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Die Übersetzung der Contes von Charles Perrault im Wandel der Zeit

©2010 Bachelorarbeit 46 Seiten

Zusammenfassung

Die Contes des Charles Perrault haben in Frankreich im späten 17. Jahrhundert die Gattung des Märchens salonfähig gemacht und später auch Eingang in die deutschen Märchensammlungen gefunden. Das vorliegende Buch möchte sich nun mit den Übersetzungen, die sich direkt auf die Erzählungen von Charles Perrault beziehen, und nicht mit den bearbeiteten Fassungen auseinandersetzen. Dazu soll zuerst das Märchen als literarische Gattung beschrieben und dann im Besonderen die Contes des Charles Perrault im Hinblick auf die Zeit ihrer Entstehung analysiert werden. Da im deutschen Sprachraum dieselben Erzählungen vor allem in der Fassung der Gebrüder Grimm bekannt sind, werden diese zum Vergleich herangezogen. Auf der Basis von translationswissenschaftlichen Methoden, besonders unter Bezugnahme auf den Ansatz des Göttinger Sonderforschungsbereichs „Literarisches Übersetzen“, sollen dann die Übersetzungen von Friedrich Justin Bertuch, Walter Scherf und Doris Distelmaier-Haas untersucht werden. So entsteht ein Vergleich von Übersetzungen aus verschiedenen Epochen anhand der zwei Märchen Le Petit Chaperon rouge und Cendrillon ou La petite pantoufle de verre.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Erst in der französischen Klassik, in der die Vernunft und der Verstand zum obersten Gebot
wurden, wird nun auch klar zwischen der Wirklichkeit und der Vorstellung unterschieden.
Erstaunlicherweise schrieb Charles Perrault seine ,,Contes de ma mère l'Oye" zu dieser Zeit
und löste damit einen wahren ,,Märchenboom" in Frankreich aus, die Mode der
Feenmärchen. Friedmar Apel geht davon aus, dass es kein Zufall ist, dass gerade in dieser
Epoche das Märchen zu einer eigenständigen Gattung wird. Er meint dazu: ,,Die
konstituierende Bedeutung der Einbildungskraft konnte sich erst im Gegenzug zum
rationalistischen Weltbild entwickeln, da ein Wirklichkeitsbewußtsein, in dem Wissen und
Glauben in eins fallen, im Grunde keinen Gegensatz von imitatio und inventio kennen kann."
(Apel, 1978, S. 23)
Freilich griff Charles Perrault auch auf schon ältere Märchensammlungen, die in Italien in der
zweiten Hälfte des 16. und ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstanden waren, zurück.
Unter dem Einfluss der orientalischen Märchen, die venezianische Seeleute nach Italien
mitgebracht hatten, verfasste Giovanni Francesco Straparola die ,,Ergötzlichen Nächte" und
Giambattista Basile ,,Die Geschichte der Geschichte oder die Unterhaltung für die Kleinen",
die später in ,,Pentamerone" umbenannt wurde. Schon dort findet man beispielsweise die
Märchenstoffe des späteren ,,Gestiefelten Katers" oder des ,,Aschenputtels".
Mitte des 18. Jahrhunderts setzte sich dann die Entwicklungsgeschichte des Märchens in
Deutschland fort. Über französische Emigranten, die vor der Verfolgung der Hugenotten in
Frankreich geflüchtet waren, und durch Übersetzungen, wie die von Friedrich Justin Bertuch,
wurden die französischen Märchen auch in Deutschland bekannt. Zwischen 1782 und 1786
entstanden die ,,Volksmärchen der Deutschen" von Johann Karl August Musäus. Doch wurde
in Deutschland das Märchen als Gattung vor allem durch die ,,Kinder und Hausmärchen" der
Gebrüder Grimm, die erstmals 1812/15 erschienen, geprägt. Die Beiträge zur
Märchensammlung kamen vor allem von jüngeren gebildeten Frauen, wie z.B. Marie und
Jeannette Hassenpflug, die mütterlicherseits von einer hugenottischen Familie abstammten.
Gleichzeitig griffen die Gebrüder Grimm jedoch auch auf ursprünglichere Fassungen wie z.B.
die Märchen des Giambattista Basile zurück. Anders als ihre Vorbilder aber wollten die
Gebrüder Grimm eine möglichst treue, ursprüngliche Wiedergabe der Märchen. Sie wollten
diese nicht dem Zeitgeist entsprechend anpassen, sondern als zeitlose Erzählungen
darstellen. Nichtsdestotrotz griffen sie in den Stil der Märchen ein und nahmen z.B. in ihrer
zweiten Auflage das Märchen des Gestiefelten Katers heraus, da es zu derb war und einen
erotischen Beigeschmack hatte. Ziel der Gebrüder Grimm war es, mehr als ihrer Vorgänger,
einerseits die Märchen den Kindern und Jugendlichen der bürgerlichen Gesellschaft
zugänglich zu machen und andererseits Märchen als Volksgut zu bewahren. ,,Leitender
Gesichtspunkt für die Neustilisierung war das romantische Streben, das, was man für den
kreativ schaffenden Volksgeist hielt, erzählerisch und sprachlich zu rekonstruieren." (Freund,
2003, S. 25)
So kristallisierte sich in Folge eine Unterscheidung zwischen Kunstmärchen, das geprägt vom
individuellen Verfasser das Wunderbare parallel zum Realen darstellt, und Volksmärchen,

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das als Ergebnis eines langfristigen Erzählprozesses das Wunderbare als eigene Welt
darstellt, heraus. ,,Gerade die für die Erkenntnis der Geschichtlichkeit so wichtige Vorstellung
vom goldenen Zeitalter schied die Romantiker hinsichtlich der Volksmärchenrezeption, wie
überhaupt in der Diskussion um Natur und Kunstpoesie, in eine ästhetischliterarische
Richtung, die den ganzen Schatz der wiederentdeckten Volkspoesie selbstverständlich als
lebendiges Arsenal poetischer Mittel und Motive betrachtete, und eine mehr mythisch
volksgebundene Richtung, die die historische Tätigkeit im alten Sinne als ein Sammeln und
Bewahren begriff und soweit ging, die Kunstmärchen überhaupt abzulehnen:" (Apel, 1978,
S.140)
Grundsätzlich kann man sagen, dass das Märchen in der Romantik einen Aufschwung
erlebte. In dieser Zeit stehen Gefühle und Leidenschaft im Vordergrund und der Bruch
zwischen Wunderbarem und Realem wird als Zerrissenheit gesehen, die geheilt werden soll.
So entstanden Anfang des 19. Jahrhunderts viele Übersetzungen von Märchen ins Deutsche,
wie z.B. die 1846 erschienene Übersetzung der Märchen von Giambattista Basile von
Friedrich Liebknecht oder die schon erwähnte Übersetzung von ,,Tausendundeine Nacht",
und weitere Märchensammlungen, wie die von Ludwig Bechstein.
In der Zeit nach der Romantik verloren Märchen jedoch immer mehr an Bedeutung.
Zwischen 1835 und 1872 entstanden zwar die bekannten Kunstmärchen von Hans Christian
Andersen, doch wurden Märchen zunehmend auf ihre Bedeutung als Geschichten für Kinder
reduziert. Während Kunstmärchen nur mehr vereinzelt erschienen, wie z.B. Hugo von
Hofmannsthals ,,Märchen der 672. Nacht", versuchte man die Märchensammlung der
Gebrüder Grimm mit Märchen aus allen Teilen der Welt zu ergänzen. Anfang des 20.
Jahrhunderts erschienen die ,,Märchen der Weltliteratur" von Friedrich von der Leyen und
,,Die schönsten Märchen der Welt für 365 und einen Tag" von Lisa Tetzner.
Prägend für den deutschen Sprachraum bleiben jedoch bis heute die Grimmschen Märchen.
Sie wurden und werden in vielfältiger Weise rezipiert und abgewandelt und dienen als
Vorlage für Theaterstücke und Filme. Jedoch der Mythos des Märchens als Ausdruck
ursprünglicher Poesie des eigenen Volkes, wie ihn die Gebrüder Grimm darstellen wollten,
muss relativiert werden. So ist heute bewiesen, dass Geschichten wie z.B. ,,Das tapfere
Schneiderlein" oder ,,Das Mädchen ohne Hände" nicht von einer alten Amme stammen, wie
es Hermann Grimm, der Sohn von Wilhelm Grimm, erzählt hat, sondern, wie schon erwähnt,
von den Schwestern Hassenpflug. ,,Deutsche Märchen etwa galten in der Nachfolge der
Brüder Grimm wesensmäßig als Abkömmlinge germanischer Mythen und folgedessen als
kulturelles Fundament einer nationalen Wesensart, die sich seit Jahrtausenden organisch von
Mund zu Mund überliefert hat." (Mazenauer/Perrig, 1998, S. 23) Wie jedoch klar aus der
historischen Entwicklung des Märchens hervorgeht, ist ein interkultureller Einfluss in der
Überlieferung unbestritten. Wenn Märchen auch aus mündlichen Erzählungen
hervorgegangen sind, so waren die Quellen nicht in jedem Fall unbekannt und stammten oft
aus anderen Ländern und Kulturen. Nicht zuletzt durch Übersetzungen konnten sich so
Märchen über die Sprachgrenzen hinweg verbreiten.

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1.2. FormaleundsprachlicheMerkmaledesMärchens
Entsprechend der langen Entwicklungsgeschichte des Märchens haben sich auch seine Form
und seine Sprache im Laufe der Zeit verändert. Nicht nur aufgrund des Sprachwandels,
sondern auch aufgrund der sich wandelnden Rolle, die das Märchen im kulturellen, speziell
im literarischen Kontext einnimmt.
Die Märchensammlungen von Straparola und Basile sind, ähnlich wie ,,Tausendundeine
Nacht" aber auch wie das Dekamerone von Boccaccio, in eine Rahmenhandlung eingebettet.
Die Geschichten selbst werden von Mägden oder alten Weibern dem höfischen Publikum in
einer einfachen, derben Dialektsprache vorgetragen, im Gegensatz zur feinen höfischen
Sprache, das damals am neapolitanischen Hof das Spanische war. Die Erzählungen, die oft
auch einen erotischen Beigeschmack hatten, dienten also zur Belustigung der höfischen
Gesellschaft und nicht zur Unterhaltung von Kindern, wie im Titel Basiles angegeben.
Ebenso waren die Contes des Charles Perrault mehr als Unterhaltung für die höfische
Gesellschaft als für Kinder gedacht. Wenn sie auch in einer recht schlichten Sprache verfasst
wurden, so sind sie doch dem höfischen Lebensstil seiner Zeit angepasst. Sie haben ihre
Derbheit verloren und erotische Inhalte werden nicht mehr offen ausgesprochen, sondern
nur mehr angedeutet. Zur Intention der Unterhaltung kommt ein erzieherischer Aspekt
hinzu, den Perrault in seinen Moralités zum Ausdruck bringt.
Mit dem Erscheinen der Grimmschen Märchen spaltet sich die Gattung in die Form des
Volks und des Kunstmärchens. Wenn diese Einteilung auch oft als problematisch gesehen
wird, da auch die Volksmärchen eine individuelle Prägung durch ihre Verfasser erfahren, so
bestehen doch klare formale und stilistische Unterschiede.
Volksmärchen sind charakterisiert durch eine einfache, lineare Struktur und eine leicht
verständliche Sprache. Sie gehen immer von einer anfänglichen Problemsituation aus. Der
Protagonist macht sich auf den Weg, kommt zu verschiedenen Wendepunkten und mit Hilfe
von übernatürlichen Wesen, wie z.B. Zwergen, Feen oder verwandelten Tieren, bewältigt er
die Situation, und die Geschichte kommt zu einem guten Ende. Es wird klar zwischen Gutem
und Bösem unterschieden, dementsprechend sind die Charaktere im Märchen keine
individuellen Personen, sondern Sinnbild für bestimmte Typen. Volksmärchen stellen keinen
Bezug zu Zeit oder Ort her und fördern so das Entstehen einer eigenen Phantasiewelt. Dies
wird zusätzlich durch eine immer wiederkehrende Symbolik unterstützt, wie z.B. die
Zahlensymbolik (so werden bestimmte Situationen immer dreimal durchlaufen) oder die
Farbsymbolik. Auch Gegenstände oder Erscheinungen, wie z.B. der Glasberg, bekommen
eine symbolische Bedeutung. Die Sprache im Volksmärchen ist gekennzeichnet durch einen
einfachen Satzbau, durch immer wieder eingeschobene direkte Rede und durch eine
schlichte Wortwahl. Gleichzeitig wird aber durch Metaphern, Archaismen, Reime und
volkstümliche Wendungen, wie z.B. ,,Wer A sagt, muss auch B sagen" aus Hänsel und Gretel,
ein poetischer Ton erzielt. ,,Volksmärchen in diesem Sinn sind individuell bearbeitete
Erzählungen mit tradierten Inhalten, Motiven und Symbolen, die in einfacher Sprache und

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nicht komplexer Struktur die soziale Wirklichkeit des Mangels durch die wunderbare Fiktion
der Glückserfüllung poetisch ausgleichen." (Freund, 2003, S. 13)
Kunstmärchen hingegen stellen zwar auch das Wunderbare dar, setzen dies jedoch in
Beziehung zur realen Welt. Einerseits stehen beide Welten innerhalb der Geschichte im
Widerstreit, andererseits gehen Kunstmärchen auf die aktuelle gesellschaftliche Situation
ein. Ihre Struktur ist komplexer, da sie von einer individuellen Situation und einer
individuellen Persönlichkeit ausgehen. Inhalte, Motive und Sprache sind viel stärker durch
den Individualstil und die Erzählintention des Autors geprägt. Kunstmärchen sind vielmehr in
der jeweils zeitgenössischen Literatur eingebettet.
Grundsätzlich kann man sagen, dass Märchen wunderbare Inhalte erzählen in einer mehr
oder weniger einfachen Form und so heute vor allem der Kinderliteratur zugeschrieben
werden. Ursprünglich waren Märchen jedoch auch an Erwachsene gerichtet, einmal mehr
zur Unterhaltung, einmal mehr zur Belehrung und ein andermal, um existentielle oder
gesellschaftliche Problemstellungen symbolisch darzustellen.
Aufgrund ihrer einfachen Form und ihrer phantastischen Inhalte waren Märchen als
literarische Gattung aber stets umstritten. Schon Nicolas Boileau, der Gegenspieler von
Charles Perrault in der ,,Querelle des Anciens et des Modernes" der Académie Française,
machte sich über dessen Contes lustig. Jedoch auch in Deutschland hatten die Feenmärchen
trotz des großen Einflusses der französischen Kultur zunächst wenig Ansehen. So schreibt
Johann Christoph Gottsched: ,,Die Contes de Fées dienen ja nur zum Spotte und Zeitvertreibe
müßiger Dirnen und witzarmer Stutzer, führen aber auch nicht die geringste
Wahrscheinlichkeit bey sich." (Apel, 1978, S. 79)
Wie immer man auch die literarische Bedeutung des Märchens einschätzt, so ist doch klar,
dass es fiktionale Texte sind, und ihre charakteristische Form und Sprache Teil des
inhaltlichen Konzeptes sind. Dies ist vor allem in Hinblick auf ihre Übersetzung zu
berücksichtigen.

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2.
TRANSLATIONSWISSENSCHAFTLICHEASPEKTE
2.1. TranslationswissenschaftundliterarischeÜbersetzung
Die Translationswissenschaft als relativ junge Disziplin hat sich in verschiedenen Richtungen
ausgeprägt. Einerseits wird sie als Teil der Sprachwissenschaft gesehen, innerhalb derer sich
jedoch erst in den sechziger bzw. siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine eigene
Richtung, die die Übersetzungswissenschaft in den Mittelpunkt stellt, herausgebildet hat.
Andererseits ist eine Translationswissenschaft, die sich bewusst von der Linguistik absetzt,
wie die Theorien von Katharina Reiß und Hans J. Vermeer, entstanden. Diesen Ansätzen
gemeinsam ist jedoch, dass sie zum Ziel haben, Grundlagen für ein richtiges Übersetzen zu
schaffen, also normativpräskriptiv orientiert sind. Außerdem wird in diesen Ansätzen nicht
zwischen dem Übersetzen von Sachtexten und literarischen Texten unterschieden.
Da aber eine grundlegende ontologische Differenz zwischen pragmatischen und literarischen
Texten besteht, ist dementsprechend eine unterschiedliche Herangehensweise und Theorie
im Bereich der literarischen Übersetzung notwendig.
Literarische Texte sind im Gegensatz zu pragmatischen Texten nicht eindeutig
kommunikativ, das heißt, es ist nicht von vorneherein klar, ob der Autor oder ein fiktiver
Erzähler eine Botschaft an einen intendierten Leser richtet, wer dieser intendierte Leser ist,
oder ob der Text sich überhaupt an einen Leser richtet. Greiner spricht von der Autonomie
des literarischen Textes, der zwar sehr wohl einen Bezug zur Lebenswelt hat, dessen
Ausdruck sich jedoch nicht nur auf die Abbildung der Wirklichkeit beschränkt. Er sagt dazu:
,,Nichtfiktionale Sprache hält Begriffe bereit, die als Abbilder von etwas Entsprechungen in
der Wirklichkeit finden. Literarische Werke präsentieren die zur Idee gesteigerte Wirklichkeit,
nicht Abbilder eines in der Wirklichkeit vorzufindenden Urbildes." (Greiner, 2004, S.18)
Poetische Sprache ist also nichtreferentiell. Das heißt, referentielle Sprache ist
wahrheitsfunktional, das bedeutet, es ist überprüfbar, ob eine Aussage der Wahrheit
entspricht oder nicht. Die poetische Sprache hingegen hat zwar einen Sinn, hat aber keinen
Wahrheitswert. ,,Entscheidend ist, daß in einem literarischen Text mit anderen als
pragmatisch geläufigen Mitteln Gedanken ausgedrückt werden können, die den Sinn
ergeben; daß in einem literarischen Text möglich ist und Funktion haben kann, was in einem
pragmatischen Kommunikationszusammenhang nicht möglich ist, jedenfalls nicht so ohne
weiteres." (Greiner, 2004, S.15)
Literarische Texte sind Kunstwerke und haben somit einen ästhetischen Charakter. Die Form
eines literarischen Werkes hat genauso viel Aussagecharakter wie der Inhalt, d.h. der Autor
wählt ganz bewusst stilistische Mittel und will damit etwas Bestimmtes ausdrücken. Für das
Übersetzen bedeutet das: ,,In literarischen Texten kann also das Variationsphänomen ,Stil'
infolge seiner strukturalen Einheit mit dem ,Mitgeteilten' von diesem nicht ohne Auswirkung
auf die Textaussage abgelöst werden." (Greiner, 2004a, S.889) Die Form eines literarischen

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Werkes ist also nicht nur schmückender Ausdruck eines Inhaltes, sondern Sinnträger selbst,
und schon die kleinste Abweichung kann einen anderen Sinn ergeben.
In diesem Zusammenhang ist auch begreiflich, warum literarische Werke die Regeln der
herkömmlichen Sprache manchmal umgehen, neue Ausdrucksmöglichkeiten schaffen oder
das Stilmittel der Verfremdung anwenden.
Doch nicht nur der literarische Text, sondern auch dessen Übersetzung ist ein ästhetisches
Objekt und weist somit die gleichen Merkmale auf wie das literarische Werk selbst. Daraus
kann man folgern, dass Prämissen, wie sie die Theorie Nidas vorgibt, wie z.B. der Vorrang
des Inhalts gegenüber dem Stil oder die Forderung, eine Übersetzung solle nicht fremd
wirken, für literarische Übersetzungen nicht zutreffen.
Bis jetzt wird ausschließlich von der Beschaffenheit des literarischen Textes selbst
gesprochen. Dieser wird jedoch auch durch das Erfassen des Lesers bzw. des Publikums
mitbestimmt. Greiner spricht von der doppelten Textidentität, d.h. der Autorintention und
der Leserintention. Wenn auch der literarische Text einen eigenständigen Sinn hat, so wird
dieser doch durch den Leser neu aktualisiert. Da auch der Übersetzer Leser des Originals ist,
kann dieser Aspekt auf den Übersetzungsvorgang übertragen werden. Der Übersetzer
gestaltet seine Übersetzung entsprechend seiner Interpretation des Originals. Greiner (2004,
S.28) sagt dazu: ,,Eine Differenz zwischen Original und Übersetzung ist damit nicht nur
einkalkuliert, sie erweist sich poetologisch als eine Notwendigkeit, die die Übersetzung als
eigenständiges Kunstwerk erst definiert und sie als Gegenstand vergleichender
kulturhistorischer Arbeit interessant macht."
Wenn also schon innerhalb einer Kultur der literarische Text nicht nur von der Intention des
Autors, sondern auch von der Wirkungsweise auf den Leser mitbestimmt wird, um wie viel
mehr gilt dies dann für den Leser aus der fremdsprachlichen Kultur.
Ein weiteres Kriterium eines literarischen Werkes ist dessen ,,Eingebundensein" in einen
historischen Kontext. Diesem Aspekt, in welchem Zusammenhang ein literarisches Werk,
aber auch dessen Übersetzungen entstanden sind, widmet sich vor allem der Göttinger
Sonderforschungsbereich ,,Literarische Übersetzung", auf den ich mich in meiner Arbeit vor
allem beziehen will.
2.2. DerGöttingerSonderforschungsbereich,,DieLiterarische
Übersetzung"
In der Mitte der achtziger Jahre wurde an der Universität Göttingen der
Sonderforschungsbereich ,,Die literarische Übersetzung" eingerichtet. In den ,,Göttinger
Beiträgen zur internationalen Übersetzungsforschung", herausgegeben von Armin Paul Frank
und Horst Turk, sind die Forschungsberichte der Gruppe dokumentiert.

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Ziel dieser Forschungsgruppe ist es, eine Kulturgeschichte der literarischen Übersetzung in
Deutschland zu beschreiben. Die zentrale Frage ist dabei: Was wurde wann, wie oft, von
wem, wie übersetzt? Mit der systematischen Untersuchung von Übersetzungen will man
große historische Zeiträume erfassen und die übersetzerische Tätigkeit einer Epoche
möglichst umfassend darstellen. Denn erst durch eine systematische Erfassung können
Aussagen über die Wirkungsweise von Übersetzungen in den einzelnen Kulturen getroffen
werden. Anhand von sprachlichen und kulturellen Differenzen zwischen dem Ausgangs und
Zieltext will man den Wandel von Übersetzungsnormen und den Einfluss der jeweiligen
Literaturen auf die übersetzerische Praxis darstellen. Jedoch nicht nur der Einfluss der
jeweiligen Kultur auf das Übersetzen, sondern auch umgekehrt der Einfluss, den das
Übersetzen auf die jeweilige Kultur ausübt, soll aufgezeigt werden. In diesem
Zusammenhang werden die Begriffe Nation und Internationalität eingeführt. Allerdings nicht
im politischen Sinne, sondern im Sinne einer Sprachgemeinschaft oder Lesekultur.
Nationalliteraturen stehen der Internationalität gegenüber, wobei mit Internationalität der
Kontakt bzw. der Austausch, der durch Übersetzungen verbundenen Nationen gemeint ist.
Man geht also davon aus, dass durch das literarische Übersetzen die einzelnen
Nationalliteraturen durch fremde Elemente bereichert werden, und so das Übersetzen zum
Ausbau und zur Erweiterung von literarischen Formen beiträgt.
Vor allem aber will sich der Göttinger Sonderforschungsbereich von einem normativ
präskriptiven Ansatz abgrenzen und stellt dem eine historischdeskriptive Sicht gegenüber.
Differenzen in der Übersetzung werden nicht als Fehlerquelle, sondern als Parameter für die
Erforschung von Übersetzungen gesehen. ,,Selbst wenn es das Ziel des Übersetzers gewesen
ist, vollständige Äquivalenz zu erreichen, kann eine literarische Übersetzung nur aus einem
für sie kennzeichnenden Verhältnis aus Äquivalenzen und Differenzen bestehen, und
verschiedene Übersetzungen desselben Werks aus verschiedenen solchen Verhältnissen. Aus
Gründen wie diesem ist übersetzerische Differenz [kursiv im Org.] ein wichtiger, aber nicht
ohne weiteres erkennbarer Indikator für die relative Bereicherung oder Verarmung der
jeweiligen Zielkultur, in die eine Übersetzung eingeführt worden ist. Sie dient zugleich als
wichtiger Bestimmungsfaktor in der Übersetzungsgeschichte." (Frank/Kittel, 2004, S. 19)
Literarische Übersetzung wird folgendermaßen definiert: ,,Eine literarische Übersetzung läßt
sich als eine Version im Sinne einer ReProduktion ­ nicht einer photographischen
Reproduktion ­ in einer zweiten Sprache und im Hinblick auf eine zweite Lesekultur
auffassen, die mit literarischem Anspruch das Verständnis und die Wertschätzung ausdrückt,
die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort ein Übersetzer dem fremden Werk
entgegengebracht hat." (Frank/Kittel, 2004, S. 19) So bekommt die literarische Übersetzung
auch eine Wertigkeit, jedoch nicht im Sinne von richtig oder falsch, gut oder schlecht,
sondern im Sinne einer Einschätzung der Verhältnisse der Nationalliteraturen untereinander.
Die Wahl von eher verfremdendem oder einbürgerndem Übersetzen wird zum Indiz dafür,
ob das Prestige der Ausgangs oder der Zielliteratur als höher eingeschätzt wird.

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In seiner methodischen Vorgehensweise unterscheidet der Sonderforschungsbereich vier
Arten von Studien: die Kometenschweifstudien, die sämtliche Übersetzungen eines fremden
Werkes in einer gegebenen Übersetzungskultur untersuchen, Übersetzerorientierte Studien,
Autororientierte Studien und Studien geordneter Übersetzungscorpora. Unter letzterer
versteht man vor allem die Arbeit mit Repertoires, z.B. Spielplänen von Theatern, oder
Verlagsprogrammen.
Ausgehend von einer umfassenden Analyse des Ausgangstextes erstreckt sich die
Untersuchung der Übersetzung auf die Kategorien Kontexte, Abweichungen, Normen und
Normenfelder sowie produktive Abweichungen.
Mit Kontext ist sowohl der historische Kontext, als auch die ganz individuelle Art, wie der
Übersetzer den Ausgangstext interpretiert, gemeint.
Um Abweichungen systematisch einzuordnen, wird der Ausgangstext im Hinblick auf vier
Kategorien, das sind textliche Mikroeinheiten, textliche Rekurrenzen, literarische Schemata
und literarische Inferenten, sowie anhand von vier Arten der Korrelation zwischen Ausgangs
und Zieltext, nämlich Auslassung, Hinzufügung, Wiedergabe und Veränderung, untersucht.
Textliche Mikroeinheiten umfassen Graphemik, Phonetik, Wörter, Wortgruppen, Syntax und
übersatzmäßige Formen. Unter Rekurrenz versteht man Wiederholungen, die als Stilmittel
verwendet werden, um Verbindungen aufzuzeigen. Literarische Schemata beinhalten
Metrum, Prosodie, Handlungsschemata, Figurentypen, usw. Literarische Inferenten hingegen
sind Elemente, die der Leser mit dem Werk verknüpft, wie z.B. Erzählsituation, Dialog,
Milieu, Figur oder Mentalstil.
Grundsätzlich unterscheidet man zwischen absoluten und relativen Normen. Absolute
Normen werden durchgesetzt und Abweichungen davon bestraft, während relative Normen
sich selbst regulieren. Die Normenfelder, die die Tätigkeit des Übersetzers beeinflussen,
werden bestimmt durch das Anstreben übersetzerischer Treue, durch die Vorstellung, die
ein Übersetzer von einer guten Übersetzung hat, durch die Übersetzungskultur, durch
Normen einer weiteren Kultur, sofern eine Mittelübersetzung aus einer dritten Lesekultur
herangezogen wird, durch die der Übersetzung innewohnenden Konsequenz, durch
Literaturkenntnis sowohl der Ausgangs wie auch der Zielkultur, durch literatursprachliche
Normen, durch Sprachnormen, durch eventuelle technische oder Aufführungsnormen und
durch naturgegebene Normen.
Mit produktiver Abweichung meint man den kreativen Umgang des Übersetzers mit
Normenkonflikten. Das heißt, dass der Übersetzer fremde Elemente aus dem Text der
Ausgangskultur nicht der Zielkultur anpasst, sondern sie als neue literarische Stilmittel
einführt, und damit, wie schon erwähnt, das literarische Schaffen der Zielkultur ausbaut und
bereichert.

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Insofern kommt der Literarischen Übersetzung eine Vermittlerrolle zu, die nicht nur
literarische Werke der Ausgangskultur den Lesern der Zielkultur zugänglich macht, sondern
überhaupt die literarische Entwicklung der Zielkultur als prägender Faktor mitbestimmt.

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3.
DIECONTESVONCHARLESPERRAULT
3.1.Entstehungsgeschichte
Charles Perrault lebte von 1628 bis 1703. Er wuchs als jüngster Sohn einer Advokatenfamilie
in Paris auf. Auch er selbst studierte Jura und wurde 1651 als Anwalt zugelassen. Sein
ältester Bruder Pierre, für den er anfangs arbeitete, führte ihn in den Hof ein. Schon damals
hatte Perrault zu schreiben begonnen und verfasste unter anderem die ,,Odes au Roi et
autres poèmes". Bald fiel er dem Minister Colbert auf, der ihn zum Sekretär der Petite
Académie, einer Prüfinstanz für Kunst und Literaturwerke, und zum Generalinspekteur der
königlichen Bauten machte.
1671 wurde Charles Perrault in die Académie Française aufgenommen. Doch mit dem Tod
von Colbert 1683 verlor Perrault seinen Fürsprecher und damit seine privilegierte Stellung.
Mit seinem Gedicht ,,Le Siècle de Louis le Grand", in dem er die zeitgenössische Literatur der
französischen Klassik über die der Antike stellte, löste er die ,,Querelle des Anciens et
Modernes" aus. Sein Hauptgegner auf der Seite der ,,Anciens" war Nicolas Boileau. Um seine
Position darzulegen, verfasste Perrault die ,,Parallèles des Anciens et des Modernes", in
denen er die zwei Seiten in Dialogform gegenüberstellte. Wenn auch die Ansichten Perraults
anfangs als Provokation galten, so setzte sich langfristig dann doch die Position der
,,Modernes" durch.
Als weitere Provokation wurde später die Veröffentlichung der ,,Contes de ma mère l'Oye"
gesehen, die Charles Perrault schon in fortgeschrittenem Alter verfasste. Zwischen 1691 und
1695 erschienen die ersten drei Erzählungen, Griseldis, Peau d'Ane, und Les Souhaits
Ridicules, in Versform. Doch diese Erzählungen stießen wegen ihrer einfachen Form und
ihren Inhalten aus der Volkspoesie auf harte Kritik vor allem bei Perraults Gegner, Nicolas
Boileau. In der Ausgabe von 1695 verteidigte Perrault seine Geschichten, indem er sie mit
der antiken Sagenwelt verglich und sie sogar über diese stellte. So schrieb er in seinem
Vorwort: ,,Das gilt nicht für die Erzählungen, die unsere Vorfahren für ihre Kinder erfunden
haben. Sie haben sie nicht mit dieser Eleganz verfertigt und mit diesem Zierrat
ausgeschmückt, wie es die griechischen und lateinischen Erzähler mit ihren Sagen taten; doch
waren sie stets sorgfältig darauf bedacht, daß ihre Geschichten eine rechte und lehrreiche
Moral vermittelten." (Perrault, 2001, S. 8) Perrault legitimierte seine Erzählungen also vor
allem mit der Moral, die sie auf unterhaltende Weise vermitteln sollten. Doch nicht zuletzt
auf Grund seiner Kritiker hat Perrault seine weiteren fünf Erzählungen dann in Prosa verfasst
und nur bei den daran anschließenden Moralités den Reim beibehalten. 1697 erschienen
alle acht Erzählungen in einem Band mit dem Titel ,,Histoires ou contes du temps passé, avec
des moralités" unter dem Pseudonym Darmancour. Als Autor gab Perrault seinen jüngsten
Sohn Pierre an, doch dies bezweifelte man von Anfang an. Charles Perrault mag wohl diese
Geschichten seinen Söhnen, die er auf Grund des frühen Todes seiner Frau vorwiegend
selbst aufzog, oft erzählt haben, doch nichtsdestotrotz wurde die Autorschaft von Charles

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2010
ISBN (eBook)
9783958209091
ISBN (Paperback)
9783958204096
Dateigröße
1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Leopold-Franzens-Universität Innsbruck
Erscheinungsdatum
2015 (Oktober)
Note
1
Schlagworte
übersetzung contes charles perrault wandel zeit
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