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Magerwahn 2.0: Wie Pro-Ana und Pro-Mia Essstörungen glorifizieren

©2014 Bachelorarbeit 66 Seiten

Zusammenfassung

Innerhalb der Pro-Ana und Pro-Mia Bewegung findet eine offensichtliche Glorifizierung von Anorexia und Bulimia Nervosa statt. Junge Frauen erklären im Internet ihre Essstörung zum Lifestyle. Dadurch entsteht eine ganz neue Plattform für die Verbreitung der Pro-Ana und Pro-Mia Bewegung. In diesem Buch geht die Autorin der Frage nach, wie Essstörungen im Rahmen der Pro-Ana und Pro-Mia Bewegung im Internet dargestellt werden. Den Schwerpunkt der Arbeit bildet eine Analyse dreier Pro-Ana bzw. Pro-Mia Internetseiten. Darüber hinaus erläutert die Autorin die Grundlagen der Krankheitsbilder von Essstörungen und ihrer Entstehung sowie auch die Rolle der Medien in diesem Kontext. Die Ergebnisse der Arbeit zeigen, ob die mediale Präsenz von Pro-Ana und Pro-Mia zu einer Verharmlosung von Essstörungen beiträgt und wie mithilfe eines fundierten, auf umfangreichem Wissen basierenden Konzepts die Aufklärung und Intervention bei Pro-Ana und Pro-Mia verbessert werden kann.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


4
4.2.2
Sprachliche und optische Gestaltung ... 26
4.2.3
Umgang mit Kritik ... 27
4.2.4
Interpretation der Ergebnisse ... 27
4.3
Analyse des Blogs Dünner ­ noch besser! ... 29
4.3.1
Verantwortliche, Leser_innen und Inhalte ... 30
4.3.2
Sprachliche und optische Gestaltung ... 31
4.3.3
Umgang mit Kritik ... 31
4.3.4
Interpretation der Ergebnisse ... 32
4.4
Analyse des Blogs Hoffnung ... 34
4.4.1
Verantwortliche, Leser_innen und Inhalte ... 34
4.4.2
Sprachliche und optische Gestaltung ... 35
4.4.3
Umgang mit Kritik ... 36
4.4.4
Interpretation der Ergebnisse ... 37
4.5
Zusammenfassung ... 38
4.5.1
Gemeinsamkeiten und Unterschiede der analysierten Internetseiten ... 38
4.5.2
Gefahren, Risiken und Chancen der Pro-Ana und Pro-Mia Bewegung ... 40
4.5.3
Reflexion der gewählten Methode ... 42
5 Gegenbewegungen im Internet ... 44
5.1
Hilfen und Informationsangebote online ... 44
5.2
Die Fatkini-Bewegung ... 45
5.2.1
Entwicklung, Ziele und Inhalte ... 46
5.2.2
Sprachliche und optische Gestaltung... 47
5.2.3
Ziele und Forderungen ... 47
5.2.4
Vergleich mit der Pro-Ana und Pro-Mia Bewegung ... 48
6 Fazit ... 51
7 Quellenverzeichnis ... 53
Gedruckte Literatur ... 53
Internetquellen ... 54
8 Anhang ... 56

5
1 Einleitung
Krankheiten, die sich von Mensch zu Mensch übertragen sind weder eine Seltenheit noch ein
neues Phänomen der Medizin. Influenza, Herpes, Windpocken, Erkältung ­ die unterschied-
lichsten Erkrankungen verbreiten sich über Bakterien oder Viren in der Bevölkerung. Einige
sind harmlos, einige sind mit entsprechenden Medikamenten gut zu heilen, andere sind lebens-
gefährlich und können zu einer ernsthaften Bedrohung für die Menschheit werden. Schutz vor
übertragbaren Krankheiten bieten z.B. Impfungen oder Hygienemaßnahmen. Eine Heilung
wird meist durch Medikamente erreicht.
Psychische Erkrankungen unterscheiden sich davon erheblich: Man kann sich vor ihnen nicht
mit einer Impfung schützen und die Gabe von Medikamenten wirkt beim Heilungsprozess eher
unterstützend oder symptomlindernd. Psychische Erkrankungen übertragen sich auch nicht
mittels Bakterien oder Viren von Mensch zu Mensch.
Essstörungen sind ein Beispiel für psychische Erkrankungen. Die Vorstellung von einem
vierzehnjährigen Mädchen, das morgens in die Schule geht, dort neben einer Mitschülerin sitzt,
die unter einer Essstörung leidet, dann nach Hause kommt und ebenfalls Symptome einer
Essstörung zeigt, klingt absurd ­ fast skurril. Dass sich dieses Mädchen bei seiner Mitschülerin
mit einer Erkältung ansteckt, klingt hingegen logisch und nachvollziehbar.
Allerdings wird die These von einer ansteckbaren psychischen Erkrankung, wie z.B. einer
Essstörung, logischer, wenn man den Begriff ansteckbar ein wenig abstrahiert. Im Prinzip
äußert sich ja jede psychische Störung durch ein Verhalten, dass nicht als normal definiert
werden kann. Verhalten wiederum ist erlernbar, vor allem durch Imitation eines Vorbildes.
Kinder übernehmen Verhaltensweisen ihrer Eltern. Jugendliche übernehmen Verhaltensweisen
ihrer Peers ­ negative oder positive.
Zum Verhalten Jugendlicher gehören heutzutage auch die sogenannten sozialen Netzwerke.
Lerngruppen, Urlaubsgrüße, Informationen über Einzelpersonen, Fotos von der letzten Party
und Kontakte zu Personen, die die eigenen Interessen teilen ­ all dies findet seinen Platz auf
virtuellen Plattformen wie Facebook, Twitter, Instagram, diversen Blogs oder Foren. Die
Nutzer dokumentieren dort ihre Erlebnisse und Meinungen. Einiges davon findet Nachahmer.
Dieses Prinzip birgt Chancen und Risiken: Eine Kampagne für Umweltschutz z.B., die über die
sozialen Netzwerke weiter getragen wird und so viele Befürworter findet, ist als Chance zu
bewerten. Ein Video, in dem zwei Personen auf eine dritte einschlagen und das dann Nachah-
mer im Internet findet, steht als Beispiel für die Risiken der sozialen Netzwerke. Doch lässt sich
dies auch auf Essstörungen übertragen?
Wenn die Nutzer sozialer Netzwerke alles in ihrem Leben dort dokumentieren, dann dokumen-
tieren doch diejenigen von ihnen, die unter einer Essstörung leiden, auch ihre Krankheit. Wie
sieht diese Dokumentation aus? Welches Bild zeichnen Erkrankte von ihrer Essstörung?
Welche Gefahren gehen von dieser Darstellung dann aus? Und: Gibt es auch Chancen für eine
Krankheitsbewältigung?

6
Diese Arbeit soll genau das klären. Dabei liegt der thematische Schwerpunkt auf zwei Formen
der Essstörung: Anorexia Nervosa und Bulimia Nervosa. Diese beiden Erkrankungen stelle ich
bezogen auf junge Frauen und Mädchen dar, da diese am häufigsten davon betroffen sind und
auch das Internet in diesem Kontext oft nutzen.
Um herauszufinden, wie Essstörungen im Internet dargestellt werden und ob sie sich dadurch
sogar verbreiten können, gilt es zunächst, sich mit den Krankheitsbildern vertraut zu machen
und die Ursachen zu kennen, die für die Entstehung von Essstörungen verantwortlich sind.
Diese Aspekte werden im ersten Teil der vorliegenden Arbeit behandelt, wobei die Entstehung
von Essstörungen vorrangig im medialen Kontext thematisiert wird. Anschließend widme ich
mich den beiden Bewegungen, die im Ruf stehen, Essstörungen im Internet zu glorifizieren:
Pro-Ana und Pro-Mia. Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht dann eine Analyse verschiedener
Beispiele aus diesem Bereich, die zeigen soll, ob und wie sich diese Glorifizierung gestaltet und
welche Folgen sie hat. Zum Abschluss gebe ich noch einen kurzen Überblick über virtuelle
Hilfsangebote bei Essstörungen und gehe auf ein Beispiel für eine Gegenbewegung zu Pro-Ana
und Pro-Mia in den sozialen Netzwerken ein.
Die Suche nach Schnittstellen zwischen den Themengebieten Essstörungen und Internet sollte
bei der Klärung dieser beiden Begriffe beginnen. Beim Internet handelt es sich bekanntermaßen
um ein weltweites Computernetzwerk, das in den letzten Jahrzehnten vor allem die Kommuni-
kationsmethoden revolutioniert hat (vgl. ENCYCLOPAEDIA BRITANNICA 2014). Wie sich
Essstörungen definieren lassen, wird nun genauer erläutert.

7
2 Essstörungen: Definition und Krankheitsbilder
2.1
Allgemeine Definition von Essstörungen
Der Begriff Essstörung meint zunächst nichts weiter als ein gestörtes Essverhalten, also eine
Nahrungsaufnahme jenseits der Norm. Verwendet wird dieser Begriff im medizinischen
Kontext, was impliziert, dass Essstörungen in den Bereich der Erkrankungen fallen. Daher stellt
sich die Frage, wann das Essverhalten einer Person gestört - im Sinne von pathologisch - ist
und wo die Grenze zwischen normalem Essverhalten und Krankheit verläuft.
Gegenwärtig lassen sich in der Bevölkerung ,,verschiedenste Muster nicht normativen Essver-
haltens" (BIEDERT 2008: S. 7) beobachten. Viele Frauen halten beispielsweise im Frühjahr
eine mehr oder weniger strenge Diät um den sogenannten Winterspeck loszuwerden, also ein
paar Kilogramm Gewicht zu verlieren. Doch auch das gegenteilige Verhalten ist weit verbreitet,
z.B. das Frustessen, bei dem größere Mengen Nahrung konsumiert werden um ein emotionales
Tief zu überwinden. Beide Verhaltensweisen weichen von einem normalen Essverhalten mit
regelmäßigen Mahlzeiten und ausgewogener Ernährung ab, doch reicht dies nicht aus um sie als
krankhafte Essstörungen zu bezeichnen. Diagnostisch relevant ist ein Essverhalten erst, wenn
,,die Menge der aufgenommenen Nahrung bzw. das resultierende Körpergewicht als krankhaft
gelten" (HABERMAS 2008: S. 4). Also spricht man von einer Essstörung, wenn so wenig bzw.
so viel Nahrungsmittel verzehrt werden, dass die betroffene Person gesundheitsgefährdend
untergewichtig bzw. übergewichtig ist. Ein wichtiger Aspekt bei der Definition von Essstörun-
gen ist auch, dass sie immer ,,mit einer deutlichen Belastung und Beeinträchtigung verbunden
[sind]" (BIEDERT 2008: S. 8), was sich im individuellen Gesundheitszustand, den sozialen
Kontakten und der Bewältigung des Alltags niederschlägt. Diese Einteilung in normales bzw.
leicht abweichendes Essverhalten und krankhafte Störung birgt allerdings die Gefahr, eine
beginnende Essstörung oder erste Anzeichen dafür diagnostisch und somit auch therapeutisch
nicht ernst zu nehmen. Hilfe erhalten die Betroffenen also oft erst, wenn sich die Krankheit
manifestiert hat. Dabei wäre es wünschenswert, ,,einen Mittelweg zwischen übermäßiger
Pathologisierung [...] und der Verweigerung von Hilfe bei tatsächlich vorhandenen psychischen
Problemen zu finden" (HABERMAS 2008: S. 8).
Die Kategorie der Essstörungen umfasst Anorexia Nervosa, Bulimia Nervosa, Binge- Eating-
Störung sowie weitere nicht näher bezeichnete Essstörungen (vgl. GERLINGHOFF &
BACKMUND 2006: S.9). Da der thematische Schwerpunkt dieser Arbeit auf Anorexia und
Bulimia Nervosa liegt, werde ich nun im Folgenden auf diese beiden Formen detaillierter
eingehen und anschließend einen lediglich kurzen Überblick über weitere Essstörungen geben.

8
2.2 Anorexia
Nervosa
2.2.1 Krankheitsbild
Bei Anorexia Nervosa oder Anorexie handelt es sich um eine der bekanntesten und am besten
erforschten Essstörungen. Bei der Diagnosestellung können sich medizinische und therapeuti-
sche Fachkräfte wie bei vielen psychischen Erkrankungen auf die beiden Klassifikationssysteme
ICD- 10 und DSM-IV stützen. In beiden Systemen wird Anorexie in der Kategorie der Essstö-
rungen an erster Stelle aufgeführt. Die Diagnosekriterien des ICD-10 und des DSM-IV dienen
nicht nur Ärzten und Therapeuten als Leitfaden, sondern zeichnen darüber hinaus ein deutli-
ches Bild von Anorexie als Krankheit.
Im ICD-10 wird Anorexie als eine Störung definiert, die ,,durch einen absichtlich herbeigeführ-
ten oder aufrechterhaltenen Gewichtsverlust charakterisiert [ist]" (WHO u.a. 2010: S. 215). Die
Betroffenen wollen also bewusst abnehmen und wenden zu diesem Zweck aktive Maßnahmen
an. Die wichtigste dieser Maßnahmen, die bei jeder Patientin beobachtet werden kann, ist die
,,Vermeidung von hochkalorischen Speisen" (ebd.: S. 216), also ein strenges Diäthalten. Das
bedeutet, dass Anorexie-Patientinnen überwiegend kalorienarme Speisen zu sich nehmen, wie
bspw. Gemüse, und dies meist nur in sehr geringen Mengen. Um eine Gewichtsreduktion zu
unterstützen oder eine Gewichtszunahme zu vermeiden, bedienen sich Betroffene weiterer
Methoden, z.B. exzessiven Sporttreibens, selbstinduzierten Erbrechens oder Abführens und
Medikamentenmissbrauchs in Form von Appetitzüglern oder Diuretika (vgl. ebd.: S. 216).
Dabei lassen sich zwei Subtypen voneinander unterscheiden: der restriktive Typus und der
Binge- Eating/Purging-Typus (vgl. AMERICAN PSYCHIATRIC ASSOCIATION 1994: S.
615). Patientinnen des restriktiven Typus beschränken sich bei der Wahl der Methoden auf eine
strenge Diät, während genau diese beim Binge-Eating/Purging-Typus sehr viel weniger streng
gehandhabt wird und regelmäßige Essanfälle durch Erbrechen, Abführen, Medikamente oder
Sport kompensiert werden (vgl. TEUFEL & ZIPFEL 2008: S. 15). Zu welchen Maßnahmen die
Patientinnen auch greifen, die beabsichtigte Folge dieser Lebensweise ist immer ein drastischer
Gewichtsverlust.
Die Feststellung, dass Anorexie-Patientinnen aufgrund dieses Gewichtsverlusts untergewichtig
sind, scheint logisch. Doch stellt sich hier die Frage, wie untergewichtig definiert wird und
welche Maßstäbe angelegt werden, um Untergewicht und Normalgewicht zu kategorisieren.
Sowohl ICD-10 als auch DSM-IV definieren krankhaftes Untergewicht in Bezug auf Anorexie
als ein Körpergewicht, das 15% unter dem Gewicht liegt, das gemessen am Alter und der
Größe der Patientin zu erwarten wäre (vgl. WHO u.a. 2010: S. 216; AMERICAN
PSYCHIATRIC ASSOCIATION 1994: S. 614). Alternativ lässt sich Untergewicht auch
mithilfe des Body-Mass-Index (BMI) berechnen, bei dem das tatsächliche Körpergewicht in
Kilogramm durch das Quadrat der tatsächlichen Körpergröße in Metern geteilt wird. Ist dieser
Wert 17,5 oder liegt darunter, spricht man von anorektischen Untergewicht (vgl. ebd.). Eine
Frau, die 1,68 m groß ist und 49 kg wiegt, hat einen BMI von 17,4. Ihr Gewicht befindet sich
somit in einem äußerst kritischen Bereich. Allerdings kann das Gewicht alleine kein Kriterium

9
für die Diagnose einer Anorexie sein, da beispielsweise der Körperbau von Mensch zu Mensch
unterschiedlich beschaffen sein kann (vgl. AMERICAN PSYCHIATRIC ASSOCIATION
1994: S. 614).
Ein weiteres wichtiges Merkmal von Anorexie ist die sogenannte ,,Körperschema-Störung in
Form einer spezifischen psychischen Störung" (WHO u.a. 2010: S. 216). Diese Störung mani-
festiert sich in der festen Überzeugung der Patientinnen am ganzen Körper oder an bestimmten
Partien zu dick zu sein (vgl. AMERICAN PSYCHIATRIC ASSOCIATION 1994: S. 614).
Diese Idee ist nicht nur zu Beginn einer Anorexie gefestigt, sie besteht auch bei fortgeschritte-
nem Krankheitsverlauf weiter. Anorektische Frauen, die deutlich untergewichtig sind, fühlen
sich also trotzdem noch zu dick. Aus dieser Überzeugung resultiert ,,die Angst, zu dick zu
werden" (WHO u.a. 2010: S. 216). Die Betroffenen wollen ein noch niedrigeres Gewicht
erreichen und greifen daher immer wieder zu den bereits genannten Maßnahmen. Verbunden
mit der Körperschemastörung ist auch ein geringes Selbstwertgefühl, denn ,,der Selbstwert von
Personen mit Anorexia Nervosa ist in hohem Maße abhängig von ihrer Figur und ihrem
Körpergewicht" (AMERICAN PSYCHIATRIC ASSOCIATION 1994: S. 614). Die Patientin-
nen definieren sich selbst also als gut, erfolgreich und stark, wenn sie möglichst dünn sind: Je
weniger ich wiege, desto besser bin ich. Analog dazu sinkt ihr Selbstwertgefühl, wenn sie
zunehmen oder in ihren Augen immer noch nicht dünn genug sind.
Betroffene beschäftigen sich nicht nur zwanghaft mit ihrer Figur und ihrem Körpergewicht.
,,Viele Personen mit Anorexia Nervosa sind von Gedanken an Nahrung beherrscht" (ebd.: S.
615). Diese Themen bestimmen mitunter das ganze Leben der Patientinnen, was zu einer
Reduktion sozialer Kontakte führt (vgl. BIEDERT 2008: S. 11). Viele soziale Interaktionen
können nicht mehr stattfinden, da die Patientinnen ihre Zeit einzig und allein der Gewichtsab-
nahme widmen. Sportliche Aktivitäten sind in dieser Hinsicht z.B. sehr zeitintensiv. Allein das
Essen in der Öffentlichkeit gestaltet sich für Betroffene schwierig (vgl. AMERICAN
PSYCHIATRIC ASSOCIATION 1994: S. 616), da sie ja bereits das Essen relativ kleiner
Nahrungsmengen als Misserfolg für sich selbst werten. Die Mengen, die sie beispielsweise
während eines Essens mit Freunden verzehren müssten um nicht aufzufallen, sind für Anore-
xie-Patientinnen indiskutabel.
Die ständige und drastische Gewichtsreduktion wirkt sich nicht nur auf die Psyche, das Verhal-
ten und die sozialen Kontakte der Betroffenen aus, sondern auch auf ihre körperlichen Funkti-
onen und ihre körperliche Entwicklung: ,,Bei Beginn der Erkrankung vor der Pubertät ist die
Abfolge der pubertären Entwicklungsschritte verzögert oder gehemmt" (WHO u.a. 2010: S.
217). Gerade in der Pubertät entwickelt sich der Körper in besonderen Maße: die Mädchen
wachsen bis zu ihrer endgültigen Körpergröße, die weibliche Brust bildet sich aus und die erste
Periode tritt ein. Durch Anorexie können diese Entwicklungen entweder gar nicht stattfinden
oder sehr viel langsamer eintreten als bei gesunden Gleichaltrigen. Doch auch bei erwachsenen
Erkrankten zeigt Anorexie körperliche Folgen: Oft bleibt die Monatsblutung aus, man spricht
von einer Amenorrhö (vgl. AMERICAN PSYCHIATRIC ASSOCIATION 1994: S. 614).
Generell können sich Veränderungen in diversen Hormonwerten zeigen (vgl. WHO u.a. 2010:

10
S. 217). All diese Auswirkungen schädigen nicht nur die Gesundheit und die Körperfunktionen
der Patientinnen, sie schränken auch deren Lebensqualität ein. Dennoch nehmen die Frauen
und Mädchen das alles in Kauf um ihr Ziel, noch dünner zu werden, weiterhin zu verfolgen.
Wie viele Frauen und Mädchen davon betroffen sind, stelle ich nun zusammenfassend dar.
2.2.2 Epidemiologie
Wie bereits ausgeführt beschäftigt sich diese Arbeit nur mit Essstörungen von jungen Frauen
und Mädchen. Anorexia Nervosa ist allerdings tatsächlich eine überwiegend weibliche Erkran-
kung. Frauen sind mit einem Anteil von 95% deutlich häufiger betroffen als Männer (vgl.
FRÖHLICH- GILDHOFF 2011: S. 36). Das Risiko während der Pubertät an Anorexie zu
erkranken ist sehr hoch, denn im Alter zwischen 14 und 18 Jahren gibt es die meisten Neuer-
krankungen (vgl. BMG 2014).
Wie viele Menschen insgesamt in Deutschland an Anorexia Nervosa erkrankt sind, ist bisher
nicht ganz geklärt. Das Bundesministerium für Gesundheit verweist auf seiner Internetseite
darauf, dass ,,Expertinnen und Experten [davon ausgehen], dass international von 100.000
Menschen zwischen 500 bis 1.000 magersüchtig sind" (BMG 2014). Das entspricht einer
Punktprävalenz von 0,5% bis 1%. Manfred Fichter zufolge liegt ,,die Punktprävalenz [...] für
Frauen im Risikoalter zwischen 15 ­ 35 Jahren bei ca. 0,4%" (FICHTER 2008: S. 41). Er stützt
sich bei dieser Zahl auf mehrere Untersuchungen zur Häufigkeit von Anorexia Nervosa von
1989 bis 2007.
Mit einer Häufigkeit von 0,4% bis 1% ist Anorexia Nervosa keine allzu häufige Erkrankung.
Dennoch sind die starke Konzentration der Betroffenen auf den weiblichen Anteil der Bevölke-
rung und die hohen Zahlen der Neuerkrankungen unter Jugendlichen bemerkenswert. Aus
dieser Verteilung ergeben sich zum einen Chancen für Prävention und Therapie: Konzepte
können direkt auf die Zielgruppen Frauen und Jugendliche bezogen werden. Andererseits
besteht die Gefahr, männliche erwachsene Betroffene zu übersehen und ihnen somit den
Zugang zu Hilfen und die Akzeptanz ihrer Krankheit zu erschweren.
2.3 Bulimia
Nervosa
2.3.1 Krankheitsbild
Neben der Anorexia Nervosa ist die Bulimia Nervosa eine bekannte Form der Essstörung. Sie
wird ebenfalls im ICD-10 und DSM-IV klassifiziert und ähnelt dem Binge-Eating/Purging-
Typus der Anorexia Nervosa. Auch bei Bulimie kommt es zu Essanfällen und anschließenden
kompensatorischen Maßnahmen um eine Gewichtszunahme zu verhindern (vgl. AMERICAN
PSYCHIATRIC ASSOCIATION 1994: S. 620). Die Essanfälle müssen, um diagnostisch

11
relevant zu sein, ,,im Durchschnitt drei Monate lang mindestens zweimal pro Woche vorge-
kommen sein" (ebd.: S. 620). Sie kommen also regelmäßig vor, ebenso wie die kompensatori-
schen Maßnahmen, die jedes Mal danach erfolgen. Im DSM-IV wird ein solcher ,,Fressanfall
[...] definiert als der Verzehr einer bestimmten Nahrungsmenge in einem bestimmten Zeit-
raum, wobei die Nahrungsmenge erheblich größer ist als die Menge, die die meisten Menschen
in einem vergleichbaren Zeitraum und unter vergleichbaren Bedingungen essen würden" (ebd.:
S. 620). Ein Beispiel kann diese Definition verdeutlichen: Eine Frau isst zum Frühstück inner-
halb einer halben Stunde zwei Scheiben Toastbrot mit Marmelade bzw. Frischkäse. Dazu trinkt
sie ein Glas Orangensaft und eine Tasse Kaffee mit Milch. Eine bulimische Frau isst in einer
halben Stunde während eines Fressanfalls zwei Paar Wiener Würstchen, drei Croissants, ein
Glas Nussnougatcreme, eine Tüte Gummibärchen, zwei Tafeln Schokolade und eine Packung
Kartoffelchips. Diese Nahrungsmenge liegt im Vergleich zur gesunden Frau viel höher. Charak-
teristisch für Bulimie-Patientinnen ist auch die Auswahl der Nahrungsmittel, die meist hochka-
lorisch und eher süß sind (vgl. ebd.: S. 620). Während der Fressattacken erleben die Betroffenen
einen Kontrollverlust: Sie können den Anfall nicht oder nur schwer unterbrechen und fühlen
sich gezwungen, große Mengen unterschiedlicher Nahrungsmittel zu verzehren (vgl. ebd.: S.
625). Nicht zuletzt deswegen schämen sie sich für ihr Essverhalten und ,,versuchen, ihre
Symptome zu verbergen" (ebd.: S. 620), was wiederum zu sozialer Isolation führen kann.
Ebenso wie Anorexie-Patientinnen leiden Bulimie-Patientinnen unter ,,der krankhaften Furcht
davor, dick zu werden" (WHO 2010: S. 219). Ihr Selbstwertgefühl ist abhängig von ihrer Figur
und ihrem Körpergewicht (vgl. AMERICAN PSYCHIATRIC ASSOCIATION 1994: S. 622).
Durch einen Essanfall sinkt der Selbstwert, die Betroffenen beurteilen sich als schwach. Um
den Essanfall rückgängig zu machen, bzw. seine Folgen auf Figur und Gewicht zu verhindern,
kommt es zu den Gegenmaßnahmen, wie sie bereits beim Krankheitsbild der Anorexia Nervosa
beschrieben wurden: Hungern, Sport, Erbrechen, Abführen und Missbrauch geeigneter Medi-
kamente (vgl. WHO 2010: S. 219; AMERICAN PSYCHIATRIC ASSOCIATION 1994: S.
625). Anhand dieser kompensatorischen Maßnahmen werden im DSM-IV zwei Subtypen der
Bulimia Nervosa unterschieden: Der Purging-Typus erbricht oder führt ab, der Nicht-Purging-
Typus verhindert eine Gewichtszunahme durch exzessive Hungerphasen oder sportliche
Aktivitäten (vgl. AMERICAN PSYCHIATRIC ASSOCIATION 1994: S. 625). Im Laufe der
Krankheit entsteht so ein ständiger Kreislauf aus Essattacken und kompensatorischen Maß-
nahmen.
Dieses Verhalten wirkt sich sowohl auf den Gesundheitszustand, als auch auf das Alltagsleben
der Betroffenen aus. So entstehen vor allem im Zusammenhang mit Medikamentenmissbrauch
und Erbrechen Störungen im Elektrolythaushalt und im Stoffwechsel (vgl. ebd.: S. 623). Im
Gegensatz zu Anorexie-Patientinnen sind Bulimikerinnen nicht zwangsläufig von Amenorrhö
betroffen oder augenscheinlich untergewichtig. Man sieht ihnen ihre Essstörung also oft nicht
an. Da auch die Essanfälle und kompensatorischen Maßnahmen hinter verschlossenen Türen
stattfinden, bleibt die Erkrankung lange unbemerkt ­ sogar vom direkten Umfeld (vgl.
TEUFEL & ZIPFEL 2008: S. 16). Betroffene beschaffen sich auch die benötigten Nahrungs-

12
mittel oft heimlich, also unbemerkt von Lebenspartnern, Mitbewohnern oder Eltern. Bei
jugendlichen Patientinnen, die über kein eigenes Einkommen verfügen, können die Kosten für
die Nahrungsbeschaffung so zu einem ernsthaften finanziellen Problem werden (vgl. ebd.: S.
16). Verschuldung ist eine mögliche Folge dessen, ebenso wie eine eingeschränkte Handlungs-
fähigkeit in den sozialen Kontakten: Kinobesuche mit Freunden sind in einer prekären finanzi-
ellen Lage nicht ohne weiteres möglich.
Anorexie und Bulimie sind sich sehr ähnlich hinsichtlich der kompensatorischen Maßnahmen,
der gedanklichen Fixierung auf Essen, Figur und Gewicht und der Abhängigkeit des Selbst-
wertgefühls davon. Auch die Folgen, die sich aus den beiden Essstörungen ergeben können,
werden anhand der Krankheitsbilder deutlich. Neben beträchtlichen gesundheitlichen Schäden
sind das vor allem negative Auswirkungen auf das Sozialleben der Betroffenen. Viele Kontakte
können nicht mehr aufrechterhalten werden ­ sei es aus Zeitmangel aufgrund eines exzessiven
Sportprogramms oder aus finanziellen Gründen oder Scham. Mit den sozialen Kontaktmög-
lichkeiten verlieren die Patientinnen aber auch die Chance, positive Bestätigungen über ihre
Talente, Begabungen und ihren Charakter von Mitmenschen zu erhalten und so ihren Selbst-
wert zu steigern ohne abnehmen zu müssen. Ohne diese Chance sinkt das Selbstwertgefühl
weiter und die Betroffenen sehen nur eine Möglichkeit, es wieder herzustellen: die Arbeit an
ihrem Wunschgewicht.
Unterschiede zwischen Anorexie und Bulimie zeigen sich wie bereits ausgeführt in einigen
diagnostischen Details (z.B. Amenorrhö), im Verhalten während der Essanfälle und besonders
im tatsächlichen Körpergewicht. Wie sich die Bulimie bezüglich ihrer Häufigkeit in der Bevöl-
kerung von der Anorexie unterscheidet, wird nun im Folgenden ausgeführt.
2.3.2 Epidemiologie
Bulimia Nervosa ist, wie Anorexie, eine Erkrankung, die überwiegend Frauen betrifft. Zu 90%
sind es weibliche Patientinnen, vor allem im Alter von 20 bis 30 Jahren (vgl. FRÖHLICH-
GILDHOFF 2011: S. 129). Das Risikoalter liegt bei Bulimie also höher als bei Anorexie. Beide
Formen scheinen sich aber vor allem auf die Jugend und das junge Erwachsenenalter zu
konzentrieren, ebenso wie auf die weibliche Bevölkerung.
Auch für Bulimie gibt es keine ausführlichen Zahlen über die Prävalenz. Das Bundesministeri-
um für Gesundheit gibt die internationale Punktprävalenz mit 2% bis 4% an (vgl. BMG 2014).
Laut der bereits genannten Zusammenfassung mehrere Studien zur Prävalenz von Bulimia
Nervosa von Manfred Fichter ,,[liegt] die Punktprävalenz etwa bei knapp 1%" (FICHTER
2008: S. 41). Die Zahlen des Bundesministeriums sind hier vorzuziehen aufgrund ihrer Aktuali-
tät. Es finden sich kaum Zahlen, die die Prävalenz allein in Deutschland wiedergeben. Daher
muss die internationale Punktprävalenz ausreichen.

13
Auch Bulimia Nervosa ist eine relativ seltene Erkrankung in der gesamten Bevölkerung und
eher ein weibliches Phänomen. Sie tritt allerdings häufiger auf als Anorexia Nervosa. Es bleibt
trotzdem fraglich, wie zuverlässig die oben genannten Zahlen sind. Wenn die Erkrankung bei
vielen Betroffenen unerkannt bleibt aufgrund von Verheimlichung, Schamgefühlen und tatsäch-
lichen Normalgewichts, liegt die Dunkelziffer der Erkrankten sicherlich höher.
Bulimie ist nicht die häufigste Form der Essstörung. Die meisten Erkrankungen in diesem
Bereich lassen sich den weiteren, meist nicht näher bezeichneten Essstörungen, sowie den
atypischen Formen von Bulimie und Anorexie zuordnen.
2.4 Weitere
Essstörungen
Die atypischen Formen von Bulimie und Anorexie sind sowohl im ICD-10 als auch im DSM-
IV aufgeführt. Patientinnen, bei denen die Symptome der Bulimie bzw. Anorexie nicht stark
genug ausgeprägt oder nicht vollständig sind, werden diesen Kategorien zugeordnet. Bei einer
atypischen Anorexia Nervosa fehlt z.B. oftmals die Amenorrhö oder der drastische Gewichts-
verlust (vgl. WHO 2010: S. 218). Durch die Bildung der atypischen Formen ist es möglich, auch
Erkrankte als solche wahrzunehmen, deren Symptome die Diagnose der Anorexia bzw. Bulimia
Nervosa nicht rechtfertigen. Die Akzeptanz der Essstörungen als ernstzunehmende Krankheit,
auch ohne schweren Verlauf, wird meines Erachtens dadurch gesteigert. Allerdings empfiehlt
die WHO im ICD-10 die Stellung dieser Diagnosen nicht, sondern verweist auf Differentialdi-
agnose (vgl. ebd.: S. 218ff.).
Eine weitere Form der Essstörung ist die sogenannte Binge-Eating-Störung. Sie wird nur im
DSM-IV explizit erwähnt, im ICD-10 ist sie der Gruppe der nicht näher bezeichneten Essstö-
rungen unterzuordnen. Die Binge-Eating-Störung zeichnet sich aus durch ,,wiederholte Episo-
den von ,Fressattacken` ohne die für Bulimia Nervosa charakteristischen regelmäßigen, einer
Gewichtszunahme gegensteuernden Maßnahmen" (AMERICAN PSYCHIATRIC
ASSOCIATION 1994: S. 626). Während die Essanfälle im Rahmen einer Binge-Eating-Störung
mit denen von Bulimie vergleichbar sind, verzichten die Betroffenen darauf, die daraus resultie-
rende Gewichtszunahme zu verhindern. ,,Infolge der seltenen oder nicht vorhandenen Kom-
pensationsmechanismen sind die meisten Patienten übergewichtig" (DE ZWAAN &
MÜHLHANS 2008: S. 26). Zugleich zeigen sie eine hohe Unzufriedenheit mit ihrem Gewicht
und ihrer Figur und analog zu Bulimie-Patienten ein geringes Selbstwertgefühl (vgl. ebd.: S. 26).
Die Binge-Eating-Störung ist relativ wenig erforscht, vor allem hinsichtlich der Prävalenzraten.
Das Bundesministerium für Gesundheit gibt eine Punktprävalenz von 1% bis 3% an (vgl. BMG
2014), womit die Binge-Eating-Störung etwa so häufig auftritt wie Bulimia Nervosa.
Unter die Kategorie der nicht näher bezeichneten Essstörungen fallen im ICD-10 und DSM-IV
noch weitere Verhaltensweisen, wie z.B. die Purging-Disorder, bei der die Betroffenen ,,[...]
bereits normale Mahlzeiten oder Snacks als zu subjektiv groß [erleben]" (DE ZWAAN &

14
MÜHLHANS 2008: S. 26f.). Auch bei der Purging-Disorder kommen kompensatorische
Maßnahmen zum Einsatz (vgl. ebd.: S. 27). Diese und weitere Essstörungen sind bisher kaum
erforscht. Es finden sich kaum Zahlen zu Prävalenz und Inzidenz und ebenso keine ausführli-
chen Diagnosekriterien. Die Krankheitsbilder sind lediglich kurz beschrieben. In der Praxis
,,stellen sie doch bei exakter Diagnosestellung die häufigste Essstörungskategorie dar" (ebd.: S.
24). Ausführliche Untersuchungen zu Erscheinungsbild, Häufigkeit und Ursachen wären daher
erforderlich und wünschenswert.

15
3 Anorexia und Bulimia Nervosa im medialen Kontext
3.1
Einfluss der Medien auf die Entstehung von Essstörungen
Das folgende Kapitel widmet sich der Rolle, die die Medien bei der Entstehung von Essstörun-
gen, vorrangig von Anorexie und Bulimie, spielen. Das von den Medien vermittelte Schönheits-
ideal steht immer wieder in Verdacht, Essstörungen bei jungen Mädchen zu provozieren. Um
diese Behauptung zu überprüfen, werde ich zunächst allgemein darauf eingehen, welche
Faktoren an der Entstehung einer Essstörung beteiligt sind und anschließend die Bedeutung des
medialen Schönheitsideals genauer überprüfen.
3.1.1 Exkurs: Ätiologiemodell und Risikofaktoren
Die Frage, wie Essstörungen entstehen, beschäftigt die Forschung zwar seit längerem, doch
kann sie bisher nicht vollständig geklärt werden. Da Essstörungen ­ und somit auch Anorexie
und Bulimie ­ zu den psychischen Störungen gezählt werden, stützen sich die meisten Entste-
hungstheorien auf ein multifaktorielles Ätiologiemodell (vgl. JACOBI u.a. 2004: S. 21). Die
Bezeichnung multifaktoriell bezieht sich hierbei auf ,,drei wesentliche Klassen von ,Ursachen`
[...]: prädisponierende, auslösende und aufrechterhaltende Faktoren" (GROß 2008: S. 54), die
zusammenwirken müssen, damit sich eine Essstörung manifestieren kann. Dies bedeutet auch,
dass es nicht nur eine Ursache gibt und die Entstehung von Essstörungen ein komplexer
Vorgang ist. Dadurch wird die Prävention erschwert, die in mehreren Lebensbereiche wirken
muss um erfolgreich zu sein.
Die Vorgänge, die zu einer Essstörung führen, hat Jacobi in einem sogenannten Bedingungs-
modell zusammengefasst (vgl. JACOBI u.a. 2004: S. 34ff. und JACOBI 2011: S. 205ff.): ,,Sozio-
kultureller Kontext, Risikofaktoren [und ein] niedriges/labiles Selbstwertgefühl" (JACOBI
2011: S. 206) sind die Grundlage, auf der Anorexie und Bulimie entstehen können. Ausgelöst
wird die Erkrankung durch bestimmte Situationen oder Lebenslagen. Es kommt zum bereits
beschriebenen Krankheitsbild, gezeichnet durch einen Kreislauf von Nahrungskontrolle und
kompensatorischen Maßnahmen. Aufrechterhalten wird dieser Kreislauf durch den Ehrgeiz, die
Nahrungsaufnahme noch stärker zu reglementieren. Dieses Verhalten bedingt ,,körperliche,
psychische und soziale Folgeschäden" (ebd.: S. 206), die wiederum das Selbstwertgefühl weiter
senken und somit zur Aufrechterhaltung der Störung beitragen. Die Unterscheidung in Ursa-
chen und Folgen einer Essstörung ist dabei oft schwierig (vgl. JACOBI u.a. 2004: S. 21). Das
labile Selbstwertgefühl z.B. ist Ursache und Folge zugleich.
Viele der Risikofaktoren, die bei der Entstehung von Essstörungen eine Rolle spielen, können
ebenso nicht eindeutig als ursächlich bezeichnet werden. Als sicher kann nur gelten, dass es eine
Vielzahl unterschiedlicher Faktoren gibt, die sich grob in drei Bereiche gliedern lassen: biologi-
sche, psychosoziale und soziokulturelle Risikofaktoren.

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In biologischer Perspektive stellt sich vor allem die Frage, ob Essstörungen genetisch bedingt
sind. Familien- und Zwillingsstudien haben zwar ergeben, dass es in der direkten Verwandt-
schaft zu Anorexie- oder Bulimiepatient_innen ein erhöhtes Erkrankungsrisiko gibt (vgl.
FRIELING & BLEICH 2008: S. 63 f.), eine zwangsläufige Erkrankung lässt sich dadurch
allerdings nicht vorhersagen. Ebenso wird ein Mangel an verschiedenen Hormonen und am
Neurotransmitter Serotonin als Ursache für Essstörungen diskutiert, doch ist hierbei unklar,
inwieweit diese Werte ursächlich sind, da sie auch durch die Störung selbst hervorgerufen
werden können (vgl. WUNDERER & SCHNEBEL 2008: S. 58f.).
Die Gruppe der psychosozialen Risikofaktoren bezieht vor allem die familiäre Situation sowie
individuelle Verhaltensmuster und Copingstrategien ein. Das bereits erwähnte niedrige Selbst-
wertgefühl ist dieser Gruppe zuzuordnen, ebenso wie ein ausgeprägtes Diätverhalten, exzessive
sportliche Betätigung, negative und belastende Lebensereignisse (z.B. sexueller Missbrauch),
weitere psychische Erkrankungen, familiäre Probleme im interaktiven und kommunikativen
Bereich sowie ein starker Perfektionismus (vgl. JACOBI u.a. 2004: S. 22). Auch hier finden sich
Faktoren, die sowohl Ursache als auch Folge sein können: Eine gestörte Kommunikation
zwischen einer Tochter und ihren Eltern kann auch durch das gestörte Essverhalten der
Tochter entstanden sein.
Weitere Risikofaktoren liegen schließlich im soziokulturellen Bereich, also in gesellschaftlichen
Anforderungen und kulturellen Prägungen. ,,Den wichtigsten Aspekt scheint der westlich
geprägte, gesellschaftliche Druck zum Schlanksein darzustellen..." (JÄGER 2008: S. 75),
welcher zwar nicht alleinverantwortlich für Essstörungen ist, aber aufgrund seiner ständigen
Präsenz, z.B. in den Medien, nicht unterschätzt werden darf. Schlankheit ist Teil des modernen
Schönheitsideals in der westlichen Gesellschaft. Wie dieses Schönheitsideal gestaltet ist, wie es
sich auf die Entstehung von Anorexie und Bulimie auswirkt und welche Rolle die Vermittlung
durch diverse Medien dabei spielt, wird nun im Folgenden erläutert.
3.1.2 Bedeutung des medialen Schlankheitsideals
Das aktuelle Schönheitsideal für Frauen ist durch mehrere Aspekte geprägt. Waltraud Posch
führt an dieser Stelle ,,Schlankheit, Jugendlichkeit, Fitness und Authentizität" (POSCH 2009: S.
85) an. Für diese Arbeit ist allerdings nur Schlankheit relevant und somit gehe ich allein darauf
ein. Während Gesundheitsinstitutionen den Body Mass Index als Maßstab für Körper anlegen,
vertreten Medien und Modeindustrie ein Schlankheitsideal, dass sich in nur drei Zahlen nieder-
schlägt: 90-60-90 (vgl. ebd.: S. 86). Gemeint ist der ideale Brust-, Taillen- und Hüftumfang einer
erwachsenen Frau in Zentimetern. Diese Traummaße werden vor allem durch eine Berufsgrup-
pe vertreten, nämlich die der Models. Das britische Model Cara Delevingne erfüllt beispielswei-
se diese Anforderungen: Sie hat ihrer Agentur zufolge einen Taillenumfang von 60,96 Zentime-
tern und einen Hüftumfang von 86,36 Zentimetern, als Konfektionsgröße wird 34 angegeben
(vgl. STORMMODELS). Doch nicht nur Models verkörpern dieses Ideal. Die Süddeutsche

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Zeitung konstatierte anlässlich einer deutlich sichtbaren optischen Veränderung der Schauspie-
lerin Renée Zellweger: ,,Die Filmindustrie fordert makellose, fettlose, alterslose Stars" (KOCK
2014). Schlankheit ist also gefragt und sogar eine Voraussetzung, wenn Frauen als Models oder
Schauspielerinnen erfolgreich sein wollen. Somit wird das Schlanksein auch mit Erfolg und
Starksein gleichgesetzt. ,,Wer abnimmt, hat sich unter Kontrolle, wird bewundert ­ selbst oder
gerade wenn er bereits sehr schlank ist" (WUNDERER & SCHNEBEL 2008: S. 53). All diese
Faktoren setzen sich zum Idealbild einer überaus schlanken, willensstarken, erfolgreichen und
bewundernswerten Frau zusammen.
Einer breiten Masse zugänglich gemacht wird dieses Idealbild vor allem durch seine breitgefä-
cherte mediale Vermittlung. Über den Auftritt der jünger und schlanker aussehenden Renée
Zellweger berichteten im Oktober 2014 mehrere Internetseiten, darunter die Onlineredaktionen
der Welt, des Sterns und des Spiegels (vgl. BING NEWS 2014). Cara Delevingne war 2014 auf
dem Titelblatt der Septemberausgabe der britischen Vogue zu sehen, einer der bekanntesten
Modezeitschriften der Welt (vgl. VOGUE). In Filmen, Serien und Fernsehwerbungen sowie auf
Plakatwänden sind schlanke Models und Schauspielerinnen auch ständig präsent. Somit ergibt
sich eine große Bandbreite an Medien, die dieses Schlankheitsideal der Öffentlichkeit präsentie-
ren und es dadurch zu einem medialen Schönheitsideal machen.
Obwohl sich Frauen und Mädchen in vielen Situationen und Bereichen mit dem Ideal des
schlanken weiblichen Körpers konfrontiert sehen, entspricht dieser keineswegs der Realität.
,,Beim aktuellen Schönheitsideal handelt es sich einen an Unterernährung erinnernden Kunst-
körper" (POSCH 2009: S. 87). Wie weit dieser Kunstkörper von realen Frauenkörpern entfernt
ist, wird klar, wenn man die durchschnittlichen Maße deutscher Frauen zum Vergleich mit dem
90-60-90-Ideal heranzieht: Die Nationale Verzehrsstudie II misst bei Frauen einen durch-
schnittlichen Taillenumfang von 83 Zentimetern (MRI 2008: S. 79) und einen durchschnittli-
chen Hüftumfang von 103,6 Zentimetern (vgl. ebd.: S. 80). Der Hüftumfang liegt somit 13,6
Zentimeter über dem propagierten Ideal, der Taillenumfang sogar 23 Zentimeter darüber. Die
durchschnittliche deutsche Frau müsste ihren Körperumfang also drastisch reduzieren um
wenigstens in die Nähe des Schlankheitsideals zu kommen. Das scheint viel verlangt und ist auf
gesundem Wege kaum zu erreichen.
Anorexie und Bulimie stehen nicht für den gesunden Weg der Gewichtsreduktion. Gerade
Anorektikerinnen, die aufgrund ihres Krankheitsbildes ja bereits untergewichtig sind, müssten
das Schlankheitsideal erfüllen bzw. sogar unterbieten. Daraus müsste sich nun folgern lassen,
dass der Schlankheitsdruck, der durch die Medien aufgebaut wird, eine der Hauptursachen für
Anorexie ist. Doch genau das ist nicht der Fall. Bei der Entstehung von Anorexie stehen
psychosoziale Probleme im Vordergrund und nicht das Ziel, so schlank wie das mediale
Idealbild zu werden (vgl. JÄGER 2008: S. 76). Die bereits erwähnte Gleichsetzung von Ge-
wichtsreduktion mit Stärke, Selbstkontrolle und Bewunderung ist allerdings ein wichtiger
Aspekt der Aufrechterhaltung einer anorektischen Erkrankung. Durch das Gefühl, stark zu sein
und bewundert zu werden, wird das Selbstwertgefühl der Betroffenen gesteigert und somit kann

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2014
ISBN (eBook)
9783958209237
ISBN (Paperback)
9783958204232
Dateigröße
6.4 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Georg-Simon-Ohm-Hochschule Nürnberg
Erscheinungsdatum
2015 (Oktober)
Note
1
Schlagworte
magerwahn pro-ana pro-mia essstörungen
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Titel: Magerwahn 2.0: Wie Pro-Ana und Pro-Mia Essstörungen glorifizieren
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