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Bildungsarbeit in Kindertageseinrichtungen: Eine Betrachtung von Anpassungsmöglichkeiten an die veränderten Lebensbedingungen von Kindern

©2006 Studienarbeit 52 Seiten

Zusammenfassung

Kindertageseinrichtungen müssen sich an die veränderten Lebensbedingungen der Kinder anpassen, deshalb verändern sich ihre Bildungs- und Erziehungspläne. Der funktionsorientierte und der situationsorientierte Ansatz sind dabei zwei signifikante Ansätze, die in den 70er Jahren aus der Bildungsreform entstanden sind. Sie werden in der vorliegenden Studie erläutert und gegenübergestellt, da der situationsorientierte Ansatz noch heute in der aktuellen Diskussion Einfluss auf die neuen Bildungs- und Erziehungspläne hat. Zudem wird der Bildungsauftrag der Kindertageseinrichtungen anhand der rechtlichen Grundlagen dargelegt, bevor die Bildungsarbeit genauer betrachtet wird.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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schrieben. Nicht nur die Gesellschaft, sondern auch das Verständnis der Gesellschaft hat sich
verändert. Es besteht ein Trend zur Schnelllebigkeit (vor allem durch ständige Innovationen
der Technologien) und zur Individualisierung. Daraufhin wird der Wandel der Familienformen
dargestellt. Die traditionelle Kernfamilie, in der ein verheiratetes Elternpaar mit Kindern zu-
sammenlebt, ist nur noch eine von vielen Familienformen. Darüber hinaus bewirkt auch die
sinkende Geburtenrate einen Wandel der Familien hin zu immer kleineren Familien. Die ver-
änderten zeitlichen und räumlichen Lebenswelten der Kinder bilden den letzten Schwerpunkt
des ersten Abschnittes. Kindheit wird hier mit den Schlagwörtern `Verinselung', `Verhäusli-
chung' und `Verplantheit' beschrieben. Der Wandel der Gesellschaft, der Familie und der Le-
benswelten der Kinder wirkt sich auf die kindliche Entwicklung aus.
Kindertageseinrichtungen müssen sich an die veränderten Lebensbedingungen der Kinder an-
passen, deshalb verändern sich ihre Bildungs- und Erziehungspläne. Der funktionsorientierte
und der situationsorientierte Ansatz sind zwei signifikante Ansätze, die in den 70er Jahren aus
der Bildungsreform entstanden sind. Sie werden erläutert und gegenübergestellt, da der situati-
onsorientierte Ansatz noch heute in der aktuellen Diskussion Einfluss auf die neuen Bildungs-
und Erziehungspläne hat. Ein besonderes Augenmerk wird bei dem situationsorientierten An-
satz auf dem sozialen Lernen liegen. Der Bildungsauftrag der Kindertageseinrichtungen wird
anhand der rechtlichen Grundlagen dargelegt, bevor im nächsten Abschnitt genauer auf die
Bildungsarbeit eingegangen wird.
Die Entstehung des Begriffes Bildung seit dem 14. Jahrhundert wird erklärt, und der Zusam-
menhang zwischen Selbstbildung und Bildung im gesellschaftlichen Kontext wird hervorgeho-
ben. Daraufhin wird die Theorie des Sozialkonstruktivismus vorgestellt und Bildung als sozia-
ler, ko­konstruktiver Prozess erläutert. Das Bild vom Kind in den aktuellen Bildungsplänen
wird vorgestellt und die Bedeutung der Ko­Konstruktion und des `sustained shared thinking'
in Bezug auf die Prozessqualität betont. Anschließend wird auf die Bedeutung der Beziehun-
gen im Bildungsprozess sowie auf die Rolle der Erzieherin/des Erziehers eingegangen, und die
neuen Theorien der lernmethodischen Kompetenz und der Resilienz werden vorgestellt. Ab-
schließend wird der Schwerpunkt auf der Förderung der Kompetenzen liegen, wie sie neuere
Bildungs- und Erziehungspläne aufweisen. Die Darstellung der Kompetenzen in den Bildungs-
und Erziehungsplänen wird daraufhin kritisch beleuchtet.
Im letzten Abschnitt liegt der Schwerpunkt auf dem Bildungsbereich der Sozialen Bildung, der
auf Grund der veränderten kindlichen Lebenswelten einen der wichtigsten Bildungsbereiche in

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den Kindertageseinrichtungen darstellt. Die Begriffe Sozialerziehung, soziales Lernen und So-
ziale Bildung werden gegeneinander abgegrenzt, da die Begriffe häufig nebeneinander oder
auch synonym verwendet werden. Danach wird auf den Unterschied in der Sozialen Bildung
zum einen als durchgehendes Lernprinzip und zum anderen als eigener Bildungsbereich hin-
gewiesen. Es wird geklärt, warum die Soziale Bildung für die Zukunft besonders wichtig ist,
indem noch einmal auf die veränderten Lebensbedingungen hingewiesen wird. Die Frage, wie
die Bildungsarbeit in Zukunft aussehen sollte, bildet den Abschluss dieses Abschnittes. Es
werden mögliche Zukunftsperspektiven mit Hilfe des Modellprojekts `Kinderhaus' dargelegt.
Abschließend erfolgt die Schlussbetrachtung, in der die wichtigsten Argumente noch einmal
zusammengefasst werden. Mit Hilfe der herausgearbeiteten Argumente wird auf mögliche
Verbesserungsvorschläge verwiesen.

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2. Veränderte Lebensbedingungen der Kinder
1
Im Folgenden werden die Veränderungen der Gesellschaft, der Familienformen und der Le-
benswelten der Kinder dargestellt. Die Auswirkungen dieser Veränderungen auf die kindlichen
Lebensbedingungen werden erläutert.
2.1. Der gesellschaftliche Wandel und seine Folgen für die Kindheit
Die heutige Gesellschaft befindet sich im Umbruch. Man spricht von einer Wissensgesell-
schaft, in der sehr viel Wert auf Bildung und lebenslanges Lernen gelegt wird. Die Menschen
müssen sich an die sich rasch verändernde Welt immer wieder neu und flexibel anpassen kön-
nen. Neben dem fachlichen Wissen spielen vor allem auch Teamfähigkeit, Kommunikationsfä-
higkeit und Kreativität eine wichtige Rolle (vgl. MÜNCHMEIER 2004, S. 98 f.). In der Litera-
tur wird häufig der Begriff der `postmodernen Gesellschaft' verwendet. Fthenakis geht davon
aus, dass der gesellschaftliche Wandel mehr umfasst als nur den Übergang von einer Industrie-
zu einer Wissensgesellschaft. Dem ,,Projekt der Postmoderne" (FTHENAKIS 2003, S. 24)
liegt ein Weltverständnis zu Grunde, das nun nicht mehr auf Gewissheit und kontinuierlichem
Fortschritt beruht, sondern von Ungewissheit, Komplexität und Vielfalt geprägt ist. Der Ein-
zelne muss in der kulturellen Diversität und sozialen Komplexität seinen Platz finden. Er ist
immer wieder neuen Veränderungen unterworfen, z. B. in der Familie durch Veränderungen in
der Familienstruktur oder am Arbeitsplatz durch neue Technologien, an die er sich flexibel
anpassen muss. Die Orientierung in solch einer Welt muss vom Individuum selbst geleistet
werden und kann anhand von Normen nicht mehr vorgegeben werden (vgl. FTHENAKIS
2003, S. 24 f.). Das Individuum muss immer wieder neue Kompetenzen erwerben und neue
Problemlösungsstrategien entwickeln, um mit diesen Veränderungsprozessen umgehen zu
können (vgl. FTHENAKIS 2003, S. 10 ff.).
Die heutige Gesellschaft ist des Weiteren von einer zunehmenden Individualisierung geprägt.
Der Mensch ist nicht mehr an den durch seine Familie vorgegebenen Stand gebunden. Seine
individuelle Biographie liegt in eigener Verantwortung. Dies geht einher mit dem sozialen
1
Die Lebensbedingungen der Kinder und ihre Familien, die die Ausgangsvoraussetzungen der Kinder sind, wei-
sen große Unterschiede auf. Daher kann man nicht von
den Lebensbedingungen heutiger Kindheit sprechen. Den-
noch haben immense gesellschaftliche Veränderungen stattgefunden, die mehr oder weniger alle betreffen und in
Bezug auf die kindliche Entwicklung berücksichtigt werden müssen (vgl. LILL 2004, S. 39 f.).

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Wertewandel, der sich seit 1950 nachweisen lässt. Werte wie Autonomie, Selbstständigkeit
und Selbstverwirklichung gewinnen an Bedeutung (vgl. PEUCKERT 2005, S. 361 ff.). Auch
die Erziehungsziele haben sich hierdurch verändert. Die Kinder werden nicht mehr nur zu Ord-
nung und Sauberkeit erzogen, sondern vor allem zur Selbstständigkeit und Kreativität. So ist
das Erziehungsziel ,,Selbstständigkeit und freier Wille" von 28 % (Anfang 1950) auf 80 % ge-
stiegen (vgl. MÜNCHMEIER 2004, S. 101). Es vollzieht sich ein Wandel vom Befehls- zum
Verhandlungshaushalt. Die Kinder werden als kompetente Wesen angesehen und die Eltern als
ihre Partner (vgl. KLEIN 1998, S. 22). Dieser Wandel innerhalb der Familie lässt sich auch in
den heutigen Bildungs- und Erziehungsplänen finden, in denen das Kind als kompetentes und
selbstständiges Wesen angesehen wird (vgl. Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und So-
zialordnung, Familie und Frauen, Staatsinstitut für Frühpädagogik 2006, S. 23).
Sicherheiten und Zwänge sind zurückgegangen, da die Einbindung in soziale Netze abgenom-
men hat. Den Kindern und Jugendlichen werden mehr Freiheiten zugestanden. Sie haben da-
durch auf der einen Seite mehr Freiraum und können bzw. müssen Entscheidungen selbst tref-
fen. Auf der anderen Seite haben sie nicht mehr die Sicherheit, von ihren sozialen Kontakten
aufgefangen zu werden, da diese meist nur lockere Bindungen sind (vgl. LILL 2004, S. 40).
Die Massenmedien sind ein weiterer Faktor, der unsere Gesellschaft und auch die Kindheit
stark prägt. Die Entwicklung der Technologie trägt dazu bei, dass Informationen aus aller Welt
an alle herangetragen werden. Vor allem der Fernseher nimmt bei Kindern und Jugendlichen
schon einen großen Stellenwert ein. Kinder wissen daher heute mehr als die Kinder der dama-
ligen Generationen. Allerdings nehmen sie die Welt nur noch in der Wohnung über den Bild-
schirm wahr, und eigene Erfahrungen bleiben rar. Die vielen Eindrücke können sie häufig gar
nicht verarbeiten, und gerade jüngere Kinder sind nicht in der Lage, Wichtiges von Unwichti-
gem und Wahres von Unwahrem zu trennen. Reizüberflutung und ein entfremdetes Weltbild
sind mögliche Folgen der Medien (vgl. LILL 2004, S. 41). Auch wirkt sich der Medienkonsum
negativ auf die Sprach- und Sozialentwicklung aus. Gewaltszenen im Fernsehen führen zu
mehr Aggressivität zwischen den Kindern (vgl. METZINGER 2002, S. 31 ff.). Andere Aktivi-
täten werden zurückgestellt, und der soziale Kontakt zu Gleichaltrigen und zu Erwachsenen
reduziert sich. So liegt bei den Vier- bis Sechsjährigen die durchschnittliche tägliche Fernseh-
zeit bei etwa 1,5 Stunden (BRÜNDEL/HURRELMANN 1996, S. 226). Durch die Medien ,,[...]
fehlen zusehends Stimulierungen in emotionalen, sozialen und motorischen Bereichen"

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(CONRAD 2006, S. 4). Diese müssen, wenn die Familie sie nicht kompensieren kann, von den
Kindertageseinrichtungen beachtet und nach Möglichkeit aufgefangen werden.
Zusammenfassend lässt sich folglich feststellen, dass der gesellschaftliche Wandel Auswirkun-
gen auf die kindliche Entwicklung hat. Die Kindertageseinrichtungen müssen hierauf reagie-
ren, um die Kinder auf ihr späteres Leben in einer Gesellschaft vorzubereiten, das von Kom-
plexität und Schnelllebigkeit geprägt ist. Sie müssen die Kinder auf eine individuelle Lebens-
führung, künftige Lebensaufgaben und auf das soziale Zusammenleben gleichermaßen vorbe-
reiten, um die Zukunft unserer Gesellschaft zu gewährleisten (vgl. SCHÄFER 2005, S. 184 f.).
2.2. Wandel der Familienformen
Der gesellschaftliche Wandel und vor allem auch die Erwerbstätigkeit der Frauen bringt Ver-
änderungen in der Familienstruktur mit sich. Ein Kind ist seit der modernen Empfängnisverhü-
tung planbar. Entscheiden sich die Eltern für ein Kind, treffen sie eine lange, irreversible Ent-
scheidung, die sie von anderen nicht kindzentrierten Lebensstilen ausschließt. Gerade junge
berufsorientierte Frauen müssen sich zwischen Kind und Karriere entscheiden. Dadurch treffen
viele Paare erst recht spät die Entscheidung für ein Kind oder bleiben kinderlos (vgl. PEU-
CKERT 2005, S. 130 f.). Dieser Wandel schlägt sich in der Geburtenzahl nieder. So lässt sich
seit Mitte der 60er Jahre ein starker Geburtenrückgang verzeichnen. Betrug die Geburtenzahl
1964 noch 1,1 Millionen, sank sie im Jahr 2002 schon auf 594.000 Lebendgeborene (vgl.
PEUCKERT 2005, S. 119 f.). Anhand dieser Entwicklungen wird die Geburtenzahl im Jahr
2050 nur noch auf 560.000 Lebendgeborene geschätzt (vgl. Statistisches Bundesamt 2006a, S.
1). Es besteht ein eindeutiger Trend zu kleineren Familien. Dies lässt sich anhand der zusam-
mengefassten Geburtenziffer nachweisen. Sie bezeichnet die durchschnittliche Kinderzahl,
,,[...] die eine Frau im Laufe ihres Lebens (im Alter von 15 bis 44 Jahren) zur Welt bringen
würde, wenn die Verhaltensweisen im jeweiligen Kalenderjahr anhielten" (PEUCKERT 2005,
S. 120). 2002 lag die zusammengefasste Geburtenziffer in Deutschland bei nur 1,34. Um in
Deutschland die Elterngeneration zu ersetzen, wäre eine zusammengefasste Geburtenziffer von
2,1 erforderlich (vgl. PEUCKERT 2005, S. 120 f.).
Die niedrige Zahl von 1,34 verweist auf die steigenden Ein ­ Kind ­ Familien und auf die Paa-
re, die ohne Kinder bleiben. So waren im Jahr 2000 im früheren Bundesgebiet 45 % der Ehen
eine Ein ­ Kind ­ Familie und in den neuen Ländern sogar 57 %. Diese Zahlen darf man aller-

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dings nicht als endgültige Kinderzahlen betrachten, da häufig die Geschwister noch nicht gebo-
ren sind oder auch schon ausgezogen sein können. Berücksichtigt man diesen Einwand, so
bleiben in Deutschland 19 % der Kinder während ihrer gesamten Kindheit Einzelkinder. Diese
Zahl kommt zustande, wenn man die Anzahl der Geschwister der Sechs- bis Neunjährigen
verwendet. Hier sind die jüngeren Geschwister meist geboren, und die älteren sind noch nicht
ausgezogen (vgl. PEUCKERT 2005, S. 127). Die meisten Kinder wachsen folglich mit einer
Schwester oder einem Bruder auf. Die soziale Norm beläuft sich nach Befragungen auf die
Zwei- bis Drei ­ Kind ­ Familie (vgl. PEUCKERT 2005, S. 134). Die steigende Anzahl der
Einzelkinder birgt einige Risiken in sich, die man nicht außer Acht lassen darf. Einzelkinder
sind stark auf Kontakte mit Gleichaltrigen angewiesen, da die Gespräche mit ihren Eltern do-
minieren. Sie müssen lernen, konkurrierende Interessen zu akzeptieren und Kompromisse zu
schließen. Sozialpsychologen weisen auf eine Gefährdung der sozialen Solidarität in der Ge-
sellschaft hin, wenn Kinder, die geschwisterlos aufwachsen, zunehmen (vgl. MÜNCHMEIER
2004, S. 10 f.). Man unterstellt den Einzelkindern, dass sich das Fehlen der Geschwister nega-
tiv auswirkt. Die positiven Aspekte, wie z. B. eine intensivere Zuwendung der Eltern, sind in
unserer Gesellschaft nicht verbreitet (vgl. KASTEN 2004, S. 11 f.). Die Aussagen über Einzel-
kinder müssen kritisch betrachtet werden, da man eine schlechte soziale Kompetenz nicht auf
alle Einzelkinder übertragen kann. Es wurden einige Bücher geschrieben, in denen die Auto-
ren/Autorinnen versucht haben, die Vorurteile zu hinterfragen und zu widerlegen. Man kommt
hierbei immer wieder zu dem Schluss, dass es nicht wichtig ist, mit wie vielen Geschwistern
ein Kind aufwächst, sondern
wie es aufwächst. Richtig ist, dass die Eltern von Einzelkindern
stärker darauf achten müssen, dass ihr Kind viele Kontakte zu anderen Kindern bekommt, und
dass es soziale Kompetenzen entwickelt. Sie müssen aufpassen, dass sie ihr Kind weder über-
behüten noch überfordern (vgl. KÜMPEL 2003, S. 7 f.). Ein Grund, warum sich die Vorurteile
gegenüber Einzelkindern noch immer in unserer Gesellschaft halten, mag unter anderem die
Altersversorgung sein. Die jeweils nachfolgende Generation ist notwendig, um die Gesell-
schaft aufrecht zu erhalten (vgl. ROLLIN 1990, S. 28 f.). Auch die Norm der Zwei- bis Drei ­
Kind ­ Familie weist darauf hin, dass sich die sozialen Werte an einer Familie mit mindestens
zwei Kindern orientieren. Eine Familie mit nur einem Kind scheint daher nicht so geschätzt zu
werden.
Neben der Kleinfamilie sind es auch andere Lebensformen, die eine ansteigende Anzahl ver-
zeichnen. Wie in der Einleitung schon darauf hingewiesen wurde, gab es 1996 21 % alternative

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Lebensformen (Lebensgemeinschaften mit Kindern und Alleinerziehende) und 2005 schon 26
% (vgl. STATISTISCHES BUNDESAMT 2006b, S. 8 ff.). Hier sind vor allem die Ein ­ Eltern
­Familien zu erwähnen, die auf Grund der zunehmenden Ehescheidungen entstehen. 85 % von
den Ein ­ Eltern ­ Familien sind Mutterfamilien (vgl. NOACK 2001, S. 161). So beweist der
,,Fertility and Family Survey" von Heuveline, der in den 90er Jahren durchgeführt wurde, dass
die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind unter 16 Jahren zu einem Zeitpunkt mit einer alleiner-
ziehenden Mutter aufwächst, 39 % beträgt (vgl. PEUCKERT 2005, S. 200). Auch wenn der
überwiegende Teil der Kinder noch in traditionellen Familienverhältnissen aufwächst, ver-
bringt in den neuen Bundesländern fast ,, [...] jedes zweite Kind seine Kindheit in nichteheli-
chen Lebensgemeinschaften oder mit alleinerziehenden Eltern" (PEUCKERT 2005, S. 201).
Durch die Pluralisierung der Lebensformen erfahren Kinder schon in ihren Familien, dass auch
die Beziehungen zu ihren Eltern teilweise keine verlässlichen Beziehungen sind. Sie merken
früh, dass Diskontinuitäten und Veränderungen zu ihrem Leben dazugehören (vgl. LILL 2004,
S. 40). Studien belegen, dass Kinder aus Ein ­ Eltern ­ Familien gegenüber Kindern aus Kern-
familien Defizite aufweisen. Die Familienform hat also Auswirkungen auf die kindliche Ent-
wicklung und auf das kindliche Verhalten (vgl. WILK 2000, S. 40).
2
Ein weiterer Wandel, der sich auf die sinkende Geburtenzahl und die höhere Lebenserwartung
zurückführen lässt, bezieht sich auf das Generationenverhältnis. So betrug der Anteil der jun-
gen Menschen unter 20 Jahren 2002 21 % und wird schätzungsweise 2020 auf 17 % sinken,
wohingegen der Anteil der Menschen über 65 Jahre von 16 % auf 22 % ansteigen wird (vgl.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2002, S. 44). Auf Grund der
immer kleiner werdenden Familien spricht man von einer ,,Bohnenstangenfamilie" (PEU-
CKERT 2005, S. 342), da es immer mehr Generationen innerhalb eines Verwandtschaftssys-
tems gibt, die aber immer nur wenige Verwandte derselben Generation umfasst (vgl. PEU-
CKERT 2005, S. 342). Die verschiedenen Generationen wohnen nicht zusammen. So machen
Drei- oder Mehrgenerationen ­ Haushalte nur noch einen verschwindend geringen Anteil aus.
1997 waren es nur 2,1 % der Familien (vgl. MÜNCHMEIER 2004, S. 99). Kinder wachsen
somit nur selten mit mehreren Generationen auf.
Die Veränderungen in der Familienstruktur und die hiermit zusammenhängenden Diskontinui-
täten in den Beziehungen (z. B. bei einer Scheidung), stellt die Kinder vor neue Herausforde-
2
Trotz dieser Studien darf nicht nur über die Familienform auf die Qualität der Beziehung geschlossen werden. Es
gibt in allen Familienformen ein breites Spektrum von unterschiedlichen Formen der Beziehungsgestaltung. ,,Ent-
scheidend [für die kindliche Entwicklung] ist nicht die Familienform, sondern die Qualität der Beziehungen und
der Bildungsanregung." (LIEGLE 2005, S. 3; Zus. v. J. P.)

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rungen, die sie ohne fachliche Unterstützung kaum noch bewältigen können. Die Kinderta-
geseinrichtungen müssen dies in ihren Konzepten berücksichtigen und überlegen, wie sie dar-
auf reagieren können (vgl. FTHENAKIS 2003, S. 11).
Im Folgenden wird nun direkt auf die Lebenswelten der Kinder und ihre Veränderungen einge-
gangen.
2.3. Veränderte räumliche und zeitliche Lebenswelten der Kinder
Die räumlichen Lebensbedingungen haben sich durch die Verbauung freier Flächen und durch
die Verkehrszunahme auf den Straßen für Kinder stark verändert. Die Wohnumgebung kann
nicht mehr ohne weiteres als Spielumgebung genutzt werden. Kinder im Vorschulalter sind
mehr denn je von ihren Eltern abhängig, die ihnen Erfahrungsräume ermöglichen müssen (vgl.
COLBERG-SCHRADER/VON DERSCHAU 2002, S. 342). Die ,,`gelebte Straßenkindheit'"
(PEUCKERT 2005, S. 157), die mögliche Kontakte zu allen Altersgruppen eröffnete, hat sich
tendenziell aufgelöst. Spielräume für Kinder haben sich häufig (unter anderem auch auf Grund
der Medien wie z. B. dem Fernseher) in die Wohnung verlagert oder finden sich in Institutio-
nen wieder, die kindgerecht gestaltet sind. Man spricht deshalb auch von der ,,`verhäuslichten
Kindheit'" (PEUCKERT 2005, S. 158). Damit ist gemeint, dass der Spielraum für Kinder vom
öffentlichen Raum wie der Straße in geschlossene Räume verlegt wurde. Diese Aussage ist
empirisch jedoch nur eingeschränkt bewiesen. Kinder halten sich noch immer häufig auf Wie-
sen, Parks und Grünflächen auf. Die Straße lässt allerdings vor allem für Kinder, die in Städten
aufwachsen, keine altersgemischten Spielgruppen mehr zu, da der Verkehr zu hoch ist (vgl.
PEUCKERT 2005, S. 157 ff.).
Ein weiteres Charakteristikum für die heutige Lebenswelt der Kinder ist die sogenannte ,,Ve-
rinselung der Kindheit" (MÜNCHMEIER 2004, S. 11). Wie anfangs schon erwähnt, bietet das
Wohnumfeld häufig keine geeigneten Spielmöglichkeiten, und gerade jüngere Kinder sind
beim Arrangement ihres Tagesablaufes von den Eltern abhängig. Das Arrangement bean-
sprucht viel Zeit, und es bleibt weniger Zeit für das Zusammenleben in der Familie (vgl. COL-
BERG-SCHRADER 2003, S. 269). Die kindliche Lebenswelt besteht aus mehreren `Inseln',
die mehr oder weniger weit weg von ihrem Wohnort liegen. Sie müssen mobil sein, um zu ih-
ren Freizeitaktivitäten zu gelangen. Das Auto nimmt hier einen hohen Stellenwert ein. So ist
ihr Lebensraum von der Mobilität und der Zeit der Eltern abhängig. Spontanes Spielen ist

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kaum noch möglich. Auf jeder `Insel' treffen sie verschiedene Menschen, die zu dieser Zeit auf
dieser `Insel' wichtig sind. Somit sind soziale Beziehungen austauschbar, da immer nur die
Gruppe auf der `Insel' zählt, auf der man gerade ist. Wechselt man die `Insel', wechselt man
auch die Gruppe. Stabile soziale Beziehungen sind schwer aufzubauen, da sich die Kinder nur
selten treffen und auch nur zu einer bestimmten Freizeitaktivität, bei der jeder nur einen klei-
nen Teil seiner Persönlichkeit preisgibt (vgl. SCHÄFER 1996, S. 15 ff.). Sie müssen lernen,
sich auf der jeweiligen `Insel' situationsadäquat zu verhalten. Die Menge der Sozialbeziehun-
gen müssen sie genauso bewältigen wie Erwachsene, denn auf die sozialen Kontexte müssen
sie sich immer wieder neu einstellen (vgl. MÜNCHMEIER 2004, S. 11). Des Weiteren haben
die Kinder nicht mehr die Möglichkeit, sich ihre sozialen Kontakte selbst auszusuchen. Sie
kommen in Gruppen (die meist gleichaltrig sind, da sie funktionsbezogen sind), die von Er-
wachsenen zusammengestellt wurden. ,,Spielen wird zum Termingeschäft." (CONRAD 2006,
S. 3) Die These der `Verinselung' muss jedoch noch weiter empirisch nachgewiesen und vor
allem altersdifferenziert überprüft werden (vgl. COLBERG-SCHRADER/VON DERSCHAU
2002, S. 342). Eine Studie des DJI konnte eine `Verinselung' für die mittlere Kindheit nicht
feststellen. Tendenzen einer ,,sozialen oder kontextuellen Verinselung" (PEUCKERT 2005, S.
162) zeigen sich deutlich vor allem bei Mädchen aus höheren Sozialschichten, die mehrmals in
der Woche an unterschiedlichen funktionsbezogenen Orten mit verschiedenen sozialen Kon-
texten sind (vgl. PEUCKERT 2005, S. 162).
Die `Verinselung' ist verbunden mit der ,,Institutionalisierung von Kindheit" (PEUCKERT
2005, S. 160). Die Freizeitangebote werden speziell an Kinder gerichtet und werden von den
Erwachsenen organisiert und betreut. Sie sind dadurch stark von den pädagogischen Vorstel-
lungen der Erwachsenen geprägt und lassen nur bedingt Räume für Selbstbestimmung und ­
regulierung zu. Kinder brauchen aber genau diese Freiräume, um ihre eigenen Ziele entwickeln
zu können, und um ihre Interessen mit denen von Anderen vereinbaren zu lernen. Der Kontakt
mit Gleichaltrigen ist hier von besonderer Bedeutung, weil die Kinder lernen, Kompromisse zu
schließen, Regeln einzuhalten und zu kooperieren (vgl. COLBERG-SCHRADER/VON DER-
SCHAU 2002, S. 343).
Kinder sind somit sehr verplant und müssen selbst zu Zeitmanagern werden, oder sie sind auf
die Zeitstrukturen ihrer Eltern angewiesen. Es ist empirisch nachgewiesen, dass sie ihr soziales
Leben selbst planen müssen. Gerade jüngere Kinder sind stark von dem abhängig, was ihre
Eltern ihnen bereitstellen. Eine Befragung von Eltern in der LEGO ­ Studie aus dem Jahr 2001

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belegt, dass Kindern kaum Zeit zum selbstbestimmten Spielen zur Verfügung steht. ,,Bei fast
der Hälfte der Drei- bis Fünfjährigen ist die Zeit bereits verplant." (PEUCKERT 2005, S. 161)
Zusammengefasst kann man sagen, dass Kindheit heute eine hohe Orientierungsfähigkeit for-
dert, da sich die Kinder jeden Tag unterschiedlichen funktionsbezogenen Rollenkontexten an-
passen müssen. Spontanes Handeln wird ihnen erschwert und soziale Beziehungen sind häufig
nur noch lockere soziale Geflechte (vgl. PEUCKERT 2005, S. 160 ff.).
Auch hier kommt der Kindertageseinrichtung als eine der `Inseln' eine große Bedeutung zu.
Hier sind die Kinder regelmäßig und auch oft die längste Zeit ihrer frühen Kindheit. Sie muss
Kompensationsmöglichkeiten für die räumlich und zeitlich veränderten Lebenswelten der Kin-
der bereitstellen.

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3. Kindertageseinrichtungen im Wandel
Auch die Kindertageseinrichtungen sind von dem Wandel der Gesellschaft, den veränderten
Familienformen und den veränderten Lebensbedingungen betroffen. Ihre Bildungs- und Erzie-
hungspläne müssen immer wieder neu überdacht und überprüft werden, ob sie noch zeitgemäß
sind. Im Folgenden werden zwei Ansätze vorgestellt, die in der Vorschulbewegung in den 60er
und 70er Jahren entstanden sind, und die auch heute zum Teil noch aktuell sind.
3.1. Der funktionsorientierte Ansatz
3
Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre rückte der Kindergarten in den Mittelpunkt wissen-
schaftlichen und bildungspolitischen Interesses. Die traditionelle Kindergartenpädagogik mit
ihrer Reifungstheorie und dem Kindergarten als Schonraum wurde in Frage gestellt. Das Ler-
nen im Kindergarten rückte in den Vordergrund, da der frühen Kindheit eine große Bedeutung
für die weitere kognitive Entwicklung zugesprochen wurde (vgl. COLBERG-SCHRADER/
VON DERSCHAU 2002, S. 336). Gesellschaftliche Krisen wie z. B. der Sputnik-Schock, der
den technischen Fortschritt der UdSSR zum Vorschein brachte, führten zu der Annahme, man
könnte mit Hilfe geeigneter Lernprogramme kognitive Rückstände beheben. Die kognitive
Förderung sollte deshalb so früh wie möglich beginnen, und gesellschaftliche Benachteiligun-
gen von Kindern sollten kompensiert werden (vgl. BECKER-TEXTOR 1995, S. 19). Es wur-
den demnach zwei Ziele verfolgt: Auf der einen Seite sozialpolitische Ziele, die milieubeding-
ten Bildungsdefizite zu kompensieren, und auf der anderen Seite wirtschaftspolitische Ziele,
die Möglichkeiten der Kinder durch neue Programme auszuschöpfen, um mehr qualifizierte
Arbeitskräfte herauszubilden (vgl. COLBERG-SCHRADER/VON DERSCHAU 2002, S. 336).
Schwerpunkte der pädagogischen Neuorientierung lagen auf der Lernorientierung und Funkti-
onspädagogik. Der Bildungsaspekt hat somit Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre eine eigene
Bedeutung für den vorschulischen Bereich erlangt (vgl. ROUX 2003, S. 80 f.).
Aus diesen Ansätzen heraus entwickelte sich der funktionsorientierte Ansatz. ,,Der Begriff
`funktionsorientierter Ansatz' ist ein Sammelbegriff für all jene Versuche, durch Trainingspro-
gramme und Übungsmaterialien eine Verbesserung des kindlichen Leistungs- und Entwick-
3
In Bezug auf den funktionsorientierten und den situationsorientierten Ansatz wird unter anderem ältere Literatur
aus den 70er und 80er Jahren verwendet, um Darstellungen aus der Zeit der Entstehung der beiden Ansätze darle-
gen zu können, und um die Entwicklung von den 70er Jahren bis heute untersuchen zu können.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2006
ISBN (PDF)
9783958209770
ISBN (Paperback)
9783958204775
Dateigröße
349 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Technische Universität Dortmund – Sozialpädagogik
Erscheinungsdatum
2016 (Januar)
Note
1,0
Schlagworte
Familienform Lebenswelt Kita Bildung Beziehung
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