Zum Kindeswohl-Konzept
©2007
Studienarbeit
53 Seiten
Zusammenfassung
In dieser Arbeit werden unterschiedliche Definitionsversuche zu Kindeswohl aus verschiedenen Teilgebieten der Wissenschaft, aber auch aus dem rechtlichen Bereich nebeneinander gestellt, um die Intensität dieses Begriffs zu verdeutlichen. Autoren, Wissenschaftler und Institutionen aus unterschiedlichen Professionen führen schon seit Einführung des Kindeswohlbegriffs unbefriedigende Debatten. Den Beitrag leisten die verschiedenen wissenschaftlichen Untersuchungen aus unterschiedlichen Fachgebieten, wie der Human-, Familienrechts- und Entwicklungspsychologie, den Sozialwissenschaften, der Sozialpädagogik, dem Familienrecht, Kinder- und Jugendhilfegesetz und mehr, die keine Übereinstimmung über den Inhalt des Kindeswohlbegriffs finden können, da die Methoden der Untersuchungen und die Anwendung des Kindeswohlbegriffs abweichend sind. Jedoch muss das Wohl des Kindes im Fokus interdisziplinärer Arbeit sein, um alle Bereiche, die das Kind betreffen, abdecken zu können. Zudem sind die vielen Definitionen konfuser Art und nicht leicht zugänglich. Es stellen sich die Fragen, warum ist es so schwierig auf nationaler Ebene eine gleichbedeutende und anerkannte Kindeswohldefinition zu finden? Und was wäre, wenn es den Begriff nicht geben würde, bzw. wenn es eine klare Definition geben könnte? Fragen, die zum Schluss beantwortet werden sollen.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
4
ihre eignen (und notwendigerweise eingeführten) Rechte, erhalten Kinder ein Recht auf
Kindheit. Sie können ein eigenes Verantwortungsgefühl entwickeln, das durch die
erzieherische Verantwortung gefördert werden soll. Doch werden den Eltern Grenzen gesetzt,
indem die Elternverantwortung bzw. das Elternrecht ausschließlich als pflichtgebundenes und
treuhänderisches Recht gesehen wird. Das Wohl des Kindes dient als Grenze der elterlichen
Verantwortung.
5
Das Dilemma der Begriffsbestimmung zeigt sich deutlich im Gesetzbuch, in dem an keiner
Stelle steht, was eigentlich unter Kindeswohl deutlich zu verstehen ist.
6
Gleichwohl ist
Kindeswohl Voraussetzung für familienrechtliche Entscheidungen.
7
In dieser Arbeit sollen unterschiedliche Definitionsversuche zu Kindeswohl aus
verschiedenen Teilgebieten der Wissenschaft, aber auch aus dem rechtlichen Bereich
nebeneinander gestellt werden, um die Intensität dieses Begriffs zu verdeutlichen. Autoren,
Wissenschaftler und Institutionen aus unterschiedlichen Professionen führen schon seit
Einführung des Kindeswohlbegriffs unbefriedigende Debatten. Den Beitrag leisten die
verschiedenen wissenschaftlichen Untersuchungen aus unterschiedlichen Fachgebieten, wie
der Human-, Familienrechts- und Entwicklungspsychologie, den Sozialwissenschaften, der
Sozialpädagogik, dem Familienrecht, Kinder- und Jugendhilfegesetz und mehr, die keine
Übereinstimmung über den Inhalt des Kindeswohlbegriffs finden können, da die Methoden
der Untersuchungen und die Anwendung des Kindeswohlbegriffs abweichend sind. Jedoch
muss das Wohl des Kindes im Fokus interdisziplinärer Arbeit sein, um alle Bereiche, die das
Kind betreffen, abdecken zu können. Zudem sind die vielen Definitionen konfuser Art und
nicht leicht zugänglich. Es stellen sich die Fragen, warum ist es so schwierig auf nationaler
Ebene eine gleichbedeutende und anerkannte Kindeswohldefinition zu finden? Und was wäre,
wenn es den Begriff nicht geben würde, bzw. wenn es eine klare Definition geben könnte?
Fragen, die zum Schluss beantwortet werden sollen.
5
Vgl. Maywald, 2002, S. 4
6
Vgl. Dettenborn, 2001, S. 46
7
Vgl. Maywald, Aufsatz: Kindeswohl was ist das? 21./22.04.2005, S. 13
5
2. Der Begriff ,,Kindeswohl"
Kindeswohl ist ein unklarer und offener
8
Begriff, der dehnbar und frei nach eigenen
Wertvorstellungen und individuellen Ansichten definiert wird.
9
Dettenborn kritisiert die
Unbestimmtheit des Begriffs ,,Kindeswohl" und meint, dass es unter wissenschaftlichen
Aspekt eine definitorische Katastrophe
10
sei. Unter juristischen Aspekt ist Kindeswohl ein
unbestimmter Rechtsbegriff, der einer Generalklausel entspricht, deren Auslegung zum Inhalt
richterlichen Entscheidens wird.
11
Unter kognitionspsychologischen Aspekt werde dem
Begriff ,,Kindeswohl", der sich in einem unüberschaubaren Feld wechselwirkender
Einflussfaktoren, die Komplexität genommen und auf ein theoretisches Konstrukt reduziert.
Und zuletzt fungiere der Kindeswohlbegriff unter moralischem Aspekt als ,,Instrument der
Rechtfertigung von Gesetzgebungs- oder Rechtsanwendungsakten, sowohl im Sinne
begründeter Prinzipien als auch im Sinne der Motivveredelung und der missbräuchlichen
Kaschierung einseitiger Interessen."
12
Doch sollte im Vordergrund die produktive und
differenzierte Nutzung des Begriffs gesehen werden
13
und nicht der theoretische Chaos der
Begriffsbestimmung.
Das Familienrecht mit seinen rechtlichen Instanzen (Anwalt, Richter, Gutachter) und das
Kinder- und Jugendhilfegesetz (Jugendhilfe, Jugendamt) handeln zugunsten des Kindeswohls,
doch herrscht auch hier keine Einheit in der Definition, obwohl sich die rechtsgebundenen
Institutionen, wie der Richter und das Jugendamt, bei unaufhörlicher Verletzung des
Kindeswohls, in einem Verfahren vor Gericht wieder finden.
Alle am Gerichtsverfahren beteiligten Instanzen haben unterschiedliches theoretisches und
praktisches Wissen und zudem unterschiedliche Auffassungen zum Kindeswohl. Für ein
familiengerichtliches Verfahren kann das bedeuten, dass alle anwesenden Beteiligten über das
Wohl des Kindes nach eigenen (Ge-) Wissens- und Wertvorstellungen urteilen und jeweils
über ihre eignen Auslegungen des Begriffs entscheiden.
14
8
Vgl. Ostbomk-Fischer, 2000, S. 157
9
Vgl. Rabaa, 1985, S. 13
10
Vgl. Dettenborn, 2001, S. 46
11
Vgl. Dettenborn, 2001, S. 45f.
12
Zitat: Dettenborn, 2001, S. 46
13
Vgl. Dettenborn/Walter, 2002, S. 60
14
Vgl. Thiel, 2005, S. 3
6
2.1 Sichtweise im Familienrecht
Die Rechtsebene ist der Ausdruck für die Gestaltung von Rechtsverhältnissen.
15
Aus diesem
Blickwinkel ist Kindeswohl ein so genannter unbestimmter Rechtsbegriff. Der Begriff
entzieht sich einer juristisch abstrakten oder einer allgemeinen Definition und bedarf einer
Interpretation im Einzelfall.
16
Die Interpretationsversuche über das Kindeswohl müssen für
jedes Kind immer wieder neu gedeutet werden, da jedes Kind unterschiedlich ist. Das ist
keine neue Erkenntnis! In dem 1979 erschienen Buch über ,Kindeswohl' von Simitis et al.
heißt es: ,,Das Kind soll als Person, mit eigenen, von der Rechtsordnung zu respektierenden
Interessen anerkannt werden."
17
Die Interessen eines Kindes sind individuell unterschiedlich,
so dass ein einheitliches Festlegen des Inhaltes unmöglich wird. Bereits damals ist die
Unendlichkeit des Begriffs Kindeswohl und die Notwendigkeit einer allgemeinen
Übereinkunft bekannt gewesen. Hinzu kommt, dass der gesellschaftliche Zeitwandel den
Inhalt des Begriffs immer wieder neu erscheinen lässt. D.h. die permanent geführten
Diskussionen über die Bedeutung des Kindeswohls passen sich dem zeitlichen Kontinuum an,
so dass der Inhalt sich fortwährend weiter entwickelt und sich den Bedingungen des
gesellschaftlichen Wandels angleicht. Dettenborn sagt, dass die veränderten gesellschaftlichen
Maßstäbe, die Tendenzen der Auslegung beeinflussen und ,,dass dadurch soziale Dynamik
und neue fachliche Erkenntnisse berücksichtigt werden können."
18
Er erkennt den positiven
Aspekt dieses Begriffes, der flexibel für jede Generation bestimmt werden kann.
19
Dennoch
bleibt die Problematik weiterhin bestehen, die sich damals wie heute in der Anwendung des
unklaren und schwer definierbaren Kindeswohlbegriffs verdeutlicht.
2.2 Sichtweise im Jugendamt
In der Sozialarbeit ist der Kindeswohlbegriff ebenso von großer Bedeutung. Auch hier
erweist sich die Entscheidung über die Kriterien als heikel. So heißt es, dass selten ein
Unterfangen so erfolglos geblieben ist, wie das, den Begriff klar zu definieren. Hierbei
handelt es sich nicht um den Versuch einer Definition, sondern ,,wie der Begriff im
Zusammenhang mit der Hilfe zur Erziehung operationalisiert werden kann."
20
Diese
Formulierung ist im § 27 SGB VIII
21
festgelegt und stellt die Vorstellung von einem
15
Vgl. Dettenborn 2001, S. 48
16
Vgl. Maywald, 21./22.04.2005, S. 13
17
Vgl. Simitis/Rosenkötter/Vogel/Boost-Muss/Frommann/Hopp/Koch/Zenz und Peschel-Gutzeit, 1979, S. 19
18
Zitat: Dettenborn, 2001, S. 10
19
Ebd.
20
Zitat. Fieseler/Herborth, 2005, S. 77
21
siehe im Anhang 1 unter Gesetzestexte
7
gelingenden Erziehungsprozess dar. Ist zu vermuten, dass der Prozess gestört ist, wird sein
Ziel nicht erreicht. ,,Das gesetzliche Ziel ist die Entwicklung und Erziehung zu einer
,eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit', oder [...] zu einem
erwachsenen Menschen, der autonom und sozial kompetent handeln kann."
22
Die Sozialarbeit verfolgt eine andere Methode zur Kindeswohlsicherung als das Gericht, das
nach rechtlichen Vorschriften ein abschließendes Gesamturteil über das Kindeswohl fällt. Das
Jugendamt beschäftigt sich mit der Praxis, d.h. mit dem Kind, seiner momentanen
Bedürfnislage und seinen Zukunftsperspektiven. Das Gericht verbindet der rechtliche Eingriff
in die elterliche Sorge.
23
Dennoch sind beide Institutionen an das Familienrecht gebundenen.
Das Familiengericht und das Jugendamt müssen sich nach dem Familienrecht und dem
integrierten Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) am Wohl des Kindes orientieren.
2.3 Interdisziplinäre Kindeswohldefinitionsversuche
Der konstruierte Begriff ,,Kindeswohl" reicht der Judikatur in seinem rechtlichen
Bestimmungsrahmen nicht aus. Sie ist auf außerjuristische Erkenntnisse anderer Disziplinen
aus Medizin, Psychologie, Pädagogik und Sozialwissenschaften angewiesen.
24
Auch die
unterschiedlichen wissenschaftlichen Fachgebiete sehen die Verstrickungen in der Erfassung
des Kindeswohlbegriffs und finden keine Einigkeit. Daher verlangt die inhaltliche
Bestimmung des Begriffs unbedingt eine interdisziplinäre Zusammenarbeit, um differenzierte
Teilgebietsansichten in die rechtliche Interpretation mit einzubeziehen.
2.3.1 Kindeswohl im Familienrecht
Coester hat 1982 eine umfassende Studie erstellt, in der er rechtliche Kindeswohl-Kriterien
aufstellt. Demnach lassen sich Kindeswohlkriterien, wie sie sich damals aus Gesetz und
Rechtsprechung ergeben haben, unterscheiden.
Nach Coesters Auffassung gehören zu den rechtlichen Kindeswohlkriterien:
25
22
Ebd.
23
Vgl. Fieseler/Herborth, 2005, S. 82
24
Vgl. Simitis/Rosenkötter/Vogel/Boost-Muss/Frommann/Hopp/Koch/Zenz und Peschel-Gutzeit, 1979, S. 19
25
Vgl. Coester, in 1982/83, S. 176 - 203
8
I. Rechtliche Aussagen zum Kindeswohl
x Kontinuität und Stabilität von Erziehungsverhältnissen.
x Die inneren Bindungen des Kindes.
x Die positiven Beziehungen zu beiden Eltern.
x Die Haltung der Eltern und des Kindes zur Gestaltung der nachehelichen
Beziehungen.
x Der Kindeswille a. als Ausdruck der Selbstbestimmung
b. als Ausdruck der Verbundenheit
c. als Ausdruck des persönlichen
(emotionalen) Wohlbefindens.
II. Maßstäbe der umgebenden Rechtsordnung
x Die Erziehungsziele der Selbstentfaltung und Anpassung.
x Der Vorzug des partnerschaftlichen (kooperativen) Erziehungsstils.
Die psychologische Arbeitsdefinition dazu lautet, das Kindeswohl in dem Maße gegeben ist,
in dem ein Kind einen Lebensraum erhält, in dem es die körperlichen, emotionalen, geistigen,
personalen, sozialen, praktischen und sonstigen Eigenschaften, Fähigkeiten und Beziehungen
entwickeln kann. Diese Eigenschaften sollen das Kind zunehmend stärker befähigen, um für
das eigene Wohlergehen im Einklang mit den Rechtsnormen und der Realität sorgen zu
können. Letzten Endes ist Maßstab für das ,,Kindeswohl" das ,,Lebenswohl". ,,Kindheit ist in
dem Maße glücklich, wie sie einen Menschen instand setzt (die Grundlagen bietet), als
Erwachsener für sein eigenes Wohlergehen sorgen zu können."
26
Coester fasst in seiner Studie eine Vielzahl von Kindeswohl-Kriterien aus psychologischen
Erkenntnissen zu einem rechtsfähigen Kriterienkatalog zusammen. Diese Arbeitsdefinition
könnte als Leitfaden zur praktischen gutachterlichen Erhebungs- und Beurteilungstätigkeit
dienen. Doch kommt es als ein allgemeinverbindlicher Leitfaden für Einzelfälle nicht zur
Anwendung.
27
Der Begriff Kindeswohl bezieht sich auf die ganze Kindheit und Jugend bis
zur Volljährigkeit. Deshalb müssen die Kriterien der Kindeswohlbestimmung genauer
formuliert werden. Coester meint, dass es drei Kardinalfragen bei der Einschätzung von
Kindeswohl gebe: ,,Gewährleistung oder Gefährdung des Kindeswohls und bessere
Möglichkeit bei prinzipiell gleicher Gewährleistung."
28
Weiter meint er, dass ,,Bindung,
Elternnähe und Wohlergehen unmittelbar und direkt aus dem Gesetz ablesbar sind."
29
Zwar
besteht im BGB keine eindeutig festgelegte Sachdefinition zum Begriff des Kindeswohls.
Aber tatsächlich kann der unbestimmte Rechtsbegriff ,,durch die verschiedenen
Erscheinungsformen der Kindeswohlgefährdung konkretisiert werden, nämlich durch
26
Zitat: Coester, 1983/83, S. 177f.
27
Vgl. Coester, 1983/83, S. 201
28
Ebd.
29
Ebd.
9
Missbrauch der elterlichen Sorge, Kindesvernachlässigung und Versagen der Eltern."
30
Im
Gesetz wird zwischen körperlichem, geistigem und seelischem Kindeswohl unterschieden,
um zu verdeutlichen, dass es um den Schutz des in der Entwicklung befindlichen Kindes geht.
Gewöhnlich lassen sich die Grenzen der Gefährdung schwer festlegen. Erst unter Vorgabe
gewisser Entwicklungsstandards des Kindes gemäß § 1 Abs. 1 SGB VIII, kommt der Begriff
Kindeswohl zur Geltung.
31
D.h., dass das Kind ein Recht ,,auf Förderung seiner Entwicklung
und Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit"
hat.
32
Die Eltern haben für die bestmögliche Förderung zu sorgen. Dieses Gesetz macht die
elterliche Erziehungsfähigkeit von der Elternverantwortung abhängig, d.h. dem Kind das
Beste im Bereich des Möglichen zu bieten, das sich umkehren kann, denn ebenso tragen die
sozialen Verhältnisse der Eltern zum Schicksal eines Kindes bei und können ein Lebensrisiko
für das Kind bedeuten. Die Unfähigkeit der Eltern kann sich in Entwicklungsdefiziten und
Verhaltensauffälligkeiten des Kindes äußern. Das heißt, dass die Gesetzgebung Kindeswohl
unter dem Aspekt der Gefährdung definiert und erst bei einer bestehenden
Kindeswohlgefährdung das Gericht maßgeblich reagiert. Somit dient Kindeswohlgefährdung
als Grenze des Elternrechts. Der Erziehungsauftrag der Eltern endet dort, wo das Kindeswohl
nach Art. 6 des Grundgesetzes
33
gefährdet ist.
2.3.2 Aspekt der elterlichen Trennung/Scheidung
Unter dem Aspekt der elterlichen Trennung sind gesetzliche Rahmenbedingungen bei der
Kindeswohlbestimmung zu berücksichtigen. Dabei handelt es sich um die Regelung der
elterlichen Sorge nach der Trennung. Die Eltern erhalten automatisch nach einer Trennung die
gemeinsame Sorge. Alle zu regelnden Scheidungsfolgen werden nur noch auf Antrag durch
das Familiengericht entschieden. Zu regeln sind, das Kind betreffend, das Umgangsrecht,
Aufenthaltsbestimmungsrecht und die alleinige Sorge. Stellt ein Elternteil den Antrag auf
alleinige Sorge, Umgangsregelung oder die Aufenthaltsbestimmung, so hat sich das
Verfahren ausschließlich am Wohl des Kindes zu orientieren. D.h., dass der gemeinsamen
elterlichen Sorge eine besondere gemeinschaftliche elterliche Verantwortung zugesprochen
wird, auch wenn die Eltern getrennt leben.
30
Vgl. Fieseler/Herborth, 2005, S. 79
31
Ebd.
32
Zitat: Fieseler/Herborth, 2005, S. 81
33
In Kapitel 4 dieser Arbeit ausführlicher
10
,,Elternschaft und Partnerschaft sind im Hinblick auf die elterliche Sorge für ein
gemeinsames Kind auseinander zu halten; die getrennt lebenden Eltern sind zur
Konsensfindung verpflichtet. Solange ihnen dies zum Wohl des Kindes zumutbar
ist, können sie aus dieser Konsensverpflichtung nicht entlassen [...] werden."
34
Konsensverpflichtung hat immer Vorrang, solange die Belange des Kindes nicht unzumutbar
beeinträchtigt werden, auch wenn zunächst eine Kooperationsverweigerung seitens des zu
betreuenden Elternteils stattfindet. Z.B. bei Antragstellung zur Übertragung der alleinigen
Sorge reichen Schwierigkeiten in der Kommunikation zwischen den Eltern als Begründung
auf Übertragung der alleinigen Sorge auf den kooperativen Elternteil nicht aus. Erst bei
Konflikten zwischen beiden Elternteilen, die die Kommunikation zwischen den Eltern
unmöglich macht und zu keiner Konsens- und Kooperationsbereitschaft führt, entscheidet das
Gericht über eine mögliche Lösung. Dauerhafte Streitereien der Eltern können negative
Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes haben. Das Gericht prüft dem Kindeswohl
entsprechend auf Übertragung der alleinigen Sorge und stimmt gegebenenfalls dem Antrag
auf die Übertragung der gesamten Sorge oder Teilsorge zu.
Im Scheidungsverfahren (aber auch allgemeingültig) orientiert sich das Gericht an
psychologischen Leithilfen, die dem Wohl des Kindes entsprechen. Diese gehen vom
Bindungs-, Kontinuitäts- und Förderungsprinzip, sowie vom Willen des Kindes aus.
35
1. Nach dem Förderungsprinzip ist dem Elternteil die elterliche Sorge zu übertragen, der
am besten zur Erziehung zur Betreuung des Kindes geeignet erscheint und von dem es
vermutlich die meiste Unterstützung für den Aufbau seiner Persönlichkeit erwarten kann.
Dabei kommt es auf die Bereitschaft, Verantwortung für das Kind und seine Erziehung sowie
Versorgung zu übernehmen. Ein wichtiges Kriterium eines Elternteils stellt die
Bindungstoleranz dar, das heißt die Bereitschaft, den Kontakt des Kindes zum anderen
Elternteil zu unterstützen.
x In der psychologischen Definition bedeutet das Förderungsprinzip:
2. Betreuung, Pflege und Versorgung des Kindes, durch Ernährung, Körperpflege, äußere
Erscheinung und Kleidung; medizinische Versorgung, Unterbringung, Beaufsichtigung,
Beschäftigung und Verfügbarkeit von Ersatzpersonen. Insbesondere ist das Kind vor
Vernachlässigung, Missbrauch und sexuellen Übergriffen zu schützen.
3. Erziehungsstil, der sich im Wesentlichen durch die grundsätzliche Erziehungs-Haltung,
die Erziehungs-Ziele und durch die Erziehungs-Methoden und Mittel kennzeichnen lässt.
o Erziehungshaltung: Einstellung zum Kind, wie Liebe, Empathie, Konsequenz, Grenzen
setzten, Motivieren, Fördern, angemessene Ansprüche an das Kind richten und
Vorbildfunktion.
o Erziehungsziele: abhängig von weltanschaulichen und persönlichen Wertvorstellung, wie
Gesundheit, Lebensfreude, Selbstentfaltung, Selbstvertrauen, Selbstbehauptung, Liebes-,
34
Zitat: Fieseler/Herborth, 2005, S. 80f.
35
Vgl. Fieseler/Herborth, 2005, S. 81
11
Genuss-, Erlebnis-, Kontakt-, Anpassungs-, Leistung-, und Arbeitsfähigkeit sowie
Lernbereitschaft, Ausdauer, Geduld, Realitäts- und Durchhaltevermögen.
o Zufriedenheit: stellt den Ausdruck persönlichen Wohlergehens dar.
o Erziehungsmittel: Varianten von Belohnung und Strafe; der Erziehungsstil im anleiten,
vorgeben und reagieren; Bitten, fordern und verlangen; Anreize, verhandeln, vormachen
u.v.m.
36
2. Das Kontinuitätsprinzip dient dazu, Stetigkeit der Erziehung und Betreuung
sicherstellen. Hierbei stellt sich die Frage von welchem Elternteil wird dieser Grundsatz am
besten erfüllt wird. Entscheidend bei welchem Elternteil das Kind leben darf, ist das
Kontinuitätsprinzip, wenn beide gleichermaßen geeignet sind. Sind zudem beide gleich gut
Erziehungsgeeignet, kann die Umgebungskontinuität den Ausschlag geben.
x In der psychologischen Definition bedeutet das Kontinuitätsprinzip: Das Bedürfnis nach
Sicherheit, Stabilität und Dauerhaftigkeit (Kontinuität) einer Beziehung (Bindung). Positive,
dauerhafte und stabile Bindungen sind für die Bildung von Vertrauen, Orientierung,
allgemeiner Entwicklung, Gemeinschafts- und Zugehörigkeitsgefühl wichtig.
37
3. Das Bindungsprinzip stellt den Schutz von Bindungen dar. Besonders gefühlsmäßige
Bindungen zu Eltern, Geschwistern und anderen Bezugspersonen werden berücksichtigt. Im
Falle von gleichstarken Bindungen an die Eltern, können umgebungsspezifische Bindungen
wie zur Schule, dem Freundeskreis oder an die Großeltern entscheidend sein.
x In der psychologischen Definition bedeutet das Bindungsprinzip: Positive Beziehung
werden durch Liebe und Wertschätzung erzeugt. Die Elternliebe und die Bindung an die
Eltern zeichnet sich durch geeignete Betreuung, Pflege, Versorgung und Erziehung aus. Die
grundlegenden Beziehungsmuster können unterschiedlicher Ausprägung sein und entsprechen
positiver, negativer, neutraler oder ambivalenter Art.
38
4. Der Kindeswille übernimmt eine doppelte Funktion. Zu einem ist er verbaler Ausdruck,
an welcher Person sich das Kind am meisten gebunden fühlt. Zum anderen rückt mit
zunehmendem Alter des Kindes die in den Vordergrund. Der geäußerte Wunsch wird anhand
seiner Motivation gewichtet. Wird der Wille des Kindes massiv beeinflusst, verliert er an
Bedeutung. Bei gleichwertigen Erziehungsverhältnissen wird dem Kindeswillen ein höheres
Interesse beigemessen.
2.3.3 Ein familienrechtspsychologischer Definitionsvorschlag
Aus familienrechtspsychologischer Sicht schlägt Dettenborn eine inhaltlich fixierte Definition
zum Kindeswohl vor, die ,,... als Kindeswohl die für die Persönlichkeitsentwicklung eines
Kindes oder Jugendlichen günstige Relation zwischen seiner Bedürfnislage und seinen
Lebensbedingungen zu verstehen [ist]."
39
Die ,,Bedürfnisse" sollen im Sinne von ,,Bedarf",
den ,,objektiven" Entwicklungserfordernissen entsprechen. ,,günstig" soll bedeuten, dass ,,die
Lebensbedingungen die Befriedigung der Bedürfnisse insoweit ermöglichen, dass die sozialen
und altersmäßigen Durchschnittserwartungen an körperliche, seelische und geistige
Entwicklung erfüllt werden."
40
36
ebd
37
ebd
38
Vgl. Coester, 1983/83, S. 177-203
39
Zitat: Dettenborn 2001, S. 49
40
Zitat: Dettenborn 2001, S. 49
12
Ungünstig bei dieser Definition ist die Verlagerung der Unbestimmtheit auf den Begriff
,,günstig". Positiv an dieser Formulierung ist,
x dass die Gleichsetzung der Begriffe Kindeswohl, Kindesinteressen oder wille
vermieden wird,
x dass das Kindeswohl inhaltlich nicht festgelegt wird und ,,als flexibles Attribut
jeweils spezifischer und veränderter Konstellation von personalen und sozialen
Schutz- und Risikofaktoren aufgefasst wird,"
x dass nach dem heuristischen Prinzip, neuer Interpretationsspielraum entsteht, das
dem Einzelfall eines Kindes entspricht.
41
Tabelle 1 Vgl. Dettenborn 2001, S. 51f
41
Vgl. Dettenborn 2001, S. 49f.
(Grund) Bedürfnisse
Soziale Risikofaktoren
Nahrung, Pflege,
Versorgung
Fehlernährung, mangelnde Gesundheitsversorgung,
Verhinderung notwendiger Heilmaßnahmen,
mangelnder Schutz vor Suchtstoffen, mangelnde
Hygiene
Sicherheit
Unvorhergesehene Bindungsabbrüche,
Personenverluste; Diskontinuität der
Lebensbedingungen; massiver Defizite; erzeugte
Ängste; beengter Lebensraum; Lärm: Streiterei,
ständiger Krach
Emotionale
Zuwendung in
stabilen sozialen
Beziehungen
Wechselnde Bezugspersonen, Erleben von
Feindseligkeiten, Ablehnung, Gleichgültigkeit,
Desinteresse seitens der Bezugspersonen,
Instrumentalisierung für Erwachseneninteressen,
unnötige emotionale Konflikte auch durch andere,
Misshandlung, Missbrauch
Sichere Bindungen
Instabile emotionale Beziehungen, Mangel an Empathie
und feinfühliger Fürsorge durch Bezugspersonen;
Trennungsangst
Umwelterkundung
Misslingen sicherer Bindungen, mangelnde Anregung,
inadäquate Reaktion auf Neugierverhalten bzw.
Erkenntnisstreben, Missachtung von Fragephasen
13
Dettenborn stellt in seiner Tabelle ,,Kindeswohl" zwischen Bedürfnislage und gefährdende
Lebensbedingungen vor.
Die linke Spalte zeigt eine Auswahl an wichtigen Bedürfnissen von Kindern und
Jugendlichen, die dem Kindeswohl entsprechen. Die rechte Spalte meint dysfunktionale
Risikofaktoren, die misslungene Beziehungen beschreiben. Hierbei ist die kindliche
Zugehörigkeit
Ausgrenzung, Isolierung, Loyalitätskonflikte, unklare
Grenzen oder Rollen im Familiensystem,
dysfunktionale Regeln, Außenseiterposition in Gruppen
Anerkennung,
Wertschätzung
Unangemessenes Anspruchsniveau, inadäquate
Rückmeldung auf Sozial- und Leistungsverhalten,
Kumulation von Misserfolgen im Sozial- und
Leistungsverhalten, Überforderung
Orientierung
Pendelerziehung, zu starre oder unklare Grenzen
zwischen Kind und Erwachsenem, mangelnde
Vermittlung von Moral- und Leistungsnormen, von
Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein, mangelnde
Gelegenheit zur Übernahme von Verantwortung, zur
angemessenen Konfliktaustragung; mangelnde
Identifikationsmöglichkeit und Vorbildwirkung von
Bezugspersonen; chaotische Lebensbedingungen
Selbstbestimmung
Ausnutzen von Abhängigkeiten, übermäßige Kontrolle,
Missachtung und Vereitelung angemessener Interessen
und Verhaltensintentionen, Handlungen; Verhinderung
von Verantwortungsübernahme und Partizipation,
Falschplatzierung durch Behörde
Selbstverwirklichung
Verhinderung von Individuation, Selbstreflexion,
Selbstkontrolle, Einengung von Kreativität
Wissen/Bildung
Mangelnde Anregung und Förderung, Verletzung der
Aufsichtspflichten, Demotivierung im Leistungsbereich;
Mängel in Bildungs- bzw. Ausbildungsinstitutionen
14
Bedürfnislage in ihrer Entwicklung gehemmt, so dass altersgemäße Entwicklungsaufgaben
nicht durchgeführt werden können.
42
Welche Bedürfnisse als dominant gelten variiert je nach Alter, Region, Grenzen der Fremd-
und Selbstbestimmung. Auf alle Systematisierungen der Bedürfnisse nach Rangordnung ist
verzichtet worden.
Sie sind beliebig zu gliedern und entsprechen keiner Anordnung. Zu
unterscheiden sind lediglich die körperliche, seelische und geistige Bedürfnislage.
43
Hervorzuheben ist bei dieser Definition, dass das Kindeswohl keiner konstanten Größe
entspricht und inhaltlich nicht festgelegt ist, sondern sich der spezifischen und veränderlichen
Konstellation von personalen und sozialen Schutz- und Risikofaktoren anpasst. So bleibt die
Definition von Kindeswohl, in seinem inhaltlichen Verständnis flexibel. Nach dem
heuristischen Prinzip sind immer wieder neue Interpretationen des Kindeswohls möglich, die
der Einmaligkeit eines Kindes entsprechen.
44
2.4 Kindeswohl aus psychologischer und pädagogischer Perspektive
Aus (sozial-)pädagogischer, (entwicklungs-)psychologischer Sicht hat Kindeswohl keine feste
Bedeutung. Wie in anderen Fachgebieten ist Kindeswohl individuell und situationsspezifisch
auf Zeit zu bestimmen. Dennoch ist die Begriffsbestimmung anders zu verstehen, da es sich
um einen realen jungen Menschen handelt, der nicht nach theoretischen Grundsätzen beurteilt
wird. Die gesamte Existenz eines Kindes, auf der körperlichen, der seelisch-emotionalen und
geistigen Ebene muss berücksichtigt werden. Weitere wichtige Bereiche sind Bildung,
ethische und religiöse Orientierung und die jeweiligen sozialen Kontakte.
Besonders in der Jugendhilfe, wo Sozialarbeiter/Innen oder Sozialpädagogen/Innen
beschäftigt sind, sind reale Kindeswohldefinitionen die in die praktische Arbeit umgesetzt
werden müssen von großer Bedeutung. Hier sind die Fachkräfte auf Erkenntnisse aus
unterschiedlichen wissenschaftlichen Fachgebieten angewiesen. Den Inhalt von Kindeswohl
auf einer Ebene in vielen Facetten verständlich zu machen, muss das Ziel sein, um dem Kind
die besten Chancen für sein zukünftiges Leben zu ermöglichen. Auch im familienrechtlichen
Bereich müssen neue Einsichten Platz finden. Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen
transparent und verständlich gemacht werden, so dass die Arbeit auf interdisziplinärer Ebene
erleichtert wird.
Im Folgenden werden bekannte und unterschiedliche humanwissenschaftliche
Definitionsversuche vorgestellt.
42
Vgl. Dettenborn 2001, S. 50f.
43
Ebd.
44
Vgl. Fieseler/Herborth, 2005, S. 77f.
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2007
- ISBN (eBook)
- 9783958208438
- ISBN (Paperback)
- 9783958203433
- Dateigröße
- 4.6 MB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Universität Kassel
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Oktober)
- Note
- 1
- Schlagworte
- kindeswohl-konzept
- Produktsicherheit
- BACHELOR + MASTER Publishing