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Die Arbeitswelt von Robert Walsers Angestellten in der Anthologie „Im Bureau“: Literarische Darstellung der Angestelltenwelt Anfang des 20. Jahrhunderts

©2015 Bachelorarbeit 49 Seiten

Zusammenfassung

Die vorliegende literaturwissenschaftliche Studie behandelt kleinepische Texte Martin Walsers zwischen 1902-1932, in denen der Berufsalltag von Angestellten im frühen 20. Jahrhundert dargestellt wird. Im Fokus der Analyse steht das Verhalten der Figuren in Bezug auf Hierarchien und Mitarbeiter sowie die innere Haltung zum Beruf. Davon ausgehend werden Parallelen zwischen Walsers fiktiven Figuren und Aussagen der deutschen soziologischen Studie „Die Angestellten“ (1929) von Siegfried Kracauer gezogen, um zu prüfen, inwieweit Walsers fiktive literarische Studien die reale Welt der Büroangestellten widerspiegeln. Bei der Arbeit handelt es sich um eine erfolgreich bestandene Abschlussarbeit eines Fern- und Online-Studiums der Dalarna University in Falun, Schweden, im Fachbereich „Tyska“.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


8
tierte seine Ergebnisse in einer Studie, die zwar ohne der heutigen Systematik und Methodo-
logie entstanden ist, jedoch zu ihrer Zeit als ,,einer Leistung 'von hervorragendem wissen-
schaftlichen Wert'"
2
galt.
Ich hoffe dadurch, das Bewusstsein für das Genre ,,Büroromane" zu schärfen und neue, anre-
gende Erkenntnisse über Walsers literarische Darstellungen der Angestelltenwelt gewinnen zu
können.
1.1. DER AUTOR UND DAS WERK
Robert Walser wurde am 15. April 1878 in Biel, Kanton Bern, als siebtes von acht Kindern
eines gescheiterten Geschäftsmannes und einer mit der Zeit an Depression erkrankten Mutter
geboren
3
. Mit 14 Jahren, 1892, begann er eine Lehre als Bankangestellter bei der Kantonal-
bank Bern und arbeitete ab 1895 über mehrere Jahre als Commis
4,5
, Privatsekretär und Büro-
angestellter bei Banken und im Verlags- und Versicherungswesen in der Schweiz und in
Deutschland. Frühe Versuche Schauspieler zu werden missglückten
6
und stattdessen begann
er nebenberuflich sich der Schriftstellerei zu widmen
7
. 1898 fand die erste Veröffentlichung
einiger seiner Gedichte im Sonntagsblatt des Bund statt
8
, aber erst heute erntet er die ihm zu-
stehende Anerkennung für seine Arbeit und zählt gar als ,,Klassiker der Moderne"
9
. Walsers
Texte bestehen oft aus Passagen, wo Gedankengänge und Eindrücke aneinandergereiht wer-
den, ohne dass sich daraus immer eine Handlung ergibt, was die damalige Zeit und Leser
nicht zu verstehen schienen und deshalb wenig Beachtung schenkten. Laut Roger Scharpf war
Walser ,,am weitesten vom geographisch-gesellschaftlich sowie episch geschlossenen Raum
der typischen Schweizer-Erzählung des frühen 20. Jahrhunderts"
10
und daher zog er mit Bru-
der und Illustrator Karl für einige Jahre nach Berlin, um stattdessen dort ihr Glück zu versu-
chen, kehrte jedoch später in die Schweiz zurück. 1929 wird Robert Walser mit 51 Jahren in
die Heilanstalt Waldau (Bern) eingewiesen, nachdem er unter Depressionen und Angstzustän-
den litt. Vier Jahre später zog er nach Herisau zur Heil- und Pflegeanstalt seines Heimatkan-
tons Appenzell-Außerrhoden. Danach schrieb Walser nichts mehr und blieb in Herisau bis zu
seinem Lebensende 1956
11
.
2
Kracauer 1959, S. XI
3
Mächler 1992, S. 19 ff.
4
Commis, auch Kommis: Handlungsgehilfe (Duden Online 2015), Büroangestellter, kfm. Angestellter
5
Walser 2013, S. 127 ff.
6
Mächler 1992, S. 39 und S. 268.
7
Walser 2013, S. 127.
8
Mächler 1992, S. 268.
9
Scharpf, 1999, S. 281.
10
Scharpf 1999, S. 281 ff.
11
Mächler 1992, S. 273 ff.

9
Robert Walsers Erzählungen sind fiktiv, beinhalten aber häufig autobiographische Einflüsse.
So hat er z. B. seine Kindheit, seinen Vater und seine Geschwister in Werken wie Poetenle-
ben, Das Bild des Vaters, Die Brüder, Mein Berg und Geschwister Tanner literarisch verin-
nerlicht
12
. Auch seine berufliche Erfahrung diente zur Inspiration und findet sich in den Wer-
ken wieder, z. B. erscheinen mehrere Namen seiner fiktiven Angestellte-Figuren auf
Mitarbeiterlisten der Zürcher Kantonalbank 1904
13
, wo Walser zur gleichen Zeit selbst tätig
war
14
.
Die folgende Untersuchung fokussiert auf die von Sorg und Gisi posthum und thematisch
gebündelten Texte in der Kleinprosa-Sammlung Im Bureau (2011), die Robert Walser zwi-
schen 1897 und 1932 über das Berufsleben und den Büroalltag verfasste. Die Mehrzahl der
Texte erschienen zu Walsers Lebzeiten in Künstlerblättern, Zeitschriften und Zeitungen wie
Die Opale, Sonntagsblatt des Bund, Simplicissimus, Neue Zürcher Zeitung, Berliner Tageblatt
und Berliner Börsen-Courier. Andere wurden in Büchern oder Sammelbändern, z. T. mit Il-
lustrationen von seinem Bruder Karl Walser, publiziert, zwei der Manuskripte sind aus dem
Nachlass, die zum einen 1972 in Gesammelte Werke erschien (Die Verkäuferin) und zum an-
deren bisher gar unveröffentlicht blieb (Aus dem Leben eines Commis)
15
.
Walser lebte und schrieb die Prosatexte über das Büroleben in einer historisch gesehen sehr
intensiven Zeit; die Industrialisierung war im vollen Gange, der erste Weltkrieg fand statt und
in Deutschland wurde die Weimarer Republik gegründet, wo 1923 die Hyperinflation ihren
Höhepunkt erreichte. Auch in der Berufswelt ergaben sich Veränderungen; Frauen wurden
durch eigene Arbeit finanziell unabhängig, Arbeitsplätze und -prozesse wurden fast bis zum
Extremen rationalisiert und die Arbeitslosigkeit stieg Ende der 20er Jahre stetig.
1.2. EINGRENZUNG
DER
ARBEIT
Die Texte der Anthologie Im Bureau decken sämtliche der klassischen literarischen Gattun-
gen ab (Lyrik, Epik und Drama) in Form von Gedichten, einem Romanauszug, einer Vielzahl
Kleinprosastücke, einer Szene und einem Lebenslauf. Der Einheitlichkeit und somit der präzi-
seren Vergleichbarkeit halber konzentrieren sich die Recherchen in der Primärliteratur aus-
12
Mächler 1992, S. 20 ff.
13
Echte (1/1994), S. 50 ff.
14
Hamm 1980, S. 312.
15
Walser 2013, S. 143 ff.

10
schließlich auf die Kleinepik, weshalb der Auszug des Romans, der Lebenslauf und die Gat-
tungen Lyrik und Drama bewusst bei der Untersuchung ausgelassen werden.
Bei der Untersuchung entstanden im Laufe der Zeit aufgrund der quantitativen Menge der
Kurzportraits und ihren thematischen Vielfalt eine immer größer werdende Zahl von Untersu-
chungsgegenständen, die alle es inhaltlich verdienten, näher und tiefer beleuchtet zu werden.
Es wurde deshalb zunehmend notwendig, eine Balance zu finden zwischen Aufgabenstellung,
den erwartenden Umfang der Arbeit, den vorgegebenen Zeitrahmen, die zur Verfügung ste-
henden zeitlichen Möglichkeiten und den Wunsch, eine aufschlussreiche und ergebnisvolle
Untersuchung fristgerecht abzugeben. Eine Recherche in dem Umfang, die die Materie von
sich aus geboten hat, hätte den Rahmen dieser Arbeit gesprengt, jedoch wurde darauf geach-
tet, die für das Ergebnis relevanten Kernthemen zu beleuchten, um stimmige Schlussfolge-
rungen sicherzustellen.
1.3. ZIEL DER UNTERSUCHUNG UND BEGRÜNDUNG
Das letzte Jahrhundert brachte durch technische Entwicklungen viele Veränderungen für Bü-
ro-Angestellte mit sich, sowohl am Arbeitsplatz als auch in Arbeitsprozessen. Schreibmaschi-
nen wurden antiquiert, Handys und Emails maximierten die Kommunikationsgeschwindigkeit
und das Internet platzierte augenblicklich die Welt in das eigene Büro. Umso erstaunlicher
fand ich es, dass jemand aus diesem progressiven und hochleistungsfähigen Büroalltag des
21. Jahrhunderts, sich in den zeitlich überholten Erzählungen von Walser so schnell wieder-
finden konnte.
Auf der Suche nach einer Konstante, die das Gestern und das Heute unmittelbar miteinander
verbindet, erkannte ich nur ein gemeinsames Element; den Menschen. Das Ziel meiner Arbeit
besteht deshalb darin, die fiktiven Angestellte-Figuren von Walser genauer zu studieren; ins-
besondere ihr Verhalten zu Vorgesetzten und Kollegen und ihre Einstellung zum eigenen Be-
ruf. Dadurch möchte ich die Menschen in Walsers Arbeitswelt näher kennenlernen und zu-
gleich prüfen, ob die reale Angestelltenwelt in Kracauers soziologischer Studie Die
Angestellten sich in den Texten Walsers niederschlägt und somit die damalige gesellschaftli-
che Realität widerspiegelt.

11
1.4. METHODE
In einer textimmanenten Studie wird Walsers Kurzgeschichten in Im Bureau individuell be-
trachtet und darauf geprüft, wie der Angestellte als Figur und Typus von Walser literarisch
dargestellt und vermittelt wird. Dabei wird insbesondere auf folgende drei Kriterien geachtet:
· Das vertikale Verhältnis, d. h. ihre Interaktion mit höheren Hierarchiestufen
· Das horizontale Verhältnis, d. h. ihre Interaktion mit Kollegen
· Das interne Verhältnis, d. h. ihre Haltung zu sich selbst und zu der eigenen Berufsrolle
Aufgrund der Einbeziehung von Siegfried Kracauers soziologischer Studie Die Angestellten
(1929) wird im Hauptteil zudem laufend untersucht, inwieweit Walsers Figuren in ihrer fikti-
ven Welt einen realen Bezug zum wirklichen Angestelltendasein haben.
1.5. GLIEDERUNG
DER
ARBEIT
Die Arbeit ist in drei Abschnitte unterteilt. Auf die eben erfolgte Einleitung mit Hintergrund-
informationen zu dem untersuchten Werk und dessen Autor, folgt nun im Hauptteil die Büro-
Erzählungen von Robert Walser, die zusammengefasst dargestellt und auf die im ersten Teil
angegebenen und zu prüfenden Kriterien analysiert werden. Die Reihenfolge der Texte bleibt
mit der Kurzprosa-Sammlung Im Bureau identisch und somit chronologisch. In der abschlie-
ßenden Auswertung und Schlussteil werden herauskristallisierte Erkenntnisse und Ergebnisse
der im Hauptteil erstellten Teilanalysen präsentiert und final zusammengefasst.

12
2. ROBERT
WALSER,
IM BUREAU ­ ANALYSE DES
MATERIALS
In diesem Abschnitt werden Walsers Texte einzeln und in chronologischer Reihenfolge unter-
sucht und vorgestellt. Zunächst folgt eine kurze, z. T. kommentierte, inhaltliche Zusammen-
fassung der jeweiligen Erzählung, anschließend findet die Prüfung der Figuren und Typen auf
die beschriebenen Kriterien statt, welche letztlich in einer Teilanalyse resümiert werden. Aus
Gründen der Vergleichbarkeit sind die Gedichte Im Bureau, (1897/98) und Das Krankhafte
(1930), den Auszug aus dem Roman Der Gehülfe (1908), die Szene Die Bühne ist ein Büro
(ca. 1927) und den aus der Krankenakte handschriftlich erfassten Lebenslauf (1946) nicht Teil
der Untersuchung.
2.1. DER
COMMIS
(1902)
Die erste von Walsers Kurzgeschichten
16
ist gleich die längste und umfassendste Erzählung in
diesem Werk und besteht aus zehn Abschnitten mit jeweils eigenen Kapitelüberschriften:
1.
Eine Art Illustration
Einleitung: der Erzähler schlüpft in die Rolle als Schrift-
steller und stellt Hintergrund und Inhalt des Textes vor
2.
Karneval
3.
Immer noch Verkleidung
4.
Gelage
5.
Ein neuer Gesellschafter
6.
Stumme Minuten
Die folgenden fünf Kapitel schildern den Alltag des
Commis mit verschiedenen Aspekten
7.
Ein Brief zum Besten
Ein Brief eines Commis an seine Mutter, der so über-
trieben wohlformuliert ist, dass er unglaubwürdig wirkt
8.
Lebendes Bild und
9.
Traum
In diesen zwei Texten setzen die literarischen Schilde-
rungen des Commis-Alltags fort
10.
Erklärung
Abschluss: Der Erzähler tritt wieder als Schriftsteller
auf und endet den Bericht mit einigen ernsteren Impulse
zu dem Beruf Commis
16
Walser 2013, Der Commis, S. 10-25, fortan abgekürzt DC

13
Zusammenfassung Der Commis: Im ersten Abschnitt, Eine Art Illustration, schlüpft der
neutrale Erzähler in die Rolle als Schriftsteller und teilt sein Vorhaben in den nächsten Kapi-
teln mit, nämlich aus der Welt des Commis zu berichten. Er beschreibt den Commis als ,,zu
alltäglich, zu unschuldig, zu wenig blaß und verdorben, zu wenig interessant, der junge
schüchterne Mann"
17
. Der Commis gehört einer der Allgemeinheit bekannte, aber unspekta-
kuläre Berufsgruppe, in welcher der Erzähler bei der Beobachtung jedoch neue und für ihn
faszinierende Winkel und Perspektiven findet, die er dem Leser präsentieren möchte.
In Karneval wird die Persönlichkeit eines Commis im Allgemeinen charakterisiert. Er ist ein
junger Mann zwischen 18-24 Jahre und ,,in seiner Kleidung wie in seiner Lebensweise or-
dentlich."
18
Ihn zeichnet sowohl Fleiß, Takt und Schreibtalent aus, als auch die Fähigkeit zum
schnellen Rollenwechsel, Zuvorkommenheit und ein reines Herz.
19
In Immer noch Verkleidung steht mehr über den Charakter und das Verwandlungstalent des
Commis; er kann mit Kollegen ,,über Kunst, Literatur, Theater [...] mit richtigem Urteil, mit
vielem Takt und vieler Besonnenheit [...] stundenlang reden
20
, aber wenn der Chef kommt,
wechselt er die Rolle und ,,der Commis [wird] wieder er selbst."
21
Er schlüpft in eine Rolle
hinein, wo die eigene Individualität und Persönlichkeit in den Hintergrund gedrängt wird und
er nach außen zum demütigen, sanftmütigen und anpassungsfähigen Commis wird. Seine fa-
cettenreiche und breit gefächerte Wesensart macht den schnellen Wechsel möglich: ,,Er kann
rebellieren und gehorchen, fluchen und beten, sich winden und trotzen, lügen und die Wahr-
heit sagen, schmeicheln und aufprotzen."
22
Dennoch bleibt er in seiner Rolle zurückhaltend
und stellt sich z. B. trotz einer guten Bildung lieber als Dummkopf dar, um anderen nicht
überlegen zu wirken.
23
In Gelage wird auf den Arbeitsplatz und die Werkzeuge des Commis eingegangen; der Büro-
raum ist karg und trocken und seine Werkzeuge, z. B. Rotstift und Zinstabellen, sind wie
Waffen, womit der Commis die Arbeit angreift. Die Feder ist ,,spitz, scharf und grausam"
24
,
und der Commis setzt sie an ,,wie ein kundiger Jäger. Dann schießt er los"
25
. Der sprach- und
rechenbegabte Commis ist im Korrespondieren ein wahrer Schelm
26
, aber ,,seine Werkzeuge
17
DC, S. 10.
18
DC, S. 11.
19
DC, S. 11 ff.
20
DC, S. 13.
21
DC, S. 13.
22
DC, S. 13.
23
DC, S. 12 ff.
24
DC, S. 14.
25
DC, S. 14.
26
DC, S. 14.

14
sind kleinlich, seine Tätigkeit verschwindet wesentlich vor anderen Tätigkeiten"
27
, denn Tex-
te und Zahlen regen weder akustisch noch visuell zu Aufsehen und was in der Stille geschieht,
erhält in der Bürowelt keine Anerkennung.
Ein neuer Gesellschafter ist das Portrait eines jungen, aufstrebenden Commis, der neben sei-
ner guten Arbeitsleistung viel Wert auf äußere Erscheinung legt. Sein ,,Eifer und Fleiß haben
noch keinen Schlag von der Tücke der Zeit erlitten"
28
und ,,[e]r benimmt sich fast zu tadel-
los"
29
. Vorsichtig und mit Klugheit beteiligt er sich in Gesprächen, hat ausgezeichnete Tisch-
manieren und sucht die Verbindung zu Hochgestellten, während er Lehrburschen ignoriert.
,,Das Äußere unseres Mannes entspricht seinem Tun"
30
, meint der Erzähler, und ,,da dieses
nicht unwürdig ist [...], kann jenes auch nicht unschön sein"
31
. Die Schlussfolgerung, dass ein
schönes Äußeres und gute Manieren auf hohe Fachkompetenz und eine gute Arbeitsleistung
schließen lässt, ist sicher Zweck und Ziel dieses jungen Mannes, der sich durch seine Insze-
nierung wohl eine schnelle Karriere erhofft.
In Stumme Minuten berichtet der Erzähler über einen arbeitslosen Commis.
32
Ein stellenloser
oder hungernder Arbeiter ist nicht so schlimm wie ein stellenloser und hungernder Commis,
da das Ordentliche, Saubere und fast Herrenhafte am Commis, nur Schein und Glanz ist, was
sich in Wirklichkeit auf seine Funktion und die vorgespielte Rolle bezieht, und nicht auf ihn
als Person. Ein Commis ohne Stellung ist wie ein Schauspieler ohne Bühne und somit wird
die Arbeitslosigkeit der Angestellten zum gesellschaftlichen Absturz.
Dass ein Commis sprachbegabt und ein Schelm in Korrespondieren ist, wurde bereits in Ge-
lage berichtet. Ein Brief zum Besten
33
ist ein praktisches Beispiel davon, geschrieben von ei-
nem Commis, der seiner Mutter über seine neu angetretene Stelle berichtet. Positive Formu-
lierungen, die Schwierigkeiten spielend wegwischen, z. B.: ,,Wofür besitzt man
Vergeßlichkeit!"
34
, stellen ihn als wunschlos glücklich dar. Es erscheint alles zu gut und man
vermutet eine Scheinwelt, wo es hinter der Kulisse ganz anders aussieht.
Das Bild der Kulisse setzt im Kapitel Lebendes Bild fort, wo die Zuschauer ein lebendiges
Bild des Büroalltags sehen. ,,Eine Bühne! Ein kahles, peinlich sauberes Bureau."
35
beginnt die
Geschichte, wo Commis ,,Bücher auf- und zuschlagen, Federn anprobieren, husten, zischeln,
lächeln, leise fluchen, in sich hinein wüten". Der rohe und gewaltige Chef schnauzt den jun-
27
DC, S. 15.
28
DC, S. 16.
29
DC, S. 16.
30
DC, S. 17.
31
DC, S. 17.
32
DC, S. 17 ff.
33
DC, S. 19 ff.
34
DC, S. 19.
35
DC, S. 21.

15
gen, blassen und schönen Commis an und das Bild verändert sich. Der Commis wird zum
Opfer, der sich weder wehrt noch verteidigt, sondern stattdessen in eine innere Defensive
flieht und zum Denker wird, der sich fragt, ob die Welt einen besseren Platz für ihn hat. Wäh-
renddessen fällt ,,der tote, grausame, alles tötende Vorhang. ­"
36
Das lebendige Bild ist nicht
mehr sichtbar und der offene Gedankenstrich lässt die Gedanken des Denkers und somit auch
das Ende offen.
Im Traum berichtet der Erzähler von dem Traum eines Commis: ein Traum von Kameraden,
Abenteuer, von Frauen, Romantik und von ewiger Liebe
37
­ die Arbeit und die Karriere
kommen darin nicht vor.
In Erklärung schließt der Erzähler das Prosastück ab, indem er sagt, die bisherigen Illustratio-
nen seien mehr ,,Laune, Windspiele und Empfindung, als gewissenhafte Zeichnung"
38
, wes-
halb er ein paar ernste Gedanken mitgeben möchte; Commis sind ,,achtenswerte Leute"
39
, ,,sie
tun ihre Arbeit in Ruhe, Zurückgezogenheit und Bescheidenheit"
40
, haben ein Gefühl für
Freundschaft, Familie und Vaterland"
41
: ,,Sie stammen [...] aus den guten Familien [...]"
42
,
sind ,,gutmütig und höflich und zugleich freisinnig"
43
. Durch die Aufzählung der positiven
Charakterzüge möchte der Erzähler ,,die vorige etwas übermütige Art, vom Commis zu spre-
chen"
44
sanftmütig neutralisieren, damit niemand daran Anstoß nimmt und verärgert wird ­ so
wie es sich für einen des Betriebs angepassten Commis gehört.
· Vertikales Verhältnis Der Commis: Das vertikale Verhältnis beleuchtet die Interak-
tion der Angestellten mit höheren Hierarchiestufen. Der Commis im Allgemeinen
steigt bei der Interaktion mit Vorgesetzten in eine Rolle hinein, wo er seine eigene
Persönlichkeit in den Hintergrund drängt, sein wahres Ich verbirgt und dem Chef stets
mit Demut und Sanftmut begegnet. Sein Verhalten ist auf Hierarchien ausgerichtet; je
höher die Hierarchiestufe, je aufmerksamer und zuvorkommender wird der Commis.
Unter Kollegen zeigt er gern eine offenere und zugänglichere Seite, aber wenn der
Chef den Raum betritt, wird er wieder zum Untergebenen, konformen und angeneh-
men Mitarbeiter.
36
DC, S. 22.
37
DC, S. 22 ff.
38
DC, S. 24.
39
DC, S. 24.
40
DC, S. 24.
41
DC, S. 24.
42
DC, S. 25.
43
DC, S. 25.
44
DC, S. 25.

16
· Horizontales Verhältnis Der Commis: Das horizontale Verhältnis beleuchtet die In-
teraktion der Angestellten mit Kollegen. Unter Kollegen zeigt sich der Commis
freundschaftlich, unterhaltsam und zugänglich, sucht dabei aber Personen aus, wovon
er selbst einen Nutzen hat. ,,Sagt ein Erfahrener am Tisch einen halben Witz, so lacht
er höflich; sagt dagegen ein Lehrbursche einen ganzen Witz, so schweigt er"
45
be-
schreibt der Erzähler der angeblich freundschaftlichen Art des Commis. Nur wer dem
Commis nützlich sein kann, wird mit Offenheit begegnet, sonstige Mitarbeiter lässt er
kalt.
· Internes Verhältnis Der Commis: Das interne Verhältnis prüft die Haltung des An-
gestellten zu sich selbst und zu der eigenen Berufsrolle. Der Commis im Allgemeinen
legt Wert darauf gesehen zu werden und zu beindrucken, jedoch durch Leistung und
guten Eindruck, ohne dabei selbst laut werden zu müssen. Der Commis arbeitet des-
halb fleißig und achtet auf sein Äußeres und sein Auftreten, wobei er gleichzeitig
vermeiden möchte, überlegen zu wirken. Mangelnde Anerkennung und Fähigkeit, für
sich selbst gerade zu stehen, lässt ihn von Zeit zu Zeit nachdenklich werden und sich
und seinen Platz im Leben in Frage zu stellen.
Teilanalyse Der Commis: Zu den Kapitelüberschriften fällt auf, dass über die Hälfte davon
sich auf Rollenspiele, optische Darstellungen oder Täuschungen beziehen, als würde in diesen
Abschnitten etwas in Szene gesetzt werden: Eine Art Illustration, Karneval, Immer noch Ver-
kleidung, Gelage, Lebendes Bild und Traum. Bereits vor Beginn der Erzählung wird der Ein-
druck erweckt, dass das Büro eine Art Bühne ist, wo nicht alles so ist, wie es zunächst er-
scheint, und wo Rollenspiel und Glanz nach außen aufrecht gehalten werden soll, während die
eigene Identität überdeckt und verkleidet wird. Die spätere Texten bestätigen dieses Motiv:
der Commis, der sich den Kollegen gegenüber offen, dem Chef aber gehorsam und unterge-
ben zeigt, der positive Brief an die Familie, der etwas zu verdecken scheint und die Bestäti-
gung vom Erzähler: ,,Das ist sicher, ein Commis ist äußerst verwandlungsfähig."
46
Der Ange-
stellte ist ein Schauspieler, der seine eigene Identität in den Hintergrund drängt und auf der
Bühne eine Rolle in einer Inszenierung spielt, die nach außen eine Scheinwelt vermittelt und
nicht mit der Welt hinter den Kulissen übereinstimmt.
45
DC, S. 17.
46
DC, S. 13.

17
Dass es in der Wirtschaft und Industrie eben nicht auf den eigenen Charakter des Angestellten
ankommt, sondern auf ihre äußere Wirkung und Schein, bestätigt Kracauers zeitgleich ent-
standene soziologische Studie über Angestellte. Die Personalabteilung eines Berliners Wa-
renhauses gibt entsprechend zu: ,,Wir achten bei Engagements [...] vorwiegend auf ein ange-
nehmes Aussehen". Nicht ,,hübsch", sondern von einer ,,moralisch-rosa Hautfarbe"
47
müssen
die Bewerber sein. Ein Beamter des Arbeitsamtes offenbart: ,,Vor allem wollen die Arbeitge-
ber einen netten Eindruck haben"
48
und dazu ,,gehören natürlich die netten Manieren"
49
. Er
gesteht auch, dass solche Bewerber eher genommen werden, auch wenn die Zeugnisse
schlecht sind. Eigenschaften oder Bildung des Bewerbers sind bei der Auswahl neuer Mitar-
beiter nicht ausschlaggebend, was Kraucer in der Studie damit begründet, dass es ein Mangel
an Tätigkeiten gibt, ,,die eine Persönlichkeit oder gar die Eigenart einer Persönlichkeit erfor-
dern, vom richtigen Menschen zu schweigen"
50
. Die Wirtschaft sucht deshalb nicht nach In-
dividuen, sondern nach Personen, die sich konform verhalten und eine Funktion erfüllen, was
dem Angestellten indirekt zur Verleugnung der eigenen Persönlichkeit und zum eingeübten
untergebenen und gehorsamen Rollenspiel zwingt.
Trotz des Geständnisses, dass Schein und Wirkung wichtiger als Zeugnisse sind, ist laut
Kracauers Studie eine hohe Bildung weiterhin erforderlich. Es reicht nicht aus, ,,sich berufen
zu fühlen, man muss auch erwählt sein"
51
und dabei ist eine höherwertige Ausbildung unab-
dingbar. Er berichtet, dass ,,das Abitur als Voraussetzung für den gehobenen, mittleren Beam-
ten gewünscht ist"
52
und auch Großbanken Bewerber mit Abitur
53
bevorzugen. Auch hier
leuchtet die Scheinwelt des Büros durch, denn die hohen Forderungen der Unternehmen bzgl.
der Ausbildung der Bewerber, lassen diese auf einer vermeintlichen höherwertigen Anstellung
hoffen, die der Arbeitgeber aber nur mit Einseitigkeit und wenig komplexen Tätigkeiten ent-
gegnet. Viele Angestellte rechnen aufgrund guter Ausbildung und hervorragender Arbeitsleis-
tung mit beruflichem Erfolg, aber Kracauers Studie gesteht, dass dies keineswegs die Garantie
für eine Karriere oder ein hohes Gehalt
54
ist. Mitarbeiter werden zum Streber, um einen finan-
ziellen und gesellschaftlichen Aufstieg zu erlangen, aber ,,[i]n Wirklichkeit sind die Beförde-
47
Kracauer 1959, S. 17.
48
Kracauer 1959, S. 17.
49
Kracauer 1959, S. 17.
50
Kracuaer 1959, S. 13.
51
Kracauer 1959, S. 10.
52
Kracauer 1959, S. 11.
53
Kracauer 1959, S. 11 ff. Abiturienten stammen überwiegend aus gut- und kleinbürgerlicher Herkunft, ,,Ihr
Niveau ist bestimmt nicht proletarisch"
54
Kracauer 1959, S. 11.

18
rungschancen schwach"
55
, behauptet Kracauer, denn ,,Karriere [wird] innerhalb der Clique"
56
gemacht und zu dieser Clique hat nicht jeder Zutritt. Bildung, Intelligenz und Leistung sind
bei der Karriere vom Vorteil, aber Vetternschaft und Seilschaften sind die sichersten Förderer.
In Kracauers Studie finden sich auch Indizien dafür, weshalb viele Angestellte des 20. Jahr-
hunderts zum Träumer und Philosophen wurden. Die Rationalisierung
57
veränderte den Ar-
beitsalltag stark, und ein Bankbeamter beklagte, dass ,,der Horizont der Bankangestellten heu-
te enger geworden"
58
ist, da die neue Technik weniger Selbständigkeit, weniger Vollmacht
und erhöhte Monotonie mit sich brachte. ,,Berufsfreude zu pflegen, ist unter diesen Umstän-
den schwer"
59
, meinte Kracauer, aber wer den technischen Fortschritt ignoriert, dem droht
Arbeitslosigkeit und finanzielle Einbüßen gekoppelt mit gesellschaftlichem Absturz. Ein ein-
seitiger Alltag, mangelnde Entwicklungsmöglichkeiten und die Angst vor der Zukunft, läh-
men den Angestellten mental und machen ihn zum Träumer und Philosophen.
Angaben bzgl. Zeit und Raum des Geschehens bleiben in den Text-Abschnitten durchgehend
unerwähnt. Die Angestellten stellt Walser als Stereotypen mit charakterlicher Differenzierun-
gen dar: der Commis im Allgemeinen, als Schauspieler, Verwandlungskünstler, Streber, Ge-
bildeter, Opfer, Denker und Philosoph, Romantiker und als Träumer. In der vertikalen und
horizontalen Interaktion wird der Commis als Schleimer und Eigennutz dargestellt, der sich
absichtlich Personen, wovon er selbst einen Nutzen ziehen kann, loyal verhält, während er
andere Mitarbeiter ignoriert. Die Figuren bleiben namenlos und werden nur durch ihren Titel
oder Funktion identifiziert. Diese Anonymität spiegelt sich in Aussagen in Kracauers Studie
wider: ,,Stellen sind eben nicht Berufe, die auf sogenannte Persönlichkeiten zugeschnitten
wären, sondern Stellen im Betrieb, die je nach den Notwendigkeiten des Produktions- und
Verteilungsprozesses geschaffen werden"
60
. Mitarbeiter werden durch Anonymität, mangeln-
de Entwicklungsmöglichkeiten, Zukunftsangst und Monotonie von den Unternehmen geformt
und mit der Zeit durch den für die Position erforderlichen Rollenwechsel zu beruflichen Cha-
mäleons, die mit dem Unternehmen und den internen Hierarchien verschmelzen und nach
außen harmonieren.
55
Kracauer 1959, S. 34.
56
Kracauer 1959, S. 35.
57
In der Rationalisierungsperiode (1925-1928, S. Kracauer 1959, S. 5) wurden technische Geräte wie z. B. die
Buchungsmaschine in den administrativen/buchhalterischen Bereichen von Großbanken und Großbetrieben
eingeführt. (s. Kracauer 1959, S. 21 ff.)
58
Kracauer 1959, S. 32.
59
Kracauer 1959, S. 25.
60
Kracauer 1959, S. 13.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2015
ISBN (eBook)
9783958209954
ISBN (Paperback)
9783958204959
Dateigröße
470 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Högskolan Dalarna
Erscheinungsdatum
2015 (Oktober)
Note
1
Schlagworte
arbeitswelt robert walsers angestellten anthologie bureau literarische darstellung angestelltenwelt anfang jahrhunderts
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Titel: Die Arbeitswelt von Robert Walsers Angestellten in der Anthologie „Im Bureau“: Literarische Darstellung der Angestelltenwelt Anfang des 20. Jahrhunderts
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