"Manipulative" Fotografie: Eine Betrachtung am Beispiel von Andreas Gursky
©2008
Bachelorarbeit
41 Seiten
Zusammenfassung
Ziel dieser Arbeit ist es, die digital manipulierte Fotografie bei Andreas Gursky als künstlerisches Ausdrucksmittel im Hinblick auf ihre gestalterische Bildwirkung zu betrachten. Da Gursky die digitalen Bearbeitungsmöglichkeiten seit 1991 nutzt, beschränkt sich die Betrachtung auf wenige ausgewählte, seit diesem Zeitpunkt realisierte Werke. Anhand von Eigenaussagen des Fotografen wird dabei auch der künstlerische und gestalterische Arbeitsprozess der Bildfindung berücksichtigt, über den sich die manipulativen Veränderungen und Neuinterpretationen von Realität zeigen.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
2
sich einer weiterführenden Betrachtung auch unter ontologischen Gesichtspunkten unter-
ziehen. Denn die manipulativen Veränderungen innerhalb eines Bildes sind aufgrund der
ausgefeilten digitalen Bearbeitung für den ungeübten Betrachter eher latent und ohne
Kenntnis der Originalansichten kaum ersichtlich, werden erst über einen direkten visuellen
Vergleich mit den Originalaufnahmen augenscheinlich.
Hierbei kann auf den aktuellen Ausstellungskatalog
2
rekurriert werden, welcher sich zwar
ausschließlich mit den Architektursujets des Fotografen beschäftigt, jedoch diesbezüglich
auch vereinzelt deren konstruierende Aufnahmeprozesse einbezieht, allerdings vertiefende
Betrachtungen zu digitalen Veränderungstechniken ausspart.
Weitere Betrachtungen stützen sich einerseits auf wissenschaftliche Veröffentlichungen,
wie die anlässlich realisierter Ausstellungen publizierten Kataloge
3
, sowie Artikel kunst-
historischer Fachzeitschriften
4
. Andererseits werden aber auch Veröffentlichungen aus
Tageszeitungen oder Wochenzeitschriften
5
mit weniger wissenschaftlichem, sondern viel-
mehr journalistischem Anspruch herangezogen, da vorwiegend hier die Positionen des
Künstlers zu seinem Werk und seiner Arbeitsweise vorzufinden waren.
Zwar widmen sich die wissenschaftlichen Publikationen, u.a. auch bezugnehmend auf die
Malerei, umfangreich den fotografischen Sujets und deren kunsthistorischer Interpretation,
vernachlässigen dabei jedoch die technische Umsetzung, also den hybriden bzw. mittler-
weile auch rein digitalen Herstellungs- und Bearbeitungsprozess, was im Hinblick auf die
sich angesichts der digitalen Aufnahme- und Bearbeitungsmöglichkeiten verändernde On-
tologie der Fotografie von wachsendem Interesse wäre.
Da nicht alle Werkbetrachtungen am ausgestellten Original erfolgen können, müssen diese
anhand der reproduzierten Katalogabbildungen vorgenommen werden, wobei hier in An-
betracht der starken Verkleinerung der ursprünglich monumentalen Originalgröße
6
die
detaillierte Betrachtung eingeschränkt bleibt. Auf eine umfassende Reflexion aller kunst-
historischen Aspekte des Oeuvres muss jedoch innerhalb dieses begrenzten Rahmens ver-
zichtet werden, ebenso müssen umfangreichere Ausführungen und Darstellungen zu den
2
BEIL, Ralf u.a. (Hrsg.):
Andreas Gursky. ArchiTektur. Ostfildern-Ruit 2008.
3
BÜRGI MENDES, Bernhard (Hrsg.): Andreas Gursky. Ostfildern-Ruit 2007 oder WESKI, Thomas (Hrsg.):
Andreas Gursky. Köln 2007 oder GALASSI, Peter (Hrsg.): Andreas Gursky. Ostfildern-Ruit 2001.
4
Wie u.a. das Kunstforum International, Das Kunst-Bulletin, Art. Das Kunstmagazin, Fotogeschichte.
5
Wie u.a. die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Focus, Der Stern und Der
Spiegel.
6
Gurskys Werke erreichen mittlerweile Maße von bis zu 300 x 600 cm.
3
dokumentarischen, künstlerischen und auch ontologischen Aspekten der Fotografie und
ihrer theoretischen Diskurse unberücksichtigt bleiben.
4
2
Das Medium Fotografie
2.1
Authentizitätsanspruch
Als ,,pencil of nature", Zeichenstift der Natur, bei dem sich das vom Objekt reflektierte
Licht ohne menschliche Beeinflussung auf dem fotografischen, lichtempfindlichen Auf-
nahmematerial verewigt und ein wirklichkeitsgetreues Abbild, sozusagen einen Spiegel der
Natur liefert, ist der Fotografie aufgrund ihrer apparativen Herstellung ein Authentizitäts-
charakter impliziert. Jener, scheinbar von subjektiver Einflussnahme befreite, technische
Prozess bewirkt beim Betrachter eine Glaubwürdigkeit, die auf einem indexikalischen
Verweis auf den Referenten
7
, also einer kausalen Beziehung zum fotografierten Objekt
beruht, denn nur das physisch Präsente kann eine Lichtspur auf dem fotografischen Auf-
nahmematerial hinterlassen. Der damit verbundene Authentizitätsanspruch der Fotografie
ist in einigen ihrer funktional variierenden Aufgabenbereiche
8
von existenzieller Bedeu-
tung. Dieser sich als kulturelle Konvention etablierte Vertrauensvorschuss gegenüber der
Fotografie wird einerseits beim Rezipienten zur Informationsvermittlung vorausgesetzt,
andererseits dient er aber auch zur Manipulation der Wahrnehmung.
9
Indem die Fotografie mit ihrem Raum- und Zeitausschnitt der Wirklichkeit in Wahrneh-
mungsbereiche vordrang, die dem menschlichen Auge aufgrund seiner Trägheit oder sei-
nes fehlenden Auflösungsvermögens
10
verschlossen blieben, das ,,Optisch-Unbewusste"
11
sichtbar machte, eröffnete sie eine neue Seherfahrung und Sichtweise der Wirklichkeit und
veränderte damit die kollektiven Sehgewohnheiten. Gleichzeitig suggeriert sie aber auch
mit ihrer zweidimensionalen Abbildung die Illusion einer Dreidimensionalität und kann
ebenso beispielsweise durch perspektivische Verfremdung oder Verzerrung des Raumes
die visuelle Wahrnehmung irritieren. Weil die optischen Eindrücke kognitiv über Assozia-
tionen und Erfahrungen verarbeitet und interpretiert werden, weichen visueller Eindruck
7
Vgl. DUBOIS, Philippe: Der
fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv. Amsterdam u.a.
1998, S.49ff.
8
Dazu zählen neben den reproduzierenden und wissenschaftlichen Aufgabenreichen der Fotografie, vor
allem die Bereiche der Beweis führenden Polizeifotografie und der dokumentarischen Pressefotografie.
Wobei unter differenzierter Betrachtung die absolute Integrität bei Letztgenannter aufgrund technischer
Möglichkeiten und spezifischer verlegerischer Interessen bereits in Frage gestellt ist.
9
Hier lässt sich u.a. auf die ästhetisierende und idealisierende Werbefotografie verweisen.
10
Hier waren u.a. die Bewegungsstudien ab 1870 von E.J.Muybridge und E.J.Marey besonders
aufschlussreich. Vgl. FRIZOT, Michel (Hrsg.): Neue Geschichte der Fotografie. Köln 1998, S.243ff,
S.273ff.
11
SCHÖTTKER, Detlev (Hrsg.): Walter Benjamin. Medienästhetische Schriften. Frankfurt am Main 2002.
S.303.
5
des menschlichen Auges und fotografisches Bild der Kamera voneinander ab. Das daraus
resultierende Paradoxon ,,[d]ie Fotografie sieht mehr und sieht weniger als das Auge"
12
lässt sich jedoch hier innerhalb des begrenzten Rahmens nicht erörtern. Daher kann die
Fotografie zum einen aufgrund des vom Fotografen selektierten Raum- und Zeitausschnit-
tes und zum anderen aufgrund einer sich über die Generationen verändernden individuellen
und kollektiven Sehwahrnehmung
13
und damit auch gesellschaftlichen Interpretation kein
tatsächliches Abbild der Wirklichkeit liefern.
2.2
Künstlerische Fotografie
Obwohl die Fotografie aufgrund ihrer apparativen Herstellung und ihrer damit scheinbar
grenzenlosen Reproduzierbarkeit dem Kunstwerkcharakter in seiner Einmaligkeit wider-
spricht
14
, hat sie jenen anerkannten Status trotz eines technisch implizierten Vervielfälti-
gungscharakters und eines vermeintlichen Mangels an gestalterischer Einflussnahme spä-
testens seit ihrer musealen Präsentation erlangt.
Entgegen ihres dokumentarischen und wirklichkeitsabbildenden Gebrauchs, wurde sich der
Fotografie bereits seit ihren Anfängen auch als eines künstlerischen Mediums bedient. Zu-
nächst noch als Hilfsmittel für die Malerei genutzt und empfohlen, unterlag das neue Me-
dium ebenso seit Anbeginn ästhetischen Ansprüchen. So strebte man danach, die fotografi-
sche Apparatur einschließlich des Bildherstellungsprozesses nicht nur handwerklich zu
beherrschen, sondern auch deren Lichtbildergebnisse nach künstlerischen Vorstellungen
zielgerichtet gestaltend zu beeinflussen. Als besonders künstlerisch galt in ihren Anfängen
hierbei, im Gegensatz zu der besonders von der Wissenschaft geschätzten scharfen und
detailreichen Abbildung, das gezielte Ausschalten unerwünschter und störender Details
durch selektive Unschärfe
15
, wobei man sich an den kompositorischen Bildwirkungen der
Malerei orientierte und zunächst, aufgrund noch mangelnder eigener künstlerischer Aus-
drucksformen, deren Sujets nachahmte.
16
12
STIEGLER, Bernd: Die Geschichte unseres Auges die Gegenwart der Fotografie in der Fotografie der
Gegenwart. In: Fotogeschichte, 23 (2003) 88, S. 19.
13
Vgl. Tiedemann, Rolf und Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.): Walter Benjamin. Gesammelte Schriften.
Frankfurt am Main 1974, S. 478.
14
Vgl. Ebd., S. 475ff.
15
Warstat, Willi: Die künstlerische Photographie. Ihre Entwicklung, ihre Probleme, ihre Bedeutung. Leipzig
u.a. 1913, S.35ff.
16
BRAUCHITSCH, Boris v. : Kleine Geschichte der Fotografie. Reclam 2002, S. 76ff..
6
Doch erzielten Fotografen wie vor allem Nadar oder David Octavius Hill in der zur Male-
rei konkurrierenden Gattung Porträt durch ihren individuellen Stil eine künstlerische Wir-
kung, die Walter Benjamin aufgrund ihres ,,auratischen Charakters" als Blütezeit der Foto-
grafie bezeichnete
17
. Ebenso konkurrierend zur Malerei, aber auch um sich von der kom-
merziellen Berufsfotografie abzugrenzen, setzten die Piktorialisten neue Edeldrucktechni-
ken, wie Gummi- , Öl- oder Platindrucke ein, um eine Bildwirkung mit pittoresken Effek-
ten zu erreichen
18
und wandten sich dabei den Bildinhalten und ihrer subjektiven Gestal-
tung zu. Der manuelle Eingriff in den Bildherstellungsprozess, durch den selten wieder-
holbare Ergebnisse entstanden, stützte gleichzeitig den Unikatcharakter der einzelnen Fo-
tografie und somit ihren Kunstwerkcharakter.
Eigene künstlerische Ausdrucksformen fand in den 1920ern die fotografische Avantgarde,
indem sie sich durch das propagierte ,,Neue Sehen" des Mediums Fotografie und seiner
technischen Möglichkeiten auf neue Sichtweise bediente. Hierbei wurden neben starken
Lichtkontrasten ungewohnte Blickwinkel für die Aufnahmen verwendet, wobei Perspekti-
ven aus starker Auf-, Unter- oder Schrägsicht unter bewusster Nutzung optischer Verzer-
rungen wie stürzender Linien als gestalterische Stilmittel
19
galten und dabei die visuelle
Wahrnehmung veränderten. Ebenso entwickelte sich neben der Fotomontage, welche u.a.
durch Kombination von Schrift und Bild das Medium Fotografie als Kommunikationsmit-
tel nutzte, das Fotogramm, welches als kameralose Fotografie abstrakte, surrealistische
Formen entfaltete. Dabei gewann besonders die gestalterische Einflussnahme in den foto-
grafischen Entwicklungsprozess an Bedeutung, die grafische Wirkungen über Mehrfachbe-
lichtungen oder partielle Tonwertumkehrungen durch Solarisation erzielten
20
. Diese Expe-
rimente betonten die subjektive fotografische Sicht und verfremdeten die Wirklichkeit als
künstlerisches Ausdrucksmittel, um eine veränderte visuelle Wahrnehmung zu erreichen.
Von der objektiven Wiedergabe der Wirklichkeit distanzierte sich auch die ,,Subjektive
Fotografie"
21
, indem sie ebenso übersteigerte Perspektivansichten als Gestaltungsmittel
nutzte und den Bildgegenstand zum kompositorischen Formelement abstrahierte. Der per-
17
SCHÖTTKER, Detlev (Hrsg.): Walter Benjamin. Medienästhetische Schriften. Frankfurt am Main, S.
302ff.
18
Vgl. FRIZOT, Michel (Hrsg.): Neue Geschichte der Fotografie. Köln 1998, S.293ff.
19
Vgl. Ebd., S.457ff.
20
Vgl. Ebd., S.442ff.
21
Vgl. STEINERT, Otto: Über die Gestaltungsmöglichkeiten der Fotografie. In: KEMP, Wolfgang (Hrsg.):
Theorie der Fotografie III. 1945- 1980. München 1983, S.84f.
7
sönlichen Sicht des Fotografen und seinen gestalterischen Fähigkeiten galt besonderes Au-
genmerk.
Mit sich verändernden und entwickelnden technischen Möglichkeiten erweitern sich auch
die künstlerischen Ausdrucksformen. Ebenso wie sich im Wandel des gesellschaftlichen
Kontextes der Kunstbegriff ändert und erweitert, wechseln auch die Positionen, ob oder
inwieweit unter Zuhilfenahme welcher gestalterischen Mittel sich die künstlerische von der
Berufs- oder Gebrauchsfotografie abgrenzen muss oder lässt.
Jedoch muss sich die Fotografie mit künstlerischer Absicht mittlerweile nicht mehr aus-
schließlich vom Dokumentarischen distanzieren und der Abstrahierung der Wirklichkeit
zuwenden, um einen Kunststatus zu ereichen, da diese Legitimierung bereits durch den
,,Akt der Musealisierung"
22
, das Ausstellen im künstlerischen Kontext erfolgt.
22
GROY, Boris: Das Versprechen der Fotografie. In: SABAU, Luminita (Hrsg.): Das Versprechen der Fo-
tografie. Die Sammlung der DG Bank, München u.a.1998, S.29.
8
3
Manipulation
3.1
Intention
Infolge ihrer apparativen Herstellung und gleichzeitig bedingten technischen Determiniert-
heit tritt auch angesichts einer abweichenden Wahrnehmung von Kamera und Auge
23
das
Bedürfnis zutage, sich sowohl des technischen Diktats zu entledigen als auch die techni-
schen Möglichkeiten gezielt zu nutzen, um entsprechend der visuellen Erfahrung die Wirk-
lichkeit darzustellen oder die Bildergebnisse nach subjektiven Vorstellungen bewusst zu
beeinflussen. Je nach Funktionsbereich oder fotografischer Gattung können die Ziele zwi-
schen ästhetisierender, idealisierender oder einer den Bildinhalt verändernden Absicht vari-
ieren und dabei die Grenzen zwischen einer Optimierung des Bildergebnisses, Verstärkung
der Bildaussage über eine gestalterische Einflussnahme bis hin zur Täuschung des Bildbet-
rachters fließend verlaufen.
Während in der Porträtfotografie meist eine idealisierende Darstellung des Porträtierten
beabsichtigt ist, um seine Persönlichkeit optimierend und frei von vermeintlichen Makeln
abzubilden, werden in der Werbefotografie Bildinhalte ästhetisiert, um aus kommerziellen
Gründen und aufgrund tradierter Rezeptionserwartung die Attraktivität des Produktes zu
intensivieren. Dabei kann innerhalb dieses Kontextes beim Betrachter eine bedingte Ak-
zeptanz vorausgesetzt werden.
Dient die Fotografie nicht nur als illustratives Kommunikationsmittel, sondern vorrangig
als Informationsträger, wie im Printmedienbereich, kann die Bildaussage hinsichtlich des
beabsichtigten Informationsgehaltes zielgerichtet verändert und dem Leser somit ein ver-
fälschter Wirklichkeitseindruck suggeriert werden. Begleittexte, welche die vermeintliche
Bildaussage unterstützen sollen, wandeln durch ihre fehlerhafte Zuweisung zum Foto des-
sen Kontext und bewirken auf diese Weise eine veränderte Bildaussage.
24
Doch obwohl
die Bildmanipulation der Dokumentarfotografie und ihrem fotografischen Berufsethos wi-
derstrebt und diesbezüglich die Aussage verstärkende Fotomontagen auf freiwilliger Basis
als solche kenntlich gemacht werden
25
, können latent politisch motivierte Bildretuschen
26
23
RÖTZER, Florian: Betrifft Fotografie. In: AMELUNXEN von, Hubertus (Hrsg.): Fotografie nach der
Fotografie, München 1996, S.16f.
24
FREUND, Gisèle: Photographie und Gesellschaft. Hamburg 1989, S.193f.
9
und ungekennzeichnete Fotomontagen als solche vom Betrachter nicht automatisch identi-
fiziert werden.
Mit fortschreitender digitaler Bearbeitungsmöglichkeit gestaltet sich diese Einflussnahme
subtiler und unsichtbarer, wobei auch der dubiative
27
Charakter der Fotografie stärker ins
Bewusstsein des Betrachters tritt und die ursprünglich implizierte Glaubwürdigkeit sinkt.
Unaufhörlich wird dabei die Medienkompetenz des Betrachters herausgefordert, der In-
formationsgehalten je nach ihrer kontextuellen Einbettung infolge gesellschaftlicher Kon-
ventionen und individueller medialer Erfahrungen entsprechend vertraut oder skeptisch
gegenüber steht.
Im Gegensatz dazu ist die künstlerische Fotografie nicht an einen authentischen Charakter
gebunden. Der Künstler kann sich schöpferisch, gottähnlich
28
, über die Natur erheben und
sie nach eigenen Vorstellungen verfremden, vervollkommnen, inszenieren oder neu kon-
struieren. Illusion und Täuschung werden dabei als künstlerisches Ausdrucksmittel zur
Erschaffung von Bildwelten vom Betrachter toleriert.
3.2
Möglichkeiten der Beeinflussung
Auch in Anbetracht unterschiedlicher Intentionen, den fotografischen Prozess und seine
Ergebnisse hinsichtlich der Bildwirkung zu beeinflussen, ist dies durch Kenntnis des tech-
nischen und chemischen Herstellungsprozesses bereits seit Anbeginn der Fotografie und
nicht erst seit Anbruch des digitalen Zeitalters möglich. Jedoch scheinen die Möglichkeiten
mit zunehmender technischer Entwicklung zu wachsen, wobei sich dabei auch zunehmend
die ontologische Frage stellt, ob oder inwieweit sich mit der Digitalisierung der Fotogra-
fie
29
ihr Wesen und ihr authentischer Charakter verändern.
25
ROSLER, Martha: Bildsimulationen, Computermanipulation. In: AMELUNXEN von, Hubertus (Hrsg.):
Fotografie nach der Fotografie, München: 1996, S.16f.
26
JAUBERT, Alain: Fotos, die lügen. Politik mit gefälschten Bildern. Frankfurt am Main.1989, S.32 f.,
S.122 f., S.137 f.
27
LUNENFELD, Peter: Digitale Fotografie. Das dubiative Bild. In: WOLF, Herta (Hrsg.): Paradigma Foto-
grafie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Bd.I. Frankfurt am Main 2002, S.171.
28
BRAUCHITSCH, Boris v.: Kleine Geschichte der Fotografie. Stuttgart 2002, S. 252 ff.
29
STIEGLER, Bernd: Die Geschichte unseres Auges die Gegenwart der Fotografie in der Fotografie der
Gegenwart. In: Fotogeschichte, 23 (2003) 88, S. 17.
10
Die scheinbare Objektivität der Kamera kann während des gesamten Herstellungsprozesses
der Handschrift und Absicht des Fotografen unterliegen. Abgesehen von einer Inszenie-
rung der zu fotografierenden Objekte, lässt sich sowohl während der Aufnahme als auch
im anschließenden Entwicklungsprozess von Negativ und Positiv oder über die digitale
Bildbearbeitung eine Beeinflussung vornehmen.
Während sich die Aufnahmebedingungen für Kamera und Optik nicht verändern, unter-
scheiden sich herkömmliche und digitale Fotografie im Aufnahmeprozess hinsichtlich des
Aufnahmematerials, seinen spezifischen Anforderungen und seiner Informationsdichte
voneinander. Wohingegen der chemische Prozess bei der anschließenden Herstellung des
Negativs als Zwischenprodukt zwar durch den digitalen Bearbeitungsprozess ersetzt wird,
jedoch chemische Verfahren selbst bei der Bildherstellung von digitalen Dateien weiterhin
Anwendung finden.
30
Da die Fotografie nur einen räumlichen und zeitlichen Ausschnitt, ein Segment der Wirk-
lichkeit darstellt, kann bereits die Aufnahme mit der Wahl des Wirklichkeits-ausschnitts,
der durch Kadrierung und zeitliche Fixierung begrenzt ist, als eine selektive Beeinflussung
betrachtet werden.
Das Kameraformat entscheidet mit seiner Größe über Flexibilität oder Präzision und tech-
nische Genauigkeit der Aufnahme, vom entsprechenden Aufnahmematerial hängt dabei
dessen Vergrößerungsfähigkeit und die weitere Verarbeitungsmöglichkeit ab.
Der Bildwinkel und damit auch gegebenenfalls eine zum Augeneindruck differenzierte
Wahrnehmung der Objektstaffelung im Raum, lässt sich durch die Objektivwahl mit ent-
sprechender Brennweite beeinflussen. Wobei eine Normalbrennweite der allgemeinen
Sehempfindung entspricht, während längere Brennweiten mit ihrem kleineren Bildwinkel
eine Raffung des Raumes erzielen, im Gegensatz dazu kürzere Brennweiten mit ihrem
größeren Bildwinkel optisch eine räumliche Erweiterung bis hin zur Verzerrung erreichen.
Hierdurch kann dem Betrachter bereits eine veränderte räumliche Wahrnehmung von Nähe
und Distanz suggeriert werden. Bei gleichbleibendem Aufnahmestandpunkt verändert sich
jedoch die Perspektive durch unterschiedliche Brennweiten nicht. Mit der Wahl des Auf-
nahmestandpunkts, der sich in Abweichung über oder unter der allgemeinen Betrachtungs-
horizontalen befinden kann, lässt sich die Perspektive außerhalb der allgemeinen Seherfah-
rung verändern. Während aus der Vogelperspektive Objekte wesentlich kleiner erscheinen
30
EBNER, Florian u.a.: Glossar. C-Print. In: SEELIG, Thomas u.a. (Hrsg.): Photo
Art. Fotografie im 21.
Jahrhundert. Köln 2007, S. 491.
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2008
- ISBN (eBook)
- 9783958209602
- ISBN (Paperback)
- 9783958204607
- Dateigröße
- 358 KB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Philipps-Universität Marburg
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Oktober)
- Schlagworte
- manipulative fotografie eine betrachtung beispiel andreas gursky