Integrative Kindertageseinrichtungen: Gemeinsame Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern
©2010
Bachelorarbeit
56 Seiten
Zusammenfassung
In der vorliegenden Studie widmet sich die Autorin dem Thema der gemeinsamen Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern in integrativen Kindertageseinrichtungen. Die Rahmenbedingungen, welche von Kindertageseinrichtungen erfüllt sein müssen, um integrativ arbeiten zu können, sind vielfältig. Es bedarf nicht nur einer veränderten räumlichen Ausstattung und verschiedener Therapieangebote, sondern auch der Akzeptanz aller Beteiligten. Erzieher/-innen, Eltern und vor allem alle Kinder müssen sich auf diese neue Situation einlassen und lernen, mit Veränderungen umzugehen. Im Verlauf der Arbeit werden verschiedene Aspekte der Integration im Kindergartenalltag genauer betrachtet. Dabei wird der Frage nachgegangen, ob die Eingewöhnungsphase bei behinderten und nichtbehinderten Kindern unterschiedlich abläuft und ob positive Rückschlüsse auf die Entwicklung der Kinder gezogen werden können, die durch die integrativen Prozesse zustande kommen. Ferner wird betrachtet, ob während der integrativen Arbeit Probleme zu beobachten sind, die sich negativ auf die Kinder auswirken.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
Im Jahr 2007 wurden in Deutschland in 13.414 Tageseinrichtungen behinderte und
nichtbehinderte Kinder gemeinsam betreut und gefördert (vgl. Schilling 2008, 174). Vor
einigen Jahren war dies noch nicht so ausgeprägt der Fall. Hier ist eine wachsende
Nachfrage nach integrativer Erziehung im Kindergartenalltag zu beobachten.
Somit kann die Integration behinderter Kinder schon in der frühen Kindheit beginnen.
Bereits im Jahre 1970 ,,begannen in der Bundesrepublik Deutschland engagierte Eltern
behinderter Kinder und andere Eltern und Pädagogen/-innen mit ihren Bemühungen,
behinderte und nichtbehinderte Kinder in Spielgruppen und Kindergartengruppen
gemeinsam aufwachsen zu lassen" (Herm 2007, 16). Durch diese ersten Versuche der
Integration und die positiven Reaktionen der Politik wurde die Integration von
behinderten Kindern immer mehr vorangetrieben, da auffiel, ,,dass eine frühe
Aussonderung im Kindesalter Gefahren von Desintegration erwachsener Behinderter
birgt" (a.a.O., 17).
In meiner Arbeit widme ich mich dem Thema der gemeinsamen Erziehung von
behinderten und nichtbehinderten Kindern in integrativen Kindertageseinrichtungen.
Die Rahmenbedingungen, welche von Kindertageseinrichtungen erfüllt sein müssen,
um integrativ arbeiten zu können, sind vielfältig. Es bedarf nicht nur einer veränderten
räumlichen Ausstattung und verschiedener Therapieangebote, sondern auch der
Akzeptanz aller Beteiligten. Erzieher/-innen, Eltern und vor allem alle Kinder müssen
sich auf diese neue Situation einlassen und lernen, mit Veränderungen umzugehen.
Im weiteren Verlauf werden verschiedene Aspekte der Integration im
Kindergartenalltag genauer betrachtet. Dabei wird der Frage nachgegangen, ob die
Eingewöhnungsphase bei behinderten und nichtbehinderten Kindern unterschiedlich
abläuft und ob positive Rückschlüsse auf die Entwicklung der Kinder gezogen werden
können, die durch die integrativen Prozesse zustande kommen. Ferner muss betrachtet
werden, ob während der integrativen Arbeit Probleme zu beobachten sind, die sich
negativ auf die Kinder auswirken.
Weitere Punkte werden die Beobachtung der nichtbehinderten Kinder sein, inwiefern
bei ihnen Veränderungen im Spiel- und Lernverhalten durch die Integration
festzustellen sind und wie Kinder Behinderungen wahrnehmen.
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Weiter ist zu klären, ob es Unterschiede in der Wahrnehmung von Behinderungen gibt.
An dieser Stelle spielen auch die äußeren Einflüsse eine wichtige Rolle. Entscheidend
ist hierbei, welche Einflüsse nichtbehinderte Kinder prägen und wie sich diese Einflüsse
auf die Wahrnehmung von Behinderungen auswirken.
Durch die Öffnung einiger Regelkindertageseinrichtungen für Kinder mit Behinderung
wird diesen Kindern die Möglichkeit gegeben, zusammen mit nichtbehinderten Kindern
aufzuwachsen und von und mit diesen zu lernen. Daher gilt es ebenso zu betrachten,
inwieweit sich diese Form der Integration und die Reaktionen der anderen Kinder auf
sie auswirken. Es bleibt der Frage nachzugehen, ob sie trotz des jungen Alters bereits
ausgegrenzt oder in jegliche Spiel- und Lernsituationen miteinbezogen werden.
2. Begriffserklärungen
In diesem Kapitel werden die wichtigsten Begriffe meiner Arbeit definiert. Der Begriff
der Behinderung ist zu klären und was in unserer Gesellschaft als Normalität bezeichnet
wird. Des Weiteren werde ich die Begriffe Integration und Inklusion erläutern und
mögliche Formen der Integration aufzeigen.
2.1 Behinderung
Der Begriff Behinderung ist in der Literatur nicht eindeutig definiert. Es gibt
unterschiedliche Arten, wie beispielsweise geistige oder körperliche Behinderungen, die
wiederum in verschiedene Schweregrade unterteilt werden können.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnet eine Behinderung als eine Störung
von Funktionen oder Fähigkeiten des Menschen, die zu einer Beeinträchtigung führt
und die den betroffenen Menschen nicht uneingeschränkt am gesellschaftlichen Leben
teilhaben lässt (vgl. Eissing 2007, 32f.). Dies hat zur Folge, dass Menschen mit einer
oder mehreren Beeinträchtigungen in verschiedenen Situationen ihres Lebens, wie
beispielsweise beim Ausüben einer Arbeit oder auch bei Dingen des alltäglichen Lebens
(z.B. einkaufen) auf die Hilfe Anderer angewiesen sein können. Ist die betroffene
Person stark durch eine Behinderung beeinträchtigt, kann dies bedeuten, dass er ohne
Hilfe nicht (mehr) in der Lage ist, sein Leben selbstständig zu meistern (vgl. ebd.).
Durch diese Einschränkungen ,,sind in aller Regel [behinderte Menschen] bedroht,
sozial in eine besondere Stellung und Rolle zu kommen" (Strasser 1992, 9).
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Außerdem bezeichnet Cloerkes eine Behinderung als eine ,,dauerhafte und sichtbare
Abweichung im körperlichen, geistigen oder seelischen Bereich, der allgemein ein
entschieden negativer Wert zugeschrieben wird" (Cloerkes 2007, 8). Die Begriffe
dauerhaft und sichtbar sind in dieser Definition sehr entscheidend, da die
,,Dauerhaftigkeit" eine Behinderung von einer Krankheit unterscheidet und die
,,Sichtbarkeit [...] im weitesten Sinne das Wissen anderer Menschen um die
Abweichung" darstellt (ebd.). Cloerkes nimmt ebenfalls Stellung zu den betroffenen
Menschen. Laut ihm ist ,,ein Mensch [...] behindert, wenn erstens eine unerwünschte
Abweichung von wie auch immer definierten Erwartungen vorliegt und wenn zweitens
deshalb die soziale Reaktion auf ihn negativ ist" (ebd.).
Obwohl es mittlerweile schon einige pädagogische Konzepte gibt, die es behinderten
Menschen ermöglichen am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, gelten die
betroffenen Menschen immer noch nicht als normal. Lingenauber bezieht sich auf Link,
der von der Tatsache ausgeht, dass ,,Behinderung [...] jenseits der Normalitätsgrenze"
liegt (Lingenauber 2008, 20f.). Auch Waldschmidt bestätigt dies. Der Körper
behinderter Menschen wird durch ihr eventuell anderes Aussehen als ,,unterschiedlich
(...) eingestuft" und bezogen auf die Art und den Grad ihrer Behinderung in
verschiedene ,,Gruppen [...] eingeteilt" und ,,in Sonderschulen, Wohnheimen und
Behindertenwerkstätten exkludierenden Strategien unterworfen" (Waldschmidt zitiert
nach Lingenauber ebd.). Auch Behr sagt aus, dass der Begriff Behinderung immer
etwas Negatives ausstrahlt (vgl. Behr 2009, 27). Daraus resultiert wahrscheinlich auch
die ständige Veränderung des Begriffs Behinderung (vgl. a.a.O., 28). Die Menschen, die
vor einigen Jahren noch von uns als behindert betitelt wurden, werden nun ,,Menschen
mit einer Behinderung" oder auch Menschen mit besonderen Bedürfnissen genannt (vgl.
ebd.). Doch trotz dieser sprachlichen Differenzierung ist die Reaktion des sozialen
Umfeldes auf die Behinderungen weiterhin meist negativ. Behr fügt hinzu, dass die
meisten ,,gesellschaftliche Normvorstellungen" bestimmen, ,,wer oder was als
´behindert` bezeichnet wird" (ebd.). Diese Meinung vertritt Feuser ebenfalls. Er geht
davon aus, dass ,,Behinderung [...] erst durch die Unterschreitung gesellschaftlicher
Normalitätserwartungen und durch den damit einhergehenden gesellschaftlichen
Aussonderungsprozess" entsteht (Lingenauber 2008, 23). Des Weiteren fügt er hinzu,
dass erst die ,,Isolation" der Menschen durch die ,,Regelpädagogik" zur eigentlichen
Behinderung führe (ebd.).
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Der Fokus im Bereich der Erziehungswissenschaften wird eher auf die
,,Erziehungsmöglichkeiten, Lernvoraussetzungen, -bedingungen, -ziele, -methoden und
-institutionen gesehen" (Bundschuh zitiert nach Behr 2009, 28). Aus diesem
Blickwinkel ist Behinderung etwas, das die Integration in das soziale Umfeld stört (vgl.
ebd.). Diese Ausgrenzung der Menschen bedingt durch ihre Schädigung oder
Beeinträchtigung führt jedoch erst zur eigentlichen Behinderung der Menschen (vgl.
ebd.). Es wird ihnen durch die ständige ,,Etikettierung" erschwert, ihr Leben so zu
leben, wie sie es gerne würden (ebd.).
Die Entstehung der Integrationspädagogik 1988 führte erstmals dazu, dass eine
,,ganzheitliche Sichtweise [es] verbietet Kategorisierungen, Einstufungen und
Ausgrenzungen [...] " vorzunehmen (Kanter zitiert nach Lingenauber 2008, 23).
In den kommenden Debatten über den Begriff Behinderung und der damit verbundenen
Stigmatisierung der betroffenen Menschen sollte also darauf geachtet werden, ,,ob dies
einen positiven Nutzen für Kinder mit Behinderung und deren Familien beinhaltet"
(Behr 2009, 29). Und vor allem gilt es sich die Frage zu stellen, inwieweit es nötig ist,
diese Etikettierung überhaupt weiterhin vorzunehmen (vgl. ebd.).
2.2 Normalität
Was ist normal? Diese Frage hat sich sicher jeder schon einmal gestellt. Bin ich nur
normal, wenn ich in einer intakten Familie unter finanziell ausreichenden Bedingungen
aufwachse, in der Schule gute Noten schreibe, eine Arbeitsstelle finde, die es
ermöglicht, ebenfalls eine Familie mit Kindern zu gründen? Wer entscheidet, was
normal ist und was nicht?
Nach Lingenauber existiert eine allgemeingültige Begriffsbestimmung von Normalität
nicht (vgl. Lingenauber 2008, 160).
Behinderung wird in unserer Gesellschaft immer noch als anormal bezeichnet und die
Diskussion um die Kategorisierung in Normalität und Anormalität ständig weitergeführt
(vgl. ebd.). Es gibt keine klar definierte Normalität, sondern nur verschiedene
Vorstellungen davon, was normal und was eher anormal sein könnte (vgl. ebd.).
In der Sozialpädagogik wird die Einordung in die Kategorien Normalität oder
Behinderung ständig neu vorgenommen (vgl. ebd.). Die Integrationspädagogik sieht
dagegen Behinderung als eine neue Normalität (vgl. ebd.). Hier stellt Normalität einen
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Bereich dar, der mit den Bereichen Behinderung und Integration ,,dynamisch und
interdependent [...] vernetzt ist" (a.a.O., 161).
Demnach ist ,,Normalität [...] keine statische, sondern eine dynamische Kategorie, die
im Sinne der Normalismustheorie streng von Normativität unterschieden werden sollte"
(ebd.).
Nach Link, der die Normalismustheorie entwickelt hat, ,,gibt es keine Normalitäten
ohne Subjekte" (ebd.). Hierunter wird verstanden, dass das Subjekt, also der Mensch
selbst, eine Normalität herstellt (vgl. ebd.). Im Umgang mit diesem Prozess gibt es laut
Link ,,zwei idealtypisierte gegensätzliche Subjektstrategien" (ebd.): Erstens, die
,,protonormalistische Strategie" und zweitens die ,,flexibel-normalistische Strategie"
(ebd.). Des Weiteren gibt es in jeder Strategie ein sogenanntes ,,Normalfeld", welches
aus einer ,,Normalitätsmitte" und ,,Normalitätsgrenzen" besteht (a.a.O., 162). Die
Grenzen des protonomalistischen Normalfeldes, welche ,,schmal" und stabil sind,
grenzen die Normalität von der Anormalität ab (Link zitiert nach Lingenauber ebd.).
Die Subjekte, die sich innerhalb dieses Normalfeldes befinden, bezeichnet Link als
,,außengelenkt" (Link zitiert nach Lingenauber ebd.). Sie sind diszipliniert und autoritär,
was dazu führt, dass die Grenzen zwischen Normalität und Anormalität stets fixiert und
stabilisiert werden (vgl. ebd.). Genau diese ,,Fixierung und Stabilisierung der
Normalitäts-Zone" ist das Ziel der protonormalistischen Strategie (ebd.).
Abb. 1: Protonormalistisches Normalfeld
Quelle: Lingenauber 2008, 162
Im Gegensatz zu dieser Strategie gibt es in der flexibel-normalistischen Strategie zwar
,,breitere Grenzen", dafür aber eine ,,dynamische und in der Zeit variable Grenze" (Link
zitiert nach Lingenauber 2008, 162f.). In dieser Strategie wird es den Subjekten
ermöglicht, ihre eigene Normalität zu entwerfen und diese zu prüfen (vgl. a.a.O., 163).
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Die Vielfalt der Normalität soll ,,maximal" ausgedehnt werden, um ,,Übergangszonen
zwischen Normalität und Anormalität" zu schaffen (Link zitiert nach Lingenauber ebd.).
Obwohl diese Übergangszonen also Raum lassen um integrativ oder inklusiv zu
handeln, bleibt die flexible Grenze und die damit verbundene Ausgrenzung einiger
Subjekte dennoch erhalten (vgl. a.a.O., 164).
Abb. 2: Flexibel-normalistisches Normalfeld
Quelle: Lingenauber 2008, 163
Um jedoch eine vollständige Integration aller Menschen zu ermöglichen, ist die
Entwicklung einer dritten Strategie, der transnormalistischen Strategie, wichtig. In
dieser Strategie werden die flexiblen Grenzen überschritten und vollständig aufgelöst
(vgl. a.a.O., 165). Daraus resultierend ergibt sich, dass auch das vorher bestandene
Normalfeld nicht mehr existiert (vgl. ebd.). Link bezieht sich auf Goldstein, der ,,die
Bedeutung des Terms" ,normal` durch diese Strategie ,,vollständig vom Kriterium des
Durchschnitts bzw. der überwiegenden Mehrheit der Fälle" ablöst (Link zitiert nach
Lingenauber ebd.).
Abb. 3: Transnormalistisches Normalfeld
Quelle: Lingenauber 2008, 165
Dies ist ebenfalls in der Integrationspädagogik der Fall. Hier ist ein ,,grenzenloses
Bildungsnormalfeld" das Ziel (a.a.O., 166). Bereiche wie beispielsweise Sonder- oder
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Regelpädagogik könnten so vereint werden (vgl. ebd.). Durch die Realisierung einer
solchen neuen Normalität könnte nach Eberwein und Feuser ebenfalls die
Kategorisierung von Behinderung abgeschafft werden (vgl. ebd.).
Sowohl Feuser als auch Eberwein äußern beide die Ansicht, dass sich ,,Behinderung als
neue Normalität" entwickeln kann (ebd.). Es sollte ,,für den Menschen so normal [sein],
behindert zu sein, wie es normal ist, nicht behindert zu sein" (ebd.).
Diese dritte Strategie des Transnormalismus wird durch diverse integrative
Einrichtungen langsam erarbeitet. Bis Behinderung in der Gesellschaft jedoch als etwas
Normales betrachtet und akzeptiert wird, bedarf es noch vieler Anstrengungen.
2.3 Integration
Der Begriff Integration leitet sich vom lateinischen Begriff integrare ab und bedeutet
,,heil, unversehrt machen (...); ergänzen (Der wissenschaftliche Rat der Dudenredaktion
zitiert nach Behr 2009, 17). Des Weiteren kann er vom Begriff integratio abgeleitet
werden; dies bedeutet ,,Wiederherstellung eines Ganzen" (ebd.).
Wird von Integration gesprochen, muss davon ausgegangen werden, dass es mindestens
zwei unterschiedliche Personen oder Gruppen gibt, die nicht ein Ganzes bilden und die
Einheit zwischen diesen Gruppen oder Personen soll (wieder-) hergestellt werden (vgl.
ebd.).
In den letzten Jahren hat sich im Bereich der Integration sehr viel verändert. Seit 1970
werden der Begriff Integration, die Zielgruppe und die spezielle integrative Arbeit
weiter ausgebaut (vgl. Lingenauber 2008, 106). Zielte damals der Begriff Integration
nur auf ,,lernbehinderte und verhaltensgestörte Kinder sowie auf die Gesamtschule", so
umfasst er heute ,,uneingeschränkt sämtliche Lebensbereiche" (ebd.).
Nach Kron und Papke ist der Aspekt der Integration nicht nur für Gruppen, bestehend
aus Kindern mit und ohne Behinderung, zu beachten, sondern auch in
heilpädagogischen Gruppen von großer Bedeutung (vgl. Kron/Papke 2006, 111).
Wichtig ist dabei, den integrativen Vorgang nicht zu erzwingen, sondern ihn als
,,selbstverständliches Miteinander-Umgehen" zu betrachten (ebd.).
Laut Behr ist Integration ein Verlauf der Entwicklung, der nicht als feststehend, sondern
als ,,veränderbar" und ,,fortlaufend" aufgefasst werden muss (Behr 2009, 18). Dies
betrifft nicht nur die Arbeit innerhalb einer Kindertageseinrichtung, sondern ist auch im
sozialen Umfeld ein wichtiger Bestandteil für die betroffenen Menschen (vgl. ebd.).
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Soziologisch gesehen wird hier von einem ,,Prozess bzw. ein[em] Vorhaben (...)
[gesprochen], durch den bzw. durch das bisher außenstehende Personen zugehörige
Glieder einer sozialen Gruppe werden sollen" (Speck zitiert nach Behr ebd.). Bei der
jeweiligen Integration muss jedoch darauf geachtet werden, dass sich die betroffene
Person oder Gruppe nicht nur der übrigen Gesellschaft anpasst, sondern dass beide
Seiten aufeinander zugehen und Kompromisse finden (vgl. ebd.). Dringende
Voraussetzung für dieses Vorhaben ist die ,,Bereitschaft" und das ,,Interesse" beider
Seiten, aufeinander zuzugehen (a.a.O., 22).
Ein Aspekt, der ganz besonders für Kinder in Kindertageseinrichtungen wichtig ist, ist
der, dass die einzelnen Kinder lernen müssen, dass es ,,normal ist, nicht ganz normal zu
sein, sondern in vielem verschieden und in vielem gleich zu sein" (Boban zitiert nach
Behr a.a.O., 26). Es sollte ihnen deutlich gemacht werden, dass alle Kinder durch ihr
Aussehen oder auch ihr Verhalten verschieden sind, aber trotzdem ähnliche Bedürfnisse
haben. Je früher sie dies verstehen und annehmen, desto leichter ist es, Kinder oder
Erwachsene mit anderen Bedürfnissen zu akzeptieren und mit ihnen in Kontakt zu
treten.
In Kindertageseinrichtungen wird auch dann von Integration gesprochen, wenn
behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam erzogen werden (vgl. Vollmer 2005,
220). Natürlich bezieht sich Integration in Kindertageseinrichtungen nicht nur auf
behinderte Kinder, sondern auch auf ,,ausländische, sozialbenachteiligte, große, kleine,
dicke, dünne, laute [und] leise" Kinder (Schöler/Fritzsche/Schastok 2005, 13).
Eltern von behinderten Kindern können Regeleinrichtungen in ihrem Umfeld
ansprechen und um die Aufnahme ihres behinderten Kindes bitten. Durch dieses
Vorgehen soll gewährleistet werden, dass das behinderte Kind nicht aus dem Stadtteil,
in dem es lebt, ausgegrenzt wird, sondern die Möglichkeit erhält, zusammen mit
anderen nichtbehinderten Kindern aus der Nachbarschaft zu spielen und aufzuwachsen
(vgl. Vollmer 2005, 220.). Integration in Kindertageseinrichtungen bedeutet eben nicht,
dass das behinderte Kind sich an die Gegebenheiten und die Umgebung anpassen muss,
sondern, ,,dass eben diese Umgebung Bedingungen schafft, die ein Miteinander von
Menschen mit und ohne Behinderung möglich mach[en]" (Schöler u.a. 2005, 13).
In Einrichtungen, die auf Grund eines oder mehrerer Kinder integrativ arbeiten
möchten, gibt es verschiedene Formen, die für die gemeinsame Erziehung von Kindern
mit und ohne Behinderung in Betracht kommen.
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Zum einen gibt es die Einzelintegration. Hierunter wird die Betreuung und Integration
von einzelnen Kindern mit Behinderung in einer Regelgruppe verstanden (vgl. Kron
2008, 34). Dem behinderten Kind wird die Möglichkeit gegeben, wie oben bereits
erwähnt, dass es den Kindergarten in unmittelbarer Nähe besuchen kann (vgl. a.a.O.,
35). Dieses Vorgehen sichert den ,,Verbleib in dem sozialen Umfeld des Kindes"; es ist
wahrscheinlicher, dass Freundschaften geschlossen werden (ebd.).
Eine andere Form der gemeinsamen Erziehung von behinderten und nichtbehinderten
Kindern in Kindertageseinrichtungen ist die der integrativen Gruppe. Es ist eine
Mischform zwischen Integrations- und Regelpädagogik. Der Kindergarten bietet sowohl
Regelgruppen an, aber eben auch eine integrative Gruppe, in der behinderte und
nichtbehinderte Kinder gemeinsam betreut werden (vgl. Papke 2008, 108). Auch hier ist
der Vorteil der direkten Wohnortnähe gegeben. Ferner kann von der Akzeptanz der
Eltern ausgegangen werden, die ihr nichtbehindertes Kind in einer integrativen Gruppe
angemeldet haben.
Eine dritte Form der Betreuung ist die integrative Kindertageseinrichtung. In diesen
Einrichtungen findet ausschließlich Integration statt. Entweder bieten diese
Einrichtungen ausschließlich integrative Gruppen an, oder sie eröffnen eine
Sondergruppe und eine Regelgruppe ,,unter einem Dach" und gestalten Praxisangebote
für beide Gruppen zusammen (ebd.).
2.4 Inklusion
Seit den 90er Jahren gibt es in Deutschland den neuen Begriff der Inklusion, der einen
neuen Leitgedanken der gemeinsamen Erziehung widerspiegelt (vgl. Behr 2009, 23).
Inklusion leitet sich vom lateinischen Begriff inclusio ab und bedeutet ,,Einschließung,
Einschluss [oder] Enthaltensein in etwas" (Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion
zitiert nach Behr 2009, 25). Nach Feuser stellt Inklusion einen ,,Zustand einer Ganzheit"
dar, der erst durch integrative Arbeit hergestellt werden kann (Feuser 2008, 98).
Inklusion ist im Bereich der ,,gemeinsame[n] Erziehung, Bildung und Unterrichtung
von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung bzw. sonderpädagogische[m]
Förderbedarf" erschienen und sehr wichtig geworden (a.a.O., 96).
Da in der Gesellschaft Uneinigkeit darüber herrscht, was Inklusion genau bewirken soll
und worin der Unterschied zur Integration besteht, hat Hinz zum besseren Verständnis
der integrativen und inklusiven Praxis eine Gegenüberstellung entworfen:
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Praxis der Integration
Praxis der Inklusion
- Eingliederung bei Förderbedarf
- schädigungsbezogenes System
- Zwei-Gruppen-Theorie
- individuumszentrierter Ansatz
- institutionelle Ebene
- Ressourcen für Etikettierung
- individuelle Curricula für einzelne
- spezielle Förderung für Behinderte
- heil- und sonderpädagogische
Unterstützung für Kinder
- gemeinsames Leben/ Lernen für alle
- umfassendes System für alle
- Theorie der heterogenen Gruppe
- systemischer Ansatz
- auch emotionale, soziale ... Ebene
- Ressourcen für Systeme
- individuelle Curricula für alle
- gemeinsames/ individuelles Lernen
- heil- und sonderpädagogische
Unterstützung für Systeme
Abb. 4: Vergleich der Praxis von Integration und Inklusion
Quelle: Behr 2009, 25
Dies verdeutlicht, dass Inklusion noch einen Schritt weiter geht als die bisherige
Integration; sie vertieft sozusagen den integrativen Prozess. ,,Inklusion bedeutet somit
die selbstverständliche Teilhabe an allen Lebensbereichen und zielt auf Autonomie und
Selbstbestimmung von Menschen mit besonderen Bedürfnissen ab" (ebd.).
Auch Vollmer versteht Inklusion als Konzept, welches ,,über Integrationsbestrebungen
hinaus" arbeitet (Vollmer 2005, 220). Jeder Mensch wird als Individuum angesehen,
welches verschiedene Bedürfnisse hat (vgl. ebd.).
Sander fügt hinzu, dass der Versuch, den Integrationsbegriff durch den
Inklusionsbegriff zu ersetzen und damit Inklusion als Form ,,optimierter und erweiterter
Integration" anzusehen, bislang nicht bewältigt wurde (Sander zitiert nach Feuser 2008,
97).
Für integrative Kindertageseinrichtungen bedeutet dies, dass sie ,,offen sind für wirklich
alle behinderten und nichtbehinderten oder auffälligen Kinder" und jedem Kind die
Hilfe und Unterstützung angeboten wird, die es benötigt (Vollmer 2005, 220).
Dies bestätigt auch Booth, der der Meinung ist, dass Inklusion die ,,soziale Teilhabe"
von Kindern in Kindertageseinrichtungen und allen anderen Menschen, die in
Bildungseinrichtungen involviert sind, erhöhen und die Ausgrenzung verringern soll
(Booth 2009, 41). Des Weiteren muss das Konzept der Inklusion als ein Prozess
betrachtet werden, der niemals endet und mit dem sich ständig neu auseinander gesetzt
werden muss (vgl. ebd.). Damit Inklusion von Menschen mit Behinderung funktionieren
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kann, müssen die betroffenen Menschen als ein Teil unserer Gesellschaft angesehen
werden
- einer Gesellschaft, die sich dadurch auszeichnet, vielfältig und verschieden zu
sein (vgl. a.a.O., 42). Um diese Akzeptanz zu erreichen, ist es nötig, dass nicht nur die
Unterschiede der Menschen gesehen, sondern auch ihre ,,Gleichheit" erkannt wird
(a.a.O., 44). Nach Booth muss verdeutlicht werden, ,,dass jedes Leben und jeder Tod als
gleichwertig angesehen" werden soll (ebd.).
3. Die gemeinsame Erziehung von behinderten und nichtbehinderten
Kindern in Kindertageseinrichtungen
Immer mehr Kindertageseinrichtungen in Deutschland geben behinderten Kindern die
Möglichkeit, in Regeleinrichtungen zu spielen, zu lernen und sich zu entwickeln. 1994
gab es in Deutschland nur 4.869 integrativ arbeitende Einrichtungen. Bis zum Jahre
2007 hat sich das Angebot dieser Einrichtungen fast verdreifacht. So gab es 2007 in
Deutschland 13.414 Einrichtungen, die es behinderten und nichtbehinderten Kindern
ermöglichten, gemeinsam aufzuwachsen und von- und miteinander zu lernen (vgl.
Schilling 2008, 174).
Doch was muss eine Kindertageseinrichtung vorweisen, um integrative Arbeit leisten zu
dürfen, d.h. welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein?
Im folgenden Kapitel werde ich auf die wichtigsten Rahmenbedingungen eingehen und
sie erläutern. Des Weiteren wird die inklusive Qualität aus der Sicht der Kinder genauer
betrachtet.
3.1 Rahmenbedingungen für die erfolgreiche Integration
Entscheidet sich eine Kindertageseinrichtung dazu, integrativ arbeiten zu wollen,
müssen verschiedene Aspekte beachtet werden. Geklärt werden muss, ob die
räumlichen Gegebenheiten angepasst werden müssen. Die jeweiligen Rollen der
Erzieher/-innen, Kinder und Eltern müssen betrachtet werden. Es ist zu entscheiden,
inwieweit Therapieangebote in den Alltag eingegliedert werden können und nicht
zuletzt bleibt die Klärung der Finanzierung all dieser Rahmenbedingungen.
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Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2010
- ISBN (eBook)
- 9783958209411
- ISBN (Paperback)
- 9783958204416
- Dateigröße
- 359 KB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Hochschule Fulda
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Oktober)
- Note
- 1
- Schlagworte
- integrative kindertageseinrichtungen gemeinsame erziehung kindern