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Transkulturelle Räume bei Fatih Akin: Eine Betrachtung der Filme "Gegen die Wand" und "Auf der anderen Seite"

©2010 Bachelorarbeit 53 Seiten

Zusammenfassung

Während die ersten Filme über Gastarbeiter in den 1960er und -70er Jahre bedenkenlos noch als ‚Migrantenfilme‘ bezeichnet wurden, verändert sich einige Jahrzehnte später die Rezeption des ‚Migrantenkinos‘. Erst als die Nachfahren der ersten Migrantengeneration damit begannen Filme zu produzieren, wurde die Problematik einer vereinfachten Zuschreibung in ihrem ganzen Ausmaß spürbar. Vor allem bei der Auseinandersetzung mit Filmen von deutschen Regisseuren mit türkischer Abstammung wird deutlich, dass die Filme differenzierter betrachtet werden müssen und nicht dem Stereotyp ‚Migrantenkino‘ zugeschrieben werden können. In Erkenntnis dessen, führte man den Hilfsterminus ‚Deutsch-Türkisches-Kino‘ ein. Als Einwandererkinder, die selbst keine direkte Migrationserfahrungen mehr gemacht haben, lassen sich Filme von entsprechenden Regisseuren jedoch nur noch schwer einer ‚deutschen‘ oder einer ‚türkischen‘ Kultur zuschreiben. Als gebürtige Deutsche verstehen sie sich selbst als deutsche Regisseure, die deutsche Filme produzieren und sehen sich im ‚Deutsch-Türkischen-Kino‘ daher deplatziert. Regisseure wie Fatih Akin, dessen Filme in der vorliegenden Arbeit als anschauliches Beispiel dienen werden, plädieren für ein globales Kino, das von universellen Themen handelt. In Anbetracht dessen wird in dieser Arbeit vorgeschlagen, die Filme Fatih Akins von sämtlichen nationalen Zuschreibungen loszulösen und sie stattdessen als Produzenten transnationaler Räume zu verhandeln.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2
In Anbetracht dessen wird in dieser Arbeit vorgeschlagen, die Filme Fatih Akins von
sämtlichen nationalen Zuschreibungen loszulösen und sie stattdessen als Produzenten
transnationaler Räume zu verhandeln. Nachdem Kapitel 2 die genaue Entwicklung in der
Historie des ,Migrantenfilms` nachgezeichnet, wird im darauffolgenden Kapitel Wolfgang
Welschs Modell der ,Transkulturalität` vorgestellt. Anschließend werden die ersten beiden
Teile der Liebe, Tod und Teufel-Trilogie von Fatih Akin als anschauliche Beispiele für die
filmische Umsetzung einer transkulturellen Gesellschaft dienen. Es wird sich zeigen, dass
Gegen die Wand die kulturellen Grenzen verwischen lässt, während Auf der anderen Seite
eine gänzliche Auflösung herbeiführt.

3
2. Geschichtliche Entwicklung
Nach der Absperrung der deutsch-deutschen Grenze 1961 verstärkte sich der ohnehin
schon hohe Arbeitskräftebedarf in Landwirtschaft und Industrie weiter, weshalb in den
Mittelmeeranrainerstaaten sogenannte Gastarbeiter angeworben wurden. Unter anderem
hat Deutschland von Mitte der 1950er bis Anfang der 1960er Jahre mit Italien, Spanien,
Griechenland und der Türkei bilaterale Regierungsvereinbarungen zur Anwerbung und
Vermittlung von Arbeitnehmern abgeschlossen, wodurch die Zahl der Ausländer in der
Bundesrepublik um rund 3,5 Millionen anstieg. Als 1973 ein Anwerbestopp erlassen wurde,
entwickelte sich die Arbeitsmigration zu einer Familienmigration, innerhalb der sesshafte
gewordene Gastarbeiter ihre Familien in die Bundesrepublik nachziehen ließen.
1
Laut John
Berger, einem britischen Schriftsteller und Kunstkritiker, ist Mitte der 1970er Jahre jeder
siebte Arbeiter in Deutschland ein Einwanderer.
2
Trotz dem Nachziehen der Familien und
dem allmählichen Sesshaftwerden, ist bei vielen dieser Immigranten der Rückkehrgedanke
in das Heimatland noch lange erhalten geblieben. Die daraus resultierende mangelnde
Identifikation mit dem immigrierten Nationalstaat führte zu der Entstehung von
subnationalen Gebilden; zu der Entstehung von ethnischen Enklaven, in denen eigene
diasporischen Gemeinschaften und abgeschlossenen Familien- und Glaubenskreisen lebten
und denen die neue Sprache sowie Kultur lange Zeit fremd blieben.
3
Von diesen gesellschaftlichen Umstrukturierungen in der Bundesrepublik blieb auch die
deutsche Kulturmaschinerie nicht unberührt. Im Zuge der massiven Arbeiter- und
Familienmigration bildet sich in Deutschland in den späten 1960er, frühen 1970er Jahren
mit dem ,Migrantenfilm` ein neues sozial-realistisches Genre heraus, das die neuartige
gesellschaftliche Situation verdeutlichen und die damit einhergehenden Problematiken in
das Bewusstsein der Bevölkerung rufen sollte.
1
Vgl. Oswald, Ingrid: Migrationssoziologie. Konstanz, 2007. S. 81f.
2
Berger, John zitiert durch: Göktürk, Deniz: Migration und Kino ­ Subnationale Mitleidskultur oder
transnationale Rollenspiele? In: Chiellino, Carmine (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland ­ ein
Handbuch. Stuttgart, 2000. S. 329 ­ 347. hier S.330.
3
Vgl. Elsaesser, Thomas: Transnationales Kino in Europa: Jenseits der Identitätspolitik. Doppelte Besetzung,
Interpassivität und gegenseitige Einmischung. In: Strobel, Ricarda. Jahn-Sudmann, Andreas (Hg.): Film
transnationalen und transkulturell ­ Europäische und amerikanische Perspektiven. 2009, München. S. 27 ­ 44.
hier S. 32.

4
2.1 Der Blick von Außen: Deutsche Regisseure über Gastarbeiter
Als einer der ersten Filmemacher, die sich in Deutschland mit der Gastarbeiterthematik
auseinandersetzten, kann der Autorenfilmer Rainer Werner Fassbinder angeführt werden.
Lange bevor die in Deutschland lebenden Ausländer einen filmischen Blick auf ihr Dasein in
der Fremde gewagt haben, verarbeitet Fassbinder aus inländischer Perspektive heraus das
Leben mit den Arbeitermigranten in Deutschland. Mit Katzelmacher (1969) und Angst essen
Seele auf (1974) dreht er ,,Pionierfilme [...] über Gastarbeiter"
4
, deren statische Bilder stark
an die Ästhetik des autonomen Off-Theaters erinnern. Der als produktivster und
vielseitigster Autorenfilmer des Neuen Deutschen Film geltende Fassbinder verhandelte die
Ausländerthematik mit einem Blick, der die Gastarbeiter zur Projektionsfläche für die
Existenzängste der Deutschen werden ließ.
5
Letztlich rückt Fassbinder weniger den
Fremden selbst, als vielmehr die Vorurteile der Gesellschaft gegenüber Minderheiten in
sein Zentrum. Er zeigt den Blick eines Deutschen auf den Gastarbeiter, der sich in der
Ambivalenz zwischen Hass und Faszination bewegt. Vor allem mit Angst essen Seele auf
stellt Fassbinder den Migranten erster Generation als Opfer am Rande der Gesellschaft dar,
der sich wegen kultureller sowie sprachlicher Barrieren nur schwer in die Gesellschaft
integrieren kann. Schon der Arbeitstitel von Angst essen Seele auf, nach dem alle Türken Ali
heißen
6
, verweist jedoch auf einen klischeebeladenen und wenig differenzierten Ansatz des
Filmemachers.
Neben Fassbinder beschäftigen sich in den Anfangsjahren des ,Migrantenfilms` einige
weitere deutsche Filmemacher auf ähnliche Weise mit der Thematik und ließen damit
insbesondere den Türken als ,,siebten Mann"
7
eine fast unwandelbare Rolle in ihrer
filmischen Darstellung einnehmen. Probleme wurden allenfalls aufgezeigt, doch kaum
reflektiert. Zudem gestaltet sich die filmische Konstruktion der Gastarbeiterthematiken als
überaus schwierig, da der Ausländer nicht als Teil der Gesellschaft anerkannt wurde.
Anstatt eine ergiebige Vermischung der kulturellen Identitäten aufzuzeigen, suggerierten
die Filmbilder eine klare Trennung innerhalb der Gesellschaft:
4
Kaes, Anton: Der Neue Deutsche Film. In: Nowell-Smith, Geoffrey (Hg.): Geschichte des internationalen Films.
S. 556 ­ 581. hier S. 579.
5
Vgl. Mackuth, Margret: Es geht um Freiheit. Interkulturelle Motive in den Spielfilmen Fatih Akins.
Saarbrücken, 2007. S. 1.
6
Der Arbeitstitel von Angst essen Seele auf lautet Alle Türken heißen Ali.
7
Die Figur des ,,siebten Mannes" steht für den Mythos der stummen Figur, die Unfähig zur Kommunikation
und Integration ist.

5
,,Die problematische Grundannahme von klar abgrenzbaren, homogen in
sich geschlossenen nebeneinander existierenden kulturellen Identitäten
führte zu einer Rhetorik über Minderheiten, die von ethnografischem
Interesse und sozialem Engagement getragen war, zugleich jedoch
Ungleichheit und Ausgrenzung festschrieb."
8
Hinsichtlich Deniz Göktürks Aussage bleibt als Essenz festzuhalten, dass der erste Blick der
deutschen Filmemacher auf die Gastarbeiter in den 1970er und 1980er Jahren nur wenig
produktiv war. Die Konstruktion binärer Oppositionen zwischen einer rein ausländischen
und einer rein deutschen Kultur erschwerte letztlich den Dialog, anstatt ihn zu erleichtern.
9
2.2 Der Blick von Innen: Türken in Deutschland über Türkei-Themen
In der Forschung wird Tevfik Baer als Initiator einer neuen Phase des ,Migrantenfilms`
verhandelt. Da Baer als erster Regisseur türkischer Abstammung gilt, der in Deutschland
einen Film über ein Türkei-Thema gedreht hat, kann mit seinem ersten Spielfilm 40 qm
Deutschland (1986) gleichzeitig auch der Beginn eines ,deutsch-türkischen Kinos`
konstatiert werden. Im Gegensatz zu den vorherigen deutschen Perspektiven kam sein
filmischer Blick von Innen heraus und verbildlichte das vom Elend behaftete und isolierte
Leben türkischer Landsleute in Deutschland. Mit klaustrophobischen, von Isolation
zeugenden Bildern erzählte Baer mit 40 qm Deutschland die Geschichte von einer
türkischen Frau namens Turna, die von ihrem Mann unter dem Vorwand sie vor dem
schlechten Einfluss der westlichen Gesellschaft schützen zu wollen, in einer 40 qm großen
Wohnung eingesperrt wird. Turnas einziger Zugang zur Außenwelt stellt ein Fenster in ihrer
Hamburger Altbauwohnung dar. Von einer Begegnung oder gar Vermischung der Kulturen
kann im Zusammenhang mit diesem Film daher nicht gesprochen werden. Stärker als
bereits die deutschen Regisseure inszeniert Baer sein sozial-realistisches Drama ausgehend
von einer ,,Parallelität von kulturellen Welten".
10
Seinen Film beschreibt Tevfik Baer selbst
als authentischen Einblick in das Leben eines Gastarbeiters in Deutschland:
8
Göktürk, 2000. S. 331.
9
Vgl. Ebd. S. 331.
10
Ezli, Özkan: Von der interkulturellen zur kulturellen Kompetenz. Fatih Akins globalisiertes Kino. In: Ezli,
Özkan. Kimmich, Dorothee. Werberger, Annette (Hg.): Wider den Kulturzwang ­ Migration, Kulturalisierung
und Weltliteratur. Bielefeld, 2009. S. 207 ­ 230. hier S. 213.

6
,,Ich möchte, dass die Deutschen uns kennenlernen, denn Unbekanntes
macht Angst und erzeugt Hass, wie an den Ausschreitungen gegenüber
Türken zu sehen ist. Deshalb schildere ich an einem besonderen Fall die
Gastarbeiterverhältnisse in der Bundesrepublik."
11
Wie Özkan Ezli in seinem Artikel Von der interkulturellen zur kulturellen Kompetenz von
dieser Aussage ableitet, zielt Baers Film auf eine Vermittlung zwischen den Kulturen ab
und lässt die Protagonisten zu einem Kollektivsubjekt werden, deren Grenzen mit einem
Kultursystem zusammenfallen. Baers Verständnis einer homogenen und normativ
aufgefassten Kultur führt laut Ezli zu der absoluten, allgemeingültigen und damit
problematischen Differenz zwischen einer rückständigen türkischen Tradition und einer
modern aufgeklärten Gesellschaft.
12
Ebenso stellt auch Göktürk in seinem Artikel Migration
und Kino fest, dass der Angehörige einer Minderheit durch diese Form der angeblichen
Realitätskonstruktion schnell als ,,ein Sprachrohr seiner Gruppe aufgefasst"
13
wird.
Dahingehend wurden die Filme Baers letztlich auch rezipiert, was zu stark
pauschalisierenden Aussagen (unter anderem in der Kulturpresse) führte. Dieser Ansatz
wird sich in Kapitel 2 unter den Aspekten der Modelle der ,Multikulturalität` sowie der
,Interkulturalität` weiter verdeutlicht.
Die Schablone vom Leid geplagten, zumeist türkischen Gastarbeiter wurde in den
kommenden Jahren immer wieder aufgegriffen. Mit einem klar stereotypisierten Ansatz
wurden Filmemacher wie Baers nicht müde vom Leben der Ausländer am Rande der
deutschen Gesellschaft zu erzählen. Die Differenz zwischen den Deutschen und den Türken
erscheint zu jener Zeit immer mehr als unüberwindbar, wird jedoch vor allem durch die
Filmförderungen weiter bekräftigt, wenn nicht sogar initiiert. Als Geldgeber, die die
Produktionen ausländischer Filmemacher in Deutschland überhaupt erst ermöglichten,
diktierten die Förderungen auf Bundes- sowie Landesebene die Richtlinien und setzten
damit die Maßstäbe für das sogenannten ,cinema of duty`:
11
zitiert durch: Ezli, 2009. S. 213.
12
Vgl. Ezli, 2009. S. 213f.
13
Göktürk, 2000. S. 336.

7
,,Gefragt waren pflichtbewusste Problemfilme. [...] Filmemacher sahen
sich häufig festgelegt auf leidvolle Geschichten vom Verlorensein
>zwischen den Kulturen<. Um der Förderung teilhaftig zu werden,
reproduzierten in Deutschland lebende Autor/innen und Regisseur/innen
ausländischer Herkunft in ihren Drehbüchern und Filmen häufig Klischees
über die >eigene< Kultur und deren archaische Sitten und Bräuche."
14
2.3 Cinéma du Métissage: Türken in zweiter Generation
Während die ,Migrantenfilme` der 1960er, -70er und -80er Jahren ohne weiteres noch als
Problem- oder Betroffenheitskino beschrieben werden können, begann Anfang der 1990er
Jahren eine neue Phase des ,deutsch-türkischen Kinos`. Immer häufiger meldeten sich
Regisseure der zweiten Migrantengeneration zu Wort und ließen Pionierfilmer wie Tevfik
Baer, der selbst noch aus der Fremde kam, weit hinter sich. Mit einem neuen
Selbstbewusstsein erzählten die zumeist in Deutschland geborenen und aufgewachsenen
Filmemacher von dem alltäglichen Leben zwischen den Kulturen. In Frankreich wurde für
diese Art des Kinos der Begriff ,Cinéma du métissage` geprägt, der die
Selbstverständlichkeit eines Lebens mit unterschiedlichen kulturellen Wurzeln
unterstreichen sollte und die Fremdheit aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit rückt.
15
Diana Schäffler stellt in ihrer Arbeit Deutscher Film mit türkischer Seele fest, dass sich das
,Cinéma du métissage` in Deutschland jedoch nicht als eigenständiges Genre etablieren
konnte, weil die Bezeichnung der ,métissage` als cineastische Schnittstelle verstanden
werden muss, die ebenso eine Fortsetzung des Begriffs ,Kino der Fremdheit` darstellt, als
auch ein Widerspruch dagegen meint.
16
Gerade von einem Kino, das von der Fremdheit erzählt, wurde in den 1990er Jahren
größtmöglicher Abstand genommen. Die Regisseure aus zweiter Migrantengeneration
forderten die Anerkennung als deutsche Filmemacher, die deutsche Filme produzieren.
Heute bedient man sich dem Hilfsterminus ,Deutsch-Türkisches Kino`, der bei den deutsch-
türkischen Regisseuren jedoch ebenfalls auf Ablehnung stößt. Das neue Kino, das Mitte der
1990er Jahre seinen Anstoß mit ersten Kurzfilmen von türkischstämmigen
Filmhochschülern wie Ayse Polat oder Buket Alakus fand, lässt sich eben
1414
Göktürk, 2000 S. 333.
15
Vgl. Seeßlen, Georg zitiert durch: Schäffler, Diana: Deutscher Film mit türkischer Seele ­ Entwicklungen und
Tendenzen der deutsch-türkischen Filme von den 70er Jahren bis in die Gegenwart. Saarbrücken, 2007. S. 8
16
Vgl. Schäffler, 2007. S. 8.

8
,,nicht mit der einfachen Dichotomie der «deutschen» und «türkischen»
Kultur greifen. Anders als in den Migrantenfilmen davor, die immer wieder
klar abgegrenzte Kulturen aufeinander prallen ließen, stehen im Zentrum
der deutsch-türkischen Regisseure und Regisseurinnen der zweiten
Generation [...] offene Formen des Zusammenlebens in einer hybriden,
urbanen Gesellschaft."
17
Üblicherweise wird Filmgeschichte aus einer nationalen Perspektive geschrieben. An
diesem Punkt der Historie des ,deutsch-türkischen Kinos` ist jedoch fraglich, ob diese
Vorstellung ,,überhaupt noch eine adäquate bzw. einzig sinnvolle Darstellung ist."
18
Folgende sehr allgemein formulierte Fragen verweisen leicht auf die Problematik einer
Kategorisierung: Was zeichnet einen deutschen Film aus? Was einen türkischen und wo
verläuft die Grenze? Lässt sich diese in Zeiten der Globalisierung noch klar definieren?
Wirft man einen Blick auf die bisherigen Filme von deutsch-türkischen Regisseuren in
zweiter Generation, verdeutlicht sich das Problem der Kategorisierung bereits innerhalb
dieser Bandbreite, ohne Filme von rein deutschen Filmemachern als Vergleich
hinzunehmen zu müssen. Denn: ,,Biografischer Hintergrund und künstlerische Praxis heute
aktiver [deutsch-türkischer] Filmemacher fallen unterschiedlich aus und verbieten eine
Zusammenfassung mit großer Geste."
19
Das Repertoire der türkischstämmigen
Filmemacher ist thematisch wie stilistisch ebenso bunt wie unkategorisierbar und kann
kaum noch ethnisch zugeschrieben werden. Regisseure wie Fatih Akin oder Thomas Arslan
meiden deutsch-türkische Themen nicht, während andere gänzlich darauf verzichten.
Zudem bewegen sich die Filmproduktionen in vollkommen unterschiedlichen Genres und
müssen auch in ihrem Stil differenziert betrachtet werden. So werden Thomas Arslans
Filme stilistisch der ,Berliner Schule` zugeordnet, während sich Fatih Akin, vor allem in
seinen Anfangsjahren, stark am amerikanischen Genrekino und den ,Gangsterfilmen` von
Martin Scorsese orientiert hat. Festzuhalten bleibt, dass anhand der Komplexität der
Themen, der zusätzlich vielfältigen Genreauswahl und der mannigfaltig filmischen Mitteln,
nicht mehr ausreichend erfasst werden kann, um was für ein ,Kino` es sich nun eigentlich
handelt.
17
Ezli, 2009. S. 210.
18
Blumentrath, Hendrik. Bodenburg, Julia u.a.: Transkulturalität. Türkisch-deutsche Konstellationen in
Literatur und Film. Münster, 2007. S. 7
19
Löser, Claus: Berlin am Bosporus ­ Spielarten und Hintergründe des deutsch-türkischen Kinos. siehe:
http://film-dienst.kim-info.de/artikel.php?nr=150793&dest=frei&pos=artikel, 18.01.2010.

9
Der offensichtliche Wandel ­ weg von einem Film, der die Kulturen parallel zueinander
verlaufen lässt, hin zu einem Film, der die Gesellschaft als eine Hybride darstellt - setzte
sich in der öffentlichen Wahrnehmung kaum durch. Obwohl sich viele Filmemacher der
zweiten oder gar dritten Migratengeneration kaum noch mit ihren türkischen Wurzeln
identifizieren, werden ihre Filme noch immer dahingehend klassifiziert. So musste sich
,,Fatih Akin während der Berlinale 2004 noch gegen das Etikett eines ,,Gastarbeiterfilms" für
,,Gegen die Wand" wehren."
20
20
Sowohl als auch: Das »deutsch-türkische« Kino heute ­ Drei Fragen zum ,,deutsch-türkischen" Kino. siehe:
http://www.filmportal.de, 23.03.2010.

10
3. Interkulturalität und Multikulturalität als überholte Modelle
Kapitel 2 hat dargestellt, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten ein ebenso starker
stilistischer wie thematischer Wandel innerhalb der Historie des ,Migrantenfilms` vollzogen
hat. Sind die frühen ,Migrantenfilme` - etwa die von Fassbinder oder Baer - bei ihrer
Verarbeitung und Darstellung der Gastarbeiterthematik noch von einer Parallelität der
Kulturen ausgegangen, ist den Filmen ab den 1990er Jahren eine klare Distanzierung von
einer Vorstellung monokultureller Gegebenheiten abzulesen. Zwar spielen Erfahrungen der
Migration in deutsch-türkischen Filmen noch immer eine Rolle, allerdings darf dabei nicht
außer Acht gelassen werden, dass die zweite oder dritte Migrantengeneration selbst keine
direkten Migrationserfahrungen mehr gemacht hat. Daher kann der Begriff ,Migrantenfilm`
sowohl aus Sicht auf die Migrationsbewegung der entsprechenden Regisseure, als auch mit
Blick auf die erzählten Geschichten kaum mehr als passende Bezeichnung für die aktuellen
Filme deutsch-türkischer Filmemacher geltend gemacht werden. Als beinahe ebenso
unpassend stellt sich die Hilfsbezeichnung ,Deutsch-Türkisches Kino` heraus, da die Filme
aufgrund mangelnder Definitionen der kulturellen Grenzen zu Zeiten der Globalisierung
weder als rein ,deutsch` noch als rein ,türkisch` verstanden werden können. Ein weiteres
Problem an der Bezeichnung ,Deutsch-Türkisches Kino` stellt zudem die Versuchung dar,
den Begriff der ,Nationalität` vorschnell mit dem der ,Kulturalität` gleichzusetzen. Die
Unterscheidung der beiden Begriffe ist von großer Wichtigkeit, da nicht davon ausgegangen
werden kann, dass jeder, der mit einem deutschen Pass ausgestattet ist, auch das
Verständnis einer deutschen Kultur in sich trägt. Zudem wäre damit eine klare Definition
dessen vorausgesetzt, was eine deutsche Kultur ist und was diese ausmacht.
Im weiteren Verlauf der Arbeit wird daher vorgeschlagen, die aktuellen Filme von
Regisseuren mit türkischen Wurzeln aus einer konkreten nationalen sowie kulturellen
Zuschreibung herauszulösen und stattdessen unter dem Begriff ,transkulturelles Kino` zu
verhandeln.
21
Bevor über den Begriff der ,Transkulturalität` gesprochen werden kann, muss
jedoch zunächst das Grundverständnis, auf dem dieser Begriff beruht, konstatiert werden.
Die folgende Theorie des ,Transkulturalismus` basiert auf Thesen des deutschen
Philosophen Wolfgang Welsch, der die Postmoderne als Verfassung radikaler Pluralität
21
Ein ähnlicher Ansatz findet sich in ,,Transkulturalität. Türkisch-deutsche Konstellationen in Literatur und
Film". Dort schlagen die Autoren eine ähnliche Verhandlungsweise für die deutsch-türkische Literatur vor. Vgl.
Ebd. S. 59.

11
versteht, die die gesamte Breite der Lebenswirklichkeiten beeinflusst.
22
Ausgehend von der
Annahme, dass die Vorstellung einer radikalen Pluralität in der Postmoderne nicht mehr
nur eine Erfindung von Kunsthistorikern, Künstlern und Philosophen ist, sondern im
Zeitalter der Globalisierung und Technologisierung zum Prinzip der Gesellschaften und zum
Paradigma der Wissenschaft geworden ist, stellt Welsch fest, dass es fortan ein Denken und
Handeln braucht, das diese Pluralität vorbehaltlos mit einbezieht.
23
3.1 Kulturbegriff nach Welsch
Welsch zufolge weist unsere postmoderne Welt und die sich darin befindlichen Kulturen
eine Verfasstheit auf, ,,die anders ist, als unsere Kulturbegriffe sie behaupten oder
suggerieren."
24
Daher erarbeitet er ein Konzept, das sich von anderen radikal
unterscheidet. Sein Vorhaben ist es, einen Begriff zu finden, der der Verfasstheit unserer
heutigen Kultur deskriptiv angemessen ist und darüber hinaus auch den normativen
Erfordernissen der Gegenwart Rechnung zu tragen vermag.
25
Welsch kritisiert und problematisiert ein Verständnis von ,Kultur`, das auf Vorstellungen
von einem einheitlichen und in sich geschlossenen Gebilde basiert, wie in etwa Johann
Gottfried Herder oder Umberto Eco es dargestellt haben.
Herders Modell geht beispielsweise davon aus, dass ,Kultur` immer die Kultur eines Volkes
ist und sich damit die Kultur eines Volkes unverwechselbar von den Kulturen anderer
Völker unterscheidet.
26
Welsch nimmt von Herders Vorstellung homogener Kulturen
Abstand, da diese seiner Meinung nach keine voneinander abgegrenzten Einheiten mehr
bilden. Des Weiteren mangelt es Herders Verständnis von ,Kultur` nach Welsch an
elementaren Differenzierungsmöglichkeiten ­ in etwa nach ,,regional, sozial und funktional
unterschiedlichen Kulturen"
27
. In diesem Zusammenhang bringt er den Begriff der
,Transkulturalität` ins Spiel:
22
Vgl. Welsch, Wolfgang: Unsere moderne Postmoderne. Weinheim, 1988. S. 4f.
23
Vgl. Welsch, Wolfgang: Postmoderne ­ Pluralität als ethischer und politischer Wert. Köln, 1988. S. 34.
24
Welsch, Wolfgang: Transkulturalität ­ Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen. In: Schneider, Irmela.
Thomsen, Christian W. (Hg.): Hybridkultur ­ Medien, Netze, Künste. 1997, Köln. S. 67 ­ 90. hier S. 67.
25
Vgl. Ebd. S. 1
26
Herder, Johann Gottfried paraphrasiert durch: Blumentrath, Bodenburg, 2007. S. 15.
27
Welsch, Wolfgang: Transkulturalität ­ Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen. siehe http://www.via-
regia.org/bibliothek/pdf/heft20/welsch_transkulti.pdf, veröffentlicht: 1994, eingesehen: 29.01.2010. S. 4.

12
,,Sie [hier: die Kulturen] haben nicht mehr die Form homogener und
wohlabgegrenzter Kugeln oder Inseln, sondern sind intern durch eine
Pluralisierung möglicher Identitäten gekennzeichnet und weisen extern
grenzüberschreitende Konturen auf. Insofern sind sie nicht mehr Kulturen
im hergebrachten Sinn des Worts, sondern sind transkulturell geworden.
Transkulturalität [...] will anzeigen, dass sich die heutigen kulturellen
Formationen jenseits der klassischen Kulturverfassung befinden und durch
die klassischen Kulturgrenzen wie selbstverständlich hindurchgehen, diese
überschreiten."
28
Mit dem Hervorbringen des Begriffes der ,Transkulturalität` nimmt Welsch nicht nur
Abstand von der bisherigen Auffassung von ,Kultur`, sondern auch von Modellen der
Multikulturalität sowie der Interkulturalität; Größtenteils Modelle, die auf Herders
Verständnis von ,Kultur` aufbauen.
Um die Bewegungssituation von Menschen aus verschiedenen Kulturen darzustellen,
werden unterschiedliche Modelle benutzt. Mit Multikulturalität, Interkulturalität und
Transkulturalität werden die drei Wesentlichen in dieser Arbeit vorgestellt. Wie in den
kommenden zwei Unterkapiteln soziologisch erläutert werden soll, wird Interkulturalität
erst durch Multikulturalität ermöglicht. Das Modell der Transkulturalität baut auf
Vorstellungen der beiden anderen Modelle auf, grenzt sich in mancher Hinsicht aber auch
stark von ihnen ab. Gezeigt werden soll, dass Wolfgang Welschs Konzept der
,Transkulturalität` dem heutigen Zustand der postmodernen Gesellschaft sehr nahe kommt
und im Hinblick auf die kulturellen Veränderungen, die sich insbesondere durch
Migrationsbewegungen vollzogen haben, gut angewandt werden kann.
3.2 Multikulturalität und Interkulturalität
Bei dem Konzept der Multikulturalität wird von einem gruppenbezogenen
Kulturverständnis ausgegangen. Die Variable, die eine Gruppe auszeichnet, ist dabei die
nationale oder ethische Herkunft ­ ganz im Herder`schen Sinn. Der multikulturelle Ansatz
geht von einer gleichzeitigen Anwesenheit verschiedener kultureller Gruppen in einer
Gesellschaft aus, bei der aber vollkommen offen bleibt, wie die Multikulturalität überhaupt
entstanden ist und wie das Zusammenleben der Gruppe funktioniert. Diesen Fragen
28
Welsch, 1994. S. 1.

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Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2010
ISBN (eBook)
9783958209121
ISBN (Paperback)
9783958204126
Dateigröße
522 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Konstanz
Erscheinungsdatum
2015 (Oktober)
Schlagworte
transkulturelle räume fatih akin eine betrachtung filme gegen wand seite
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