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Sprachwandel: Unsichtbare Hand, natürlicher grammatischer Wandel und Sprachökonomie

©2004 Studienarbeit 49 Seiten

Zusammenfassung

In der vorliegenden Studie untersucht der Autor bestimmte Prozesse des Sprachwandels. Er geht dabei besonders auf die Theorien von Stampe und Wurzel ein. Nach eine anfänglichen Definiton von Sprachwandel wird die Geschwindigkeit betrachtet, mit der sich Sprachwandel mitunter vollzieht, und es wird analysiert, warum sich Sprachen überhaupt verändern. Im Anschluss daran werden einzelne Theorien vorgestellt und genauer beleuchtet.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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bezeichnen«. Nein: Wenn »wir nicht nur in den privaten, sondern sogar in den öffent-
lich-rechtlichen Medien aus gedankenloser Effekthascherei mit Amerikanismen und
Anglizismen traktiert werden«, so führt dies ­ so der VDS ­ auch dazu, dass »ganze
Bevölkerungsgruppen durch die Mischmaschsprache ,,Denglisch" vom sozialen Le-
ben ausgegrenzt werden«, sich »Verständigungs- und Eingliederungsprobleme« er-
geben, die bis hin zur sprachlichen Diskriminierung entgegen Artikel 3, Absatz 3 un-
seres Grundgesetzes (,,Niemand darf wegen (...) seiner Sprache (...) benachteiligt
(...) werden.")« reichen (VDS 2004, S.1f.).
Nicht zuletzt vor dem Hintergrund solcher Einlassungen ist meiner Meinung nach
Wurzel zuzustimmen, wenn er anmerkt, dass Interesse der Linguistik habe in den
letzten Jahren »erfreulicherweise wieder zugenommen«, und darauf hinweist, dass
die inzwischen vorliegenden - recht unterschiedlichen - »Wandel-konzeptionen«
(Wurzel 1997, S.295) jeweils einen konstruktiven und wertvollen Beitrag zu einer
,,Theorie des Sprachwandels« darstellen, »die diese Bezeichnung wirklich verdient«
(Wurzel 1988, S.510).
Wenn Wurzel von einer Sprachwandeltheorie spricht, die tatsächlich mit Recht als
eine solche bezeichnet werden kann, so ist in dieser Formulierung - zumindest impli-
zit ­ eine Absage an die aus linguistischer Sicht nicht haltbaren Sprachverfalls-
Theorien enthalten. Darüber hinaus weist er damit aber auch auf eine (weiterhin fort-
bestehende) Aufgabe der Sprachwandelforschung hin (vgl. a. Keller 1982, S.1).
Denn so wertvoll die Theorie der unsichtbaren Hand in der Sprache (Keller
1982/1990), der Ansatz der Sprachökonomie (u.a. Werner 1991) oder das Konzept
des natürlichen grammatischen Wandels (Wurzel 1975/1984) auch sein mögen, die
genannten Ansätze sind - jeweils für sich allein betrachtet ­ nicht in der Lage,
sprachlichen Wandel in allen seinen Erscheinungen in angemessener Weise zu er-
klären. Insbesondere Wurzel (1997), aber auch Keller (1993) und Werner (1989) ha-
ben in diesem Zusammenhang jedoch darauf hingewiesen, dass eine systematische
Verknüpfung ihrer Ansätze ­ nicht zuletzt wegen der verschiedenen Schwerpunkt-
setzungen ­ nicht nur möglich, sondern auch theoretisch als sehr gewinnbringend
anzusehen ist.

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Um zu einer Einschätzung darüber zu gelangen, inwiefern die »Invisible-hand-
Theorie« Kellers, das Konzept des natürlichen grammatischen Wandels, wie es von
Wurzel vertreten wird, oder auch der Ansatz der Sprachökonomie, der vor allem mit
Werner verbunden wird, anzusehen sind als Beiträge zu einer »Theorie des Sprach-
wandels, die diese Bezeichnung wirklich verdient« (Wurzel 1988, S.510), gilt es zu-
nächst, die wesentlichen Aussagen bzw. Grund-annahmen der oben genannten An-
sätze herauszuarbeiten. Hierbei wird ein besonderes Augenmerk darauf zu richten
sein, was jeweils genau als Sprachwandel definiert wird, welche Gründe bzw. Ursa-
chen für sein Auftreten benannt werden und welche Phänomene erklärt werden
(können). Anschließend ist es in einem weiteren Schritt möglich, aufzuzeigen, an
welchen Stellen zwischen den ­ wie Wurzel zurecht anmerkt auf den ersten Blick
sehr unterschiedlichen - Ansätzen Verbindungspunkte und damit auch Chancen für
eine Integration in eine umfassende bzw. umfassendere Sprachwandeltheorie beste-
hen.
Ein besonderes Gewicht ist dabei auf die Vorschläge von Keller und Wurzel zu le-
gen. Während sich zumindest Berührungspunkte zwischen der Sprachökonomie und
den beiden anderen Ansätzen recht schnell entdecken lassen, standen gerade in
Bezug auf die ,,Invisible-hand-Theorie" und den natürlichen grammatischen Wandel
bislang vor allem »die Unterschiede [...] im Mittelpunkt«. Insbesondere hier kann der
Eindruck entstehen, »als hätten die [...] Konzepte eigentlich nichts gemeinsam, als
wären die ihnen zugrunde-liegenden Sehweisen unüberbrückbar« (Wurzel 1997,
S.295).
1
Bevor jedoch die Sprachwandeltheorien von Keller und Wurzel näher betrachtet wer-
den, erscheint es sinnvoll, zunächst das Phänomen Sprachwandel genauer zu be-
trachten, um so zu einem Vergleichsmaßstab zu gelangen, der an beide Theorien
angelegt werden kann.
1
Aus diesem Grund werden im Rahmen dieser Arbeit auch Kellers Theorie der unsichtbaren
Hand und Wurzels Ansatz des natürlichen grammatischen Wandels genauer betrachtet, wo-
hingegen ausgewählte Grundannahmen der Sprachökonomie lediglich in knapper Form an
geeigneter Stelle (mit) in den Blick genommen werden.

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1. Grundsätzliches zum Sprachwandel
1.1
Was verändert sich? ­ Versuch einer Definition von »Sprachwandel«
Um den Begriff »Sprachwandel« definieren zu können bzw. um bestimmen zu kön-
nen, was sich verändert, wenn von Sprachwandel die Rede ist, ist es erst einmal
notwendig, zu klären, was unter »Sprache« und »Wandel« zu verstehen ist bzw. ver-
standen werden soll. Notwendig ist dies vor allem, da eine konsensfähige Umschrei-
bung für den Begriff des »Wandels« - wie z.B. »Veränderung in der Zeit« - leicht zu
finden ist, wohingegen der Sprachbegriff, in der Linguistik grundsätzlich umstritten ist
und aus diesem Grund auch uneinheitlich benutzt wird (vgl. Lüdtke 1984, S.3). Den-
noch ist es möglich, eine Definition von »Sprache« zu geben, die sich wohl mit allen
heutigen Sprachtheorien vereinbaren lässt. Man kann »Sprache« ganz allgemein
auffassen als ein komplexes System, das sich zusammensetzt aus mehreren Sub-
systemen von Einheiten und Regeln, wobei diese sich danach unterscheiden lassen,
ob sie in einer Kommunikationssituation dazu dienen, die grammatische Richtigkeit
(im Sinne von phonologischer, morphologischer, syntaktischer und evtl. auch seman-
tischer Korrektheit) sprachlicher Ausdrücke oder die pragmatische Angemessenheit
einer Äußerung sicher zu stellen (vgl. Linke u.a. 1996, S.370f.).
Im Anschluss hieran lässt sich »Sprachwandel« definieren als ein partieller Einhei-
ten- und Regelwandel. Dies bedeutet, dass generell alle Aspekte der Sprachstruktur
und des Sprachgebrauchs Veränderungen unterworfen sind bzw. sein können, dies
jedoch nicht »einfach eine ganz andere Sprache« entstehen lässt. Betrachtet man
vor diesem Hintergrund z.B. Steiners Klage, dass die heutige Sprache »nicht mehr
die Sprache Goethes, Heines oder Nietzsches, [...] nicht einmal mehr die Sprache
Thomas Manns« sei (G. Steiner 1960, zit. n. Linke u.a. 1996, S. 381), so ist dies
zwar nicht vollkommen falsch, jedoch wäre eine differenziertere Ausdrucksweise si-
cher angebracht. Denn: »Verändert haben sich nur gewisse Einheiten und Regeln in
bestimmten Bereichen«, während viele andere »Einheiten und Regeln, ja ganze Be-
reiche unverändert geblieben« sind (ebd., S.371).
Auch wenn die gegebene Definition von Sprachwandel als partiellem Einheiten- und
Regelwandel geeignet erscheint, den eingangs zitierten Sprachverfalls-Theorien ent-
gegen zu treten, ist noch immer nicht vollständig geklärt, was unter Sprachwandel zu

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verstehen ist. Das Problem, das sich stellt, lässt sich wie folgt formulieren: »Ab wann
ist etwas eine gültige Einheit, ist etwas die Regel und etwas anderes nicht mehr und
hat sich somit die Sprache verändert?« (ebd.). Um hier Klarheit zu gewinnen, er-
scheint es hilfreich ein alltägliches Beispiel für diesen Prozess zu betrachten:
Wenn ein Schüler heute sagt, »er braucht morgen nicht kommen«, so wird ihn
ein Lehrer möglicherweise korrigieren, indem er sagt: »brauchen ist kein Modal-
verb und muss deshalb mit zu verwendet werden, es muss also heißen er
braucht morgen nicht zu kommen.«
In einem gewissen Sinne hat der Lehrer damit Recht; aber der Schüler könnte
darauf wie folgt antworten: »Aus der Tatsache, dass brauchen so oft ohne zu
mit reinem Infinitiv verwendet wird, lässt sich schließen, dass brauchen im Beg-
riff ist, ein Modalverb zu werden. Alle Modalverben und alle Hilfsverben waren
ehedem ganz normale Hilfsverben.« (Keller/Kirschbaum 2000, S.44)
Was hier deutlich wird ist, dass ein partieller Einheiten- und Regelwandel ­ d.h.
Sprachwandel ­ sehr oft eingeleitet wird durch einen systematisch fehlerhaften
Sprachgebrauch. Dies bedeutet, dass eine zunächst als fehlerhaft betrachtete
sprachliche Innovation oder Variante nur dann zu einer gültigen Einheit oder einer
neuen Regel werden kann, wenn hinreichend viele Sprachbenutzer systematisch
gegen bestehende sprachliche Normen verstoßen. Erst wenn systematisch auftre-
tende Fehler in der alltäglichen Kommunikation mit der Zeit ihren Charakter als Feh-
ler verlieren bzw. verloren haben, kann man von Sprachwandel sprechen und nur
dann ist es auch denkbar, dass sie Eingang in den Grammatik-Kodex finden und da-
durch die eine zuvor gültige Einheit oder Regel ablösen (vgl. Keller/Kirschbaum
2000, S.44).
An dieser Stelle gilt es zu beachten, dass das oben genannte Beispiel bzw. die ge-
nauere Betrachtung eines Einheiten- und Regelwandels auch darauf hinweist, »dass
das Reden von der historischen Einzelsprache eine monströse [...] Abstraktion ist«
(Linke u.a. 1996, S.372). Eine Einzelsprache ist ­ ganz gleich, ob man sie unter syn-
chroner oder diachroner Perspektive betrachtet ­ niemals ein homogenes oder star-
res Gebilde, sondern zu jedem Zeitpunkt
ein Nebeneinander von Ungleichzeitigem, von Varietäten, die schon den Ge-
ruch des Vergangenen an sich haben, und von Varietäten mit dem freiheitlichen
Flair des Neuen und damit Provokativem, und von Varietäten dessen, was die
Regel ist [...] (ebd.).

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Im Anschluss an diese Überlegungen stellt sich die Frage, ob der - zu jedem Zeit-
punkt - gegebene permanente Wandel der Sprache tatsächlich die Sprache als Gan-
zes in gleicher Weise betrifft, oder ob sich die Wandelprozesse in den verschiedenen
Subsystemen von Einheiten und Regeln im Hinblick auf einzelne Kriterien voneinan-
der unterscheiden lassen.
1.2
Mit welcher Geschwindigkeit und innerhalb welcher Grenzen voll-
zieht sich der Sprachwandel in den einzelnen Subsystemen?
Wenn man Sprachwandel als partiellen Einheiten- und Regelwandel bestimmt, dann
ist es nicht nur möglich zu untersuchen, ob Sprachwandel stattgefunden hat, sondern
es bietet sich - vor dem Hintergrund der oben aufgeworfenen Fragestellung ­ dar-
über hinaus auch an, Sprachwandelprozesse unter quantitativen Gesichtspunkten zu
betrachten. So kann man beispielsweise nach der Stärke und der Geschwindigkeit
von Sprachwandelprozessen fragen.
Ein starker Wandel wäre ein Wandel vieler Einheiten und Regeln, ein schwa-
cher Wandel ein Wandel weniger Einheiten und Regeln. Unter Berücksichtigung
des Faktors Zeit gelangen wir zur Metapher der Geschwindigkeit: Eine Sprache
wandelt sich schnell, wenn sich viele Einheiten und Regeln pro Zeiteinheit ver-
ändern, und langsam, wenn es nur wenige sind (Linke u.a. 1996, S.373).
Um zu klären, ob sich ­ im Hinblick auf die Parameter Stärke und Geschwindigkeit -
tatsächlich alle Subsysteme der Sprache in gleicher Weise verändern, erscheint es
hilfreich, erneut von einem konkreten Beispiel auszugehen.
Es ist (heute) durchaus vorstellbar, dass ein Kind einen Ausruf wie »Geil! Käpt´n
Blaubär trifft den größten Teddybär der Welt!« (Schlagzeile auf einem Plakat der
Messe Essen, Oktober 1999, zit. n. Schmitz 2000, S.80) benutzt, um seiner Freude
Ausdruck zu verleihen. Im hier diskutierten Zusammenhang sind an dieser Äußerung
sowohl die Verwendung des Wortes »geil« als »expressiver Ausdruck der Begeiste-
rung und Wertschätzung« (Keller/Kirschbaum 2000, S. 41) als auch der Verzicht auf
die Kasusmarkierung (-en) am Substantiv »Teddybär« interessant.

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Betrachtet man das Adjektiv »geil«, so fällt auf, dass es - im (sprach-geschichtlich
betrachtet) nicht allzu großen Zeitraum der letzten 800 Jahre - »recht turbulente Zei-
ten durchgemacht hat:
Im Mittelhochdeutschen hatte es [...] die unschuldige Bedeutung »fröhlich, übermütig,
ausgelassen«. Dementsprechend waren »geile Recken [...] nicht wild hinter Frauen
her, sondern« - wie geile Dirnen auch - »einfach gut drauf« (Keller/Kirschbaum
2000, S.41). Mit der Zeit ist die Bedeutung von »geil« dann - ähnlich wie die des
Wortes »Wollust« (früher: Vergnügen im allgemeinen Sinne) - auf den sexuellen Be-
reich eingeschränkt worden. Dies hat schließlich dazu geführt, dass »geil« eine Zeit
lang sogar den Staus eines Tabuwortes hatte, d.h. das Wort war zwar bekannt, durf-
te jedoch nicht ohne weiteres benutzt werden (vgl. Brandt 1989, S.115ff.). Die zuletzt
genannten Eigenschaften waren es schließlich, »die das Wort geil sodann dazu prä-
destinierten«, zum Gegenstand ,,semantischer Kreativität" zu werden (vgl. Fritz 1998,
S.868), d.h. »Jugendlichen als ein besonders expressiver Ausdruck der Begeisterung
und Wertschätzung zu dienen. Denn besondere Expressivität lässt sich hervorragend
durch Tabubruch zum Ausdruck bringen« (Keller/Kirschbaum 2000, S.41). Gegen-
wärtig scheint das Wort geil jedoch einiges von seiner ehemaligen Ausdruckkraft zu
verlieren. Während es noch bis vor zehn bis 15 Jahren fast ausschließlich von Ju-
gendlichen gebraucht worden ist, dient es heute auch Kindern und (jüngeren) Er-
wachsenen als Prädikat, um positive Dinge zu bezeichnen. Sollte sich dieser Trend
weiter fortsetzen, dann ist es durchaus möglich, dass der ehemals sexuelle Bedeu-
tungsinhalt völlig in Vergessenheit gerät, geil dann unter Umständen zu einem ganz
gewöhnlichen Wort der Alltagssprache wird und vielleicht sogar ein Wort wie toll ­
das seinen Tabucharakter schon sehr lange verloren hat ­ aus dem Sprachgebrauch
verdrängt. Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte dies wiederum zur Folge, dass in der
Jugendsprache ein neues Tabuwort an die Stelle von geil nachrückt (vgl. Kel-
ler/Kirschbaum 2000, S.41f.).
Im Vergleich zur Bedeutungsgeschichte des Wortes geil weist die zweite im Beispiel
hervorgehobene Stelle - der Verzicht auf die Kasusmarkierung am Substantiv »Ted-
dybär« ­ auf einen sehr viel weniger »turbulenten« Sprachwandelprozess hin:

10
Nach Schmitz (2000, S.79) ist der Verzicht auf Kasusendungen am Substantiv eine
Erscheinung, die zusammen mit mehreren anderen, dazu beiträgt, dass die deutsche
Sprache »ihren Sprachbau von einem synthetischen zum analytischen Typ« verän-
dert. Mit dieser »Tendenz des Deutschen« (Diewald 1997, S6) - insbesondere aber
mit der »nachlassenden Vitalität der Kasusflexion« (Schmitz 2000, S.80) ­ ist ein
Sprachwandelprozess angesprochen, der - so von Polenz - »vor mehr als zwei Jahr-
tausenden durch die germanische Akzentuierungstendenz ausgelöst worden ist« und
auch »noch weitere Jahrhunderte andauern« wird (von Polenz 1984, S.30; zit. n.:
Schmitz 2000, S.81).
Bislang hat die »nachlassende Vitalität der Kasusflexion« dazu geführt, dass einer-
seits die 40 Endungen der gotischen Substantivdeklination auf immerhin noch 25 im
Althochdeutschen und schließlich auf nur noch 6 im Neuhochdeutschen reduziert
worden sind (ebd., S.80). Andererseits hat der hier angesprochene Sprachwandel-
prozess dazu geführt, dass »die Funktion der Flexion immer mehr durch Artikelflexi-
on« - wie im ,,Teddybär-Beispiel" - »oder Präposition übernommen« wird (von Polenz
1999, S.343; zit. n.: Schmitz 2000, S.81).
Wenn man sich vor Augen führt, dass sich nicht nur im gesprochenen Gegenwarts-
deutsch, sondern »selbst in gepflegter Schriftsprache« zahlreiche Belege für schwin-
denden (Beispiel, Wegfall des Genitiv-(e)s) oder unsicheren Kasusgebrauch (Dativ
statt Genitiv; Dativ statt Akkusativ und umgekehrt) finden lassen (ebd., S.84f., 87,
91f. ), so scheint sich der Trend der »nachlassenden Vitalität der Kasusflexion« auch
in Zukunft fortzusetzen.
Vergleicht man die beiden hier dargestellten Sprachwandelprozesse, so ist zunächst
auffällig, dass die jeweils in den Blick genommenen Zeiträume sich deutlich vonein-
ander unterscheiden. Hieraus lässt sich zunächst einmal schließen, dass sich (mög-
liche) Einheiten- und Regelveränderungen in den verschiedenen Teilsystemen der
Sprache hinsichtlich der Geschwindigkeit in der sie vollzogen werden (können) deut-
lich voneinander unterscheiden:
Grammatische Regeln (besonders im Bereich der Morphologie und Syntax) sind
sehr viel stabiler als beispielsweise die Wortsemantik, als stilistische Regeln, als

11
Regeln der Sprachverwendung. Dieser Befund korrespondiert [...] mit der Tat-
sache, dass wir es in der Grammatik einer Sprache mit einem sehr viel ge-
schlossenerem System von Regeln zu tun haben als etwa im Wortbestand, in
der Wortbedeutung und in der Pragmatik (Linke u.a. 1996, S.374).
Neben diesen für die einzelnen Sprach-Subsystem gültigen »Geschwindigkeits-
begrenzungen« für Wandelprozesse gilt es - mit Blick auf die sprach-wissen-
schaftliche Forschung der letzten Jahrzehnte - auch zu beachten, dass »den prinzi-
piellen Möglichkeiten sprachlichen Wandels [...] zugleich auch prinzipielle Grenzen
[...] gesetzt« sind (ebd.). In Form »von sprachlichen Universalien, d.h. Eigenschaften,
die allen menschlichen Sprachen zukommen« betreffen sie zunächst einmal die
Sprache als Ganzes, d.h. sie legen den Rahmen fest, in dem »eine Sprache sich
wandeln kann«. Darüber hinaus ist allerdings auch zu vermuten, dass es prinzipielle
Beschränkungen auch für die einzelnen Subsysteme gibt. Es wäre verfehlt, anzu-
nehmen, dass die Veränderungen selber in einer beliebigen oder rein zufälligen
Schrittfolge verlaufen:
Eine bestimmte Regel wird nicht beliebig durch eine bestimmte andere Regel
abgelöst werden können; eine bestimmte Wortbedeutung kann sich nicht von
heute auf morgen in eine beliebige andere Wortbedeutung wandeln, vielmehr
geschieht wortsemantischer Wandel als Verengung, als Erweiterung, als Ver-
schiebung [...]; im Extremfall kann durch einen metaphorischen Prozess eine
sehr starke Bedeutungsveränderung passieren (z.B. Maus für Computermaus),
doch ist selbst in diesem Bereich längst nicht alles möglich (ebd.).
1.3
Warum wandeln sich Sprachen? ­Sprachsysteminterne und
sprachsystemexterne Erklärungsmuster
Abschließend bleibt festzustellen, dass sich die Sprachwandelforschung selbstver-
ständlich nicht darauf beschränkt hat, zu beschreiben bzw. zu definieren, was unter
Sprachwandelprozessen zu verstehen ist, zu untersuchen von welchen Faktoren ihr
Verlauf abhängig oder welche prinzipiellen Möglichkeiten und Grenzen sprachlichen
Wandels es gibt. Sie hat auch danach gefragt, warum Sprachwandelprozesse über-
haupt auftreten.
»In Bezug auf den Wandel der Sprache haben wir die Wahl zwischen zwei Fragen:
,,Warum ändert sich die Sprache?" oder ,,Warum ändern die Sprecher ihre Sprache?"

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(Keller 1990, S.19). Das Besondere an diesen beiden Fragen ist, dass mit ihnen zwei
grundsätzlich verschiedene Auffassungen von Sprache - und damit auch zwei unter-
schiedliche Erklärungsmuster für Sprachwandel ­ verbunden sind.
Vertritt man die Auffassung, dass die Sprache ein Naturgegenstand ist, so wird man
daraus wahrscheinlich auch den Schluss ziehen, dass sie bzw. ihr Wandel den Na-
turgesetzen unterliegt. Im konkreten Fall ist dann zu fragen: »Warum ändert sich die
Sprache?«. In der Antwort auf diese Frage werden sprachsysteminterne Erklärungen
für Sprachwandelprozesse genannt.
Man kann jedoch auch der Auffassung sein, dass Sprache ein Artefakt - ein von
Menschen planvoll entwickeltes Kommunikationsinstrument - ist. Vor diesem Hinter-
grund wäre davon auszugehen, dass Sprachwandel nicht auf naturgesetzliche Pro-
zesse im Inneren der Sprache, sondern auf die kommunizierenden Individuen zu-
rückzuführen ist. Im konkreten Fall ist dann zu fragen: »Warum ändern die Sprecher
die Sprache?« In der Antwort auf diese Frage werden sprachsystemexterne Erklä-
rungen für Sprachwandel genannt.
Wenn ­ wie eingangs erwähnt ­ in Bezug auf die Theorie der unsichtbaren Hand
Kellers und Wurzels Konzept des natürlichen grammatischen Wandels, leicht der
Eindruck entstehen kann, die Ansätze hätten »eigentlich nichts gemeinsam« und es
scheint als seien die »ihnen zugrundeliegenden Sehweisen unüberbrückbar« (Wur-
zel 1997, S.295), so ist dies vor allem dadurch begründet, dass Kellers Theorie ins-
gesamt so eindeutig mit sprach-systemexternen Erklärungsmustern operiert, wie
Wurzels mit sprach-systeminternen.

13
2.
Sprachsystemintern und sprachsystemextern fundierte
Erklärungsmodelle in der Sprachwandelforschung: Natür-
lichkeit vs. unsichtbare Hand
Die übergreifende Fragestellung dieser Arbeit ­ inwiefern sich die Theorie der un-
sichtbaren Hand in der Sprache, das Konzept des natürlichen grammatischen Wan-
dels und der Ansatz der Sprachökonomie begreifen lassen als Beiträge zu einer
»Theorie des Sprachwandels, die diese Bezeichnung wirklich verdient« - ist vor dem
Hintergrund der grundsätzlichen Trennung von sprachsystem-internen und ­externen
Erklärungsmustern von Sprachwandelprozessen insbesondere zu begreifen als die
Frage danach, wie es gelingen kann, den Gegensatz zwischen den jeweils zugrun-
deliegenden Sprachbegriffen (Sprache als Naturphänomen oder Artefakt) zu über-
winden. Auf eben dieser Fragestellung beruht letztlich auch Rudi Kellers Theorie
»von der unsichtbaren Hand in der Sprache« (vgl. Keller 1982, S.1ff.; 1990 insb.
S.58ff.).
2.1 Kellers
Sprachwandeltheorie:
»Von der unsichtbaren Hand in der Sprache«
Die Theorie »der unsichtbaren Hand in der Sprache« - im Prinzip eine Anleihe bei
schottischen Ökonomen des 18. Jahrhunderts (Smith, Ferguson) - ist vor allem durch
Rudi Keller (1982/1990), aber auch durch Helmut Lüdtke (1980/1986) in die sprach-
wissenschaftliche Diskussion eingebracht worden (vgl. Baldinger 1993, S.1). Als
Kernstück dieser Theorie kann man die Annahme bezeichnen, dass es Phänomene
gibt, die man weder der Klasse der Naturphänomene noch der Klasse der Artefakte
eindeutig zuordnen kann. Aus dieser grundsätzlichen Eigenschaft - der von Keller in
Anlehnung an Steven Spielberg so bezeichneten »Phänomene der dritten Art« -
folgt, dass ihrer Entstehung oder ihrem Wandel weder Naturgesetze (wie im Fall von
Naturphänomenen), noch (auf den Wandel der Sprache gerichtete) menschliche In-
tentionen (wie bei Artefakten) zugrunde liegen ­ sondern das »Wirken« einer »un-
sichtbaren Hand«.

14
2.1.1
Die Ausgangssituation: Universalität des Wandels, theoretisches
Erklärungsdefizit und tückische Fragestellungen
Das Sprachen in einem permanenten Wandel begriffen sind, d.h. die Universalität
des Wandels lässt sich leicht beobachten und empirisch belegen:
Walther von der Vogelweide ist von uns etwa fünfundzwanzig Generationen ent-
fernt. Wenn wir durch eine Zeitmaschine zu ihm ins Jahr 1200 zurückversetzt
würden, hätten wir größte Mühe, uns auch nur annähernd mit ihm zu verständi-
gen.
Mit Goethe, von dem uns etwa 180 Jahre trennen, hätten wir zwar keine funda-
mentalen Verständigungsschwierigkeiten wie mit Walther, aber wir würden auf
Schritt und tritt anecken und nachfragen müssen.
Selbst wenn wir uns nur eine Generation zurückversetzen [...] ist uns manches
recht fremd [...]. Besonders deutlich ist die Sprache der Modewerbung und die
der Heiratsanzeigen von unserer heutigen Sprache verschieden (Keller 1990, S.
13f.).
So einfach wie es ist, Hinweise auf einen Sprachwandel mit Blick auf zwei oder meh-
rere verschiede Zeitpunkte in der Sprachgeschichte zu konstatieren scheint es auch,
anzugeben, warum Sprachwandel überhaupt möglich ist. »Die Veränderbarkeit der
Sprachen folgt [...] aus deren Arbitrarität, die wiederum aus ihrer Konventionalität
folgt. (Wenn es zu einer Verhaltensweise keine gleichgute Alternative gäbe, würden
wir sie nicht konventionell nennen)« (ebd., S.17).
Der Nachweis der Universalität und Möglichkeit von Sprachwandel reichen jedoch
nicht aus, um darauf eine Theorie des Sprachwandels aufzubauen. Eine empirische
Theorie muss »nicht nur sagen, was der Fall ist, sie sollte auch sagen, warum es der
Fall ist«. Hinsichtlich einer Theorie, die diesen Ansprüchen genügt,
»besteht in der sprachwissenschaftlichen Forschung eine bemerkenswerte Lü-
cke [...] und das nachdem sich Linguisten eines ganzen Jahrhunderts sich im
wesentlichen« der Frage nach den Ursachen von Sprachwandel gewidmet ha-
ben (Keller 1982, S.1).
Für Keller offenbart sich in diesem Theoriedefizit allerdings kein originär sprachwis-
senschaftliches Problem, sondern eines, dass scheinbar das menschliche Denken
und Vorstellungsvermögen allgemein betrifft:
Das Begreifen von Prozessen permanenten Wandels scheint Menschen von je-
her besondere Schwierigkeiten zu machen. Der Grund dafür liegt vermutlich in
der Tatsache, dass es in unserem alltäglichen Leben keine anschaulichen und
erfahrbaren Vorbilder dafür gibt. Sinnliche Vorbilder gibt es lediglich für den

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2004
ISBN (PDF)
9783958209817
ISBN (Paperback)
9783958204812
Dateigröße
355 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Bielefeld – Germanistik
Erscheinungsdatum
2016 (Januar)
Note
1,0
Schlagworte
Sprachsystem Mayerthaler Morphologie Natürlichkeitsprinzip Phonologie
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