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Die Rolle der wirtschaftlichen Betrachtungsweise in der Gewinnrealisierung nach handelsrechtlichen GoB: Eine exemplarische Analyse anhand verschiedener Geschäftsvorfälle

©2014 Bachelorarbeit 51 Seiten

Zusammenfassung

Der Jahresabschluss ist grundsätzlich das wichtigste Medium, um die wirtschaftliche Lage eines Unternehmens darzustellen. Bevor die einzelnen Bilanzposten jedoch befüllt werden können, sind eine Vielzahl gesetzlicher Regelungen zu beachten, die Art und Umfang des Bilanzinhalts regeln. Da die überwiegende Mehrheit der Unternehmen mit Gewinnerzielungsabsicht geführt wird, ist es wenig überraschend, dass die Gewinnrealisierung einen wichtigen Teil im Rahmen der Rechnungslegung darstellt. Im Kontrast dazu existieren jedoch nur wenig und zusätzlich sehr allgemein gehaltene Regelungen im HGB, die den Zeitpunkt der Gewinnrealisierung regeln. Als Konsequenz haben sich im Laufe der Zeit in Literatur, Rechtsprechung und Lehre sehr viele, teilweise extrem voneinander abweichende, Meinungen entwickelt. Dieses Buch möchte zunächst herausstellen, warum eine Orientierung an der wirtschaftlichen Betrachtungsweise bei der Ermittlung des Zeitpunkts der Gewinnrealisierung zweckmäßig ist, um im Anschluss anhand verschiedener Arten von Geschäftsvorfällen exemplarisch den Gewinnrealisierungszeitpunkt zu ermitteln.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


IV
Nr.
Nummer
RGZ
(Entscheidungen des) Reichsgericht(s) für Zivilsachen
ROH
Reichsoberhandelsgericht
S.
Seite
sog.
sogenannt(e)
StBp
Die steuerliche Betriebsprüfung (Zeitschrift)
StuW
Steuer und Wirtschaft (Zeitschrift)
StVj
Steuerliche Vierteljahresschrift (Zeitschrift)
u. a.
unter anderem
v.
von
WM
Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht
z. B.
zum Beispiel
ZfbF/ZfhF
Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche For-
schung (Zeitschrift)
ZGR
Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht
ZVglRWiss
Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft

1
I Problemstellung
Die Bilanzierung ist wesentlicher Bestandteil einer jeden Unternehmung. Der Jahres-
abschluss als ihr Herzstück ist das wichtigste Mittel, die wirtschaftliche Lage einer
Unternehmung darzustellen
1
. So ist grds. auch jeder Kaufmann zur Aufstellung eines
,,das Verhältnis seines Vermögens und seiner Schulden darstellenden Abschluss[es]"
verpflichtet (§ 242 Abs. 1 HGB). Dieser Jahresabschluss ist ,,nach den Grundsätzen
ordnungsmäßiger Buchführung aufzustellen" (§ 243 Abs. 1 HGB). Durch diese sehr
allgemein gehaltenen Formulierungen ergeben sich vielfältig bilanzielle Detailfra-
gen, u. a. auch die Frage, wann ein Gewinn bilanzrechtlich auszuweisen ist, damit
die tatsächliche Unternehmenssituation adäquat abgebildet wird. Während leistungs-
starke Unternehmen einen möglichst späten Gewinnausweis anstreben, um etwaige
Steuerzahlungen und Gewinnausschüttungen hinaus zu zögern und das Kapital län-
ger zinslos im Unternehmen zu binden, sind wirtschaftlich schwache Unternehmen
an einem frühen Gewinnausweis interessiert, um so ihre Bilanzen aufzubessern
2
.
Umso mehr überrascht es, dass es an konkreten gesetzlichen Regelungen zur Be-
stimmung des Zeitpunkts der Gewinnrealisation bis heute mangelt
3
. Auch der Hin-
weis, Gewinne in der Bilanz dann zu berücksichtigen, wenn sie realisiert sind (§ 252
Abs. 4 HGB), vermag keine Klarheit zu verschaffen. Möchte man aber den Grunds-
ätzen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit Rechnung tragen, bedarf es insbeson-
dere i. S. d. Gläubigerschutzes eindeutigen und einheitlichen Regeln zur Bestimmung
des Zeitpunkts der Gewinnrealisation.
Grds. kann ein Gewinn bilanziell erst dann ausgewiesen werden, wenn ein Vermö-
gensgegenstand ausscheidet und ein anderer, in Form einer Forderung oder Geld, mit
einem höheren bilanziellen Wert zu aktivieren ist
4
, mit anderen Worten, ,,wenn der
Unternehmer ein aktives Wirtschaftsgut erhält oder von einem passiven Wirtschafts-
gut befreit wird, ohne dafür in Zukunft eine (weitere) Gegenleistung erbringen zu
müssen"
5
.
Der Vermögensgegenstandsbegriff ist weit auszulegen
6
und umfasst ,,alle
wirtschaftlich ausnutzbaren Vermögensvorteile, die einen realisierbaren Vermö-
1
Vgl. Luik (1981), S. 97.
2
Vgl. Lüders (1987), S. 5.
3
Vgl. Lüders (1987), S. 8.
4
Vgl. Knobbe-Keuk (1993), S. 244.
5
Krumm (2013), § 5, Rz. 930.
6
Vgl. Beisse (1980a), S. 245.

2
genswert darstellen, so auch rechtlich nicht erzwingbare Forderungen, mit deren
Eingang der Kaufmann rechnet und bei gehöriger Sorgfalt auch rechnen darf"
7
. Der
handelsrechtliche Begriff des Vermögensgegenstands und der steuerrechtliche des
Wirtschaftsguts können heute aufgrund des Maßgeblichkeitsprinzips des § 5 Abs. 1
Satz 1 EStG deckungsgleich verstanden werden
8
. Während der Realisationszeitpunkt
bei Bargeschäften aufgrund der Zeitgleichheit von Vertragsabschluss und Vertragser-
füllung eindeutig ist, bleibt jedoch die Frage zu beantworten, zu welchem konkreten
Zeitpunkt die Aktivierung beim Leistenden zu erfolgen hat, wenn diese Zeitpunkte
zeitlich auseinander fallen
9
. Im Laufe der Zeit hat sich das Realisationsprinzip als
Leitprinzip für die Ermittlung dieses Zeitpunkts herausgebildet
10
.
Die Bilanz muss grds. als eine Bilanz im Rechtssinne verstanden werden
11
. Der im
Rahmen der handelsrechtlichen Gewinnermittlung ermittelte Bilanzgewinn ist hier-
bei als entziehbarer, nicht etwa als verteilbarer
12
, Gewinn konzipiert
13
. Dieser ent-
ziehbare Gewinn stellt den Betrag dar, über den der Bilanzierende im Rahmen der
unternehmerischen Entscheidungen, bspw. Ausschüttungen, tatsächlich verfügen
kann
14
. Daher ist es unter Berücksichtigung der Bestrebungen einer vorsichtigen
Gewinnermittlung i. S. d. Gläubigerschutzes notwendig, den Gewinn erst dann zu
realisieren, wenn er auch mit einer gewissen Sicherheit als realisiert betrachtet wer-
den kann
15
.
In Ermangelung ausreichend spezifischer gesetzlicher Kodifizierungen zur Gewinn-
realisation kommt man, um eine zweckadäquate Rechtsanwendung zu gewährleisten,
bei der Ermittlung des konkreten Gewinnrealisationszeitpunkts, nicht umhin, sich
einschlägiger Methoden der Rechtsauslegung zu bedienen. Dabei liegen seit jeher
formalrechtliche und wirtschaftliche Betrachtungsweise miteinander im Wider-
streit
16
. Während die formalrechtliche Betrachtungsweise der ,,wirtschaftlichen Be-
7
Beisse (1980a), S. 246.
8
BFH (1976), S. 13 f.
9
Vgl. Lüders (1987), S. 8.
10
Vgl. Backhaus (1980), S. 347.
11
Vgl. Moxter (2003a), S. 1586.
12
Vgl. Schmalenbach, (1919), S. 6.
13
Vgl. Moxter (2003a), S. 1586.
14
Vgl. Döllerer (1959), S. 1219.
15
Vgl. Döllerer (1959), S. 1219.
16
Vgl. Euler (1989), S. 92; vgl. auch Eibelshäuser (2002), S. 1427.

3
deutung der bilanzrechtlichen Normen"
keine Wichtigkeit beimisst
17
und sich ledig-
lich auf das formale, juristische Verständnis der gesetzlichen Normen stützt, liegt das
erklärte Ziel der wirtschaftlichen Betrachtungsweise darin, den tatsächlichen Zweck
der gesetzlichen Normen zu erfassen
18
. Bis zum Jahre 1977 war die wirtschaftliche
Betrachtungsweise für das Steuerrecht gar gesetzlich geregelt, bis der zuständige
Ausschuss ihre konkrete Kodifizierung aufgrund ihrer Allgemeingültigkeit und ihrer
sich logischerweise ergebenden Anwendung für entbehrlich hielt und aus dem Ge-
setz strich
19
. Diese Maßnahme sollte, wie auch beabsichtigt, keineswegs das Ende
der wirtschaftlichen Betrachtungsweise für steuerrechtliche wie auch handelsrechtli-
che Fragestellungen sein
20
. Ihre grundlegende Bedeutung für die Bilanzierung ist bis
heute ungebrochen
21
.
Ziel dieser Arbeit soll es nun sein herauszustellen, was die Anwendung der wirt-
schaftlichen Betrachtungsweise für die Gewinnrealisierung und die Ermittlung des
Gewinnrealisierungszeitpunkts im Detail bedeutet. In einem ersten Teil werden dazu
zunächst die handelsrechtlichen Rahmenbedingungen abgesteckt. Hierbei wird zuerst
der konkrete Bilanzzweck ermittelt (II. 1.) und im Anschluss die für die Gewinnrea-
lisierung maßgeblichen GoB-Prinzipien erläutert (II. 2.). Dem Prinzip der wirtschaft-
lichen Betrachtungsweise als übergeordnetes Leit- und Auslegungsprinzip kommt im
Rahmen dieser Arbeit eine besondere Bedeutung zu, sodass dieses Prinzip genauer
zu untersuchen ist (II. 2. b). In einem zweiten Teil werden, aufbauend auf den rele-
vanten GoB-Prinzipien und insbesondere der wirtschaftlichen Betrachtungsweise, die
Grundsätze der Gewinnrealisierung dargestellt (III. 1.) und ihre konkrete Anwendung
auf die Vertragstypen Kaufvertrag, Werkvertrag und Dividenden dargestellt (III. 2.).
Den Schluss der Arbeit bildet eine thesenförmige Zusammenfassung der Ergebnisse
(IV).
17
Beisse (1980), S. 645.
18
Vgl. Moxter (1983), S. 300.
19
Vgl. BT-DrS 7/4292, S. 15.
20
Vgl. Döllerer (1980), S. 201; vgl. hierzu auch Dornbach (1977), S. 3.
21
Vgl.
Weber-Grellet
(1996a), S. 897; vgl. hierzu auch Moxter (1983), S. 305.

4
II
Das System der handelsrechtlichen GoB
1.
Bilanzzweck
a) Vermögens-
und
Gewinnermittlung
Die Bilanzierung ist seit jeher Schauplatz reger Diskussion. Insbesondere die Frage
nach statischer oder dynamischer Auffassung bei der Bilanzaufstellung und -
interpretation beherrschte lange die wissenschaftliche Auseinandersetzung. Diesem
Konflikt vorgelagert ist jedoch die Frage nach dem konkreten Normzweck der Bilan-
zierung. Hierbei bestand lange eine Konkurrenz zwischen Vermögens- und Ge-
winnermittlung
22
.
Vermögensermittlung ist in diesem Zusammenhang unter der Prämisse eines Zeit-
wertansatzes zu verstehen
23
. Konkret meint dies den Ansatz von Vermögensgegen-
ständen zu ihrem (geschätzten) Wert am Abschlussstichtag, nicht zu ihren Anschaf-
fungs- oder Herstellungskosten
24
und damit der Ermittlung des Vermögens der Un-
ternehmung. Im Zuge des BiRiLiG wurde der Zeitwertansatz jedoch durch die Aner-
kennung des Realisationsprinzips als Leitprinzip, und somit gleichzeitig der Aner-
kennung der Anschaffungs- und Herstellungskosten als absolute Wertobergrenze,
nichtig
25
. Die Vermögensermittlung schied danach als Normzweck endgültig aus.
Sieht man den Normzweck folglich in der Gewinnermittlung
26
, ist das richtige Ver-
ständnis des bilanzrechtlichen Gewinnbegriffs unabdingbar
27
. Beherzigt man auch
hier das Realisationsprinzip als Leitprinzip
28
, so kann der bilanzrechtliche Gewinn
nicht länger nur als zeitwertbezogener Reinvermögenszuwachs, also als Differenz
der Betriebsvermögen des aktuellen und des vorrangegangen Wirtschaftsjahres, ver-
standen werden
29
. Vielmehr muss die Gewinnermittlung umsatzorientiert erfolgen
30
,
d.h. als ,,Vermögensmehrung in disponibler Form"
31
.
22
Vgl. Moxter (1989), S. 233.
23
Vgl. Moxter (1989), S. 233.
24
Vgl. Moxter (1989), S. 233; vgl. hierzu auch Oberbrinkmann (1990), S. 88 f.
25
Vgl. Moxter (1989), S. 233.
26
Vgl. Groh (1980), S. 134.
27
Vgl. Moxter (1989), S. 233.
28
Vgl. Moxter (1984a), S. 1781.
29
Vgl. Moxter (1989), S. 233
30
Vgl. BFH (1974), S. 204; vgl. hierzu auch Euler (1989), S. 62, Moxter (1986), S. 41 sowie
Moxter (1987a), S. 365.
31
Beisse (1981a), S. 20; vgl. hierzu auch BFH (2012), S. 189 sowie Weber-Grellet (1996a), S. 896.

5
b)
Statische und dynamische Bilanzauffassung
Untersucht man den Bilanzzweck auf einer zweiten Ebene unter statischen und dy-
namischen Gesichtspunkten, ergeben sich auch im Hinblick auf den Konflikt von
Vermögens- und Gewinnermittlung deutliche Unterschiede.
Der statisch geprägte Bilanzzweck i. S. d. Zerschlagungsstatik liegt nach einer Ent-
scheidung des ROH
32
in der ,,Übersicht und Feststellung des Vermögensbestandes in
einem bestimmten Zeitpunkt"
33
. Unter der Prämisse der Ausrichtung der Buchfüh-
rungsvorschriften auf den Gläubigerschutz
34
kommt der Bilanz als Zustandsabbild
35
demnach lediglich eine Informationsfunktion zu
36
. Der Bilanzzweck der Gewinner-
mittlung kann unter diesem Ausgangspunkt neben der Vermögensermittlung nur als
nachrangiges Nebenprodukt betrachtet werden
37
. Auch in der aus dieser Auffassung
heraus entwickelten Fortführungsstatik stehen Vermögensermittlung und Informa-
tionsfunktion im Vordergrund
38
.
Die Wende im Hinblick auf den verfolgten Bilanzzweck kam erstmals mit Schma-
lenbach und der durch ihn geprägten dynamischen Bilanzauffassung
39
. Primäres Ziel
soll hier nun nicht mehr die Vermögens-, sondern die Erfolgsermittlung sein
40
. Nach
Schmalenbach konstituierte auch der BFH die ,,zeitraumrichtige Gewinnermittlung"
als einen der ,,tragenden Grundsätze des Bilanzrechts"
41
. Problematisch ist die dy-
namische Bilanzauffassung insbesondere dahingehend, als dass eine Überbetonung
der Periodisierungsaufgabe stattfindet, aus der eine Zurückdrängung von Objektivie-
rungs- und Vorsichtsprinzipien resultiert
42
.
Zweckmäßig kann die Gewinnermittlung jedoch nur dann erfolgen, wenn sie direkt
aus dem Realisationsprinzip als Leitprinzip resultiert
43
. Die ,,statische Wende" der
1960er Jahre brachte daher ein neues Verständnis der Statik mit sich
44
. Aufgabe der
32
Vgl. Euler (1996), S. 23.
33
ROH (1873), S. 17.
34
Vgl. Leffson (1987), S. 41­43; vgl. hierzu auch sowie Knobbe-Keuk (1993), S. 13.
35
Vgl. Knobbe-Keuk (1993), S. 13.
36
Vgl. Oberbrinkmann (1990), S. 56, 88 f.
37
Vgl. Oberbrinkmann (1990), S. 95.
38
Vgl. Simon (1899), S. 303.
39
Vgl. Euler (1996), S. 73.
40
Vgl. Schmalenbach (1925), S. 60; vgl. hierzu auch Groh (1980), S. 129.
41
BFH
(1960),
S.
138.
42
Vgl. Moxter (1988), S. 448; vgl. hierzu auch Moxter (1984a), S. 1782.
43
Vgl. Moxter (1988), S. 449.
44
Vgl. Moxter (1984a), S. 1782.

6
Bilanz ist es unter Berücksichtigung von Vorsichtsprinzip und Objektivierungsge-
bot
45
, den verteilbaren anstatt des vergleichbaren Gewinns zu ermitteln
46
. Aus der
Berücksichtigung des Realisationsprinzips als Leitprinzip der Gewinnermittlung, und
damit der impliziten Betonung des Vorsichtsprinzips, resultiert, dass der Gewinn,
insbesondere im Hinblick auf die Sicherung der Unternehmensfortführung und den
Gläubigerschutz
47
, als Ausschüttungsrichtgröße zu verstehen ist
48
. Der Bilanzzweck
ist heute also in der Ermittlung des ausschüttungsfähigen Gewinns i. S. d. Gläubiger-
schutzes zu sehen
49
.
2.
GoB-Prinzipien der Gewinnrealisation
a)
Grundsätzliche Bedeutung der GoB
Um eine dem Bilanzzweck entsprechende Ermittlung des ausschüttungsfähigen Ge-
winns i. S. d. Gläubigerschutzes zu gewährleisten, werden die handelsrechtlichen
GoB hinzugezogen
50
. Allgemein gesprochen sind die GoB deduktiv zu ermittelnde
51
,
handelsrechtliche Regeln, die bei der Buchführung zu beachten sind, um eine
zweckmäßige Bilanz aufstellen zu können
52
. Sie sind für jeden Kaufmann im Rah-
men der Bilanzierung bindend (§ 238 Abs. 1 S. 1 HGB), d.h. sie haben Rechtsnorm-
charakter
53
, auch wenn sie selbst keine Gesetze im formellen Sinn sind
54
. Die Aufga-
be der GoB besteht hauptsächlich darin, Regelungslücken in den bilanzrechtlichen
Normen zu schließen
55
. Über das Maßgeblichkeitsprinzip erlangen die einzelnen
GoB-Prinzipien auch Relevanz für das Steuerrecht
56
. So ist in der Steuerbilanz re-
gelmäßig dasjenige Betriebsvermögen anzusetzen, welches nach den handelsrechtli-
chen GoB auszuweisen ist (§ 5 Abs. 1 Satz 1 EStG).
45
Vgl. Groh (1980), S. 129.
46
Vgl. Moxter (1984a), S. 1782.
47
Vgl. Moxter (1984a), S. 1782.
48
Vgl. Euler (1989), S. 65.
49
Vgl. RGZ (1884), S. 162; vgl. hierzu auch RGZ (1918), S. 318, Moxter (1996), S. 231, Backhaus
(1980), S. 347 sowie Beisse (1984), S. 4.
50
Vgl. Moxter (1996), S. 231.
51
Vgl. Döllerer (1959), S. 1217.
52
Vgl. BFH (1967), S. 609.
53
Vgl. Döllerer (1959), S. 1217; vgl. hierzu auch Moxter (2003), S. 9.
54
Vgl. Döllerer (1959), S. 1217.
55
Vgl. Ordelheide (1990), S. 249.
56
Vgl. Bartels (1992), S. 1095.

7
b)
Wirtschaftliche Betrachtungsweise als zentrales Prinzip im GoB-System
Trotz vielfacher gesetzlicher Normierung
57
ist der Begriff ,,GoB" ein unbestimmter
Rechtsbegriff
58
. Für die Ermittlung des konkreten Inhalts einzelner GoB-
Prinzipien
59
, aber auch einzelner Rechtsnormen
60
, bedarf es Methoden zur Normaus-
legung
61
. Vorrangig wird heute die teleologische Auslegung, d.h. eine dem objekti-
ven und auch wandelbaren Zweck der Normen entsprechende Auslegungsmethode,
als dominierende Normauslegungsmethode angesehen
62
.
Die wirtschaftliche Betrachtungsweise wird nach h. M. als eine Ausprägung der ju-
ristischen Methodik der teleologischen Auslegung anerkannt
63
, kommt ihr doch die
Aufgabe zu, gesetzliche Tatbestände, aber auch konkrete Sachverhalte, auf die die
entsprechenden Rechtsnormen Anwendung finden, nach ihrem wirtschaftlichen
Sinngehalt zu interpretieren
64
. Kurz gesagt bedeutet sie die ,,Berücksichtigung des
faktisch Wirkenden gegenüber der äußeren Form"
65
. Für eine wirtschaftlich geprägte
Interpretationsrichtung besteht natürlicherweise im Handels- und Steuerrecht eine
besondere Notwendigkeit, sind in diesen beiden Rechtsgebieten doch ökonomische
Sachverhalte der Ausgangspunkt der gesetzlichen Regelungen, sodass diese auch
unter Zuhilfenahme einer wirtschaftlichen Sichtweise beurteilt werden müssen
66
. Im
Bilanzrecht ist die wirtschaftliche Betrachtungsweise nach h. M. und Rechtsprechung
vorherrschend
67
. Im Kern bedeutet ,,wirtschaftliche Betrachtungsweise" die Abkehr
von einer rein formalrechtlichen Betrachtungsweise, d.h. dem reinen Abstellen auf
die Frage nach den zivilrechtlichen Verhältnissen
68
und Objektivierungsbestrebun-
gen
69
, wodurch oftmals der wirtschaftliche Sinn hinter den Normen verkannt wird
70
.
Es darf jedoch nicht so weit gegangen werden, die wirtschaftliche Betrachtungsweise
57
Vgl.
Blümich
(2014), § 5, Rz. 204
58
Vgl. Blümich (2014), § 5, Rz. 209
59
Vgl. Blümich (2014), § 5, Rz. 209
60
Vgl. Beisse (1981), S. 1.
61
Vgl. Euler (2002), S. 875.; vgl. auch Winnefeld (2006), Kapitel D, Rz. 30.
62
Vgl. Beisse (1981), S. 2.
63
Vgl. Beisse (1980a), S. 250 f.
64
Vgl. Beisse (1981), S. 1; vgl. hierzu auch Groh (1989), S. 227 sowie Böcking (1997), S. 87.
65
Beisse (2001), S. 739.
66
Vgl. v. Wallis (1954), S. 253 f; vgl. hierzu auch Körner (1974), S. 797.
67
Vgl. BFH (1952), S. 208; vgl. hierzu auch BFH (1963), S. 256, Moxter (1983), S. 305 sowie
Weber-Grellet (1996a), S. 897.
68
Vgl. Ballwieser (2013), § 246, Rz. 8.
69
Vgl. Moxter (1983), S. 305.
70
Vgl. Moxter (2003), S. 15 f; vgl. hierzu auch Groh (1980), S. 129 sowie Söffing (1992), S. 55 f.

8
als Gegenstück zur rechtlichen Betrachtungsweise zu interpretieren
71
. Sie ist viel-
mehr ein Teil dieser
72
, was schon allein aus ihrer Natur als Ausprägung der juristi-
schen Auslegungsmethodik folgt
73
. Aber auch durch die Geltung des Objektivie-
rungsprinzips kommt der rechtlichen Struktur bei der Normauslegung eine bedeuten-
de Rolle zu
74
. Die eigentliche Unterscheidung hat zum Zweck einer zielführenden
Rechtsanwendung vielmehr zwischen den einzelnen Rechtsgebieten zu erfolgen,
sodass sich nicht wirtschaftliche und rechtliche Betrachtungsweise gegenüberstehen,
sondern zivilrechtliche und handels- bzw. steuerrechtliche
75
. Behält man vor diesem
Hintergrund auch den Bilanzzweck im Blick, so können für die Bilanz nicht etwa die
zivilrechtlichen Rechtspositionen ausschlaggebend sein, sondern die, von wirtschaft-
licher Betrachtungsweise geprägten, ggf. von den zivilrechtlichen abweichenden,
handelsrechtlichen Rechtspositionen
76
. So sind in der Handelsbilanz ,,Vermögensge-
genstände" anzusetzen (§ 246 Abs. 1 HGB). Bei der Würdigung der wirtschaftlichen
Betrachtungsweise muss grds. nach der Prämisse ,,soviel wirtschaftliche Betrach-
tungsweise wie möglich, soviel Objektivierung (formalrechtliche Betrachtungsweise)
wie nötig" verfahren werden
77
. In diesem Zusammenhang wird auch ihre Abgren-
zung zur betriebswirtschaftlichen Betrachtungsweise unabdingbar
78
. Erst bei der In-
terpretation der wirtschaftlichen als eine, den rechtlichen Grundlagen widerstreben-
den, rein betriebswirtschaftlichen Betrachtungsweise, entstehen Konflikte mit der
rechtlichen Betrachtungsweise, sodass eine solche abzulehnen ist
79
. Zusammenfas-
send ermöglicht also ,,erst die wirtschaftliche Betrachtungsweise [...] eine bilanz-
zweckadäquate Interpretation der Rechtsnormen"
80
. Jedoch hat sie immer dann zu-
rück zu treten, wenn durch sie andere zentrale Prinzipien verletzt werden, insbeson-
dere die Prinzipien der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit
81
.
71
Vgl. Körner (1974), S. 797.
72
Vgl. BFH (1965), S. 262; vgl. hierzu auch Winnefeld (2006), Kapitel D, Rz. 90 sowie Lüders
(1987), S. 43.
73
Vgl. Beisse (1980a), S. 250 f.
74
Vgl. Wüstemann/Kierzek (2007), S. 888.
75
Vgl. Körner (1974), S. 798; vgl. hierzu auch Winnefeld (2006), Kapitel D, Rz. 90.
76
Vgl. Winnefeld (2006), Kapitel D, Rz. 90.
77
Moxter (1983), S. 305.
78
Vgl. Beisse (1981), S. 3; vgl. hierzu auch Beisse (1980a), S. 251 sowie Döllerer (1980), S. 201.
79
Vgl. Döllerer (1980), S. 202 f; vgl. hierzu auch Beisse (1984), S. 11 sowie Lüders (1987), S. 43.
80
Hommel (1992), S. 3.
81
Vgl. Eibelshäuser (2002), S. 1427.

9
c)
Realisationsprinzip und Objektivierungsgebot als Leitprinzipien
Im Rahmen der Gewinnrealisation sind insbesondere zwei GoB-Prinzipien von über-
geordneter Bedeutung: das Realisationsprinzip als Ausprägung des Vorsichtsprinzips
und das Objektivierungsprinzip.
Das Realisationsprinzip bestimmt durch die aus der wirtschaftlichen Betrachtungs-
weise resultierenden Maßgabe, ausschließlich Gewinne zu berücksichtigen, die be-
reits realisiert, d. h. durch Umsatz verwirklicht
82
, sind (§ 252 Abs. 1 Nr. 4 2. HS
HGB), den Entstehungszeitpunkt von Erträgen und somit den Zeitpunkt der Gewinn-
realisierung
83
. Konkret gibt es an, ,,wann im Verlauf des sich über mehrere Stufen
hinziehenden ,Umsatzprozesses` der Gewinn verwirklicht ist"
84
. Es dient somit der
Ermittlung eines umsatzbezogenen Gewinns bzw. Verlustes
85
. Das Realisationsprin-
zip erfüllt implizit diverse weitere Zwecke. Durch das Anschaffungswertprinzip
wirkt es wertbegrenzend und führt dazu, dass die Anschaffungs- bzw. Herstellungs-
kosten den höchstmöglichen Ansatzbetrag darstellen
86
. Daneben erfüllt das Realisa-
tionsprinzip auch Periodisierungsaufgaben, da eine auf den Umsatz abstellende Ge-
winnermittlung auch umsatzbezogener und damit ggf. zeitlich abweichender Aktivie-
rungen und Passivierungen bedarf
87
. Betrachtet man die Periodisierungsaufgabe vor
dem Hintergrund der vorsichtigen Ermittlung eines ausschüttungsfähigen Gewinns,
so ergibt sich für Grenzfälle zwar eine Passivierung, aber keine Aktivierung
88
. Das in
§ 252 Abs. 2 Nr. 4 1. HS HGB kodifizierte Imparitätsprinzip wirkt einschränkend auf
das Realisationsprinzip und verlangt die Berücksichtigung von zukünftigen Verlus-
ten bereits vor ihrer tatsächlichen Realisation, wenn diese wirtschaftlich bereits ver-
ursacht oder entstanden sind
89
und eine Deckung dieser Verluste durch zugehörige
Erträge wahrscheinlich nicht gewährleistet werden kann
90
.
82
Vgl. Knobbe-Keuk (1993), S. 244.
83
Vgl. Ballwieser (2013), § 243, Rz. 24; vgl. hierzu auch Euler (1996), S. 112 und Moxter (2003),
S. 44.
84
BFH
(1974),
S.
204
85
Vgl. Böcking (1988), S. 123.
86
Vgl. Leffson (1987), S. 339.
87
Vgl. Moxter (1984a), S. 1784.
88
Vgl. Moxter (1984a), S. 1784.
89
Vgl. Beisse (1981a), S. 15.
90
Vgl. Moxter (2003), S. 55.

10
Das Objektivierungsprinzip hingegen dient dazu, die Ermessensspielräume des Bi-
lanzierenden bei der Anwendung der GoB zu reduzieren
91
. Dies ist i. S. d. Gläubiger-
schutzes insbesondere deswegen erforderlich, weil der Gläubiger nur dann auf die
aus der Bilanz zu entnehmenden Informationen vertrauen kann, wenn diese anhand
von objektiven Kriterien aufgestellt worden ist
92
. Objektivierungskriterien dienen
damit den übergeordneten Zwecken der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit
93
.
Das Objektivierungsprinzip steht jedoch im Konflikt mit dem Prinzip der wirtschaft-
lichen Betrachtungsweise, da es für die Objektivierung grds. einer stärker ausgepräg-
ten formalrechtlichen als einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise bedarf
94
. Aus dem
Objektivierungsprinzip resultieren nach dieser Systematik verschiedene weitere Prin-
zipien, so bspw. das Greifbarkeitsprinzip, wonach nur wirtschaftlich hinlänglich
nachweisbare, d. h. werthaltige, Vermögensgegenstände bzw. Sachverhalte bilan-
zierbar sind
95
. Weiterhin hat die Buchführung eines Kaufmanns für Zwecke der Ob-
jektivierung nach dem Abschlussstichtagsprinzip zu erfolgen (§ 252 Abs. 1 Nr. 3
HGB) und vollständig zu sein (§ 239 Abs. 2 HGB).
III
Konkretisierung des Gewinnrealisationszeitpunkts
1.
Grundsätze der Gewinnrealisation
a)
Prinzip des quasi-sicheren Anspruchs
Wie bereits erwähnt, mangelt es in der deutschen Rechtslandschaft an einer konkre-
ten Kodifizierung von Gewinnrealisierungsgrundsätzen
96
. Lediglich das Realisati-
onsprinzip mit der Maßgabe, Gewinne nur zu berücksichtigen, wenn sie am Ab-
schlussstichtag realisiert sind, hat Einzug ins HGB erhalten (§ 252 Abs. 1 Nr. 4
HGB). Um jedoch die Ermittlung eines ausschüttungsfähigen Gewinns i. S. d. Gläu-
bigerschutzes sicherzustellen, muss das Realisationsprinzip als Leitprinzip der Ge-
winnrealisierung weiter konkretisiert werden
97
. Voraussetzung ist in jedem Fall zu-
nächst eine selbstständig bewertbare Forderung i. S. e. Vermögensgegenstands
98
. Das
Prinzip des quasi-sicheren Anspruchs konkretisiert und beschränkt i. S. d. wirtschaft-
91
Vgl. Euler (1996), S. 121.
92
Vgl. Leffson (1987), S. 81 f.
93
Vgl. Moxter (2003), S. 113.
94
Vgl. Beisse (1984), S. 2.
95
Vgl. Moxter (2003), S. 73 f.
96
Vgl. Lüders (1987), S. 8.
97
Vgl. Wüstemann (2013), S. 86.
98
Vgl. BFH (1976), S. 13 f.; vgl. hierzu auch Moxter (1987), S. 1847 f.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2014
ISBN (eBook)
9783958208551
ISBN (Paperback)
9783958203556
Dateigröße
747 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)
Erscheinungsdatum
2015 (Oktober)
Note
1,3
Schlagworte
rolle betrachtungsweise gewinnrealisierung eine analyse geschäftsvorfälle
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Titel: Die Rolle der wirtschaftlichen Betrachtungsweise in der Gewinnrealisierung nach handelsrechtlichen GoB: Eine exemplarische Analyse anhand verschiedener Geschäftsvorfälle
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