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Chancengleichheit für Aussiedler/-innen im deutschen Bildungssystem?

©2013 Bachelorarbeit 49 Seiten

Zusammenfassung

Schätzungen zufolge leben derzeit etwa 4,1 Millionen Aussiedler, deren Ehegatten und Nachkommen in Deutschland. Im Rahmen dieser Arbeit beschäftigt sich die Autorin mit dieser spezifischen Migrantengruppe, wobei sie sich insbesondere auf die Einwanderer aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion bezieht, die auch als „Russlanddeutsche“ bezeichnet werden. Bei der Betrachtung deutschstämmiger Zuwanderer kommt zunächst die Frage auf, wie es zu einer Rückwanderung dieser Personengruppe nach Deutschland kommt und welche Gründe die Menschen zuvor bewegten, nach Russland zu gehen. Mit der Einreise in die Bundesrepublik erhalten Personen mit einem nachgewiesenen Aussiedlerhintergrund und deren Kinder einen besonderen rechtlichen Status, sie werden im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG direkt als deutsche Staatsbürger aufgenommen. Auch nichtdeutsche Ehepartner erhalten die deutsche Staatsangehörigkeit, sofern die Ehe im Herkunftsland bereits mehr als drei Jahre bestand. Aussiedler haben damit von Beginn ihrer Zuwanderung an dieselbe rechtliche Stellung wie die einheimische Bevölkerung und darüber hinaus eine vollständige Beteiligung an der Renten- und Arbeitslosenversicherung. Sie profitieren zudem von in den §§ 7-14 BVFG geregelten staatlichen Förderungen des Spracherwerbs sowie diversen Einwanderungsregulierungen und Integrationspolitiken. Im Gegensatz zu anderen Migrantengruppen kommen diese Personen außerdem aus Herkunftsländern, die als vergleichsweise entwickelt und an das deutsche System anschlussfähig gelten können. Aufgrund der günstigen Voraussetzungen und der Verbundenheit zur deutschen Kultur könnte man annehmen, dass die Eingliederung dieser spezifischen Migrantengruppe in das deutsche Bildungssystem, den Arbeitsmarkt und somit auch in die Gesellschaft besser verläuft als bei Personen anderer Herkunftsländer. Sollten diese Annahmen zutreffen und die einheimische Bevölkerung die Russlanddeutschen als Ihresgleichen akzeptieren und aufnehmen, so stellt sich die Frage, ob sie in der Aufnahmegesellschaft auch tatsächlich dieselben Chancen auf Bildung und Arbeit, als wichtige Voraussetzungen für die soziale Integration, erhalten, wie die autochthone Bevölkerung. Dieser Frage widmet sich die vorliegende Arbeit im Hinblick auf die Bildungsbeteiligung und den Bildungserfolg von Aussiedlern im deutschen Schulsystem. Von besonderem Interesse ist hierbei, welche Unterschiede sich an den Bildungsübergängen im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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zunächst die Frage auf, wie es zu einer Rückwanderung dieser Personengruppe
nach Deutschland kommt und welche Gründe die Menschen zuvor bewegten, nach
Russland zu gehen.
Die Siedlungsgeschichte der Russlanddeutschen ist sehr vielfältig und die ersten
nachweisbaren Verbindungen gehen bis weit über 300 Jahre in die Geschichte zu-
rück (vgl. Roesler 2003: 19). Die ersten größeren Gemeinschaften deutscher Kolo-
nisten im russischen Reich entstanden im 18. Jahrhundert, als Zarin Katharina II. die
Vorfahren der heutigen Aussiedler mit einer Reihe von Privilegien in das Land lockte.
Große, fruchtbare und unerschlossene Gebiete waren bis dahin noch unbesiedelt
und sollten Auswanderungswillige dazu verleiten, sich dort niederzulassen. (vgl.
Schneider 2005a: o. S.) Auf Grundlage eines Manifestes wurde ihnen zudem ,,[...]
das Recht auf freie Religionsausübung, Befreiung vom Militär- und Zivildienst, befris-
tete Steuerfreiheit, regionale Selbstverwaltung und Reisegeld" (ebd.: o. S.) zugesi-
chert. Mit der Hoffnung auf ein besseres Leben gingen viele Bauern und Handwerker
fort, um der Armut und uneingeschränkten Macht ihrer Herrscher zu entfliehen (vgl.
Vogelgesang 2008: 37). Die Situation der deutschen Ostkolonisten in Russland ver-
schlimmerte sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch zunehmend und
sie waren ,,[...] nach einer anfänglichen Autonomiephase erheblichen Diskriminierun-
gen und Benachteiligungen ausgesetzt [...]" (ebd.: 38). Mit einer schrittweisen Unter-
drückungspolitik wurden die gewährten Privilegien zurückgezogen und ein Sprach-
und Religionsverbot eingeführt (vgl. ebd.: 38). Im Zuge des Ersten und Zweiten Welt-
krieges wurden viele deutsche Familien auseinandergerissen, die Männer in den Mili-
tärdienst eingezogen und Zwangsumsiedelungen vollzogen. Die deutschen Sied-
lungsgebiete lösten sich nach und nach auf, die Gemeinschaft zerbrach. (vgl. ebd.:
38) Eine Ausreise aus der Sowjetunion war stark von politischen Entscheidungen
abhängig (vgl. Savoskul 2006: 199 f.). Erst mit der Forderung Michail Gorbatschows
nach Transparenz und Umgestaltung im Land, der sogenannten Glasnost- und
Perestroika-Politik, wurden politische und wirtschaftliche Reformen eingeleitet und
die Ausreisemöglichkeiten der Deutschen wieder freier gestaltet (vgl. Vogelgesang
2008: 38).
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2
Einen ausführlichen historischen Überblick gibt Roesler 2003, S. 19-80.

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Die zunehmend ungewisse Wirtschaftslage in den Herkunftsländern, Unterdrückun-
gen und Nichtakzeptanz aufgrund des Deutschseins, aber auch der Wunsch, wieder
als Deutsche unter Deutschen zu leben, den Kindern eine bessere Zukunft zu er-
möglichen und die Familie zusammenzuführen, sind nur einige Gründe, warum viele
Aussiedler alles aufgaben, um ihr Heimatland wieder aufzusuchen (vgl. Brommler
2006: 109; Strobl / Kühnel 2000: 84 f.; Vogelgesang 2008: 47). Dabei hegten viele
Menschen die Vorstellung und Hoffnung, in ein aufrichtiges und wohlhabendes
Deutschland zu kommen und endlich die Akzeptanz und Anerkennung zu finden, die
bisher nicht erfahren werden konnte. Diese zum Teil sehr euphorische Denkweise
traf mit der Zeit jedoch auf starke Enttäuschung bei den rückwandernden Russland-
deutschen. (vgl. Vogelgesang 2008: 203 ff.)
Mit der Einreise in die Bundesrepublik erhalten Personen mit einem nachgewiesenen
Aussiedlerhintergrund
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und deren Kinder einen besonderen rechtlichen Status, sie
werden im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG direkt als deutsche Staatsbürger aufge-
nommen. Auch nichtdeutsche Ehepartner erhalten die deutsche Staatsangehörigkeit,
sofern die Ehe im Herkunftsland bereits mehr als drei Jahre bestand. (vgl. Strobl /
Kühnel 2000: 29 f.) Aussiedler haben damit von Beginn ihrer Zuwanderung an die-
selbe rechtliche Stellung wie die einheimische Bevölkerung und darüber hinaus eine
vollständige Beteiligung an der Renten- und Arbeitslosenversicherung (vgl. Konietzka
/ Kreyenfeld 2001: 269). Sie profitieren zudem von in den §§ 7-14 BVFG geregelten
staatlichen Förderungen des Spracherwerbs sowie diversen Einwanderungsregulie-
rungen und Integrationspolitiken (vgl. Söhn 2008: 26). Im Gegensatz zu anderen
Migrantengruppen kommen diese Personen außerdem aus Herkunftsländern, die als
vergleichsweise entwickelt und an das deutsche System anschlussfähig gelten kön-
nen (vgl. Fuchs / Sixt 2008: 3). Aufgrund der günstigen Voraussetzungen und der
Verbundenheit zur deutschen Kultur könnte man annehmen, dass die Eingliederung
dieser spezifischen Migrantengruppe in das deutsche Bildungssystem, den Arbeits-
markt und somit auch in die Gesellschaft besser verläuft als bei Personen anderer
Herkunftsländer (vgl. ebd.: 4; Konietzka / Kreyenfeld 2001: 269). Bekräftigt wird diese
Annahme durch Dr. Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung
und Entwicklung, der in einem Interview gegenüber der Tagesschau äußerte, dass
3
Zu den genaueren Bestimmungen siehe Vogelgesang 2008, S. 52 ff.

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die Integration der Aussiedler in Deutschland besser gelaufen sei, als zunächst von
vielen angenommen. Sie seien in der Gesellschaft stärker aufgegangen als die Bür-
ger anderer ethnischer Herkunft und die zweite Generation übertreffe mittlerweile
sogar den Bildungsstand des deutschen Durchschnitts. Weiterhin nimmt er an, dass
Aussiedler in etwa zehn Jahren kein Gegenstand mehr von öffentlichen Debatten
sein werden, da sie zu ganz normalen Deutschen geworden seien. (vgl. Grabowsky
2011: o. S.)
Sollten diese Aussagen zutreffen und die einheimische Bevölkerung die Russland-
deutschen als Ihresgleichen akzeptieren und aufnehmen, so stellt sich die Frage, ob
sie in der Aufnahmegesellschaft auch tatsächlich dieselben Chancen auf Bildung und
Arbeit, als wichtige Voraussetzungen für die soziale Integration, erhalten, wie die au-
tochthone Bevölkerung (vgl. Brommler 2006: 116). Dieser Frage widmet sich die vor-
liegende Arbeit im Hinblick auf die Bildungsbeteiligung und den Bildungserfolg von
Aussiedlern im deutschen Schulsystem. Von besonderem Interesse ist hierbei, wel-
che Unterschiede sich an den Bildungsübergängen im Vergleich zur einheimischen
Bevölkerung einerseits und zu anderen Migrantengruppen wie den türkischen Ein-
wanderern
4
andererseits ergeben und welche Erklärungen für eventuelle Bildungs-
ungleichheiten denkbar sind.
1.2 Aufbau
der
Arbeit
Im einleitenden Kapitel wird zunächst die Ausgangssituation und zentrale Fragestel-
lung, die der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt, dargestellt. Um sich dem Thema
anzunähern und ein Verständnis für die Situation der Aussiedlergruppe zu entwi-
ckeln, werden zunächst einige allgemeine Aspekte wie definitorische Abgrenzungen,
ein kurzer historischer Abriss sowie aktuelle statistische Daten der Aussiedler be-
trachtet, bevor im Hauptteil auf den konkreten Aspekt der Bildung eingegangen wird.
Daran anschließend wird der allgemeine Aufbau der Arbeit kurz vorgestellt. Das
zweite Kapitel gibt einen knappen Überblick über ausgewählte theoretische Ansätze
der Bildungssoziologie, die bislang zur Erklärung von Bildungsungleichheiten heran-
4
Die Auswahl türkischstämmiger Migranten als Vergleichsgruppe zu den Aussiedlern beruht darauf,
dass es sich bei diesen um die zwei größten Einwanderungsgruppen in Deutschland handelt, die
exemplarisch für die Einwanderergesellschaft in Deutschland angesehen werden können (vgl. Gei-
ling et al. 2011: 14).

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gezogen wurden. Es wird sowohl die individuelle Ebene der Betroffenen und ihrer
Familien betrachtet, wobei aussiedlerspezifische Merkmale gesondert aufgeführt
werden, als auch eine institutionelle Perspektive aus Sicht des deutschen Bildungs-
systems eingenommen, um den Ursachen für ethnische Unterschiede im Bildungs-
bereich nachzugehen. Angeregt von den theoretischen Überlegungen wird im dritten
Kapitel der aktuelle empirische Forschungsstand zu den Bildungsbeteiligungen und -
erfolgen von Aussiedlern im deutschen Bildungssystem zusammengefasst. Dabei
richtet sich das Augenmerk auf die Übergänge vom Primar- zum Sekundarbereich I,
vom Sekundarbereich I in den Sekundarbereich II sowie den Übergang von der
Schule bzw. Ausbildung in das Erwerbsleben. Soweit es die statistischen Daten er-
lauben, findet ein ständiger Vergleich der Aussiedler zu der autochthonen Bevölke-
rung und der türkischstämmigen Migrantengruppe statt. Um einen möglichst breiten
Überblick der Auswirkungen des Aussiedlerstatus zu erhalten, werden die erste Ge-
neration, also die Migranten selbst, sowie die bereits in Deutschland geborene zweite
Generation (vgl. BAMF 2011: 156) in die Betrachtungen miteinbezogen. Die vorlie-
genden Forschungsergebnisse werden mit den theoretischen Ansätzen in Bezug
gebracht und diskutiert. Abschließend werden die gewonnenen Eindrücke gesam-
melt, die Eingangsfrage beantwortet und auf Forschungsbedarf hingewiesen.

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2 Theoretische
Ansätze
zur
Erklärung ethnischer Ungleichheiten
im deutschen Bildungssystem
In modernen postindustriellen Gesellschaften nimmt Bildung eine herausragende
Rolle ein, sowohl für die einzelnen Individuen als auch für die gesamte gesellschaftli-
che Entwicklung. So verbringen immer mehr Menschen immer längere Zeiten in wei-
terführenden Bildungseinrichtungen, was unter dem Phänomen Bildungsexpansion
gefasst wird. (vgl. Hradil 2006: 129 f.) Unter Bildung werden die in verschiedenen
Bildungsinstitutionen vermittelten Kenntnisse wie Werthaltungen, Einstellungen, Wis-
sensbestände und Fertigkeiten subsumiert (vgl. ebd.: 129). Besonders für junge
Menschen mit Migrationshintergrund werden in diesem Prozess die entscheidenden
Weichen für ihr Leben in der Aufnahmegesellschaft gestellt (vgl. Kristen 2003: 26),
da die in den Institutionen erlangten formalen Bildungsabschlüsse eng mit den späte-
ren Erwerbschancen auf dem Arbeitsmarkt verbunden sind (vgl. Konietzka / Kreyen-
feld 2001: 267). Eine Ungleichverteilung von Bildungschancen bringt demnach weit-
reichende Konsequenzen für die Lebensperspektiven des Einzelnen mit sich (vgl.
Hradil 2006: 149). Um den Mechanismen von Bildungsungleichheiten im deutschen
Bildungssystem nachzugehen, sollen im folgenden Kapitel exemplarische Denkan-
sätze und Theorien der soziologischen Bildungsforschung aufgezeigt werden, die zur
Klärung von ethnischen Differenzen beitragen können. Die Erklärungsansätze bezie-
hen sich einerseits auf individuelle und familiale Aspekte von Menschen mit Migrati-
onshintergrund, wobei aussiedlerspezifische Merkmale gesondert aufgeführt werden.
Auf der anderen Seite werden auch strukturelle Mechanismen des deutschen Bil-
dungssystems näher beleuchtet, die Ungleichheiten im deutschen Bildungssystem
begünstigen können (vgl. Diefenbach 2009: 439).
2.1 Individuelle Merkmale von Migranten
2.1.1 Ressourcentheoretische
Ansätze
Um Antworten auf bildungssoziologische Fragestellungen im Hinblick auf die indivi-
duellen Merkmale von Menschen mit Migrationshintergrund zu erhalten, wird das so-
ziale Bildungsverhalten des einzelnen Individuums auf der Mikroebene betrachtet
(vgl. Hradil 2006: 136; Becker 2009: 18). Die soziologische Ressourcentheorie geht

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davon aus, dass Heranwachsenden während des Sozialisationsprozesses weitge-
hend unbewusste ,,kulturelle Ressourcen" (Hradil 2006: 138) von ihren Eltern mitge-
geben werden, die für den erfolgreichen Abschluss weiterführender Bildungsgänge
von großer Bedeutung sind (vgl. ebd.: 138).
Darunter fallen Aspekte wie
eine
,,[...] positive Leistungsmotivation, die auf das Erreichen von Zielen und
Erfolgen und nicht auf das Vermeiden von Misserfolgen hin ausgerichtet ist,
ein flexibler, distanzierter, autonomer und aktiver Umgang mit Normen und
Rollen,
ein
hohes
Ausmaß
an
Sprachfertigkeiten,
[...] sowie die Beherrschung abs-
trakter, komplexer, situationsunabhängiger, persönlich differenzierender
Sprechweisen,
ein hohes Ausmaß an Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten,
grundlegender
Optimismus,
Zukunfts- und nicht Gegenwartsorientierung,
die Fähigkeit, spontane Bedürfnisbefriedigung zugunsten selbstdisziplinierter
Anstrengung aufschieben zu können." (ebd.: 138)
Die genannten kulturellen Ressourcen verschaffen Kindern aus höheren Sozial-
schichten sowohl Vorteile in ihrer Bildungslaufbahn als auch im späteren Berufsle-
ben, da der Zugang zu anspruchsvollen Tätigkeiten erleichtert wird (vgl. Hradil 2006:
138). Als Folge der unterschiedlichen Ressourcenausstattung entstehen somit
Chancenungleichheiten zwischen verschiedenen sozialen Schichten (vgl. Hradil
2006: 138). Diese Denkweise geht unter anderem auf Pierre Bourdieu zurück. Bour-
dieu kritisiert den wirtschaftswissenschaftlichen Kapitalbegriff und weitet diesen auf
all seine Erscheinungsformen aus (vgl. Bourdieu 1983: 184). Er unterscheidet zwi-
schen ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital, welches als akkumulierte
Arbeit entweder in Form von Materie oder als verinnerlichte Form verstanden werden
kann (vgl. ebd.: 183 und 186). Als ökonomisches Kapital bezeichnet Bourdieu den
von den Wirtschaftswissenschaften auf Profitmaximierung ausgerichteten Kapitalbe-
griff, der direkt in Geld konvertierbar und in Form von Eigentumsrechten institutiona-
lisiert ist (vgl. ebd.: 184 und 186). Bei sozialem Kapital handelt es sich ,,[...] um Res-

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sourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen" (ebd.: 191) und die
durch den materiellen und symbolischen Tausch zwischen den Mitgliedern aufrecht-
erhalten werden (vgl. ebd.: 191) Kulturelles Kapital ist dagegen unmittelbar an die
Person als Träger gebunden und wird in drei weitere Formen unterteilt. Inkorporiertes
Kulturkapital lässt sich nur durch die eigene Person aneignen, da es körpergebunden
ist und einen Verinnerlichungsprozess voraussetzt, der zeitaufwendig ist. Man könnte
diese Besitzaneignung im Deutschen auch als Bildung bezeichnen, die auf kurze
Sicht nicht an andere Personen weitergegeben werden kann. (vgl. ebd.: 187 f.) Ob-
jektiviertes Kulturkapital ist dagegen in Geld konvertierbar und kann anhand seiner
materiellen Träger an andere übertragen werden. Jedoch ist zu beachten, dass der-
artiges Kapital zwar materiell angeeignet, aber nur durch dazugehöriges inkorporier-
tes Kulturkapital genutzt werden kann. So wird für eine ökonomisch angeeignete Ma-
schine bspw. auch das Wissen zur Bedienung benötigt, da sie für den Eigentümer
ansonsten von geringem Nutzen ist. (vgl. ebd.: 189) Schließlich wird institutionalisier-
tes Kulturkapital dadurch erlangt, dass inkorporiertes Kulturkapital einer Person in
Form von schulischen oder akademischen Titeln institutionell anerkannt wird, was als
dauerhaftes und rechtlich garantiertes Zeugnis gilt. Dieses Kapital kann dann wiede-
rum in ökonomisches Kapital umgewandelt werden. (vgl. ebd.: 190 f.) Somit lässt
sich festhalten, dass ein bereits vorliegender sozialer Familienstand durch das Bil-
dungswesen nur reproduziert wird, da der schulische Ertrag eines Kindes von dem
kulturellen Kapital abhängt, den die Eltern zuvor investiert haben (vgl. Bourdieu
1983: 186).
2.1.2 Humankapitaltheoretische
Ansätze
Humankapitaltheoretische Ansätze als wesentliche ,,[...] Vertreter der individualisti-
schen Handlungstheorie [...]" (Becker 2009: 25) entstanden in den frühen 1960er
Jahren durch Ökonomen wie Gary S. Becker, Theodore W. Schultz und Jacob
Mincer, die sich der Erklärung von Wirtschaftswachstum und Einkommensverände-
rungen in der Bevölkerung widmeten. Darüber hinaus wurden auch ergänzende Er-
klärungsfaktoren wie das Humankapital eines Menschen betrachtet. In diesem Kon-
text befasst sich die Humankapitaltheorie mit der Fragestellung, warum bestimmte
Bevölkerungsschichten mehr Zeit in Bildung investieren als andere und demnach
mehr Bildungserfolg und Lebenseinkommen erzielen (vgl. Hradil 2006: 138). ,,Educa-

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tion and training are the most important investments in human capital" (Becker 1993:
17), weist der US-amerikanische Ökonom Becker auf die Bedeutung von (Aus-) Bil-
dungsentscheidungen hin. Der Grundgedanke dahinter ist, dass die Produktivität ei-
nes Menschen durch seine Humankapitalausstattung abgebildet wird und seinen
Wert auf dem Arbeitsmarkt steigert (vgl. Konietzka / Kreyenfeld 2001: 269). Höhere
Investitionen in schulische und berufliche Bildung sowie in Weiterbildung zahlen sich
dann in Form einer höheren sozialen Position sowie höherem Einkommenserwerb
aus (vgl. Becker 2009: 26; Eulenberger 2013: 111). Im Sinne der Humankapitaltheo-
rie werden Einkommensunterschiede als Resultat unterschiedlich hoher Investitionen
eines Menschen in Bildung gesehen (vgl. Diefenbach 2009: 441). Diese fallen wiede-
rum unterschiedlich aus, da Individuen die Erfolgswahrscheinlichkeit einer Bildungs-
entscheidung genau einschätzen können und somit bewusst gezielte Kosten-Nutzen-
Entscheidungen treffen (vgl. Hradil 2006: 138). Der Mensch als Nutzenmaximierer
investiert so lange in Bildung, bis der erwartete Nutzen die aufzubringenden Kosten
übersteigt, um seine Einkommenschancen zu erhöhen (vgl. Becker 2009: 26). Dabei
wenden Menschen, die in ihren Bildungserfolg weniger investieren müssen und hohe
Erfolgsaussichten haben, mehr Zeit für Bildung auf. Sie ergreifen diese Chance, da
ihnen die Bildungsinvestition sichere Erträge in Form von Lebenseinkommen zusi-
chert. (vgl. Hradil 2006: 138 f.) Einkommensschwache Familien dagegen stehen In-
vestitionsentscheidungen in Bildung sehr kritisch gegenüber, da sich die daraus ent-
standenen Einkommensausfälle stark auf deren Lebenssituation auswirken. (vgl.
ebd.: 138 f.) Die Orientierung des humankapitaltheoretischen Ansatzes am neoklas-
sischen Grundmodell der Mikroökonomik und dessen Annahmen über den Arbeits-
markt stößt häufig auf Kritik, insbesondere durch die Ausrichtung an ausschließlich
monetären Erträgen. (vgl. Becker 2009: 26)
Nachdem die Entscheidungen des Einzelnen, in Bildung zu investieren, betrachtet
wurden, widmeten sich Humankapitaltheoretiker zunehmend dem Bildungserwerb im
Kindesalter. Dabei stellt das Investitionsverhalten der Eltern eine zentrale Einfluss-
größe auf die Bildung von Kindern dar, welches im Wesentlichen von drei Faktoren
abhängt. (vgl. Diefenbach 2009: 441) Wie viel Zeit zur Unterstützung eines Kindes
auf seinem Bildungsweg zur Verfügung steht und wie qualitativ diese Zeit ausfällt,
wird zum einen vom erreichten Bildungsstand der Eltern beeinflusst, zum anderen
wirkt sich ein höheres Familieneinkommen positiv auf die verfügbare Zeit- und Gü-

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termenge aus, die einem Kind zugutekommt. Zuletzt ist die Anzahl von Kindern in
einem Haushalt von Bedeutung, da die Investition der Eltern in die Bildung eines ein-
zelnen Kindes mit zunehmender Kinderzahl geringer ausfällt. (vgl. ebd.: 441) Bei
Migrantenkindern kann im Vergleich zu deutschen Altersgenossen davon ausgegan-
gen werden, dass ihre Eltern einen durchschnittlich geringeren Bildungsstand auf-
weisen, weniger Familieneinkommen erzielen und mehr Geschwister haben. (vgl.
ebd.: 441) Dementsprechend fallen die Investitionen der Eltern mit Migrationshinter-
grund in die Bildung und somit in das Humankapital ihrer Kinder vermutlich niedriger
aus. Folgen sind eine geringere Produktivität und ein niedrigerer Wert auf dem Ar-
beitsmarkt, der letztlich zu Einkommensunterschieden und Chancenungleichheiten
zwischen Personen mit und ohne Migrationshintergrund führt. Einkommensunter-
schiede zwischen Einheimischen und Migranten können darüber hinaus auch in der
schwierigen Bewertung von nichtdeutschem Humankapital gesehen werden (vgl.
Konietzka / Kreyenfeld 2001: 270).
2.1.3 Signal-
und
Filtertheorie
Die Ansätze der Signal- und Filtertheorie von Kenneth J. Arrow und Andrew M.
Spence kritisierten in den 1970er Jahren die Herangehensweise der Humankapital-
theorie hinsichtlich der Betrachtung von Bildungserfolg und Wissenserwerb als Indi-
katoren der Produktivität. Zudem ist Produktivität eine Größe, die von Arbeitnehmern
nur schwer einzuschätzen und von Arbeitgebern schwer zu messen ist (vgl. Becker
2009: 26). Bei der Rekrutierung von Arbeitskräften entsteht somit eine große Bewer-
tungsunsicherheit bezüglich der Erwartungen des Unternehmers. Als Signal für künf-
tige Arbeitgeber zur Einstufung der Stellenbewerber fungieren daher vorwiegend
formelle Bildungszertifikate, die Rückschlüsse auf die vorhandenen Qualifikationen
und Kompetenzen des Bewerbers zulassen. (vgl. ebd.: 26) Mit schlechteren Leistun-
gen und niedrigeren Abschlüssen gehen schlechtere Übergangschancen in das Be-
rufsleben einher (vgl. Eulenberger 2013: 110). Potenzielle Arbeitgeber sind daher
wichtige Akteure beim Übergang in eine berufliche Ausbildung und entscheiden dar-
über, welche Kapitalien dem Bewerber von Nutzen sind (vgl. ebd.: 108). Diese ver-
folgen stets das Ziel, möglichst geringe Ausbildungs- und Einarbeitungskosten auf-
zuwenden und selektieren bzw. filtern nach diesem Kriterium unter den Bewerbern.

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Bildungszertifikate erfüllen somit eine Signal- und eine Selektionsfunktion. (vgl. Hradil
2006: 137; Becker 2009: 26 f.)
Bei Migranten ergeben sich zusätzliche Schwierigkeiten bei der Verwertung von Bil-
dungszertifikaten, sofern diese nicht in Deutschland, sondern in anderen Ländern
erworben wurden. Für Aussiedler besteht zwar die Möglichkeit, sich die vorhandenen
Ausbildungsabschlüsse aus dem Herkunftsland durch staatliche Behörden formell
anerkennen zu lassen, dies ist jedoch noch ,,[...] keine hinreichende Bedingung für
gute Arbeitsmarktchancen" (Konietzka / Kreyenfeld 2001: 269), da sie dadurch nicht
automatisch auf demselben Niveau wie deutsche Bildungsabschlüsse angesiedelt
werden (vgl. ebd.: 270). Die Anerkennung der Bildungsabschlüsse ist daher nur eine
erste Annäherung für bessere Zugangschancen der Aussiedler auf dem deutschen
Arbeitsmarkt, doch solange die ,,[...] Arbeitgeber die Bedeutung ausländischer Aus-
bildungszertifikate nicht hinreichend beurteilen können, werden sie deren Inhaber
schlechter entlohnen oder gar nicht erst einstellen" (ebd.: 270).
2.2 Aussiedlerspezifische
Merkmale
2.2.1 Sprachdefizite
und
Folgemechanismen
Die Integration von Aussiedlern gestaltet sich seit den 1990er Jahren zunehmend
schwieriger. Zum einen bedingt durch die veränderten Rahmenbedingungen der
Aufnahmegesellschaft wie knappe Arbeitsplätze, begrenzter Wohnraum und wirt-
schaftliche Schwierigkeiten und zum anderen durch die veränderten Einwanderer
selbst. Bei diesen handelt es sich seit Zusammenbruch der Sowjetunion vorwiegend
um russlanddeutsche Aussiedler. Diese Gruppe kann im Vergleich zu den früher ein-
gewanderten Aussiedlern der osteuropäischen Herkunftsgebiete, deren Zuzug bei-
nahe unbemerkt verlief, eher mit den typischen Migrantengruppen und ihren Prob-
lemfeldern in Deutschland gleichgesetzt werden. Kaum vorhandene Deutschkennt-
nisse, kulturelle Unterschiede und andere Lebensweisen zeichnen diese Menschen
aus. (vgl. Brommler 2006: 109 ff.; Strobl / Kühnel 2000: 13) Außerdem handelt es
sich bei knapp 80 % der Einreisenden um ,,mitreisende Familienangehörige"
(Brommler 2006: 114), die nicht selbst als deutsche Volkszugehörige nach §4 BVFG,
sondern mit solchen als Ehepartner oder Kinder einwandern. Diese Tatsache ist in-

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sofern problematisch, als dass gerade diese Gruppe die meisten Defizite im sprachli-
chen Bereich aufweist. (vgl. ebd.: 114)
Nach Vogelgesang (2008: 65 ff. und 119) bedarf es als grundsätzliche Bedingung für
eine erfolgreiche Schul- und Bildungslaufbahn sowie Integration in die Aufnahmege-
sellschaft zunächst der Beherrschung der deutschen Sprache. Die Aneignung dieser
Kompetenz wird durch unterschiedliche Faktoren bedingt, die sich entweder positiv
oder negativ auf die Motivation der Migranten, die Sprache zu erlernen, auswirken
können. Im Allgemeinen lässt sich eine deutliche Verschlechterung der Deutsch-
kenntnisse bei den Aussiedlern aus sowjetischen Nachfolgestaaten feststellen. Das
liegt zum einen daran, dass mehr als ein Drittel von ihnen bei der Einreise jünger als
20 Jahre alt war und bei der Entscheidung, nach Deutschland auszuwandern, nicht
einbezogen wurde. Viele Familien mussten sich zudem einem jahrelangen Ausreise-
prozedere unterziehen, welches mit starken Unsicherheiten behaftet war. (vgl. ebd.:
65 ff.) Selbst in Deutschland wechseln viele Familien nach dem Fristablauf der Best-
immungen des Wohnortzuweisungsgesetzes nochmals ihren Wohnort, um beispiel-
weise in der Nähe von Familienangehörigen zu leben. Ein Zugehörigkeitsgefühl,
auch zu einer Bildungsinstitution, kann somit nur schwer aufgebaut werden, welches
enorm wichtig für die Identitätsbildung der Jugendlichen ist. Diese Gründe wirken
sich nachteilig auf die Motivation und Bereitschaft der jugendlichen Migranten aus,
die deutsche Sprache zu erlernen und sich in das Schulsystem zu integrieren. (vgl.
ebd.: 65 ff.) Weitere Ursachen der teilweise schwerwiegenden Sprachschwierigkeiten
können darin gesehen werden, dass aufgrund der eingangs beschriebenen Benach-
teiligung der Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion viele Aussiedler nach dem
Zweiten Weltkrieg in ethnisch gemischten Gebieten lebten und zunehmend binatio-
nale Ehen führten (vgl. ebd.: 65 ff.; Brommler 2006: 115). Es mangelte in den Her-
kunftsländern außerdem an finanziellen Mitteln, um Deutschunterricht in den Schulen
anbieten zu können. Die deutsche Sprache und Kultur verlor damit zunehmend an
Bedeutung. Die Folgen sind nun unzureichende deutsche Sprachkenntnisse, die für
die jungen Migranten gravierende Auswirkungen haben: ,,Mangelhafte Ausdrucks-
weise in der gesprochenen Sprache verstärkt das Gefühl von Fremdheit und behin-
dert die soziale Integration, während Lücken im schriftlichen Bereich oft den Aus-
schluss aus den qualifizierten Arbeitsmarktsegmenten unserer Dienstleistungsgesell-
schaft, speziell aus dem Ausbildungssystem, bedeuten" (Vogelgesang 2008: 68).

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Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2013
ISBN (eBook)
9783958208315
ISBN (Paperback)
9783958203310
Dateigröße
1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Kassel
Erscheinungsdatum
2015 (Oktober)
Note
1
Schlagworte
chancengleichheit aussiedler/-innen bildungssystem
Produktsicherheit
BACHELOR + MASTER Publishing
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