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Wir machen mit! Wie sich Kinder den öffentlichen Raum zu eigen machen

©2014 Bachelorarbeit 74 Seiten

Zusammenfassung

Diese Arbeit soll die Notwendigkeit der Beteiligung von Kindern am Planungsprozess der Stadtplanung deutlich werden lassen, da Kinder heutzutage in Räumen aufwachsen, die bereits vorgefertigte Handlungs- und Funktionsabläufe vorweisen. Ihnen werden von Erwachsenen vorkonstruierte Räume wie der Spielplatz zugewiesen. Kinder bekommen kaum die Möglichkeit, sich ihre Räume in der Öffentlichkeit durch Interaktionen anzueignen und somit für sich zu erobern. Die Beteiligung ermöglicht es ihnen, Räume mitzugestalten und sich damit anzueignen. Auch bietet sie vielfache Chancen, wichtige Kompetenzen zu entwickeln und auszubauen, um zu selbst- und demokratiebewussten Bürgerinnen und Bürger zu werden. Somit knüpft diese Arbeit an das Jahr 2014 der Kinder- und Jugendrechte auf Ebene der Stadtplanung an.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1
1
Einleitung
,,Ball spielen verboten!", ,,Straßenkreide verboten" - Uns ist dies nicht mehr bewusst ­ ja
sogar fast normal, bis wir zusammen mit Kindern durch den öffentlichen Raum gehen: Kinder
wirken unerwünscht. Nicht zuletzt durch Verbote wie eben erwähnt, sondern auch durch die
Beschaffenheit der Öffentlichkeit wird dies deutlich, da die meisten städtischen Räume auf
die Bedürfnisse der Erwachsenen abgestimmt sind. Auch mir wurde dies erst bewusst, als
ich im Rahmen des Projektes ,,Raum für Kinderspiel" Streifzüge durch das Wohnumfeld von
Kindern anleitete.
Der demographische Wandel stellt den öffentlichen Raum zusätzlich vor die Herausforde-
rung der Barrierefreiheit für ältere Bürgerinnen und Bürger. Um den Interessen der meisten
Bürgerinnen und Bürger entgegenzukommen und um diese zu berücksichtigen, bediente
sich die Stadtplanung des Öfteren der Methode der Bürgerbeteiligung - das Thema ist somit
nicht neu. Seit jeher wollten Bürgerinnen und Bürger informiert und gefragt werden, wenn es
um die Gestaltung ihrer alltäglichen Umwelt geht. Neu ist allerdings, dass seit einigen Jahren
auch die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an den sie betreffenden Vorhaben
gefordert wird.
1
Die Forderungen nach einer kinderfreundlichen Stadtplanung verstärkten
sich vor allem durch die Diskussion über die Stadt als Spielraum und die Bedeutung des
öffentlichen Raums für Kinder.
2
Die kinderfreundliche Stadtplanung ist nun aber aktueller
denn je, u.a. auch durch das Jahr der Kinder- und Jugendrechte im Jahr 2014. In diesem
Sinne steht die Interdisziplinarität zwischen der verwaltungsgeprägten Stadtplanung und der
menschenzentrierten Pädagogik im Mittelpunkt.
In dieser Arbeit soll somit der Frage nachgegangen werden, inwieweit Kinderbeteiligung in
der Stadtplanung zu realisieren ist, um den öffentlichen Raum für Kinder wieder bespielbar
zu gestalten. Dazu habe ich meine Arbeit in drei aufeinander aufbauende Kapitel unterteilt,
um einerseits den langen Weg der Partizipation von Kindern bis hin zur Stadtplanung und
anderseits die Bedeutung des öffentlichen Raums für die ganzheitliche kindliche Entwicklung
aufzuzeigen.
Das zweite Kapitel stellt hierbei das Fundament der Arbeit dar. Die Entwicklung der Ge-
meinwesenarbeit als wichtiger Zweig der Sozialen Arbeit zur Zeit der Industrialisierung gab
den Anstoß für die Partizipation von Bürgerinnen und Bürgern in ihrem Stadtgebiet. Von den
ersten Anfängen in England und Amerika verbreitete sie sich auch in Deutschland. Aus der
Gemeinwesenarbeit gingen die Sozialraumorientierung, die Soziale Stadtentwicklung und die
Bürgerbeteiligung hervor. Die Bürgerbeteiligung wird zunehmender Bestandteil der kommu-
1
Vgl. S
CHRÖDER
1996, S. 15-16.
2
Vgl. A
PEL
/P
ACH
1997, S. 26-27.

2
nalen Demokratie, da die Bürgerinnen und Bürger zum einen Expertinnen und Experten
ihres eigenen Alltags in ihrer Lebenswelt sind und zum anderen wichtige Ressourcen wie
Ortskenntnis und Kreativität besitzen. Eine gelingende Partizipation benötigt Kommunikati-
onswerkzeuge in Form von Methoden wie der Zukunftswerkstatt, die u.a. bei der Beteiligung
von Kindern im öffentlichen Raum Anwendung findet.
Im dritten Kapitel wird der Zusammenhang zwischen dem öffentlichen Raum und der
Kindheit näher beleuchtet. Der öffentliche Raum hat seit der Sesshaftwerdung des Men-
schen eine große Bedeutung für die Kinder. Sie spielten auf den Straßen und den anderen
öffentlichen Plätzen zumeist ohne Einschränkungen. Mit der Industrialisierung begann die
Urbanisierung der Städte ­ und somit vollzog sich ein Wandel im öffentlichen Raum. Die
Kindheit wurde stärker privatisiert und durch pädagogische Einrichtungen institutionalisiert.
Kinder wurden zusehends aus der Öffentlichkeit verdrängt und in speziell für sie gebaute
Räume wie den Spielplatz verdrängt. Dabei hat der öffentliche Raum eine wichtige Rolle in
der Sozialisation von Kindern. Sie erobern mit steigendem Alter mehr Räume für sich, womit
sie u.a. Selbstständigkeit und auch Selbstvertrauen erlangen. Eine Vielzahl an Untersuchun-
gen wie z.B. von Thomas (1979) und Blinkert (1993) zeigten, dass die Stadt ein wichtiger
Spielraum für Kinder ist. Mit der UN-Kinderrechtskonvention wurden den Kindern u.a. Rechte
auf freies Spiel und Beteiligung an ihrer Umwelt zugesprochen. Infolgedessen forderten
Expertinnen und Experten aus der Pädagogik, dass Städte für Kinder bespielbar sein sollen.
Das vierte Kapitel schließt an die beiden Grundlagenkapitel an und befasst sich mit der
Kinderbeteiligung in der Stadtplanung. Zunächst wird diese Form der Beteiligung in die
unterschiedlichen Grundformen und Strategien der Partizipation von Kindern eingeordnet.
Um sich genauer dem Thema nähern zu können, muss zunächst die Stadtplanung als
Fachbereich innerhalb der Verwaltungsstruktur der Kommune betrachtet werden. Hierzu
gehört neben den Leitbildern und rechtlichen Grundlagen auch der eigentliche Prozess der
Planung. Wenn sich Kinder an der Planung von für sie relevanten Vorhaben beteiligen, wird
diese zu einem sozialen Prozess und bringt weitere selbstgetragene soziale Prozesse wie
die Identifikation mit dem Quartier in Gang. Um die Beteiligung nachhaltig zu etablieren,
bedient sich beispielsweise die Stadt Mannheim des Instruments der Spielleitplanung, um
die Handlungsfelder der Stadtplanung und der Pädagogik interdisziplinär miteinander zu
verknüpfen. Auch die Spielleitplanung beinhaltet einen umfangreichen Methodenkoffer, wie
zum Beispiel die Methode der Spielraumanalyse durch Streifzüge durch den Stadtteil oder
den Modellbau. Nichtsdestotrotz tauchen hier wie auch bei Einzelprojekten Probleme auf wie
die lange Laufzeit von Planungsprozessen, Spannungen zwischen den Handlungsfeldern der
Pädagogik, der Stadtplanung und dem Vorurteil, dass Kinder nicht die nötigen Kompetenzen
besitzen, um sich am Planungsprozess zu beteiligen.

3
Diese Arbeit soll die Notwendigkeit der Beteiligung von Kindern am Planungsprozess der
Stadtplanung deutlich werden lassen, da Kinder heutzutage in Räumen aufwachsen, die
bereits vorgefertigte Handlungs- und Funktionsabläufe vorweisen. Ihnen werden von
Erwachsenen vorkonstruierte Räume, wie der Spielplatz, zugewiesen. Kinder bekommen
kaum die Möglichkeit, sich ihre Räume in der Öffentlichkeit durch Interaktionen anzueignen
und somit für sich zu erobern. Die Beteiligung ermöglicht es ihnen, Räume mitzugestalten
und sich damit anzueignen. Auch bietet sie vielfache Chancen, wichtige Kompetenzen zu
entwickeln und auszubauen, um zu selbst- und demokratiebewussten Bürgerinnen und
Bürger zu werden. Somit knüpft diese Arbeit an das Jahr der Kinder- und Jugendrechte auf
Ebene der Stadtplanung an.

4
2
Auf dem Weg zur Bürgergesellschaft
Bürgerinnen und Bürger werden heutzutage immer häufiger in kommunalpolitische Entschei-
dungsprozesse eingebunden. Die Bürgergesellschaft bedeutet,
,,dass Bürger in größerem Maße für die Geschicke des Gemeinwesens Sorge tragen.
Bürgergesellschaft ist eine Gesellschaft selbstbewusster und selbstverantwortlicher Bür-
gerinnen und Bürger, eine Gesellschaft der Selbstermächtigung und Selbstorganisation."
3
Die Gemeinwesenarbeit als Bestandteil der Sozialen Arbeit war ein entschiedener Wegberei-
ter für die Partizipation der Bürgerinnen und Bürger. Heutzutage hat sie einen steigenden
Einfluss auf die Entwicklung und Planung von Stadtteilen. Mit ihrer Hilfe sollen Bürgerinnen
und Bürger jeden Alters und Geschlechtes befähigt werden, aktiv bei der Stadtplanung
mitwirken zu können.
2.1
Partizipation von ,,Unten"
Eines der grundlegendsten Handlungsfelder und auch Arbeitsprinzipien der Sozialen Arbeit
stellt die Gemeinwesenarbeit dar. Als Handlungsfeld zeigt sie sich in Projekten von zahlrei-
chen Trägern und als Arbeitsprinzip geht sie durch ein partizipatives, interdisziplinäres und
prozessorientiertes Handeln und Denken weit über ihr Handlungsfeld hinaus. Laut Oelschlä-
gel (2001a) ist
,,Gemeinwesenarbeit (GWA) [...] eine sozialräumliche Strategie, die sich ganzheitlich
auf ein Quartier, einen Stadtteil und nicht pädagogisch auf einzelne Individuen richtet.
Sie arbeitet mit den Ressourcen des Stadtteils und seiner Bewohnerinnen und Be-
wohner, um seine Defizite aufzuheben."
4
Die heutige Gemeinwesenarbeit kehrt sich von der fürsorglichen und betreuenden Sozialar-
beit ab hin zur Aktivierung der Ressourcen der Bewohnerinnen und Bewohner eines Stadt-
teils und erkennt, erklärt und bearbeitet, soweit sie es vermag, aktuelle gesellschaftliche
Probleme. Um genauer den Kern der Gemeinwesenarbeit betrachten zu können, sollten die
zentralen Orientierungsgrößen der Lebensumwelt und des Gemeinwesens genauer betrach-
tet werden. Ein Gemeinwesen stellt hierbei einen Stadtteil bzw. ein Quartier dar, in dem die
Bewohnerinnen und Bewohner durch gemeinsame Interessen eine Identität aufweisen. Die
Herausforderung der Sozialarbeit besteht darin, den Bewohnerinnen und Bewohner diese
3
E
NQUETE
-K
OMMISSION
2002, S. 6.
4
O
ELSCHLÄGEL
2001a, S. 211.

5
Gemeinsamkeiten aufzuzeigen, um ihre Ressourcen zu bündeln und zu aktivieren, bei-
spielsweise in Bürgerbeteiligungen.
5
Sie sieht hierbei die gemeinsamen Probleme der
Menschen, wie beispielsweise den Schulweg der Kinder, aber auch die Probleme unterei-
nander, wie den Konflikt der Generationen.
6
Die Lebensumwelt ist nach Schnee (2004) subjektbezogen und versteht sich zu Beginn als
individuelle Lebenswelt. Bei der Analyse der Lebensumwelt von Einzelnen werden ihre
sozialen und räumlichen Beziehungen unter Berücksichtigung von den jeweiligen kulturellen
und sozialen Hintergründen unter der Prämisse von aktuellen Thematiken der Menschen
betrachtet.
7
Das Lebensumweltkonzept galt als Anstoß für die Theoriediskussion und
Weiterentwicklung in der Gemeinwesenarbeit. Oelschlägel (2001c) stellte die Lebenswelt in
Anlehnung an die kritische Psychologie als Möglichkeitsraum dar, in dem sich die alltägliche
Daseinsgestaltung der Menschen, welche mit der Gemeinwesenarbeit zu tun haben,
vollzieht.
8
Für Moch (2004) agiert die lebensweltorientierte Soziale Arbeit ,,im Horizont der
radikalen Frage nach dem Sinn und der Effizienz sozialer Hilfen aus der Perspektive ihrer
Adressatinnen und Adressaten."
9
Aus den gewonnenen Erkenntnissen über das Gemeinwesen und die Lebenswelt lassen sich
fünf Prinzipien und Handlungsmaximen der Gemeinwesenarbeit nach der Essener Schule
herleiten. Als oberste Handlungsmaxime sollen sich die Fachkräfte an den Interessen und am
Willen der Betroffenen in den Wohngebieten orientieren. Des Weiteren sollen die Eigeninitiati-
ve und Selbsthilfekräfte durch die Fachkräfte unterstützt und die Ressourcen der Menschen
und des Sozialraums effektiv genutzt werden. Ebenso sollte die Arbeit der Fachkräfte zielgrup-
pen- und bereichsübergreifend geschehen, da die Aufmerksamkeit dem gesamten Stadtteil gilt
und somit zunächst ein Augenmerk auf das Gesamtsystem in der Relation der verschiedenen
Teilbereiche erfolgen sollte. Ein nicht weniger wichtiges Prinzip der Gemeinwesenarbeit stellt
die Kooperation und Koordination dar, welche u.a. durch die Vernetzung verschiedener
Akteure in Foren oder durch die Zusammenarbeit mit Gruppierungen zur gemeinsamen
Entwicklung und Durchführung von Projekten im Wohnquartier erfolgen.
10
Aus diesen Betrachtungsaspekten heraus unterscheiden Rothschuh und Spitzberger (2010)
unter der Berücksichtigung der professionellen, institutionellen und wissenschaftlich-
disziplinären Kontexte die moderne Gemeinwesenarbeit in die Soziale Stadtentwicklung, die
Sozialraumorientierung und die Bürgerbeteiligung.
11
5
Vgl. S
CHÖNIG
2008, S. 20-30.
6
Vgl. O
ELSCHLÄGEL
2001b, S. 653-659.
7
Vgl. S
CHNEE
2004, S. 1.
8
Vgl. O
ELSCHLÄGEL
2001c, S. 41-48.
9
M
OCH
2004, S. 129.
10
Vgl. H
INTE
2012, S. 669-671.
11
Vgl. R
OTHSCHUH
/S
PITZENBERGER
2010, S. 77-.

6
2.2
Die Saat der Gemeinwesenarbeit geht auf
Das Thema des Sozialraums ist aktueller denn je, ob im Zusammenhang mit der Sozialen
Arbeit (Sozialraumorientierung), der Stadtsoziologie (Raum und soziale Ungleichheit) oder in
der Stadtentwicklung (,,Soziale Stadt"). Es existieren in der Sozialwissenschaft und in der
Soziologie verschiedene Ansätze der begrifflichen Annährung an den Sozialraum. Exempla-
risch werden hier kurz die analytischen Ansätze nach Bourdieu und das Modell des Kon-
struktivismus vorgestellt.
Bourdieu (1985) untersucht den Sozialraum unter den Aspekten der Verteilung des sozialen
und kulturellen Kapitals, wobei die Zustandsformen des erweiterten Kapitalbegriffs Soziale
Netzwerke, Diplome, Kompetenzen und kultureller Besitz sind. Der soziale Raum stellt für
Bourdieu in erster Linie einen abstrakten Raum der sozialen Hierarchisierung und einen
konkreten physischen Raum dar. In diesen ordnen sich Menschen mit unterschiedlichsten
Voraussetzungen und Kapitalsorten ein, womit sich soziale Ungleichheiten bilden. Der
soziale Raum und der physische Raum stehen in einer gegenseitigen Korrelation zueinan-
der, beispielsweise wird dies in der entsprechenden Architektur des jeweiligen sozialen
Milieus deutlich. Die Struktur des sozialen Raumes ist eng an die ungleiche Verteilung der
Kapitalien (ökonomisch, kulturell und sozial) geknüpft. Somit müssen diejenigen, welche kein
Kapital besitzen, an einem Ort bleiben und mit unerwünschten Personen verkehren, während
diejenigen, welche Kapital besitzen, Handlungsfreiheit und Freizügigkeit genießen. Aus
diesen Auseinandersetzungen um den Raum entsteht zumeist eine Klassenbildung bzw.
soziale Segregation.
12
Eine weitere analytische Betrachtungsweise des Sozialraumes bringt der Konstruktivismus,
welcher nach Foerster (1986) besagt, dass ,,die Umwelt, die wir wahrnehmen, [eine] Erfin-
dung unsere[s] Gehirn[s] [ist]."
13
Angewandt auf den Sozialraum kann dieser je nach der
subjektiven Wahrnehmung jedes Menschen unterschiedlich gedeutet werden, zum Beispiel
als Erlebnisraum aus der Sicht der dort aufwachsenden Kinder. Auch Schönig (2008) deutet
an, dass der gleiche Sozialraum aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden sollte,
wie beispielsweise als gebündelte Lebenswelt aus Bewohnerperspektive oder als Territorium
aus der Verwaltungsperspektive. Weiter bevorzugt Schönig den zweistufigen Raumbegriff,
d.h. der Sozialraum als Aktionsraum und territorialer Raum zugleich. Diese beiden Konzepte
sollen sich gegenseitig ergänzen und nicht gegeneinander gestellt werden.
14
12
Vgl. B
OURDIEU
1985, S. 9-26.
13
F
OERSTER
1986, S. 40.
14
Vgl. S
CHÖNIG
2008, S. 10-20.

7
2.2.1
Sozialraumorientierung
In der Praxis orientiert sich die Sozialverwaltung, gerade wenn mit Sozialraumbudgets
gearbeitet wird, am territorialen Sozialraumbegriff. Die Soziale Arbeit sieht den Sozialraum
als Aktionsraum, wie auch Kessel (2010). Er definiert Sozialräume als
,,keine fixierten, absoluten Einheiten, die sozialen Prozessen vorausgehen, sondern
sie stellen selbst das Ergebnis sozialer Prozesse dar, d.h. sie sind ein ständig
(re)produziertes Gewebe sozialer Praktiken. Sozialräume sind in diesem Sinne sinn-
voll als ein heterogen-zellulärer Verbund, als Gewebe zu beschreiben, da in ihnen he-
terogene historische Entwicklungen, kulturelle Prägungen, politische Entscheidungen
und damit bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse eingeschrieben sind."
15
Somit sind Sozialräume Räume, welche von den dort lebenden Menschen gestaltet werden,
welche aber auch deren Handeln beeinflussen. Dies bedeutet, dass der Sozialraum ,,als
zentrale Bezugsgröße für an den Interessen der Wohnbevölkerung ansetzendes sozialarbei-
terisches Handeln"
16
gesehen wird. Das Konzept der Sozialraumorientierung knüpft an das
sozialarbeiterische Verständnis des Sozialraums an. Das Konzept hat seine Wurzeln in der
Gemeinwesenarbeit der 1970iger Jahre. Es wurde unter der Leitung von Wolfgang Hinte am
Essener Institut für stadtteilorientierte Soziale Arbeit und Beratung (ISSAB) entwickelt. Somit
kann die Sozialraumorientierung bereits auf eine Tradition in der Sozialen Arbeit zurückbli-
cken. Sie vereint in sich verschiedene methodische und theoretische Dimensionen aus der
Gemeinwesenarbeit und der Lebensweltorientierung und entwickelt diese stetig weiter.
17
Die
Sozialraumorientierung kann auch als integrierender Ansatz nach Früchtel (2013) gesehen
werden, indem sie unterschiedliche Handlungskonzepte der Sozialen Arbeit, wie Empower-
ment, und betriebswirtschaftliche Aspekte in sich vereint. Somit ist die Sozialraumorientie-
rung eine mehrdimensionale Arbeitsweise, welche einen größeren Handlungsspielraum und
größere Handlungsfreiheit in der Sozialen Arbeit ermöglicht. Dieses Gebiet der Sozialen
Arbeit beinhaltet das Empowerment, die Lebensweltorientierung, die Organisationsentwick-
lung, das soziale Kapital, die neue Steuerung und die Gemeinwesenarbeit als konzeptionelle
Grundlagen.
18
Die sich hier stellende Frage ist, weshalb weiterhin der Begriff der Gemeinwesenarbeit
verwendet wird. Eine Möglichkeit der Beantwortung ist, dass das ,,Konzept der Sozialraum-
orientierung Diskussionslinien, Erkenntnisse und methodische Prinzipien der Gemeinwesen-
arbeit [aufnimmt], präzisiert, ergänzt und [sie] erweitert."
19
Während sich die Gemeinwesen-
15
R
EUTLINGER
/K
ESSEL
2010, S. 253.
16
H
INTE
2009, S. 17.
17
Vgl. S
EIFERT
,
P
ROF
.
D
R
.
M
ONIKA
2009, S. 1-6.
18
Vgl. H
INTE
2006, S. 7-15.
19
H
INTE
2012, S. 668.

8
arbeit primär auf den Stadtteil bezieht, arbeitet die Sozialraumorientierung individuell mit den
Adressatinnen und Adressaten in der Einzelfallarbeit.
2.2.2
Die Soziale Stadtentwicklung
Die Stadt befindet sich in ständigen Wandlungsprozessen und ist als Begrifflichkeit aufgrund
ihrer Entstehung und Entwicklung sehr schwierig zu definieren, da sie sich nach der Industri-
alisierung im 19. Jahrhundert sehr in ihrer Struktur und Funktion veränderte. Aufgrund der
Komplexität werden hier die Dimensionen der städtischen Lebensformen aufgrund der
besonderen Siedlungsdichte hervorgehoben. Somit ist die Stadt ein Siedlungsgebilde,
welches sich aufgrund seiner besonderen Charakteristika vom Dorf unterscheidet. Zu diesen
gehört u.a. die gesteigerte Bebauungsdichte einhergehend mit einer spezifischen Bebau-
ungsart von Gebäuden und Plätzen, wodurch die Stadt zu einem kulturellen, ökonomischen,
militärisch-herrschaftlichen und religiösen Zentrum für das Umland wird. Zumeist zeigt die
Stadt auch differenzierte Güteraustausch- und Arbeitsteilungsformen. Im Zuge der industriel-
len Revolution und der damit verbundenen Landflucht prägten Fabriken und die Erschlie-
ßung öffentlicher Räume (Urbanisierung), beispielsweise durch den Bau von Kaufhäusern
und Stadtparks, und später in den 1960iger Jahren das Auto das Bild der Stadt.
20
Die Stadtentwicklung ist nach Streich (2005) ein zentraler Begriff der Stadtplanung, wobei es
dabei um
,,das System Stadt in seiner Gesamtkomplexität und Dynamik [geht], d.h. um die
Fragestellung, auf welche Weise sich die fortschreitende, prozessuale Entfaltung von
bestimmten strukturellen, räumlichen, ökonomischen oder gesellschaftlich-sozialen
Gegebenheiten in urbanen Systemen niederschlägt."
21
Durch die industrielle Verstädterung im 19. Jahrhundert, unterstützt durch den Eisenbahnen- und
Fabrikenausbau, veränderte sich die Stadtentwicklung grundlegend. Auch nach dem Zweiten
Weltkrieg prägten der sozialistische Städtebau der DDR und der Wiederaufbau in der BRD die
Instrumente der Stadtentwicklung und -planung. In den 1960iger Jahren veränderten die tertiäre
Verstädterung, welche u.a. durch den Ausbau des Tertiärsektors der öffentlichen und privaten
Dienstleistungen zu charakterisieren ist, und das Auto immer mehr die sozialräumliche Struktu-
rierung der Stadt. Mit dem Auto stieg die Suburbanisierung der Städte an, wodurch verstärkt
Wohnquartiere am Stadtrand ausgebaut wurden. In den 1970iger Jahren folgte eine Rückbesin-
nung auf die Innenstädte, woraufhin vielerlei Programme der Wohnumfeldverbesserung und
Zentrumsentwicklung ins Leben gerufen wurden. Die Gestaltbarkeit des suburbanen Raumes
20
Vgl. S
CHÄFERS
2010, S. 16-18.
21
S
TREICH
2005, S. 515.

9
war nicht mehr, wie zur Zeit der Industrialisierung, an die industrielle Expansion geknüpft. Es
zeigte sich eine räumliche und soziale Segregation der Berufsschichten, beispielsweise lebten
Gastarbeiterfamilien in fixierten Vierteln.
22
In den 1980iger Jahren kamen vereinzelt vor allem in
unterprivilegierten Ortschaften und Stadtteilen soziale Projekte in Großstädten auf, wobei die
Lebens- und Wohnverhältnisse deren Bewohnerinnen und Bewohner nicht allein der Auslöser
waren. Vielmehr waren die Wohnungsbauunternehmen und deren wirtschaftliche Interessen
verantwortlich für die Entstehung von Stadtentwicklungsprogrammen.
23
Heute steht in Deutsch-
land neben einer Reihe von Landesprogrammen der Sozialen Stadtentwicklung das Bundespro-
gramm der ,,Sozialen Stadt", welches am 30. Juni 1999 in einer Verwaltungsvereinbarung
zwischen Bund und Ländern formuliert wurde. Die Nachhaltigkeit spielt bei diesem integrativen
Handlungskonzept eine zentrale Rolle in dem Sinne, dass alle Akteure, ob nun Bewohnerinnen
und Bewohner oder Institutionen, beteiligt sein müssen. Das integrative Handlungskonzept liegt
einer Untersuchung zugrunde, in der die Probleme der benachteiligten Quartiere identifiziert und
auch eingegrenzt werden.
24
Zunehmend verankert sich das Quartiersmanagement in transnatio-
nalen Vereinbarungen wie der
Leipziger Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt
25
, wobei
Projekte dieser Art zumeist nur über eine begrenzte Laufzeit verfügen und zu den ausgeschrie-
benen Aufgaben gehören, auf die sich Institutionen bewerben können. Die Gemeinwesenarbeit,
obgleich diese sehr hervorgehoben wird, macht bei Projekten dieser Art meist nur einen Teil aus.
Zumeist sind diese beeinflusst durch die Stadtteilökonomie und die kritischen Traditionen der
Stadtplanung.
26
2.3
Mehr Demokratie wagen? ­ Auf dem Weg zur Bürgerbeteiligung
Heutzutage befindet sich die Gesellschaft in einer Umbruchssituation, da sich die traditionel-
len Sozialstrukturen zunehmend auflösen und sich dadurch die unmittelbare Lebenswelt
vieler Menschen verändert. Die lokale Politik steht vor großen Herausforderungen, wie der
der erhöhten Partizipationsansprüche oder der Marginalisierung von Bevölkerungsgruppen.
Die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern bzw. das bürgerliche Engagement wird immer
mehr zur Grundlage lokaler Demokratie. Daher ist es wichtig, den Bürgerinnen und Bürgern
Verantwortung zu übertragen und Strukturen zur aktiven Mitarbeit zu schaffen.
27
Um die
Bürgerbeteiligung genauer betrachten zu können, muss zuerst der Begriff der Partizipation
kurz erklärt werden.
22
Vgl. S
CHÄFERS
2010, S. 52-125.
23
Vgl. R
OTHSCHUH
/S
PITZENBERGER
2010, S. 81-95.
24
Vgl. G
ROEGER
-R
OTH
2004, S. 9-20.
25
Siehe R
EPRÄSENTANTENSCHAFT DER
E
UROPÄISCHEN
U
NION
2007.
26
Vgl. R
OTHSCHUH
/S
PITZENBERGER
2010, S. 81-95.
27
Vgl. R
EINERT
2003, S. 33-40.

10
2.2.3
Partizipation ­ alt bekannt und neu erdacht
Partizipation steht in demokratischen Systemen für Mitbestimmung und Beteiligung von
Bürgerinnen und Bürgern verschiedenen Alters, Geschlechts sowie verschiedener Her-
kunft.
28
Mit dem Jahr 1949 wurden verschiedene Partizipationsformen wie das Vereinigungs-
und Versammlungsrecht in Artikel 8 und 9 Grundgesetz festgehalten, welche zunächst erst
nur für volljährige Bundesbürgerinnen und Bundesbürger gültig waren.
29
Für den Bildungsforscher Prof. Dr. Stange (2007d) benennt der Begriff der Partizipation ,,wie
kein anderer den Willen und die Hoffnung des Menschen, Entscheidungen beeinflussen zu
können, die seine Lebenswelt betreffen ­ sowohl auf lokaler als auch auf globaler Ebene"
30
,
wonach Partizipation als ,,verantwortliche Beteiligung der Betroffenen an der Verfügungsge-
walt über ihre Gegenwart und Zukunft"
31
verstanden werden kann. Nach seiner Auffassung
vollzieht sich Partizipation immer freiwillig und kann als Möglichkeit zur Mitgestaltung
gesehen werden. Im gesellschaftlichen Kontext ist sie sowohl ein nicht endender Lernpro-
zess für die an ihr beteiligten Menschen als auch die Möglichkeit der freien Diskussion über
mögliche Zukunftsalternativen.
32
Nach der Klärung dieses Begriffes muss dieser nun politiktheoretisch eingeordnet werden.
Hierbei werden die Fragen aufgeworfen, wo sich Partizipation im politischen Entscheidungs-
prozess der repräsentativen und föderalen Demokratie Deutschlands verorten lässt und ob
die Bürgerbeteiligung ein direktdemokratisches Element darstellt.
2.2.4
Die Bürgerbeteiligung ­ ein Weg in die direkte Demokratie?
Aus Artikel 20 des Grundgesetzes gehen die Staatsprinzipien der Bundesrepublik Deutsch-
land hervor, woraus sich u.a. der Föderalismus (Abs. 1) und die Repräsentativität (Abs. 2)
herleiten lassen. Der Föderalismus (,,Bundesstaat"
33
) beschreibt ein politisches System, in
dem der politische Entscheidungsfindungsprozess gemäß definierter Kompetenzen auf
verschiedenen Ebenen stattfindet. Im Falle der Bundesrepublik Deutschland sind dies die
Ebenen des Bundes, der Länder sowie die der kommunalen Ebene (Stadtebene). Gemäß
der Auslegung des Artikels 20 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz ist die Bundesrepublik Deutsch-
land eine ausschließlich repräsentative Demokratie. Dies bedeutet, dass das Volk die
,,Staatsgewalt"
34
in periodischen Wahlen auf Vertreter (Repräsentanten) überträgt. Dadurch
28
Vgl. B
UNDESMINISTERIUM FÜR WIRTSCHAFTLICHE
Z
USAMMENARBEIT UND
E
NTWICKLUNG
/BMZ
10.03.2014.
29
Artikel 8 und 9 Grundgesetz in S
TASCHEIT
2010, S. 17-18.
30
S
TANGE
,
P
ROF
.
D
R
.
W
ALDEMAR
2007d, S. 27.
31
S
TANGE
,
P
ROF
.
D
R
.
W
ALDEMAR
2007d, S. 27.
32
Vgl. S
TANGE
,
P
ROF
.
D
R
.
W
ALDEMAR
2007d, S. 27-29.
33
Artikel 20 Abs. 1 Grundgesetz in S
TASCHEIT
2010, S. 21.
34
Artikel 20 Abs. 2 Grundgesetz in S
TASCHEIT
2010, S. 21.

11
sind deren im verfassungsrechtlichen Rahmen getroffenen Entscheidungen demokratisch
legitimiert.
35
Um die Partizipation im kommunalpolitischen Entscheidungsprozess einzuordnen, wird
dieser im Folgenden kurz skizziert. Entscheidungen im politischen System werden aufgrund
von Inputs von den Repräsentanten getroffen und wirken als Outcomes auf die Umwelt ein.
Die (entscheidungsrelevanten) Informationen (Inputs) werden durch diverse Kanäle, bei-
spielsweise Lobbyisten, Parteien, Presse etc., zur Verfügung gestellt. Auf der Ebene des
,,policy-making"
36
werden diese Informationen durch Parlament und Regierung verwertet.
Dies geschieht in Form von politischen Konzeptionen und konkreten Regelungen. Die
Regelungen sind der Rahmen der
Implementation
37
der Entscheidungen. Der Rahmen wird
auf der einen Seite durch juristische Restriktionen und auf der anderen Seite durch Ressour-
cenallokation von Finanz- und Personalmitteln begrenzt. Die sich nun anschließende
Implementation wird auf der Ebene der lokalen oder sachlich zuständigen Verwaltungsebene
durchgeführt. Steht dieser Verwaltung mehr als eine Handlungsalternative zur Verfügung, so
spricht man von einem Ermessensspielraum.
38
Wirkt eine behördliche Handlung auf die
subjektiv individuelle Umwelt ein, so handelt es sich um Outcomes, welche in Form von
Feedbacks auf verschiedenen Ebenen wieder als Inputs in den politischen Entscheidungs-
prozess einfließen.
39
Die Bürgerbeteiligung darf nicht fälschlicherweise als Feedback im Sinne dieses Modells
verstanden werden, da diese bereits vor der Implementation stattfindet. Vielmehr ist Beteili-
gung auf der Ebene der Implementationsträger (siehe Abbildung 1), der Verwaltung, anzu-
siedeln. Um die bestmögliche Umsetzung des gesetzgeberischen Willens zu ermöglichen,
benötigt die Verwaltung weitere Informationen. Die Beteiligung ist hierbei das Mittel der Wahl
für die Verwaltung, um die Outcomes abschätzen zu können.
35
Vgl. V
IERECKE U
.
A
.
2010, S. 107ff.
36
V
IERECKE U
.
A
.
2010, S. 80-81.
37
Als Implementation wird das konkrete und unmittelbare Einwirken der politischen Entscheidung auf individuelle
Subjekte der Umwelt verstanden. Nach V
IERECKE U
.
A
.
2010, S. 81-88.
38
Vgl. P
APENHEIM
/B
ALTES
2011, S. 105.
39
Vgl. V
IERECKE U
.
A
.
2010, S.81-85.

12
Abbildung 1 Der vereinfachte politische Entscheidungsprozess mit Bürgerbeteiligung
40
Aufgrund des Subsidiaritätsprinzips als zentrales Element des Föderalismus hat jede
Kommune
41
nach Artikel 28 Grundgesetz ein Selbstverwaltungsrecht.
42
In den Landesver-
fassungen, insbesondere am konkreten Beispiel des Freistaates Bayern, lassen sich
direktdemokratische Elemente sowohl auf Landes- als auch auf Kommunalebene aufzeigen.
Artikel 30 Grundgesetz
43
lässt eine große Bedeutung der Länder vermuten. Doch in der
Realität spielen die Bundesländer im politischen System der Bundesrepublik Deutschland
eine nachrangige Rolle. Somit sollte deren sich unterscheidenden Landesverfassungen nicht
übermäßige Bedeutung zugemessen werden. Daher ist die BRD ein eindeutig repräsentati-
ves System. Die Beteiligung im definierten Sinne (siehe 2.2.3) entspricht eindeutig der
demokratischen Philosophie des Grundgesetzes, darf aber nicht fälschlicherweise als
direktdemokratisches Element verstanden werden.
40
Nach Abb. C in V
IERECKE U
.
A
.
2010, S. 82.
41
Der Begriff der Kommune dient als Überbegriff für Stadt, Gemeinde und Landkreis.
42
Artikel 28 Grundgesetz in S
TASCHEIT
2010, S. 23.
43
Artikel 30 Grundgesetz: ,,Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben
ist Sache der Länder, soweit dieses Grundgesetz keine anderen Regelungen trifft oder zu-lä[ss]t" in S
TASCHEIT
2010, S. 24.

13
2.2.5
Wozu Bürgerbeteiligung auf kommunaler Ebene?
Das repräsentative System hat in Demokratien das begründete Bedürfnis, neben den
globalen und überregionalen Themenfeldern auch die lokalen Lebenswelten der Individuen
zu regeln und zu gestalten. Dies geschieht optimaler Weise im Sinne des lokalen Gemein-
wesens und der Betroffenen. Doch das repräsentative System ist oft überfordert, wenn
Entscheidungen in abgrenzbaren Regionen ,,weit reichende [...] Folgen für die Gestaltung
der [individuellen] Lebenswelt"
44
haben. Bürgerinnen und Bürger sind jeweils Expertinnen
und Experten des Alltags für ihre Lebensumwelt. Ihre Kreativität, Ortskenntnis und auch
individuelle Interessen sind wichtige Ressourcen für die zukünftige Gestaltung und Entwick-
lung der Kommune bzw. der Stadt.
45
Daher sollen im beschriebenen Entscheidungsprozess
(siehe 2.2.4) die Einzelfallentscheidungen auf der lokalen (meist kommunalen) Ebene im
Sinne der überregionalen Rahmenbedingungen getroffen werden, da dies auf höherer Ebene
nicht effektiv durchführbar ist. Durch die unterschiedlichen Intensitäten des kommunikativen
Prozesses innerhalb der Beteiligung lassen sich sechs Stufen der Bürgerbeteiligung herlei-
ten (siehe Abbildung 2).
46
Abbildung 2 Stufen der Bürgerbeteiligung auf kommunaler Ebene
47
44
R
ENN
2003, S. 45.
45
Vgl. W
EIGEL
23.03.2014.
46
Vgl. L
ANZ
1996, S. 27-42.
47
S
TREICH
2005, S. 151.

14
Für eine optimale Durchführung des Partizipationsprozesses auf kommunaler Ebene werden
verschiedene Methoden der Bürgerbeteiligung benötigt.
2.2.6
Bürgerbeteiligung vor Ort ­ sechs Kernmethoden
Für eine gelingende Bürgerbeteiligung werden deliberative Methoden benötigt. Deliberative
Methoden sind Kommunikationswerkzeuge, welche eingesetzt werden, um ein konkretes Ziel
zu erreichen, wie beispielsweise die Lösung eines Nutzungskonfliktes. Bevor eine solche
Methode zum Einsatz kommt, müssen die Kommunikationsvoraussetzungen geprüft werden,
um die richtige auszuwählen. Im Hinblick auf die Bürgerbeteiligung in der Kommune oder im
Stadtteil sind Punkte wie Ergebnisoffenheit, Freiwilligkeit, Verständnis, Gleichheit, Rationali-
tät und Inklusion von zentraler Bedeutung.
48
Der Verlauf einer Bürgerbeteiligung darf somit nicht vorherbestimmt sein, da dieser vor allem
von den Beteiligten gestaltet werden sollte (Ergebnisoffenheit). Auch sollte sich dieser ohne
Druck oder Zwang vollziehen, da sich nur durch die Freiwilligkeit kreative und kooperative
Lösungsansätze ergeben. Ebenfalls ist das Entwickeln einer gegenseitigen Rücksichtnahme
bei konträren Standpunkten sehr wichtig und birgt Chancen, eine einvernehmliche Lösung zu
finden (Verständnis). Alle Gesprächsteilnehmenden sind gleich ­ unabhängig von ihrer
Herkunft o.ä. (Gleichheit); demnach sollten Bürgerinnen und Bürger aus jeder sozialer
Schicht die Chance zur Teilnahme an der Beteiligung bekommen (Inklusion). Schlussendlich
zählt das beste Argument, womit gute Ergebnisse in deliberativen Prozessen nur durch das
gemeinnützige und rationale Handeln der Teilnehmenden möglich sind.
49
Es existieren unzählige deliberative Methoden, welche zum einen für konkrete Herausforde-
rungen entwickelt wurden und zum anderen das Ergebnis eines Verschmelzungsprozesses
verschiedener Methoden sind. Nicht zu vergessen ist, dass auch Methoden Fuß gefasst
haben, welche mit größeren oder kleineren Modifikationen versehen sind. Eine universelle
deliberative Methode ist nicht zu realisieren, da die Beteiligungssituationen jedes Mal
unterschiedlich sind und daher ein großer Methodenkoffer erforderlich ist. Um aus der Vielfalt
der Methoden die richtige(n) zu wählen, sollte sich die kommunale Verwaltung bzw. die
Stadtplanung sich die Fragen stellen, wie man die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger
identifizieren kann, wie die Entwicklung und Realisierung von Visionen in Aktionsplänen
verlaufen und wie Interessenskonflikte gelöst werden können. In der Folge können auf dieser
Basis die Kommunikationswerkzeuge gesucht, kombiniert und modifiziert werden.
50
Hierzu
lassen sich die sechs Kernmethoden der Bürgerbeteiligung in drei Kategorien unterteilen:
48
Vgl. S
METTAN
/P
ATZE
2012, S. 7.
49
Vgl. S
METTAN
/P
ATZE
2012, S. 7-8.
50
Vgl. S
METTAN
/P
ATZE
2012, S. 9-10.

15
Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger identifizieren und Ideen sammeln
Zu dieser Kategorie zählen die diskursive Bürgerversammlung und die Open Space Techno-
logy, um die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger zu identifizieren und Ideen zu sam-
meln. Bei der diskursiven Bürgerversammlung finden die Treffen regelmäßig statt, es werden
standardisierte Methoden angewandt, die Anzahl der Teilnehmenden ist auf 50 Personen
beschränkt und der Zeitbedarf liegt bei vier Stunden. Die Open Space Technologies finden
eher unregelmäßig statt und haben Konferenzcharakter, es werden flexible Methoden hierbei
angewandt und es können bis zu 2000 Personen teilnehmen. Allerdings werden hier auch je
sechs bis acht Stunden an drei Tagen benötigt.
51
In Rostock im Stadtteil Groß Klein wurde die Open Space Methode im November 2001 nach
der Eröffnung des neuen Planungsbüros angewandt. Titel dieser Zusammenkunft war ,,Zu
Hause in Groß und Klein", um den Bürgerinnen und Bürgern einen möglichst großen Raum
für Probleme und Themen geben zu können. Damit die Bürgerinnen und Bürger untereinan-
der ins Gespräch kommen konnten, fanden Expertenvorträge zu verschiedenen Themen
statt. Es kristallisierten sich schnell Themen und Anliegen heraus, welche man in vier
Kernaussagen zusammenfasste, um diese in Angriff zu nehmen. Zu diesen gehörten
beispielsweise die Gründung eines Begegnungszentrums und eine bessere Verkehrsanbin-
dung des Stadtteils. Bereits vor dem Treffen hatte sich eine Arbeitsgruppe ,,Bürgerzentrum"
gebildet und eine Stadtteilzeitschrift wurde herausgeben. Mit Hilfe der neuen Quartiersma-
nagerin des Planungsbüros folgten nach dem Treffen konkrete Projekte wie die Gründung
eines Begegnungszentrums. Auch verbesserte sich die Zusammenarbeit zwischen den
Bürgerinnen und Bürgern und der Stadtverwaltung.
52
Konflikte lösen und Interessen integrieren
Die zweite Kategorie bilden diejenigen Methoden, welche Konflikte lösen und Interessen
integrieren sollen. Die Methode der Mediation wird bei einem Konflikt zwischen zwei Parteien
angewandt und ist zumeist ein höchst vertraulicher Prozess ohne Einbeziehung eines
externen Sachverständigen. Je nach Bedarf sind mehrere Mediationssitzungen zu je vier
Stunden notwendig. Die Konfliktlösungskonferenz dagegen eignet sich für bis zu zehn
unterschiedliche Interessengruppen unter der Einbeziehung eines externen Sachverständi-
gen. Für diese Methode sind mindestens drei Tage an vier aufeinanderfolgenden Wochen-
enden notwendig.
53
In München wurde die Methode der Mediation bei Streitigkeiten in Bezug auf den Umbau des
Wiener Platzes angewandt. Die Mittel für die Umgestaltung wurden schon bereitgestellt, aber
51
Vgl. S
METTAN
/P
ATZE
2012, S. 11.
52
Vgl. P
ETRI
2003, S. 191.
53
Vgl. S
METTAN
/P
ATZE
2012, S.12.

16
der Umbau scheiterte am Streit der Betreffenden. Die Stadtverwaltung, die Geschäftsinhabe-
rinnen und Geschäftsinhaber, die Anwohnerinnen und Anwohner und verschiedene Bürger-
initiativen hatten unterschiedliche Vorstellungen und blockierten sich gegenseitig. Angesichts
der Tiefe des Konfliktes schien eine Mediation die letzte Chance auf eine Lösung zu sein.
Die verschiedenen Interessengruppen bestimmten jeweils einen Vertreter, welcher in
Vorgesprächen mit einem Mediator Erwartungen und Wünsche der Gruppe äußerte, welche
daraufhin zu einer Konfliktanalyse zusammengestellt wurden. Diese diente als Diskussions-
grundlage für das
Wiener Platz Forum
, wobei die Interessengruppen eine Art Innenkreis und
die Stadtverwaltung sowie die Politik den Außenkreis mit einer beratenden Funktion bildeten.
Nach einer Dauer von zwei Tagen legte der Innenkreis konsensfähige Ziele für die zukünfti-
ge Nutzung und Gestaltung des Platzes fest. Der neue Wiener Platz konnte im November
2002 eröffnet werden.
54
Visionen entwickeln und Aktionspläne erarbeiten
Die letzte Kategorie bilden die Zukunftskonferenz und der kommunale Planungsworkshop
zur Entwicklung von Visionen und Erarbeitung von Aktionsplänen. Die Zukunftskonferenz
kommt für Planungsprozesse zur Anwendung, bei denen eine gemeinsame Vision erarbeitet
wird, und eignet sich daher gut für komplexe Sachverhalte. Die Personenanzahl ist hier auf
64 Teilnehmende beschränkt und bedarf dreier Tage zu je sechs bis acht Stunden. Der
kommunale Planungsworkshop findet seine Anwendung bei bereits vorhandenen Visionen
und weniger komplexen Sachverhalten. Allerdings liegt hier die optimale Anzahl der Teil-
nehmenden bei nur 16 Personen und es muss mit einem Zeitbedarf von bis zu fünf Stunden
gerechnet werden.
55
Im Jahr 2002 wurde die Zukunftswerkstatt der vierten Klasse der Jens-Nydahl-Grundschule in
Berlin-Kreuzberg mit dem ,,Goldenen Floh" ausgezeichnet. Mit Fördermitteln des Programms
der ,,Sozialen Stadt" wurde die Konferenz vom Deutschen Institut für Urbanistik unterstützt.
Während der im Vorbild stattfindenden Projektwoche sollten die 27 Schülerlerinnen und
Schüler nach dem Motto ,,Rund um die Schule, rein in die Höfe" mit Hilfe von Kameras und
Karteikarten ihr Viertel kritisch untersuchen. Mit roten und blauen Plastikmessern markierten
die Kinder schöne und hässliche Stellen. Die Ergebnisse wurden auf die Karteikarten ge-
schrieben und als Beweis fotografiert. Danach kamen die Kinder wieder zusammen, diskutier-
ten die Ergebnisse und sammelten gleichzeitig Ideen, wie die Gegend schöner gestaltet
werden könnte. Einen Monat später luden die Kinder 80 Besucherinnen und Besucher zu der
Kinderkonferenz ,,Kids im Kiez" ein und stellten ihre Ergebnisse vor. Während der Diskussio-
nen zeigte sich, dass vieles kurz bis mittelfristig verändert werden konnte, wie das Auswech-
seln kaputter Fensterscheiben. Auch zeigte sich die Senatsverwaltung bereit, Mittel zur
54
Vgl. S
ELLNOW
2003, S. 171.
55
Vgl. S
METTAN
/P
ATZE
2012, S. 11.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2014
ISBN (eBook)
9783958208513
ISBN (Paperback)
9783958203518
Dateigröße
4.4 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Evangelische Hochschule Ludwigsburg (ehem. Evangelische Fachhochschule Reutlingen-Ludwigsburg; Standort Ludwigsburg)
Erscheinungsdatum
2015 (Oktober)
Note
1
Schlagworte
kinder raum
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Titel: Wir machen mit! Wie sich Kinder den öffentlichen Raum zu eigen machen
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