Formen und Darstellungsweisen von Geschwisterbeziehungen in Märchen
©2006
Bachelorarbeit
66 Seiten
Zusammenfassung
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit Geschwisterbeziehungen in Märchen und versucht der Frage nachzugehen, warum die Märchenerzähler die Geschwister als festes Figurenensemble benötigen. Es wurden neun Erzählungen der Gebrüder Grimm ausgewählt, um verschiedene Formen und Darstellungsweisen einer Geschwisterbeziehung zu verdeutlichen. Ein Hauptmotiv der Auswahl ist dabei pädagogischer Art: Mit den hier interpretierten Erzählungen soll der Leser dieser Arbeit einen Einblick in die Geschwisterthematik erhalten. Zunächst wird ein kurzer Überblick über die Märchenerzähler Wilhelm und Jacob Grimm gegeben. Anschließend werden die Überlieferung und Merkmale hervorgehoben und die Familienverhältnisse im Märchen erläutert. Es folgt eine theoretische Abhandlung über Eigenschaften einer Geschwisterbeziehung, welche eine wichtige Basis zum Verständnis der Thematik darstellt. Im Hauptteil der Arbeit werden unterschiedliche Geschwisterverhältnisse erörtert.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
4
2. Die Brüder Grimm
Jacob (geb.1785) und Wilhelm (geb. 1786) Grimm sind als Sprachwissenschaftler und Samm-
ler von Märchen bekannt. Beide wurden in Hanau, Hessen, geboren und verbrachten dort und
in Steinau ihre Kindheit.
1
Die beiden Brüder waren die ältesten von insgesamt neun Ge-
schwistern, von denen drei im Kindesalter verstarben. Nach dem Tod des Vaters schickte die
Mutter die beiden Brüder 1798 nach Kassel zu ihrer Tante, um ihnen eine angemessene Bil-
dung für eine eventuelle spätere Laufbahn als Juristen zu ermöglichen. Beide nahmen dann
1802 auf Wunsch des Vaters
2
das Studium der Rechtswissenschaften in Marburg auf. Eine
juristische Karriere aber strebten die Brüder nicht an. Es war vielmehr die Literatur, die sie
begeisterte. Jacob und Wilhelm lernten bald Clemens Brentano und Achim von Arnim ken-
nen. Gemeinsam begannen die vier jungen Männer mit der Sammlung alter deutscher Volks-
lieder.
3
Außerdem wurden sie von Brentano auf die Märchenüberlieferungen aufmerksam
gemacht.
4
Somit interessierten sich Jacob und Wilhelm mehr und mehr für mündliche Zeug-
nisse. In dieser Zeit eines sparsamen und zurückgezogenen Lebens nach dem Studienab-
schluss 1806 war der Beginn der Sammlung von Märchen, die uns heute als eines der Haupt-
werke der Brüder bekannt ist.
1812 wurde die gemeinsame Sammlung der Brüder zu Weihnachten veröffentlicht: der erste
Band der ,,Kinder- und Hausmärchen".
5
Im Vorwort erwähnen Grimms, dass es ihnen auf
,,Treue und Wahrheit" des Inhaltes ankomme und dass sie aus eigenen Mitteln nichts hinzu-
gesetzt haben.
6
,,Im Gegensatz zu Literaten des 18. Jahrhunderts, die Märchenhaftes aufgrif-
fen und es oft kapriziös umgestalteten, behandelten sie die Märchen als Wissenschaftsgegens-
tand. Das bedeutete, es so getreu wie möglich nachzuerzählen."
7
Für die Brüder Grimm waren
Märchen ,,Überbleibsel uralter Mythen, religiösen Glaubens, Brauchtum und sogar Gesetze."
8
Sie sahen Märchen somit als Zeugen der Menschheitsgeschichte.
1815 konnten die Brüder den zweiten Band der ,,Kinder- und Hausmärchen" und 1822 den
dritten Band mit Anmerkungen vorlegen. Im Jahr 1825 erfolgte eine weitere Ausgabe mit
Illustrationen ihres Bruders Ludwig Grimm. Bereits zu Lebzeiten der Brüder erschienen sie-
ben Auflagen der großen und zehn der kleinen Ausgabe.
1
vgl. Michaelis-Jena, R.; S.15ff
2
ebd.; S.31
3
ebd.; S.36ff
4
vgl. Rilz, R.; S.8
5
vgl. Michaelis-Jena, R.; S.45
6
ebd.; S.10
7
Woeller, W.; S.28
8
Michaelis-Jena, R.; S.10
5
1825 heiratete Wilhelm die Apothekerstochter Dorothea Wild und integrierte den Junggesel-
len Jacob wie selbstverständlich in seine Familie. Die Lebensumstände der Brüder festigten
sich somit. 1829 verließen sie gemeinsam ihre hessische Heimat, um in Göttingen Bibliothe-
karsstellen und Professuren anzunehmen. 1838 begannen Jacob und Wilhelm Grimm ihre
gemeinsame Arbeit am Deutschen Wörterbuch.
In politischer Hinsicht arbeiteten die Brüder Grimm mit darauf hin, die damaligen deutschen
Kleinstaaten zu vereinen, sowohl indirekt durch die Erforschung der deutschen Kulturge-
schichte als auch durch politische Aktivitäten. Jacob und Wilhelm halfen mit, die
Menschenrechte in Deutschland zu formulieren.
Die letzten 20 Jahre ihres Lebens verbrachten beide in Berlin. In den ,,Kleineren Schriften",
die sie in dieser Zeitspanne verfassten, ist viel Lesenswertes über ihre Forschungen, ihre Inte-
ressen und ihre liberalen politischen Ansichten zu finden.
Wilhelm Grimm verstarb 1859 in Berlin, sein Bruder Jacob 1863 am gleichen Ort.
9
,,Man hat Jacob und Wilhelm Grimm mit zwei Bäumen verglichen, aus einer Wurzel ent-
sprossen und zu einer einzigen Krone zusammengewachsen. Der Vergleich ist zutreffend. Die
Brüder teilten zeitlebens Arbeit und Muße, trennten sich nicht oft und dann nur ungern, wäh-
rend eines Lebens voll von seltener Harmonie. Ihre außergewöhnlichen, sich ergänzenden
Gaben waren dazu bestimmt, einen mächtigen Einfluß weit über die Grenzen ihres Vaterlan-
des und bis in unsere Zeit hinein auszuüben."
10
Die enge Bindung der Brüder Grimm spiegelt
sich auch in den meisten ihrer Geschwistermärchen wider.
9
http://de.wikipedia.org/wiki/Br%C3%BCder_Grimm
10
Michaelis-Jena, R.; S.7
6
3. Märchen
3.1
Allgemein
Das deutsche Wort ,,Märchen" ist eine Diminutivform des mittelhochdeutschen Wortes mae-
re, welches die Bedeutung Erzählung, Kunde, Bericht hat.
11
,,Märchen" bezeichnet ursprüng-
lich eine kurze, mündlich vorgetragene Erzählung und ist außerdem der Name einer Literatur-
gattung. Das Märchen ist keine ,,Kindergeschichte, wenn es auch vielfach dazu geworden ist;
vielmehr ist es eine altertümlich sakrale Dichtform, die eine prähistorische Kulturperiode wi-
derspiegelt."
12
Da die Märchen der Brüder Grimm vom Volke überliefert wurden, nennt man sie auch
,,Volksmärchen". ,,Das Volksmärchen ist so alt wie die Menschheit. In bildhafter Sprache
drückt es des Menschen Hoffen, seine Ängste und auch seine tiefsten Wünsche aus. Im Mär-
chen kann Häßlichkeit zur Schönheit werden, Armut wird Reichtum, und die Schwachen und
Verstoßenen triumphieren am Ende. Schrecken und Grausamkeit, Gewalt, Leiden und
Schmerz haben ihren natürlichen Platz in einer Welt, in der gute und böse Verzauberung eine
unbewußte tiefe Sehnsucht erfüllt."
13
Die Märchenerzähler haben aus dem Herzen heraus ihre
Geschichten berichtet. Sie müssen sich Gedanken über den Sinn des Lebens gemacht haben,
so wie wir heute. ,,Die Märchen sind damit Träger menschlicher Weisheit und Wahrheit. Sie
geben ihre Erkenntnisse jedoch nicht in abstrakten Begriffen, sondern in symbolischen Bil-
dern weiter, die es ahnend und handelnd zu entschlüsseln gilt."
14
,,Das Märchen beschreibt nicht nur die äußere Wirklichkeit unserer Welt und unseres Lebens,
sondern es erzählt von der inneren Wahrheit des Menschen. Die äußere Wirklichkeit ist oft
unzulänglich und grausam. Unsere Vorhaben nehmen nicht immer ein gutes Ende. Das Mär-
chen dagegen erzählt vom gelingenden Leben, am Ende wird alles gut. [...] Das Märchen
wirkt ermutigend und sinnstiftend, es leugnet nicht die Schwierigkeiten des Lebens, aber es
zeigt Wege aus Gefahr und Verstrickung zum Gelingen des Lebens."
15
(Knoch, S.18ff)
3.2
Überlieferung
Über Jahrhunderte erzählten sich die Menschen Märchen. ,,Sie sind ein Spiegelbild menschli-
chen Lebens. Überall, wo Menschen leben, gibt es Märchen. Ihr Fortbestand wird dadurch
11
vgl. Chong-Chol, K.; S.13
12
www.maerchenlexikon.de/archiv/archiv/huth02.htm
13
Michaelis-Jena, R.; S.8
14
Lutz, C.; S.7
15
Knoch, L.; S.18ff
7
gesichert, dass sie durch Erzählen und Zuhören sowohl unter Zeitgenossen als auch von Ge-
neration zu Generation vermittelt wurden und werden."
16
Sie dienten ,,zur Unterhaltung, För-
derung der Arbeit und zum Wegverkürzer."
17
Die Brüder Grimm beschlossen 1806 auf Anregung ihres Freundes Clemens Brentano,
Volksmärchen zu sammeln und niederzuschreiben, in der Überzeugung, ,,dieses köstliche
Erbgut festzuhalten."
18
In den folgenden zwei Jahren zogen die Brüder getrennt voneinander
durch Hessen, um sich von den Menschen Geschichten erzählen zu lassen, die sie dann auf-
zeichneten. Die Erzähler waren zum größten Teil Frauen die meisten von ihnen ,,jung, un-
verheiratet und gebildet."
19
Viel Material kam aus Hessen und von Kasseler Freunden, die sie
bei ihrer Arbeit unterstützten. Hierzu zählte auch die Apothekerstochter Dorothea Wild, die
später Wilhelms Frau wurde. Die beiden Freundinnen von Jacobs und Wilhelms jüngster
Schwester Lotte, Jeanette und Amalie Hasenpflug, steuerten ebenfalls zur Grimmschen
Sammlung bei.
20
Die eindeutig beste und ergiebigste Märchenerzählerin und somit wichtigste
Quelle für die Grimms, war Dorothea Viehmann.
21
Die ,,Märchenfrau", wie sie auch genannt
wurde, lebte mit ihrem Mann und ihren sechs Kindern bei Kassel. Sie besaß ein phänomena-
les Gedächtnis und erzählte den Brüdern Grimm allein weit über dreißig Märchen.
22
Nicht
umsonst ist sie die einzige Erzählerin, welche die Brüder Grimm in ihrem Vorwort zu den
,,Kinder- und Hausmärchen" namentlich erwähnen.
Die gesammelten Märchen entstanden also nicht aus der Fantasie der Brüder Grimm, sondern
wurden nach alten überlieferten Geschichten von ihnen zusammengetragen. Sie haben die
Erzählungen nur gering überarbeitet, d.h. nur in Ausdruck und Aussage geformt
23
, denn sie
wollten es ,,so getreu wie möglich nacherzählen".
24
3.3
Merkmale
Zauber, Wunder und Übernatürliches werden als wesentliche Elemente des Märchens angese-
hen.
25
,,Das Märchen darf weder mit der Katastrophe anfangen, noch aufhören." Weitere
Strukturmerkmale des Märchens sind:
26
16
Chong-Chol, K.; S.11
17
ebd.; S.45
18
Michaelis-Jena, R.; S.42
19
Chong-Chol, K.; S.48
20
vgl. Michaelis-Jena, R.; S.42ff
21
vgl. Chong-Chol, K.; S.48
22
vgl. Michaelis-Jena, R.; S.49
23
vgl. ebd.; S.10
24
Woeller, W.; S.28
25
vgl. Chong-Chol, K., S.14
8
· Das Märchen beginnt mit der Eingangsformel, die man Wilhelm Grimm zu verdanken
hat: ´Es war einmal...´.
· Im Märchen gilt das Zahlengesetz, das die Zahlen 2, 3, 4, 7, 12 und 100 umfasst.
· Die Handlung ist einsträngig. Es gibt also keine Handlungssprünge.
· Das Märchen konzentriert sich um eine Hauptfigur.
· Die epische Einheit der Handlung ist meist durch die Zweizahl bestimmt. Einer Aus-
wanderung folgt eine Heimkehr. Einer Verzauberung folgt eine Erlösung.
· Das Märchen braucht die Handlung, um Eigenschaften von Personen und Dingen auf-
zuzeigen.
Der Aufbau ist dreigliedrig, der Inhalt wird beherrscht von der Darstellung der Jenseitsreise
mit dem Ziel der Hochzeit. Die Bewegung der Märchenhandlung lebt aus der Spannung zwi-
schen Diesseits und Jenseits, die aufeinander bezogen sind."
27
3.4
Die Familie im Märchen
28
Die Familie hat im Grimmschen Märchen eine wichtige Bedeutung. Die Handlung beginnt in
den meisten Fällen mit dem Hinweis auf die familiäre Beziehung der Hauptfiguren. In der
Kleinfamilie, die meist aus zwei Generationen besteht, nämlich aus Eltern und Kindern, stel-
len die Kinder die Hauptpersonen dar. Großeltern und weitere Verwandte spielen kaum eine
Rolle. Ein fehlendes Elternteil, meist die leibliche Mutter, wird durch die Figur einer Stief-
mutter, die eine negative Rolle spielt, ersetzt. Sie und die eigenen Kinder, die sie mit in die
neue Familie bringt, stellen als Stiefverwandte stets die notwendigen Gegenspieler im Mär-
chen dar. Durch unterschiedliche Charaktere und fehlende persönliche Bindung kommt es zu
einer Gefährdung des familiären Friedens. Das Konfliktpotential in den Märchen ergibt sich
durch die neue Familienstruktur. ,,Geschwisterbeziehungen und damit verbunden die Thema-
tik von Neid, Eifersucht und Rivalität untereinander im Ringen um die Gunst eines Elternteils
sind immer wieder breit gefächertes Anliegen verschiedenster Märchen."
29
Desgleichen kön-
nen bei leiblichen Geschwistern Auseinandersetzungen bestehen, ausgelöst durch ungerechtes
und ungleichwertiges Behandeln durch die Eltern. Viele Märchen schildern aber auch harmo-
nische Verhältnisse. ,,Märchen in ihrer bunten Fülle, ihren vielschichtigen Handlungsabläufen
[...] sind Abbilder menschlichen Fühlens und Erlebens, voll tiefgründigen Wissens über
26
ebd.; S.20ff
27
www.maerchenlexikon.de/archiv/archiv/huth02.htm
28
vgl. Chong-Chol, K.; S.91ff
29
Lutz, C.; S.67
9
Spannungen und Konflikte, wie sie sich unter Menschen im engen Familienkreis täglich neu
konstellieren."
30
Jeder Mensch muss sich irgendwann von seinen Eltern lösen und sich mit
seinen Geschwistern auseinandersetzen. Märchen zeigen Muster für diese Lebenssituationen.
30
ebd.; S.7
10
4. Die Geschwisterbeziehung
4.1
Der Begriff ,,Geschwisterbeziehung"
,,Geht man von der umgangssprachlichen Bedeutung des Begriffs ,,Beziehung" aus, so wird
mit ihm unterstellt, dass zwischen zwei Individuen ein bestimmtes zwischenmenschliches
Verhältnis existiert. [...] Beziehungen haben eine Entstehungsgeschichte und wandeln sich im
Laufe der Zeit u.U. beträchtlich."
31
Bruder, Schwester, Geschwister: Bereits die Sprachgeschichte dieser Begriffe ist für unser
heutiges Verständnis aufschlussreich. ,,Im indoeuropäischen Sprachraum bezeichnen «Bru-
der» und «Schwester» zunächst «brüderliche» oder «schwesterliche» Zusammengehörigkeit
in sozialen Gemeinschaften. Die Griechen bildeten als erste einen neuen Begriff «Geschwis-
terlichkeit» im Sinne leiblicher Verwandtschaft."
32
Geschwister sind Verwandte zweiten Gra-
des.
Kasten definiert den Geschwisterbegriff folgendermaßen: ,,Mit dem Begriff ,,Geschwister"
bezeichnet man in den meisten Kulturen und Sprachgemeinschaften Individuen, die über eine
teilweise identische genetische Ausstattung verfügen, weil sie dieselbe Mutter/ denselben Va-
ter/ dieselben Eltern haben."
33
,,Geschwisterbeziehungen sind horizontale Beziehungen und
grenzen sich innerfamilial von vertikalen Eltern-Kind-Beziehungen ab."
34
Die Geschwister-
beziehung gehört also zu den ,,innerfamilialen" Beziehungen, die Familienmitglieder unter-
einander haben.
Die Geschwisterbindung wird bei Sohni auch beschrieben ,,als intime wie öffentliche Be-
ziehung zwischen dem Selbst von zwei Geschwistern: die Zusammensetzung der Identitäten
zweier Menschen."
35
Die Bindung zwischen Geschwistern kann sowohl warm und positiv als
auch negativ sein. Neben leiblichen Geschwistern stehen auch Pflege-, Adoptiv- und Stiefge-
schwister.
36
Im Märchen ist die Bindung zwischen Stiefgeschwistern grundsätzlich negativ
(z.B. Aschenputtel, Frau Holle).
,,Der Geschwisterstatus bedeutet eine eigenständige Lebenserfahrung. In den verschiedenen
Lebensphasen verändern sich die Geschwisterbeziehungen unter den jeweiligen Herausforde-
rungen."
37
31
Kasten, H.; Online-Familienhandbuch
32
Sohni, H.; S.12
33
Kasten, H.; Band I, S.8
34
Sohni, H.; S.14
35
ebd.; S.25
36
vgl. ebd.; S.14
37
ebd.; S.11
11
4.2
Einflussfaktoren
Einflüsse auf die Geschwisterbeziehung sind vielfältig und können in unterschiedlichem Ma-
ße wirken.
Einflussfaktoren, laut Frick
38
sind:
· Altersdifferenz zwischen den Geschwistern
· Geschlecht der Geschwister
· Charakter und Persönlichkeit und besondere Merkmale
· Geschwisteranzahl, Familiengröße
· Geburtenrangplatz
· Individuelles Verhältnis der Eltern zu den einzelnen Geschwistern
· Erziehungsstil der Eltern
· Kritische Lebensereignisse (z.B. Tod, Wiederverheiratung der Eltern)
38
Frick, J.; S.98ff
12
5. Geschwisterbeziehungen in Märchen
5.1
Formen
Geschwisterbeziehungen in Märchen können von unterschiedlichster Art sein. Gute Verhält-
nisse zeichnen sich durch positive Inhalte wie Nähe, Intimität und Verbundenheit aus.
Schlechte Geschwisterbeziehungen sind durch Rivalität, Eifersucht und Neid belastet und
werden durch Stiefmutter und Stiefgeschwister besonders beeinflusst. Es ist von den Eltern
abhängig, ,,ob sich [während der Kindheitsjahre] zwischen den Geschwistern eine positive,
nahe, von Rivalität weitgehend ungetrübte Beziehung aufbaut und aufrechterhält."
39
Die El-
tern sind in der wichtigen Position, ihre Kinder gleichwertig zu behandeln und deren Bezie-
hung somit den Weg zu ebnen. Kasten
40
betont, dass im Unterschied zu ,,gewachsenen" Ge-
schwisterbeziehungen Stiefgeschwisterbeziehungen eine gemeinsame Vergangenheit fehlt. Er
hebt hervor, dass ein Druck auf den Kindern lastet, einander schnell näher zu kommen und
sich anzufreunden. Durch die neue Familienkonstellation müssen eine Reihe von massiven
Veränderungen verkraftet werden, die das geschwisterliche Verhältnis negativ oder positiv
beeinflussen können. In fast allen Stiefgeschwistermärchen ist die Beziehung negativ, außer
im Märchen ,,Fundevogel" (s. 5.2.1.5).
5.1.1
Nähe und Distanz bei Geschwistern
Der Grad geschwisterlicher Nähe bzw. Distanz verändert sich über die Jahre hinweg durch
verschiedene Einflüsse (s. Kap. 4.2). Somit ist die Geschwisterbeziehung auch in Bezug auf
die Variablen Nähe und Distanz als ein dynamisches Gebilde zu verstehen. Die folgenden
Klassifikationen nach Frick
41
sollen eine Orientierung geben.
5.1.1.1
Beziehungsmuster
Nach Frick gibt es fünf Gruppen von Beziehungsmustern, die zwischen Geschwistern beste-
hen:
· Intimität: Die Geschwister halten sich für die besten Freunde und tauschen ihre inners-
ten Gedanken und Gefühle aus.
39
Kasten, H.; Online-Familienhandbuch
40
Kasten, H.; Band II, S.169
41
vgl. Frick, J.; S.231ff
13
Dieses Muster ist bei ,,Hänsel und Gretel", ,,Brüderchen und Schwesterchen",
,,Schneeweißchen und Rosenrot" und beim ,,Fundevogel" vorhanden. Alle Geschwis-
terpaare verbringen sehr viel Zeit miteinander und stehen sich somit sehr nahe.
· Kongenialität: Die Geschwister sind zwar gute, aber in der Regel nicht die besten
Freunde. Sie gehen liebevoll und unterstützend miteinander um.
Dies zeigt sich in dem Märchen ,,Die zwölf Brüder" (bzw. ,,Die sechs Schwäne").
Alle Geschwister zeigen eine gewisse Verbundenheit, bei ihnen ist aber keine Intimität
vorhanden, da über einen gewissen Zeitraum der persönliche Kontakt fehlte.
· Loyalität: Die Geschwister stehen sich deutlich weniger nahe. Ihre Beziehung stützt
sich mehr auf familiäre Verantwortung als auf eine direkte, persönliche und enge Be-
ziehung zwischen ihnen.
In ,,Die drei Federn" ist keine persönliche Beziehung zwischen den drei Brüdern
vorhanden. Die familiäre Verantwortung besteht darin, dafür zu sorgen, dass der Vater
zufrieden mit der Übernahme des Königreiches ist. Auch ,,Aschenputtel" ist nicht
feindselig zu ihren Schwestern. Durch die Verantwortung ihrem Vater gegenüber ar-
beitet sie hart und wehrt sich nicht gegen ihre Stiefschwestern.
· Gleichgültigkeit: Die Geschwister sind kaum mehr aneinander interessiert. Die aufein-
ander bezogenen Gefühle sind geprägt durch mangelnde Empathie und Distanz.
Die Stiefschwestern im Märchen ,,Frau Holle" sind sehr distanziert. Goldmarie
sucht keine Konfrontation trotz der ungerechten Behandlung. Es kommt von daher
nicht zum Streit zwischen den Geschwistern.
· Feindseligkeit: Die Geschwister haben eine auffällige Distanz zueinander, meist als
Folge von Wut und Ablehnung. Offener oder verdeckter Streit ist die Regel zwischen
den Geschwistern.
Dieses negative Muster zeigt sich in dem Märchen ,,Einäuglein, Zweiäuglein und
Dreiäuglein". Hier verbünden sich zwei von drei Schwestern gegen die andere, da sie
mit ihrem Neid und Hass nicht umgehen können. In ,,Aschenputtel" zeigen die Stief-
schwester ihre Distanz in Form von Neid, Missgunst und Habgierigkeit. Auch die
Stiefschwester von ,,Brüderchen und Schwesterchen" kann ihren Neid nicht länger er-
tragen und bringt ihre Stiefschwester sogar um.
Es können aber auch Mischformen auftreten, worin sich die Beziehung aufgrund des Alters
und der individuellen Entwicklung der Geschwister fortlaufend verändern kann. Die anfäng-
lich schlechte Beziehung bei ,,Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein" entwickelt sich am
14
Ende dahin gehend, dass die eigentlich bösen Schwestern ihre Taten bereuen und sie Auf-
nahme auf dem Schloss der Schwester finden.
5.1.1.2
Identifikationsmuster
Die Identifizierung der Geschwister untereinander bestimmt deren Verhältnis und die Ent-
wicklung ihrer Beziehung. Frick erwähnt drei Hauptgruppen von Identifikationsmustern zwi-
schen Geschwistern:
42
· enge Identifikation: Die Geschwister erkennen viele Ähnlichkeiten und empfinden ei-
ne große Nähe zueinander.
Die Brüder in dem Märchen ,,Die zwölf Brüder" identifizieren sich sehr stark mit-
einander. Ihr gemeinsamer Überlebenskampf im Wald und ihre spätere gleiche Ver-
wandlung in Raben verstärkt die Identifikation. Die beiden leiblichen Schwestern in
,,Aschenputtel" sind sich sehr ähnlich. Sie werden gleichermaßen von ihrer Mutter
verwöhnt, bekommen dieselben Kleider, haben identische Ansichten und interessieren
sich für den gleichen Mann. Die zwei älteren Brüder im Märchen ,,Die drei Federn"
weisen unabhängig voneinander die gleichen Gedanken auf und sehen keine Konkur-
renz ineinander.
· teilweise Identifikation: Die Geschwister empfinden zueinander Nähe und Distanz,
d.h. sie erkennen nur in manchen Bereichen Ähnlichkeit. Zu einer teilweisen Identifi-
kation zwischen Geschwistern kommt es vor allem dann, wenn eine differenzierte und
ausreichende elterliche Zuwendung vorhanden war.
In den folgenden Märchen weisen die Geschwister eine sehr geringe Ähnlichkeit
auf: ,,Hänsel und Gretel", ,,Brüderchen und Schwesterchen", ,,Schneeweißchen und
Rosenrot" und ,,Fundevogel". Da die Beziehung positiv ist und die Geschwister sich in
manchen Bereichen ähneln, identifizieren sie sich nur teilweise. Bei allen Märchen
haben die Kinder eine gerechte und ausreichende Zuwendung erfahren und sehen sich
nicht als Feinde.
· geringe Identifikation: Die Geschwisterbeziehung ist von sehr wenigen Ähnlichkeiten
und großen Unterschieden geprägt. Die Geschwister stehen sich wie Fremde gegen-
über. Meist entsteht durch die einseitige Zuwendung der Eltern zu einem Kind bzw.
der Abweisung des anderen Kindes eine starre Rollenaufteilung unter den Geschwis-
tern.
42
vgl. Frick, J.; S.23
15
Die einseitige Zuwendung auf ein bzw. zwei Kinder kommt in den Märchen ,,Frau
Holle", ,,Aschenputtel", ,,Brüderchen und Schwesterchen" und ,,Einäuglein, Zwei-
äuglein und Dreiäuglein" vor. Die zwei älteren Brüder im Märchen ,,Die drei Federn"
identifizieren sich in keiner Weise mit ihrem ,,einfältigen" Bruder. In allen Märchen
sind die Geschwister sehr unterschiedlich und haben keine Sympathie füreinander.
Der Identifikationsgrad innerhalb der Geschwisterbeziehung kann sich im Laufe der Jahre
verändern. ,,Voraussetzung für geschwisterliche Identifikationen sind letztlich immer Ge-
fühle wie Nähe, Sympathie, Zuneigung, Bewunderung, d.h. eine grundsätzlich positive
Wahrnehmung des Geschwisters."
43
5.2
Darstellungsweisen
5.2.1
Gute Geschwisterbeziehungen
5.2.1.1 Brüderchen und Schwesterchen
Das Märchen:
,,Zu den am schönsten erzählten Märchen der Brüder Grimm zählt ohne Zweifel die bewe-
gende Begebenheit von «Brüderchen und Schwesterchen». Eine eigenartige Melodik der Ge-
fühle durchtönt dieses Ringen zweier Kinder um ihre Vermenschlichung und Einheit, die sie
nach Meinung des Märchens nur finden können im Wagnis der Liebe."
44
Inhalt:
Eine Mutter und Hexe behandelt ihre Stiefkinder so schlecht, dass diese keinen anderen Aus-
weg sehen, als in die weite Welt zu fliehen. Unterwegs wird der Bruder durch eine von der
Hexe verwunschene Quelle in ein Reh verwandelt. Während die Geschwister in einem Haus
im Wald leben, wird das Reh eines Tages auf der Jagd von königlichen Jägern verletzt, sodass
der König das Mädchen entdeckt und heiratet. Das Märchen endet mit der Entlarvung und
Verurteilung der bösen Stiefmutter und ihrer Tochter zum Tod und die damit einhergehende
Erlösung des Bruders.
43
vgl. Frick, J.; S.236
44
Drewermann, E.; 1990, S.12
16
Die Geschwister:
In dem Märchen ,,Brüderchen und Schwesterchen" kommen zwei Geschwister vor, die eine
innige Beziehung zueinander haben. Beide wachsen mit einer Stiefschwester im Hause der
Stiefmutter auf. Die leibliche Mutter ist verstorben und der Vater der Kinder wird im Mär-
chen nicht erwähnt, weshalb die Stiefmutter die drei Kinder alleine aufziehen muss. Die
Stiefmutter behandelt Brüderchen und Schwesterchen sehr schlecht, da sie nicht ihre leibli-
chen Kinder sind. Die Geschwister erhalten weder Liebe noch Geborgenheit seit ihre leibliche
Mutter tot ist. In den Jahren des Zusammenlebens mit der Stiefmutter erfahren sie Zurückwei-
sung, Beschimpfungen, Schläge, Verbote und Hunger. Ihr gemeinsames Schicksal, d.h. Ver-
lust der Eltern, Missachtung durch die Stiefmutter und ihre Blutsverwandtheit stärken die
Bindung zueinander. Die besondere Liebe der beiden wird somit zum zentralen Punkt des
Märchens.
Beide sind traurig, fühlen sich verlassen, leiden und sehnen sich nach Liebe und Geborgen-
heit. Durch ihre vereinte Treue und ihrer Liebe zueinander erlangen sie Schutz, Geborgenheit,
Zuneigung und Wertschätzung. Sie schenken sich Trost, Aufmerksamkeit, Annahme, Verste-
hen und Verständnis trotz aller Unterschiede. Es schmiedet zusammen auf immer und ewig,
was auch kommen mag. Die negativen Erfahrungen ihrer gemeinsamen Kindheit sind der
Grund der besonderen Geschwisterbeziehung, die nie mit irgendeinem anderen teilbar ist,
auch nicht mit dem besten Mann oder der besten Frau.
In dem Märchen wird ,,von Anfang an eine gewisse Aufspaltung der Persönlichkeit in zwei
«Personen» vorausgesetzt, doch treten die beiden Gestalten niemals beziehungslos auseinan-
der; es kommt im Gegenteil dem Märchen sehr darauf an, die unverbrüchliche Einheit und
Zusammengehörigkeit von «Brüderchen» und «Schwesterchen» zu betonen."
45
Die Flucht:
Das Märchen beginnt mit der Flucht aus dem Elternhaus aufgrund der Misshandlungen sei-
tens der Stiefmutter. Für Brüderchen ist sicher, dass an der Seite der Stiefmutter auf die Dauer
kein Leben möglich ist. Da er für sich und seine Schwester nur das Beste will, ergreift er ei-
nes Tages die Initiative zur Flucht: ,,Brüderchen nahm sein Schwesterchen an der Hand."
46
Er
hat hier noch die Beschützerrolle und führt seine Schwester.
Die beiden Geschwister haben nie gelernt, ,,einen bestehenden Konflikt anders zu lösen als
durch Ausweichen, Rückzug, Nachgeben durch «Fliehen». Es ist diese Fluchthaltung selbst
45
Drewermann, E.; 1990, S.32
46
Grimm, S.48
17
als die einzig verbleibende Lösungsform bestehender Konflikte."
47
Schwesterchen empfindet
aber jeden Schritt als ,,entsetzliche Nötigung als die Vertreibung aus einem kindheitlichen
Paradies, das es nie gekannt hat [...]. Einzig wenn es anders gar nicht mehr geht,[...] lernt das
Schwesterchen die jeweils neue Situation zu akzeptieren."
48
Sie tut jeden Schritt ihrem Bruder
zuliebe, denn es ist ihr sehr wichtig, dass sie mit ihm zusammenbleibt. Gemeinsam flüchten
sie tief in den Wald, in die ,,Welt des Unbewussten".
49
Das Leben im Wald:
Nachdem die Stiefmutter die Quellen im Wald verwünscht hat und sich Brüderchen durch das
Trinken daraus in ein Reh verwandelt, entsteht eine lebensbedrohliche Situation für die Ge-
schwister: ein kleines Mädchen und ein Reh, die den wilden Tieren bzw. Jägern ausgeliefert
sind. Schutz finden sie in einem unbewohnten Haus mitten im Wald. Hier kommt ganz be-
sonders stark die Isolierung des Heldenpaares zutage, das ja von seiner Umwelt völlig abge-
schnitten ist.
Um ihn nicht zu verlieren, ,,band es sein goldenes Strumpfband ab und tat es dem Rehchen
um den Hals, und rupfte Binsen und flocht ein weiches Seil daraus."
50
In der Handlung
kommt Schwesterchens große Angst vor dem Verlassenwerden zum Ausdruck und außerdem
ihre Fürsorge, da sie das Reh nicht wie ein Tier behandelt. Sie wickelt ihr Strumpfband um
den Hals, das golden und somit besonders ist und das Seil, das sie daran befestigt muss weich
sein, damit es ihrem Bruder nicht weh tut. Es wird eine große Liebe erkennbar. Weiterhin
präsentieren sich durch das ,,Anbinden" des Bruders eigene ,,Wünsche nach Nähe und Liebe,
und sie machen sich zumeist in einer chronischen Angst geltend, von dem anderen (ähnlich
wie von der Mutter) nicht genügend geliebt zu werden bzw. umgekehrt: lieblos und willkür-
lich verstoßen zu werden."
51
Die Angst des Schwesterchens zeigt sich durch das mehrmalige
Warnen nicht aus der Quelle zu trinken und als es geschehen ist, weint es hilflos über ihm und
ist sehr traurig. In der Fassungslosigkeit ihrer Trauer wird sie noch bestärkt von den Tränen
der Reue des Brüderchens, denn auch das Reh weint und ist traurig. Es behält somit mensch-
liche Züge, die sich später auch darin äußern, dass es sprechen kann.
Schwesterchen fasst neuen Lebensmut, als sie das Haus entdeckt. Auch hier kümmert sie sich
bestens um ihr Reh: ,,Da suchte es dem Rehchen Laub und Moos zu einem weichen Lager,
und jeden Morgen ging es aus und sammelte Wurzeln, Beeren und Nüsse, und für das Reh-
47
Drewermann, E.; 1990, S.30
48
ebd.; S.13ff
49
ebd.; S.34
50
Grimm; S.49
51
Drewermann, E.; 1990, S.39
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2006
- ISBN (eBook)
- 9783958209152
- ISBN (Paperback)
- 9783958204157
- Dateigröße
- 403 KB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Universität Vechta; früher Hochschule Vechta
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Oktober)
- Schlagworte
- formen darstellungsweisen geschwisterbeziehungen märchen