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Konzepte der Heimerziehung im Wandel: Darstellung der Entwicklung vom Mittelalter bis heute

©2008 Studienarbeit 45 Seiten

Zusammenfassung

Auch heute noch gehen mit dem Begriff Heim bzw. Kinderheim Assoziationen wie die anstaltsmäßige Unterbringung von armen verwaisten Kindern einher. Diese Vorstellung trifft aber vor allem für frühere Zeiten zu, so z.B. für Kinder in Findelhäusern, Waisenhäusern, Klosterschulen und Armenhäusern des Mittelalters. Ziel dieser Anstalten war es vor allem das Leben der Kinder zu erhalten und sie zur Arbeitsamkeit, Gottesfurcht und Demut hinzuführen. Erzieherische Aspekte lagen zu dieser Zeit nicht im Vordergrund der Heimerziehung.
Erst mit dem Fortschreiten der gesellschaftlichen Entwicklung und damit auch dem Vergrößern des Bedürftigenkreises gab es immer mehr Pädagogen, die sich mit Erziehungsansätzen für im Heim untergebrachter Kinder auseinandersetzten. Die geltenden Erziehungsgrundsätze orientierten sich immer an den vorherrschenden gesellschaftlichen Wert- und Normenvorstellungen. In der vorliegenden Studie wird schwerpunktmäßig untersucht, ob und wie Konzepte der Heimerziehung an gesellschaftliche Wert- und Normvorstellungen angepasst sind. Die Autorin untersucht diese Fragestellung anhand des Fortschreitens der gesellschaftlichen Entwicklung und der zur jeweiligen Zeit umgesetzten Konzepte in der Heimerziehung. Zudem wird auf heutige Konzepte der modernen Heimerziehung eingegangen. Die Heimerziehung ist heute nur noch eine Hilfe vieler verschiedener Maßnahmen im Bereich der Jugendhilfe. Typische Merkmale wie anstaltsmäßige Erziehung, großer Schlafsaal und Unterbringung fernab der Gesellschaft gehören dabei schon lange der Vergangenheit an.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


3
Oftmals entstammten diese Kinder illegalen, standesübergreifenden Beziehungen. Das gesell-
schaftliche Ständesystem verpflichtete die Bürger zur Einhaltung der Standesregeln. Die
Zugehörigkeit zu einem Stand konnte nur vererbt werden und Beziehungen mit einem
Partner, der einem anderen Stand angehörte, waren verboten. Kinder dieser illegalen Lieb-
schaften wurden ebenso wie ihre Mütter zunehmend negativ sanktioniert, sodass oftmals
junge Frauen ihre Kinder aus einer solchen illegitimen Beziehung direkt nach der Geburt
aussetzten. In der Hoffnung, dass die Neugeborenen bald gefunden werden, setzten die Mütter
ihre Kinder in der Nähe einer Kirche aus. ,,Die hohe Sterblichkeit der ausgesetzten Kinder
führte [...] zu Hilfsangeboten, die das Leben der Neugeborenen weniger gefährdeten."
5
Im
Hospital St. Spiritus, welches 1198 in Rom gegründet wurde, ,,wurde die ,Rota', eine
Drehlade [...] an einer fensterlosen Außenwand eingerichtet. Ledige Mütter konnten ihr Kind
unerkannt in die Lade legen, an einer Glockenschnur läuten und es so der Obhut des Ordens
anvertrauen."
6
Im Jahre 1228 wurde das erste Hospital mit einem eigenen Waisenhaus in St. Gallen
(Schweiz) gegründet. ,,In der Gründungsurkunde wird zur strengen Beachtung der Standes-
regeln angehalten."
7
Waisen- und Findelkinder wurden immer dem Stand der Armen
zugerechnet und demzufolge auch nur solange versorgt, bis die Kinder in der Lage waren,
sich durch Betteln und Almosen selbständig zu ernähren.
Aufgrund der schlechten Bedingungen für Neugeborene in den Hospitälern wurden die meisten
Säuglinge sofort zu Ziehmüttern gegeben, welche für ihre Dienste einen Ziehlohn bekamen.
Diese Kinder kamen dann im Alter von 5 bis 7 Jahren in das Waisenhaus zurück und lebten in
sehr großen unstrukturierten und meist von Ordensschwestern überwachten Gruppen. Ihr
Tagesablauf glich dem eines klösterlichen Lebens. Erziehungs- oder Bildungsziele gab es in
dem Sinne noch nicht, vielmehr wurden die Kinder zu religiösen Übungen angehalten.
8
Später gab es neben den Ziehmüttern auch noch Pflegefamilien, in denen zunehmend Kinder
auf Dauer untergebracht wurden. Diesen Familien wurde ein geringes Pflegegeld oder eine
einmalige Pflegegeldpauschale gezahlt. Das Pflegegeld und die Möglichkeit Pflegekinder zur
Arbeit einzusetzen, verbesserte die wirtschaftliche Situation der aufnehmenden Pflege-
familie.
9
5
Heitkamp, 1984, S. 24
6
ebd. S. 24
7
ebd. S. 24
8
Sauer, 1979, S. 9
9
vgl. Heitkamp, 1984, S. 24f und Sauer, 1979, S. 10

4
2.2. Die Heimerziehung vom Frühkapitalismus bis zum 20. Jahrhundert
2.2.1. Die Theorie des J. L. Vives
Durch die Zunahme von Manufakturen im 16. Jhd. wurden immer mehr Menschen aus dem
bäuerlichen Arbeitsprozess herausgelöst und entwickelten sich zum Frühproletariat. Dadurch
kam es zu einer relativen Verelendung und zum Zuwachs von Armen und armen Kindern. Die
Zahl unversorgter Kinder nahm zu. Gleichzeitig brachten Kriegsereignisse wie der 30-Jährige
Krieg (1618 ­ 1648) große Zerstörung, eine Verrohung der Sitten und massenhaft
Waisenkinder hervor. Die Auswirkungen des 30-Jährigen Krieges auf die Lebensverhältnisse
der Bevölkerung waren noch Jahrzehnte danach spürbar.
Unter dem Einfluss des Humanismus und der Reformation entwickelte am Anfang des 16.
Jhd`s Johannes Ludovicus Vives (1492 ­ 1540) erstmals eine systematische Darstellung der
Fürsorge. Während im Mittelalter die Fürsorge im Wesentlichen auf die materielle Ver-
sorgung ausgerichtet war, werden hier erstmals Erziehungskonzepte sichtbar.
10
Die
beginnende Auflösung der feudalen Gesellschaftsordnung und die damit einhergehende
radikale Veränderung der Existenzform für weite Teile der Bevölkerung führte auch zu einer
,,höheren Bewertung der Arbeit und zur schärferen Betonung der Arbeitspflicht."
11
Der
Verschärfung der sozialen Probleme konnte nicht mehr wie im Mittelalter mit mildtätiger
Unterstützung begegnet werden. Statt Versorgung ­ Erziehung, Bildung und Eingliederung in
den Arbeitsprozess. Der Grundgedanke von Vives besteht darin statt bloßer Versorgung ein
geschlossenes System von Erziehung, Bildung, Ausbildung und Eingliederung in den
Arbeitsprozess einzuführen und über eine Art Internatsschule zu realisieren. Dieses Konzept
bezog sich nicht nur auf Findlinge und Waisenkinder, sondern gleichzeitig auf Armenkinder,
die ab dem 7. Lebensjahr in dieses System einbezogen werden sollten.
12
Dieser erste erziehungspädagogische Ansatz entsprach den Bedingungen sich ändernder
gesellschaftlicher Verhältnisse, war aber für die Umsetzung seinerzeit weit voraus. Da sich
die Gesellschaftsstrukturen zu dieser Zeit noch im Umbruch befanden, neue Strukturen erst
am Entstehen waren, konnte sich Vives` Erziehungskonzept noch nicht durchsetzen. Vives
Konzept entsprang dem Humanismus. Humanistische Ideale wurden aber für höhere
Gesellschaftsschichten, vornehmlich für das sich herauskristallisierende Bürgertum, in An-
spruch genommen. Eine Einbeziehung der unteren Gesellschaftsschichten in dieses Ge-
dankengut kam den Herrschenden dieser Zeit nicht in den Sinn.
10
vgl. ebd. S. 25ff
11
Sauer, 1979, S. 11
12
vgl. ebd. S. 11ff

5
2.2.2. Erziehungspraxis in den Franckeschen Anstalten
Bis weit ins 18.Jhd blieb von der Idee Vives` nur der Aspekt der Arbeitserziehung vor-
herrschend. Waisenhäuser wurden vielfach Arbeitshäuser mit ausgeprägter Kinderarbeit. In
den ab 1665 gegründeten Waisenhäusern bestanden die Ziele der Franckeschen Erziehung in
folgendem: ,,Liebe zur (göttlichen) Wahrheit, Gehorsam und Fleiß."
13
In diesen Anstalten gab
es Schulunterricht, die Kinder wurden zu Körperhygiene angehalten und in praktischen
Tätigkeiten unterrichtet. Damit führte August Hermann Francke (1663 ­ 1727) am ehesten die
Ideen von Vives weiter. Durch eine strenge, aber nicht unbedingt strafend gemeinte Er-
ziehungspraxis wollte Francke ,,Lügen, Eigen-Wille und Müssig-gang"
14
durch eine
,,dauernde, rastlose Beschäftigung der Kinder mit vielerlei nützlichen Tätigkeiten"
15
begegnen. Francke fasste ebenso das kindliche Spiel als Müßiggang auf. Es sollte
lebenspraktisches Wissen vermittelt werden, die Ausnutzung ,,der kindlichen Arbeitskraft
sollte aber ausgeschlossen bleiben."
16
Letzterer Ansatz konnte aber unter dem Zwang der
ökonomischen Verhältnisse letztendlich nicht mehr eingehalten werden. Vornehmlich bei den
Nachahmungen der Franckeschen Einrichtungen wurden diese Anstalten aus rein öko-
nomischer Sicht betrieben, in denen die Arbeitserziehung und Ausbeutung der Zöglinge im
Vordergrund stand. Eine zeitgenössische Untersuchung über eine solche Einrichtung in
Potsdam aus dem Jahr 1724 kommt zu folgendem Urteil: ,,Es mag sein, daß durch diese Art
der Ausbildung der Zweck erreicht und ein Stamm geschickter Industriearbeiterinnen, unser
Gefühl jedenfalls sträubt sich gegen diese barbarische Ausbeutung der Kinderkräfte."
17
Hier
zeigt sich deutlich, dass eine anstaltsmäßige Erziehung immer durch die vorherrschende
gesellschaftliche Situation geprägt ist und in dem vorliegenden Beispiel den Interessen des
Manufakturkapitalismus folgt.
Ein Schüler Franckes, Ludwig von Zinzendorf, fasste die auf Arbeit ausgerichtete Anstalts-
erziehung im folgenden Lebens- und Glaubensbekenntnis zusammen: ,,Also man arbeitet
nicht allein, daß man lebt, sondern man lebt um der Arbeit Willen, und wenn man nichts mehr
zu arbeiten hat, so leidet man oder entschläft."
18
13
ebd. S. 19
14
Francke 1871 zitiert nach Sauer, S. 19
15
ebd. S. 19
16
ebd. S. 19
17
zitiert nach Sauer, 1979, S. 21
18
Blankertz, 1982, S. 53

6
2.2.3. Einfluss des Johann Heinrich Pestalozzi
Erst in der Epoche der Aufklärung wurde der Erziehung- und Bildungsgedanke wieder
aufgegriffen. Wurden bisher in der Anstaltserziehung die Zöglinge wie kleine Erwachsene
behandelt, so gewann im 18. Jhd. bei den Philanthrophen der Gedanke zunehmende Be-
deutung, dass das Kind ein Eigenrecht und eine Eigenständigkeit besitzt. Pestalozzi (1746 ­
1827) ein Schweizer Pädagoge und Sozialreformer stellte Anfang des 19. Jhd.´s ein erstes
theoretisches Modell der Erziehung in erzählerischer Form vor (,,Wie Gertrud ihre Kinder
lehrt" 1801). Für Pestalozzi umfasst Erziehung nicht nur Erziehung des Kindes, sondern
Erziehung des Volkes. ,,Ihm wächst das Problem der Erziehung als Beobachter sozialer
Unordnung und als Visionär wiederhergestellter Lebens- und Gesellschaftsordnungen zu."
19
Erziehung soll also die Menschen für die Bewältigung ihrer sozialen Situation befähigen. Es
wird davon ausgegangen, ,,dass eine Verbesserung der sozialen Umstände nicht durch eine
gewaltsame Umgestaltung einer Gesellschaft, sondern durch die innere Veredlung eines
Menschen zu bewirken sei ...; auch dem Armen soll die Entfaltung seiner Kräfte ermöglicht
werden zu wirtschaftlichen Nutzen und menschlicher Vervollkommnung."
20
Das Grund-
element seiner Erziehungstheorie ist der Familienkreis. ,,Eine Erneuerung der unteren
Schichten des Volkes konnte seiner Meinung nach nur von der Familien- und Hauserziehung
ausgehen, von einer sittlichen, gesunden Lebensweise."
21
Das in der Literatur als Wohn-
stubenpädagogik bezeichnete Modell geht davon aus, dass der Seelenzustand des Kindes
oberstes Anliegen der Eltern ist und das herzliche Bindungen und gemeinsame Arbeit
umfassende Erziehung leisten können.
22
Pestalozzi ging davon aus, dass auch die öffentliche Erziehungsarbeit diesem Prinzip folgen
muss. Er selbst leitete von 1804 bis 1825 ein Erziehungsinstitut, wo er seine Ideen zur
Umsetzung brachte. In seiner Einrichtung standen Erzieher und Zöglinge in ständiger
Interaktion und teilten ihr Leben miteinander. Durch Erziehung sollten sich die in der
menschlichen Natur befindlichen positiven Kräfte entfalten. Für Pestalozzi kam es darauf an
Kopf, Hand und Herz gleichermaßen zu entwickeln und somit die geistigen, sittlich-religiösen
und körperlichen Kräfte zu fördern. Auch in der Heimerziehung strebte er danach, dass
emotionale Geborgenheit als wichtigste Voraussetzung der menschlichen Entwicklung
erlebbar wurde. Sein persönliches Arrangement fasste er in folgende Worte: ,,Meine Hand lag
in ihrer Hand, mein Aug` ruhte auf ihrem Aug`. Meine Thränen flossen mit den ihrigen, und
19
Dräger, 1989, S. 9
20
Günther, 1973, zitiert nach Sauer 1979, S. 35
21
Sauer, 1979, S. 35
22
vgl. Sauer, 1979, S. 36

7
mein Lächeln begleitete das ihrige. Sie [...] waren bey mir, und ich war bey ihnen."
23
Pestalozzi beschreibt hier nicht nur sein Handeln, sein Gefühl und seine Gefühlswelt, er
formuliert gewissermaßen Ideale für den Erzieher und an dessen emotionale Bindung zu den
ihm anvertrauten Zöglingen. Sein Ideal heißt Liebe zum Kind und diese Liebe zu leben. Es
geht ihm nicht nur um das ,,Aufbewahren", sondern um emotionale Geborgenheit als
erziehendes und heilendes Milieu.
Pestalozzis Wirken beeinflusste die moderne Pädagogik vor allem gegen Ende des 19. Jhd.
und im 20. Jhd. und wirkt hinein bis in die Gegenwart. Der oben formulierte Anspruch wurde
im 20. Jhd. mit der Entwicklung der Kinderdorfbewegung und ähnlicher Konzepte umgesetzt.
Zu Lebzeiten Pestalozzis bis zum Ende des 19. Jhd.´s war die verbreitete Praxis eine andere.
Bedingt durch die weitere Entwicklung der Industrie wuchs die Stadtbevölkerung stark an.
Massenhaft strömte verarmte Landbevölkerung auf der Suche nach Arbeit in die Städte. Ein
Heer von Arbeitslosen und Armen entstand, bei der jegliche soziale Absicherung fehlte.
Dadurch wuchs auch die Zahl versorgungsbedürftiger Kinder stark an. Preußen erließ 1878,
also in der Zeit der vollen Ausprägung des Kapitalismus, ein ,,Gesetz zur Unterbringung
verwahrloster Kinder in Erziehungsanstalten." Es folgte eine Praxis der Errichtung von
Heimen zum Zwecke der Zwangserziehung. Kleinkinder wurden in Pflegefamilien
untergebracht, weil hier die Kosten niedriger waren. Pflegeeltern wiederum vermittelten die
Kinder in Fabrikarbeit oder nutzten ihre Arbeitskraft in der Heimarbeit.
24
Durch das Entstehen einer starken Arbeiterbewegung am Ende des 18. Jhd.`s und damit
einhergehender sozialer Unruhen und revolutionärer Ideen erkannte der Staat eine innere
Bedrohung und fürchtete Zerfall und Machtverlust. Dem sollte mit sozialen Reformen
begegnet werden. Die von Bismarck eingeleiteten Reformen brachten erste ,,Arbeitsschutz-
bestimmungen, Renten-, Kranken- und Unfallversicherungen" und ,,in deren Folge auch erste
präventive Formen sozialpädagogischer Arbeit. Beratungsstellen für Mütter, Kinderfürsorge-
stellen und Schulfürsorgestellen wurden eingerichtet, erste Erholungsheime für Kinder
entstanden."
25
Was hier wie ein totaler Umschwung in den sozialen Verhältnissen und nach
sozial-orientierter Heimerziehung aussieht muss relativiert werden. Die Durchsetzung dieser
gesetzlichen Möglichkeiten erfolgte nur langsam, es kam zu Kompetenzproblemen zwischen
Staat, Land und Kommunen. Wegen der beginnenden Kriegsvorbereitung am Anfang des 20.
Jhd.´s waren auch die Gelder für entsprechende Projekte nur schwer zu beschaffen. Die
Erziehungspraxis in den Heimen blieb weitgehend hinter den neuen gesetzlichen Möglich-
23
Pestalozzi zitiert nach Sauer, 1979, S. 36f
24
vgl. Heitkamp, 1984, S. 30 ff
25
Heitkamp, 1984, S. 31 f

8
keiten und den Ansprüchen an eine moderne Erziehung zurück. Während der Kaiserzeit
waren Erziehungsziele vorwiegend vom Untertanengeist geprägt. Diese Geisteshaltung findet
einen hervorragenden Ausdruck in dem Roman von Heinrich Mann ,,Der Untertan."
2.3. Die Heimerziehung in Deutschland bis zur deutschen Teilung
2.3.1. Weimarer Republik
Die Weimarer Republik beerbt auch in der Anstaltserziehung die Folgen des Ersten
Weltkrieges. Eine hohe Zahl von Kriegs- und Sozialwaisen waren zu versorgen. Die
Bevölkerung litt Hunger, und die junge Republik, die in den Wirren der Novemberrevolution
entstanden war, litt wirtschaftlich unter den Folgen des Versailler Vertrages. Um diese
Situation lösen zu können, verfiel man in den staatlichen Stellen auf die Idee, insbesondere
sozialauffällige Fürsorgezöglinge an Familien vornehmlich in Ostpreußen zu geben, um die
damals gleichzeitig einsetzende Landflucht zu bekämpfen. Die dortige Lage in der Land-
wirtschaft war durch einen Mangel an Arbeitskräften bedingt durch die Zahl der Kriegsopfer,
Kriegsgefangenen und Kriegsversehrten gekennzeichnet. Allerdings praktizierte man diese
Art der ,,Fürsorge" bereits während des ersten Weltkrieges ab 1916.
26
Von Kriegs-
einwirkungen entwurzelte Kinder, ,,die meist in der Stadt aufgewachsen und dort in
Verwandschafts- und Freundschaftsbezügen verwurzelt waren, [wurden] in die weit entfernte
Provinz gebracht, man möchte sagen, von Staatswegen verschleppt, um dort als billige
Arbeitskräfte ausgebeutet zu werden."
27
Die Lage in den bestehenden Anstalten und Waisen-
häusern war gleichermaßen dramatisch. Sie waren überfüllt, litten an materieller Not und
konzentrierten sich nur noch auf Versorgung. Ab 1922 erfolgten Zwangseinweisungen in die
nach dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz gegründeten Fürsorgeheime. ,,Die erzwungene
Heimeinweisung bewirkte beim Zögling offenen oder versteckten Widerstand [...]."
28
Das
wiederum hatte Strafen und harte Arbeit zur Folge. Eine an pädagogisch orientierten
Grundsätzen fand nicht statt. Pestalozzis Gedanken waren hier völlig beiseite geschoben. Eine
zeitgenössische Analyse von 1923 nennt Karzer
29
, neunschwänzige Katze
30
und Prügelstock
als Erziehungsmittel.
31
In der materielle Lage der Anstalten und der dort geübten Erziehungs-
26
vgl. Sauer, 1979, S. 64ff und 196
27
Sauer, 1979, S. 65
28
Heitkamp, 1984, S. 33
29
Ein Karzer ist ein Arrestraum.
30
Eine neunschwänzige Katze ist eine speziell als Züchtigungsinstrument angefertigte Peitsche mit 9 kurzen
Lederriemen.
31
vgl. Heitkamp, 1984, S. 33

9
praxis widerspiegeln sich die gesellschaftlichen Bedingungen der Nachkriegsperiode. Wie
auch bisher in der meist düsteren Geschichte der Erziehungspraxis und den von hervor-
ragenden Pädagogen immer wieder entwickelten humanen Erziehungsansätzen, wurden auch
in der Weimarer Republik neue pädagogische Ideen konzipiert. In der als Reformpädagogik
bezeichneten Bewegung wurde der ,,Zögling zum Ausgangspunkt aller pädagogischen
Überlegungen [gemacht] und nicht wie bisher die Macht des Staates oder die des Amtes eines
Vollzugs- oder Erziehungsbeamten vorangestellt."
32
Das Wirken der Reformpädagogen ging
auch einher mit der ersten sozialen Jugendgesetzgebung Deutschlands, dem Reichsjugend-
wohlfahrtsgesetz (RJWG, 1922). In diesem Gesetz wurde das Recht auf ,,Erziehung zur
leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit" formuliert.
33
Gleichzeitig ent-
standen Jugendämter. Dieses für seine Zeit zweifellos epochale Gesetzeswerk blieb insofern
weitestgehend Absichtserklärung, da rechtsverbindliche Ausführungsbestimmungen in die
Kompetenz der Länder überwiesen wurden. Die Länder sowie die zuständigen Kommunen
konnten in Folge der wirtschaftlichen Not die Umsetzung in Erziehungseinrichtungen, die
dem Gesetzeswerk dem Sinn nach adäquat gewesen wären, nicht realisieren.
34
Somit konnten
unter dem Wirken der Reformpädagogen nur Insellösungen entstehen, in denen modernes
pädagogisches Denken auch in der Erziehungspraxis umgesetzt wurde. Neben den kon-
servativen Anstalten entstanden Modelleinrichtungen, die von sozialpädagogisch orientierten
Heimpädagogen geleitet wurden. Diese standen oftmals den Forderungen der Arbeiter-
bewegung der 20er Jahre nahe. Am ,,Ende der 20er Jahre konnte sich der Gedanke einer
gewissen Humanisierung der Heimerziehung zumindest bei den evangelischen und freien
Trägern langsam durchsetzen."
35
2.3.2. Öffentliche Erziehung im III. Reich
Während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft wurden die Jugendhilfe und die
Heimerziehung auf eine ideologische Grundlage gestellt. Alle institutionellen Einrichtungen
wurden repressiv der NS-Ideologie untergeordnet. Damit war Erziehung ideologisiert. Für die
weiteren Darlegungen macht es sich notwendig einige erziehungsrelevante Aspekte der NS-
Ideologie herauszuarbeiten. Ein die nationalsozialistische Weltanschauung prägendes
Theorem ist der Sozialdarwinismus mit der daraus abgeleiteten Rassenlehre. Der welt-
32
ebd. S. 34
33
ebd. S. 34
34
ebd. S. 33f
35
Sauer, 1979, S. 72

10
anschauliche Kernbegriff des Nationalsozialismus ist die RASSE. Diese Weltanschauung
unterscheidet zur Untermauerung ihres Herrschaftsanspruches in höhere und niedere Rassen
und spricht der so genannten nordischen Rasse, dem Arier, die Funktion einer Herrenrasse zu,
der die Aufgabe zufällt über alle anderen Rassen zu herrschen.
36
,,Allein der Arier war nach
Hitlers Auffassung `der Begründer höheren Menschentums`, denn nur er, `der Prometheus
der Menschheit` besaß hohe kulturelle Leistungsfähigkeiten."
37
Die Reinhaltung der Rasse
und die Züchtung des so genannten nordischen Erbgutes war eine Forderung Hitlers, die ihre
Entsprechung im nationalsozialistischen Familien- und Frauenbild fand und sich auch in der
Strukturierung der Jugendhilfen respektive der Heimerziehung widerspiegelte. Das
Familienprinzip wurde zwar ideologisch auf einen Sockel gestellt und in der Praxis dennoch
pervertiert. Unter dem Ziel der Rassezucht und der Erhaltung der arischen Reinheit wurden
arischen Familien propagandistisch wirksame Hilfen geleistet. ,,Man gewährte Ehestands-
darlehen, Kinderbeihilfen, Steuerermäßigungen und sogar völlige Steuerfreiheit ab fünf
Kindern, förderte den Bau von Familieneigenheimen, verbesserte die Säugling- und Mütter-
beratung, ebenso wie den Mütterschutz, `verschickte´ großzügig Kinder zu Erholung aufs
Land und ehrte kinderreiche Mütter mit dem Mutterkreuz."
38
Ein mit der Rassenlehre eng
verbundener Begriff, der vor allem in der Erziehungspraxis ständig wiederkehrt ist die
GEMEINSCHAFT. ,,Der Begriff Gemeinschaft wurde zum Zentralbegriff des sozial-
anthropologischen Denkens des Nationalsozialismus."
39
Der Gemeinschaftsbegriff wird
inhaltlich unterlegt mit solchen Vokabeln wie Volksgemeinschaft, Blutgemeinschaft und
Volksgenosse. In diesem Gemeinschaftsbegriff wurde das Individuum aufgelöst, in die
Gemeinschaft absorbiert und ein rassisch bedingtes ,,Wir-Bewusstsein" geschaffen.
40
Der
Gemeinschaftsbegriff wurde von den Nationalsozialisten praktisch gelebt. Von der Schaffung
staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen, über das Wirken der Hitlerjugend, bis hin zu
Einzelaktionen wie großen Massenaufmärschen z.B. anlässlich von Reichsparteitagen,
bestand das Ziel darin die einzelne Persönlichkeit in der Gemeinschaft aufzulösen und sie zur
manipulierbaren und lenkbaren Masse zu machen. ,,Gemeinschaft war für die National-
sozialisten reiner Kalkül. Die Gemeinschaft wurde zur Kampfgemeinschaft, Lebensgemein-
schaft, Glaubensgemeinschaft stilisiert."
41
Der Totalitätsanspruch des nationalsozialistischen
Regimes als Herrschaftsanspruch über alle Menschen deutschen bzw. arischen Blutes und die
36
vgl. Kinz, 1991, S. 86ff
37
Hitler, A.: Mein Kampf. München 1933, zitiert nach Kinz, 1991, S. 91
38
Sauer, 1979, S. 73
39
Kinz, 1991, S. 94
40
ebd. S. 86f
41
ebd. S. 98

11
Unterdrückung aller anderen Denkansätze wie bürgerliche, pazifistische, liberalistische,
marxistische usw. ließ sich nur durchsetzen, wenn die Massen im Sinne der national-
sozialistischen Weltanschauung manipuliert und als Volksgemeinschaft beherrscht werden.
Deshalb betrachtet der NS-Staat sich selbst als Erziehungsstaat und seine Bewegung als
Erziehungsbewegung.
42
Erziehung im nationalsozialistischen Sinne meint Erziehung der
gesamten Volksgemeinschaft und Erziehung nicht nur am Kind. Somit wird ein Erziehungs-
anspruch verkörpert, der vom Kind bis ins Alter reicht. ,,Was in der Zukunft das deutsche
Volk zum Nationalsozialismus führen muß, kann nur durch eine ewig gleichmäßige Er-
ziehung gelingen."
43
Diesen Gedanken vertieft Hitler weiter, indem er auf dem Reichs-
parteitag 1935 folgendes forderte: ,,Von einer Schule wird in Zukunft der junge Mann in die
andere gehoben werden, beim Kind beginnt es und beim alten Kämpfer der Bewegung wird
es enden."
44
Weiter schlussfolgert er: ,,Dann wird sich erst der Kreis der Erziehung unseres
Volkes schließen. Der Knabe, er wird eintreten in das Jungvolk, und der Pimpf, er wird
kommen zur Hitler-Jugend, und der Junge der Hitler-Jugend, er wird dann einrücken in die
SA, in die SS und in die anderen Verbände, und die SA-Männer und die SS-Männer werden
eines Tages einrücken zum Arbeitsdienst und von dort zur Armee, und der Soldat des Volkes
wird zurückkehren wieder in die Organisation der Bewegung, der Partei, in SA und in SS, und
niemals mehr wird unser Volk dann so verkommen, wie es leider einst verkommen war!"
Damit macht Hitler einen totalen Anspruch auf Erziehung geltend. Dass er dabei gewillt ist,
sämtliche Strukturen der NSDAP und auch des Staates einzusetzen, also vom Pimpf bis zur
Mitgliedschaft in Partei, SA und SS, verdeutlicht diesen totalen von der national-
sozialistischen Bewegung geführten Erziehungsanspruch. Erziehung ist damit nicht nur
totalitär, sondern auch repressiv. Ein Ausbrechen aus diesen Strukturen wurde nicht geduldet,
sondern Institutionalisierung der Erziehung verhindert. Die oben aufgeführte Pervertierung
der Familienerziehung liegt damit auf der Hand. Allenfalls im Kleinkindalter soll der
Erziehungseinfluss ­ natürliche im nationalsozialistischen Sinne ­ in den Händen von Mutter
und Vater liegen. Spätestens mit dem Schuleintritt und der Erfassung als ,,Jungpimpf"
übernimmt der nationalsozialistische ,,Erziehungsstaat" die Führung. Die Rolle der Familie
wird in den Hintergrund gedrängt. Die Durchsetzung der nationalsozialistischen Erziehungs-
ideologie oblag vor allem der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), einem Verein
der der NSDAP angegliedert war. Die NSV war gemäß der vorherrschenden Rassenideologie
42
Stahkmann/Schiedeck, 1991, S. 1ff
43
Hitler, 1937 ohne Seitenangaben
44
ebd.

12
verantwortlich für die Differenzierung und letztlich die Selektion der pflegebedürftigen
Kinder- und Jugendlichen. Differenziert wurde nach:
1. ,,- erbgesunden, normal begabten, lediglich erziehungsgefährdeten Kindern und
Jugendlichen,"
2. ,,- stärker gefährdeten, erbminderwertigen, schwer erziehbaren, potenziell aber noch
resozialisierbaren Kindern und Jugendlichen" und
3. ,,- schwersterziehbaren, anlage- oder charakterbedingt kaum noch besserungsfähigen
Jugendlichen"
45
Die erste Gruppe wurde in Jugendheimstätten der NSV eingewiesen, die von strammen der
NS-Ideologie ergebenen Erziehern und Leitern geführt wurden. Ziel war es, diese Kinder und
Jugendlichen voll in das nationalsozialistische System zu integrieren. Erziehung in der
Gemeinschaft und durch die Gemeinschaft war Ideologie, Methode und Praxis zugleich. Der
NS-Staat realisierte sich hier seinem Selbstverständnis entsprechend als Erziehungsstaat.
Die zweite Gruppe, als erbminderwertig eingestuft, wurde bei Anordnung der Fürsorge-
erziehung den konfessionellen Anstalten zugewiesen.
46
Hier sollten sie auf das billigste
untergebracht werden und als so genannte ,,Bewahrungsschützlinge" in Fabriken und in der
Landwirtschaft selbst die Kosten ihres Heimaufenthaltes erbringen.
47
Die dritte Gruppe wurde in besondere ,,polizeiliche Schutzlager" eingewiesen, die den Kon-
zentrationslagern ähnlich waren. Hier herrschte militärischer Drill und harter Zwang vor.
,,Eine Entlassung aus diesen Zwangslagern für über 16-jährige Jugendliche ist grundsätzlich
nicht vorgesehen. Bei endgültig festgestellter Unerziehbarkeit erfolgt mit der Volljährigkeit ­
spätestens mit 25 Jahren ­ Überführung in ein Arbeitshaus oder ein Konzentrationslager, also
eine endgültige Ausstoßung aus der `Volksgemeinschaft´."
48
Nicht unerwähnt kann das
Euthanasieprogramm der Nazis bleiben. Aus konfessionellen Heimen wurden geistig Be-
hinderte, Juden und Zigeunerzöglinge aussortiert und in Vernichtungslagern umgebracht.
45
Jordan/Sengling, 2000, S.50
46
vgl. ebd. S. 50
47
vgl. Sauer, 1979, S. 78
48
Hasenclever, C.: Jugendhilfe und Jugendgesetzgebung seit 1900. Göttingen 1978 zitiert nach Jordan/Sengling,
2000, S. 50f

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2008
ISBN (PDF)
9783958209862
ISBN (Paperback)
9783958204867
Dateigröße
726 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg – Sozialpädagogik
Erscheinungsdatum
2016 (Januar)
Note
1,0
Schlagworte
Findelkind Frühkapitalismus Pestalozzi Kinderheim Öffentliche Erziehung
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