Traumarbeit wird ein Kompromiss gebildet, durch den die
Anforderungen der Zensur ebenso zufriedengestellt werden wie die nach
Erfüllungen strebenden unbewussten Wünsche des latenten Trauminhalts (Nagera,
1974).
Zensur
Die Traumzensur hat die Aufgabe, die wichtige Funktion des Traumes als Behüter
des Schlafes zu erfüllen. Dies geschieht dadurch, dass die Zensur die Äußerungen
von unbewussten Wünschen im Traum einschränkt, damit diese nicht zum
Bewusstsein drängen können. Würde es den unbewussten Regungen gelingen in das
Bewusstsein vorzudringen, würde der Träumer aufgeweckt werden, da diese auch
Ängste auslösen (Nagera, 1974). Die Inhalte, welche der Zensur zum Opfer fallen
sind erläutert Freud (1969, S. 142) wie folgt:
,,Die Tendenzen, welche die Zensur ausüben sind solche, welche vom wachen
Urteilen des Träumers anerkannt werden, mit denen er sich einig fühlt [...] Die
Tendenzen aber, gegen welche sich die Traumzensur richtet, muß man
zunächst vom Standpunkt dieser Instanz selbst beschreiben. Dann kann man
nur sagen, sie seien durchaus verwerflicher Natur, anstößig in ethischer,

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ästhetischer, sozialer Hinsicht, Dinge, an die man gar nicht zu denken wagt
oder nur mit Abscheu denkt"
Wunscherfüllung
Die Triebkraft für die Entstehung von Träumen schreibt Freud primär der Libido zu,
einer psychischen Energie die auf die Befriedigung meist unbewusster sexueller
Wünsche drängt: ,,[...] der Traum [ist] darum jedesmal eine Wunscherfüllung, weil
er eine Leistung des Systems Ubw [Unbewusst] ist, welches kein anderes Ziel seiner
Arbeit als Wunscherfüllung kennt und über keine anderen Kräfte als die
Wunschregungen verfügt" (Freud, 1925/1961, S. 574). Es gibt nach Freud vier
Möglichkeiten, woher ein sich im Traum erfüllender Wunsch kommen kann:
Wünsche können am Tag auftauchen und unerfüllt bleiben oder aber wieder
verworfen und damit verdrängt (unbewusst) werden. Diese Wünsche ordnet Freud
dem Vorbewussten zu. Wünsche können aber auch aus dem Unbewussten stammen
und sind damit per se nicht fähig in das Bewusstsein zu gelangen. Der vierte
Ursprungsort ist ein Körperbedürfnis, wie bspw. das Verspüren von Hunger
(Nagera, 1974). Allerdings kann nach Freuds (1925/1961, S. 559) Auffassung ein
Traum nicht ohne einen Wunsch aus dem Unbewussten gebildet werden:
,,Der Wunsch, welcher sich im Traume darstellt, muß ein infantiler sein.
Er stammt
dann beim Erwachsenen aus dem Ubw [...] Ich weiß, diese Anschauung ist
nicht allgemein zu erweisen; aber ich behaupte, sie häufig zu erweisen, auch wo
man sie nicht vermutet hätte, und ist nicht allgemein zu widerlegen"
Regression
Unter dem Begriff Regression versteht Freud (1925/1961) einen Vorgang, der sich
räumlich (topisch) gesehen durch ein umgekehrtes Durchschreiten der psychischen
Systeme auszeichnet. Im Wachzustand werden diese System in einem progredienten
Sinne, das heißt von der Wahrnehmung zur Motorik hin durchschritten. Im Schlaf

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regredieren die Traumgedanken - da das motorische System blockiert ist - zum
System der Wahrnehmung. Diese Traumgedanken sind im Traum aber nur durch
sensorische Bilder verfügbar, die sich dem Träumer in quasi halluzinatorische Weise
aufdrängen (Laplanche & Pontalis, 2002). Aus dieser Beobachtung zieht Freud den
Schluss, dass die Traumgedanken bei der Regression in ihr Rohmaterial aufgelöst
werden. In anderen Worten: Das sensorische Material im Traum lässt sich durch ein
zurückverfolgen zu seinem Ursprung in abstrakte Gedanken auflösen, die die Quelle
des Traums sind.
Primär- und Sekundärvorgang
Unter dem Primärvorgang versteht Freud unter topischen Aspekten gesehen das
Unbewusste. Dieses wird im Wachleben durch den Sekundärvorgang (topisch das
Vorbewusste und Bewusste) gehemmt, worunter er Ich-Funktionen versteht, wie
Denken, Aufmerksamkeit, kontrollierte Handlungen und Urteilsvermögen. Im
Traum ist diese sekundärhafte Funktion in beträchtlicher Weise gehemmt. Diese
Deaktivierung befreit wiederum den Primärprozess von seinen normalen
Hemmungen. Aus diesem Grund kommt es zu primitiven Halluzinationen im
Traum (Ausdruck der Wunscherfüllung) wie sie bei psychotischen Zuständen zu
beobachten sind. Aus diesen Beobachtungen folgert Freud, dass im Traum das
Wunschdenken keinerlei Realitätszwängen unterliegt. Der Primär- und
Sekundärvorgang entspricht etwa dem Gegensatz zwischen Lustprinzip und
Realitätsprinzip (Laplanche & Pontalis, 2002).
Die hier in Auszügen vorgestellten Erkenntnisse Freuds zum Traum dominierten
über Jahrzehnte das wissenschaftliche Verständnis von Träumen (Hobson &
McCarley, 1977). Die moderne neurowissenschaftliche Schlafforschung beginnt erst
30 Jahre nach der Veröffentlichung der Traumdeutung mit der Entdeckung des
Elektroenzephalogramms (EEG) in den 30er Jahren. Es dauert nicht lange bis die
ersten Wissenschaftler damit beginnen, Versuchspersonen während des Schlafes mit

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Hilfe dieses neuen Instruments zu untersuchen. Etwa 20 Jahre später gelingt es
Traumforschern erstmals den REM-Schlaf als eigenes Schlafstadium nachzuweisen
(Wiegand, 2006). Die Autoren differenzieren damals grob zwischen einem flachen
(REM) und tiefen (NREM) Schlaf. Es dauert nochmals 20 Jahre, insgesamt also um
die 75 Jahre nach der Freud'schen Traumdeutung, bis Allan Hobson mit Kollegen
(1977) eine Theorie über die Bedeutung von Träumen entwickelt, die sich über
Jahrzehnte als ein Paradigma der neurowissenschaftlichen Traumforschung
bewähren wird und die Dominanz Freuds beendet: ,,Die Aktivierungs-Synthese
Theorie (Hobson & McCarley, 1977).
J. Allan Hobson und Robert W. McCarley (1977) richten sich in ihrem Artikel ,,The
Brain as a Dream State Generator: An Activation-Synthesis Hypothesis of the Dream
Process", sehr pointiert gegen die Freud'schen Theorien. Die Autoren referieren in
einem beachtlichen Teil der Einleitung über Freuds Annahmen:
"Thus dreaming has been viewed as a psychodynamically determined state and
the distinctive formal feature for dream content have been interpreted as
manifestations of a defensive transformation of the unconscious wishes found
unacceptable to consciousness by a hypothetical censor. A critical tenet of this
wish fulfillment-disguise theory is that the transformation of the unconscious
whish by the censor disguises or degrades the ideational information in
forming the dream image [...] we will review modern neurophysiological
evidence that we believe permits and necessitates important revisions in
psychoanalytic dream theory" (S. 1335).
Der Traum, so konstatieren die Autoren weiter, sei wahrscheinlich nur eine
Begleiterscheinung eines physiologisch determinierten Prozesses unseres Gehirns
und nicht wie Freud annimmt eine durch die Zensur abgewehrte unbewusste
Wunschvorstellung (Hobson & McCarley, 1977).

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Der Traumforscher Mark Solms (1997, 1999) hingegen übt scharfe Kritik an Hobsons
Konzeption. In seinen Augen ist der Traum kein physiologisch determinierter
Prozess (wie Hobson behauptet), sondern hat spezifische psychologische
Funktionen. Solms präsentiert in seinen Veröffentlichungen Ergebnisse, die nicht nur
Hobsons Theorie widersprechen, sondern auch gut mit den Aussagen Freuds zu
vereinbaren sind. Aus dieser Kritik die im Kapitel 3.2. näher erläutert wird, entsteht
zwischen den beiden Wissenschaftlern ein langjähriger Streit rund um die
Freud'sche Traumtheorie: Die Hobson-Solms Kontroverse nimmt ihren Anfang.
3 Die Hobson-Solms Kontroverse
Die Hobson-Solms Kontroverse dauert nunmehr seit etwa 15 Jahre an und erlaubt
einen exemplarischen Einblick in aktuelle Forschungsergebnisse der
neurowissenschaftlichen Traumforschung. Dieser Einblick ist allerdings dadurch
eingeschränkt, dass die subjektive Meinung zweier Wissenschaftler widergeben
wird, da diese Arbeit keine Untersuchung der Forschungslandschaft in ihrer ganzen
Breite und Tiefe leisten kann. Die Diskussion dreht sich auch um die Vereinbarkeit
der Freud'schen Theorie zum Träumen mit den Erkenntnissen aus den modernen
Neurowissenschaften. Durch Hobsons (1975, 1977) ,,Modell der reziproken
Interaktion" und vor allem der ,,Aktivierungs-Synthese Theorie" wurden Freuds
Gedanken aus neurowissenschaftlicher Perspektive scheinbar entkräftet. Für Mark
Solms wiederum sind neben den Erkenntnissen aus seiner eigenen Studie auch
weiterer aktuelle neurowissenschaftlicher Forschungsergebnisse nicht mit Hobsons
Modellen in Bezug auf die Funktion des Träumens vereinbar. Solms eröffnet durch
seine Arbeiten einen Möglichkeitsraum, die Hypothesen Freuds in einem neuen
Licht zu betrachten. Dabei sieht Solms die Freud'sche Traumtheorien nicht bestätigt,
allerdings sind einige Thesen Freuds seiner Ansicht nach sehr gut mit den aktuellen

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2013
ISBN (eBook)
9783958208285
ISBN (Paperback)
9783958203280
Dateigröße
1.4 MB
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Oktober)
Note
1,3
Schlagworte
sigmund freuds traumdeutung lichte neurowissenschaften eine kontroverse
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Titel: Sigmund Freuds Traumdeutung im Lichte der Neurowissenschaften: Eine Kontroverse
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