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Kunst als Leben - Leben als Kunst

©2006 Akademische Arbeit 121 Seiten

Zusammenfassung

Zentral in dieser Arbeit steht die Kunst als ein Prozess. Das ist die Kunst als ein Geworden-Sein und ein ständiges Werden im Sinne von Heidegger. Der Mensch steht in der Konfrontation mit Kunst in einem Schnittpunkt. In diesem Schnittpunkt treffen sich das Kunstwerk in seinem phänomenologischen Sein als ein Prozess des zum Kunstwerk-Werdens und der Mensch in und mit der Rezeption in einem Prozess des Menschwerdens. Methodologisch ist diese Arbeit in drei Einheiten eingeteilt. Der erste Teil behandelt die ethnische Identität der andalusischen Zigeuner. Dies ist primär ein Thema der ethnologischen und anthropologischen Wissenschaft. Wenn diese ethnische Identifikation sich in der Kunst des Flamencos ausdrückt, ist dies ein kunstwissenschaftliches Thema. Da diese Kunst auf einem lokalen und internationalen Kunstmarkt verkauft wird, wird sie zu einem sozialen, politischen und wirtschaftswissenschaftlichen Thema. Das ist der Inhalt des zweiten Teiles dieser Arbeit. Das Ineinander-Filzen von Identität, Kunst, Marktinteresse und Politik hat Auswirkungen für den Menschen. Ich bin darum gezwungen, den Menschen in seiner Abhängigkeit von den äußeren Bedingungen in Relation zu seiner genetischen und physischen Beschaffenheit zu sehen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


sein. Diese drei ideologischen Systeme lassen sich nicht immer in Übereinstimmung
miteinander bringen. Wie wirken sich diese Diskrepanzen auf die Ausformung und Darstellung
der Kunst aus? Was sehen wir auf der Szene? Wie und als was wird dieses ethnische Produkt
rezipiert?
Das auffallendste Merkmal in der Präsentation der abendländischen Kunst ist die
hierarchische Einteilung in ,,große", ,,kleine" und ,,keine" Kunst. Dieses System der
Hierarchisierung der Kunst im Rahmen der Ideologie lässt keine Aufschlüsse über die Qualität
des Kunstproduktes zu. Die Größe der Kunst korrespondiert in der abendländischen Ideologie
mit der Größe und Pracht der Repräsentation. Die Größe im Flamenco definiert sich von der
Qualität der musikalischen Struktur und dem individuellen Ausdrucksvermögen des Sängers,
Tänzers oder Gitaristen. (Vgl. Pohren, 1990; Leblon, 1990; Lefranc, 1998; Torres Cortes, 2002)
Die Größe der Kunst wird auf dem internationalen Kunstmarkt an der Größe der Verkaufsziffern
des präsentierten Produktes gemessen. Strukturelle Qualität und individuelles
Ausdrucksvermögen der Künstler können zu internationalen Kassenschlagern werden, sind
aber nicht immer ausschlaggebend für den Erfolg. Die Marktsituation und die
Verbrauchergewohnheiten folgen eigenen Gesetzen. Was Kunst ist, was nicht, wird vom
finanziellen Gewinn her definiert.
Dieses Netzwerk von ideologischen Relationen bestimmt unterschwellig sowohl die
Präsentation der Kunst als auch ihre Rezeption. Womit kann sich der Zuschauer identifizieren?
Was kann er in einer ihm fremden Kunst wiedererkennen, die ihm nur im Rahmen von
Ideologien verpackt zugänglich ist? Wie weit ist der Mensch im Rahmen von Ideologien
prädestiniert und fremdbestimmt?
Das ist aber nur die eine Seite des Problems der Determination des Menschen, denn hieran
heftet sich das zweite Problem: Wie weit sind wir durch unsere physische, emotionale und
intellektuelle Beschaffenheit, durch Gewohnheit und Ausbildung in unseren Rezeptionsformen
determiniert? (Vgl. Jourdain, 1998) Die Theorien der Musikforschung scheinen die
physiologische Bedingtheit des Menschen zu bestätigen. Wir sind nicht nur durch die
Ideologien in ein System gezwängt, wir sind auch durch unsere angeborenen
Strukturierungsprinzipien auf gewisse Rezeptionsmuster festgelegt. Nach Jourdain ist eine
Entwicklung des Menschen über diese angeborenen Strukturierungsprinzipien, die durch
Gewohnheit und Ausbildung gefügt und festgelegt werden, schwierig, wenn nicht gar
unmöglich. Damit wäre auch eine Entwicklung des Menschen über sich selbst hinaus in Frage
gestellt.
Wenn ich diese Forschungsresultate der Musikwissenschaft auf die
Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen allgemein beziehen würde, wäre dies eine
katastrophale Prophezeiung für die Menschheit. Dem steht gegenüber, dass sich im
Zusammenspiel von musikalischen mit visuellen Strukturierungsprinzipien neue Möglichkeiten
eröffnen. Hier zeigt sich die Bedeutung des Tanzes. Eine andere Möglichkeit eines Über-Sich-
Selbst-Hinaus des Menschen ergibt sich in der Transzendenz. Mit diesem Problem der
Transzendenz in der Kunst, speziell aber der Transzendenz im Tanz schließe ich diese
Abhandlung ab.
Der Forschungsgegenstand
Welche Beziehungen entstehen und bestehen zwischen Kunst, Künstler, Publikum und
Umgebung während einer Tanzvorstellung oder während eines Konzertes? Wie lässt sich dieser
kognitive Prozess erfassen? Ich versuchte, in diese Situation hineinzugehen. Ich nehme als
Zuschauer unter den gleichen Bedingungen wie alle anderen Zuschauer an den Vorstellungen
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teil. Dabei beobachte ich mich selbst, die anderen und mich selbst in Relation zu den anderen.
Ich reflektiere auf die Beziehung, die sich erstens zwischen der Kunst und dem Künstler
etabliert. Zweitens beachte ich die Beziehung zwischen Kunst und Kontext. Drittens reflektiere
ich über die Beziehung zwischen der Kunst und dem Publikum einerseits und dem Publikum
und dem Kontext andererseits. Viertens interessiert mich die Relation zwischen den Künstlern
auf der Szene und dem Publikum.
Der Ort der Untersuchung war ein Flamencofestival in Mont de Marsan in Südfrankreich.
Das Festival dauerte von Sonntag, dem 3. Juli bis Samstag, dem 9. Juli 2005. Das
Flamencofestival in Mont de Marsan ist eine Kombination von Vorstellungen in verschiedenen
Umgebungen. Hier werden Tanz-, Gitarre- und Rhythmikkursen abgehalten. Die Besucher
können Diskussionsrunden beiwohnen. Vorstellungen, Kurse und Diskussionen werden im
Kreise vom gesellschaftlichen Beisammensein abgehalten. Sie werden mit
Gesellschaftstanzveranstaltungen begleitet.
Die Tanzkurse fingen am Sonntagmorgen, dem 3. Juli an, die Flamencovorstellungen am
Montag, dem 4. Juli, das Abschlussfest war am Samstag, dem 9. Juli 2005 in der Halle im Park
von Nahuque.
Ich war bereits 2004 auf dem Flamencofestival in Mont de Marsan. Das Programm war nicht
dasselbe. Auch traf ich andere Menschen, ein anderes Publikum und andere Lehrer. Da, wo sich
signifikante Unterschiede zwischen dem Flamencofestival von 2004 zu 2005 ergeben, werde
ich extra darauf hinweisen. Vom 1. bis zum 23. März 2005 war ich in Sevilla, um Material
einzusammeln für diese Arbeit. Auf den Tanzkursen, die ich hier besuchte, traf ich einige der
Tanz- und Rhythmik-Lehrer, die auch auf dem Flamencofestival in Mont de Marsan 2005
unterrichteten. Wo dies von Bedeutung ist für mein Verständnis des Tanzunterrichts, werde ich
wieder darauf zurückkommen.
Das erste Flamencofestival wurde 1957 in Utrera gestiftet: ,,el potaje Gitano de Utrera"
(García Reyes, 2004: 7). 1961 folgte das Flamencofestival in Arcos de la Frontera, 1962 in Alcor
und Écija, 1963 in Morón de la Frontera, 1966 in Lebrija, 1967 in Marchena. (Vgl. García Reyes,
2004: 7) Das waren Vorstellungen unter offenem Himmel mit hohen Qualitätsansprüchen an
die künstlerische Ausführung. Heute gibt es Flamencofestivals in den spanischen Provinzen von
Almeria, Cordoba, Granada, Huelva, Jaen, Malaga und Sevilla. (Vgl. López Ruis, 1994: 21) Mont
de Marsan liegt demgegenüber in Südfrankreich, zwischen den Pyrenäen und Bordeaux. Es ist
die Hauptstadt von ,,Les Landes". Mont de Marson hat ungefähr 30.000 Einwohnern. (Vgl. Roux,
E-Mail: 28.10.05) 1989 wurde hier das erste Flamencofestival gestiftet: ,,Arte Flamenco", die
Kunst des Flamencos. 1995 kam ich zum ersten Male zum Flamencofestival nach Mont de
Marsan. Als ich mich 2004 dazu entschloss, über den Flamenco zu schreiben, kam auch meine
Faszination von dem Flamencofestival in Mont de Marsan wieder. Warum aber sollte ich über
ein Flamencofestival in Südfrankreich schreiben, warum nicht über die Biennale in Sevilla oder
von einem Flamencofestival in Malaga, Granada oder einem anderen Ort in Andalusien? Was
mich in Mont de Marsan fesselte, war das Milieu. Meiner Schätzung nach waren 80 Prozent der
Zuschauer aus der näheren Umgebung. Ich sprach mit Leuten aus Bordeaux, Biarritz,
Montpellier, Toulouse und Marseille. Ungefähr 15 Prozent waren Spanier oder von spanischer
Herkunft. Ausländer waren die Ausnahme. Alle, mit denen ich sprach, waren auf die eine oder
andere Art und Weise vom Flamenco fasziniert.
Kann ich hieraus die Schlussfolgerung ziehen, die Franzosen von Südfrankreich haben eine
besondere Beziehung zum Flamenco? Haben die Franzosen von Südfrankreich besondere
Flamenco-Traditionen? Solche Ansichten werden oft geäußert. Der wissenschaftliche Nachweis
ist schwieriger. Hierauf irgendwelche Thesen aufzubauen, ist nicht haltbar. Wesentlich
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interessanter ist für mich das ,,Insider" Milieu, das ich auf dem Flamencofestival beobachtete.
Denn die Zuschauer schienen sich von der Nationalität, von den sozialen Gruppen her und dem
Interesse und kulturellen Verständnis nach aus relativ homogenen Gruppen
zusammenzusetzten. (Eigene Notizen, 03. 07. ­ 09. 07. 2005)
In Mont de Marsan kann ich zehn verschiedene Orte der Begegnung mit dem Flamenco
identifizieren: Erstens gibt es das ,,Espace Francois Mitterrand" ist ein Multimediagroßraum mit
2500 Plätzen. Er wurde 1993 gebaut. (Vgl. Roux, 30.08.05) Zweitens gibt es das ,,Café
cantante". Da ist ein Zelt mit 500 Plätzen. (Vgl. Roux, 30.08.05) Hier wird während der
Vorstellungen und in den Pausen gegessen und getrunken. Drittens gibt es die ,,Bodega". Das
ist ein Zelt auf dem Platz vor dem Ratshaus mit 800 Plätzen. (Vgl. Roux, 30.08.05) Das Essen
wird hier an Tischen serviert. Der Eintritt ist frei. Viertens gibt es zwei Diskotheken, wo
ausschließlich ,,Sevillanas" getanzt wurden. Fünftens gibt es Konferenzen mit unterschiedlichen
Themen, wo Professoren der Flamencowissenschaft, Musikwissenschaft und Anthropologie,
Künstler und sonstige Interessierte Vorträge halten mit anschließenden Diskussionen. Es
wurden zehn verschiedene Kurse im Flamencotanz abgehalten. Diese Kurse umfassten von den
Anfängerklassen bis zur ,,Master class" alle Niveaus. Sie werden in jedem Jahr von anderen
Künstlern geleitet. Dazu gab es zwei Kurse in ,,palmas y compás. Das ist das Rhythmik-System
der verschiedenen Flamencostile. In zwei Klassen wurde die Flamencogitarre unterrichtet.
Siebtens gab es ein Abschlussfestessen mit Vorstellungen in der Großhalle von Nahuque.
Achtens gab es eine Kunstausstellung mit Photographien von dem Flamencofestivals in Mont
de Marsan. Neuntes gab es die Diskothek ,,Dix-Bis", wo nur ,,Sevillanas" getanzt wurden. Beim
Flamencofestival von 2004 fand ich zehntens in Monte de Marsan auch noch eine Halle mit
einem Betonfußboden. Rechts in der Halle war eine Theke. An der hinteren Wand der Halle und
links vom Eingang standen ein paar Tische, wo Männer ohne Gitarrenbegleitung den ,,Cante
jondo" sangen. In der Mitte der Halle war ein Glaskasten mit einem riesigen ausgestopften
Ochsen. 2005 waren Ochse und Tische verschwunden. Hier wurden nur noch ,,Sevillanas"
getanzt. In der weiteren Analyse werde ich diese Halle darum als die zweite Diskothek erfassen,
wo ,,Sevillanas" getanzt wurden.
Die Auswahl dieser verschiedenen Angebote ging von zehn Uhr morgens bis drei Uhr am
nächsten Morgen, und das eine ganze Woche lang. Es ist klar, dass ich hier nur auswahlweise
teilnehmen konnte. Für mich ist der Tanz das wichtigste, darum waren die Tage ausgefüllt mit
drei verschiedenen Tanzkursen. Die Abende verteilten sich auf den ,,Espace Francois
Mitterrand" und das ,,Café cantante". In der Nacht war ich in der Bodega oder den Diskotheken.
Dazu kam noch das Abschlussfest in der Halle im Park von Nahuque.
Diese Ausgangsposition und mein spezielles Interesse an diesem Flamencofestival wirft
verschiedene Fragen auf: Was ist der Flamenco? Welche Rolle spielt der Tanz im Flamenco?
Was bedeutet der Name des Festivals ,,Arte Flamenco"?
Historisch kann der Flamenco nach Cruces Roldan nicht lokalisiert werden. Er ist das Resultat
einer Entwicklung von mehreren Jahrhunderten. Was existiert ist ein bekanntes Modell
,,modelo familiar" (Cruces Roldán, 2003: 126) der Interpretation, das eine Mischung aus
verschiedenen orientalischen und mediteranen Traditionen ist. Es ist keine spezifisch
andalusische Musik, keine arabische und keine spanische. (Vgl. Cruces Roldán, 2003: 127)
Steingress meint demgegenüber, dass sich der Flamenco erst im 19. Jahrhundert aus mehr oder
weniger unbekannten Wurzeln entwickelte. (Vgl. Steingress, 2004)
Von seiner musikalischen Struktur her liegt der Flamenco im Schnittpunkt, wo Orient und
Okzident sich treffen. Morgenland und Abendland sind hier vereint, aber auch die Alte und die
Neue Welt, Europa und Amerika. Im Flamenco ist die Globalisierung der Welt auf einen
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Brennpunkt zusammengeschmolzen. Von hierher geht eine Faszination aus, die Europäer,
Asiaten, Amerikaner und Afrikaner in gleicher Weise erfasst.
Als Form ist der Flamenco hybrid: musikalisch, thematisch, dramaturgisch und
kompositorisch. (Vgl. Valdes, 1998: 100f.; Rebollar, 2004: 2) Die musikalische Hybridität basiert
auf einer Transformation von ästhetischen und formalen Elementen, die aus anderer Musik,
anderen Regionen, Ländern und Kulturen übernommen wurden. Damit entstanden neue
Verbindungen, die den neuen sozialen und kulturellen Bedingungen entsprachen. (Vgl.
Steingress, 2002: 39)
Wegen der Ausweitung des Namens ,,Flamenco" auf alle möglichen Stile und wegen der
Hybridisierung der meisten Flamencoformen, findet Lefranc den Namen Flamenco nicht mehr
anwendbar auf das, was nach ihm der ursprüngliche der authentische Flamenco war: der
,,Cante jondo".
Zuerst war Flamenco ein Adjektiv ,,cante flamenco" (Lefranc, 1998: 222), dann wurde er zum
Kollektivausdruck der sowohl die Gattung bezeichnete als auch ein Repertoire mit
Untergruppen, abhängig von ihren Traditionen. Der heutige Gebrauch des Namens Flamenco
hat dieses Ausgleiten geerbt. Flamenco ist heute nach Lefranc die Funktion einer globalen
Bestimmung und kommerziellen Ausbeutung, die vom Verkaufswert her mehr zur
Unterhaltung neigt als zum Authentischen. Der Name Flamenco bezeichnet nach Lefranc alles
das, was unter diesem Namen verkauft wird. (Vgl. Lefranc, 1998: 222) Für Lefranc hat damit die
Terminologie ,,Flamenco" aufgehört, anwendbar zu sein.
Der Name ,,Arte Flamenco" hat sich im Zusammenhang mit den ersten
Flamencowettbewerben entwickelt. Die erste Zusammenkunft zum Flamenco war 1922 in
Granada. Sie wurde ,,Concours de Cante Jondo" (Lefranc, 1998: 217) genannt. 1956 war ein
zweites Zusammentreffen in Corduba. Auch das wurde noch ,,Concours de Cante Jondo"
genannt, doch in den beiden darauffolgenden Jahren 1957 und 1958 wurde der Namen ,,Cante
Flamenco" (Lefranc, 1998: 217) eingeführt. Danach verschwand der Terminus ,,Cante Jondo",
alle wussten jetzt, was der Flamenco war. (Vgl. Lefranc, 1998: 220) Für Kongresse, Biennale und
Festivals ist jetzt der Eigenname ,,Arte Flamenco", die Kunst des Flamencos üblich.
Der Flamenco ist ambivalent: Er ist Volkskunst, ein volkstümlicher Brauch der andalusischen
Zigeuner (vgl. Pasqualino, 2002) und gleichzeitig eine Ideologie, ein politisch manipulierbares
Instrument und ein Thema, woran sich die Gemüter erhitzen. Flamenco ist einerseits ein
Element einer ethnischen und nationalen Identifikation. Andererseits ist Flamenco ein
internationaler Warenartikel. Flamenco ist Popmusik, Jazzmusik, Volksmusik und Folkloristik:
"For years it has been presented as genuinely Spanish, riding horseback between the
exotic and the popular, between the touristic and the intellectual, undefined in the heart of a
Spain that was recovering from a civil war which had split national feelings into two contrasting
factions." (Monés, Carrasco, Casero-García, 2000: 154)
Der Flamenco hat viele Facetten und Gesichter; er weist von daher auf den Rezipienten
zurück, auf mich selber, auf meine eigene Ausgangsposition und darauf, von welchem
Blickwinkel aus ich die Kunst des Flamencos beurteile und auf was ich mich jeweils beziehe. Ich
fokussiere in erster Linie auf den Tanz.
Als künstlerisches Phänomen ist der Flamencotanz eine Komposition aus den Elementen von
Gesang, musikalischer Begleitung und rhythmischem Akkompagnement. Jedes dieser Elemente
fungiert im Zusammenhang des Gesamtphänomens Flamenco solo und im Zusammenspiel mit
den anderen Elementen.
Die Ursprünge des Tanzes liegen im Dunkel der Geschichte. Sie können wahrscheinlich auf
eine Jahrtausend lange Tradition zurückgeführt werden. Nach Martínez de la Peña ist ein
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charakteristisches Merkmal des Flamencos, dass der Rhythmus der Musik mit den Händen
begleitet wird. Von hierher gesehen gehört der Flamenco nach Kurt Sachs zur Gruppe der
primitiven Tänze, die er ,,danzas de palmada" (Martínez de la Peña, 2002: 149), die Tänze des
Händeklatschens nennt. Das Händeklatschen, Schnippen mit den Fingern und das Klopfen oder
Trommeln der Rhythmik ist nach Martínez de la Peña ein Kennzeichen von alten Tänzen. (Vgl.
Safia og hennes døtre, 2003 und NRK2, 24.07.2005) Die Tendenz des Flamencos in
Kreisbewegungen zu tanzen, erinnert an seine Herkunft von rituellen Stammesbräuchen.
Martínes de la Peña betrachtet dies als Reste einer verlorenen Vergangenheit. (Vgl. Martínez
de la Peña, 2002: 149f.) Diese Vergangenheit weist auf eine ältere Tradition zurück als die
islamische Geschichte in Andalusien. Sie ist auch älter als die Geschichte der Zigeuner in
Andalusien.
Als in der Mitte des 19. Jahrhunderts der Flamenco professionalisiert wurde, hat sich der
Tanz zu einer selbstständigen Szenenkunst entwickelt. Der Tanz kam von der Straße in die
Schulen. Er etablierte hier seine eigenen Gesetze und Regeln. Diese dem Flamenco arteigenen
Gesetze sind erstens durch den ,,compás" bedingt. Das ist der Rhythmus, der einem jeden
Flamencostil eigen ist. Zweitens werden diese Gesetze von der Kommunikation zwischen
Gesang, Musikbegleitung und Tanz definiert. Das sind die Elemente, die Gesang, Begleitung und
Tanz unterteilen. Drittens sind die dem Flamenco arteigenen Gesetze durch die Struktur der
Tänze bedingt. Im Unterschied zu anderen Tänzen besteht der Flamencotanz nicht daraus,
Schritte, Tänze und Choreographien zu erlernen, sondern es handelt sich darum, die Kapazität
des Ausdrucks zu entwickeln und die Improvisation, das Hörvermögen und die Kommunikation
mit den anderen Teilnehmern. Wichtig ist es, einen Dialog zwischen Gesang, Gitarre und Tanz
herauszubilden. Der Flamenco ist eine Kunst der Improvisation und Imitation. Das betrifft
sowohl die Technik, als auch die Stilarten. (Vgl. Arranz del Barrio, 1998: 30)
Die Methode
Die Ausgangsposition dieser Abhandlung ist das qualitative Erlebnis des Menschen im
Augenblick der Begegnung mit Kunst. Von hierher kann ich diese Abhandlung nach Wadel
(1991) als qualitativ orientierte Feldforschung bezeichnen. Die Methode, die die qualitativ
orientierte Feldforschung kennzeichnet, ist nach Wadel die teilnehmende Beobachtung. Der
Fokus liegt auf dem Zusammenspiel zwischen den Menschen. Ich konzentriere mich auf dem
Zusammenspiel zwischen den Zuschauern und den Künstlern einerseits und auf den Relationen
der Zuschauer untereinander im Kontext vom Kunsterlebnis andererseits. Die Methode des
Einsammelns von Daten und Fakten und die Theorie ihrer Anwendung müssen ununterbrochen
aufeinander abgestimmt werden. Wadel bezeichnet dies als ,,'runddans' mellom teori-utvikling,
begrepsutvikling og data-utvikling" (Wadel, 1991: 23). Für mich bedeutet dies, dass die
verschiedenen Orte der Begegnung mit Kunst mich mit unterschiedlichen Problemen
konfrontieren. In der Rezeptionssituation im ,,Espace Francois Mitterrand" bin ich mit einer
anderen Realität konfrontiert als im Tanzsaal während des Flamencotanzunterrichts oder als in
den Diskotheken.
Das Einsammeln der Daten und Fakten geschah nach Öhlander als ,,öppen observation,
fokuserat observation och bedömning, utvärdering av material och arbetets fortskridande."
(Öhlander, 2005: 78) Die ,,offene" Beobachtung prägte die Situation während der Festspieltage,
wo ich alles aufnahm und unkritisch festhielt. Das Fokussieren und Systematisieren geschah in
einer reflexiven Phase hierauf. (Vgl. Öhlander, 2005: 82)
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Als teilnehmender Beobachter bin ich Festteilnehmer und ,,stagaire", das heißt, Teilnehmer
bei den Tanzkursen. Als Festteilnehmer habe ich den gleichen Zugang zu allen Veranstaltungen,
Kursen, Diskussionen, Ausstellungen usw. unter den gleichen Bedingungen wie alle anderen
Teilnehmer. Als Gleiche unter Gleichen habe ich dennoch einen Abstand, denn einerseits war
ich selber Zuschauer auf gleicher Linie mit allen anderen Zuschauern, andererseits war ich
ununterbrochen gezwungen, zu beobachten, festzuhalten, Notizen zu machen und zu
reflektieren. Ich befand mich immer in der Menge und dennoch in einer selbstgewählten
Isolation.
Ich konnte und musste die Vorstellung wie jeder andere Zuschauer in den
unterschiedlichsten Situationen goutieren, von allen zur Verfügung stehenden Plätzen und in
immer neuer Nachbarschaft. Dadurch bedingt hatte ich auch die Möglichkeit, mich theoretisch
mit jedem anderen Zuschauer zu identifizieren. Ich erlebte die Kunst aus ihrer Sichtweite und
unter den gleichen Bedingungen wie alle anderen. Dennoch war mein Rezeptionsprozess von
dem der anderen verschieden, denn meine Aufgabe brachte mich immer wieder in die Position
der Reflexion. Ich konnte niemals völlig in dem Kunsterlebnis aufgehen. Ich konnte mich nur in
wenigen Augenblicken der vollständigen Faszination hingeben. Dadurch war ich wesentlich
mehr auf die Diskrepanzen konzentriert. Ich nahm selektiv in einem Dazwischen-Sein von
Dasein und Vergessen wahr. Ich rezipierte selektiv. Die totale Losgelöstheit der Festsituation
vom Alltag, das Fest als die Umkehrung der Wirklichkeit in der Aufhebung von Zeit und Raum
(vgl. Bachtin, 1995), galt für mich nur in wenigen Augenblicken, denn ich war immer auch in
einem beobachtenden und reflektierenden Zustand. Ich hatte eine Aufgabe. Ich war hier zu
einem bestimmten Zweck. Der eigentliche Schwerpunkt der Begegnung mit der Kunst ergab
sich für mich in dem Vergessen der Festsituation und nicht im Vergessen des Augenblicks. Ich
konnte mich selten nur in die totale Offenheit des Individuums auflösen. Aber genau über
diesen Zustand wollte ich schreiben. Ich wollte das Versinken in den Augenblick in der
Begegnung mit Kunst erfassen. Ich wollte über diese totale Offenheit des Individuums in der
Rezeptionssituation schreiben, über dieses Sein als Anderssein in der Begegnung mit Kunst. Ich
befand mich dabei aber immer in der ambivalenten Situation zwischen Sein als Anderssein in
der gelebten Wirklichkeit und Reflexion auf dieses Anderssein als geforderte Wirklichkeit. Das
ist ein Chiasma von Intention und dem Augenblick der Situation. Ich machte hierbei die
Erfahrung, dass ich immer gleichzeitig in mehreren Rollen handeln, denken und reflektieren
musste, oder wie Frosch es formuliert, in ,,contradictory roles" (Frosch, 1999: 264).
Von dieser Ausgangssituation her definierte ich die gewählte Methode nach Saukko als:
,,Understanding lived experience demands a hermeneutic or phenomenological approach that
aims to understand lived realities." (Saukko, 2003: 33) Hermeneutik ist hier in dem Sinne zu
verstehen, dass ich als teilnehmender Beobachter Umgebung, Geschehen, Handlungen und
Verhaltensweisen festzuhalten versuche, um diese aus ihrem kontextuellen Zusammenhang zu
interpretieren: ,,Hermeneutik in diesem weiteren Sinne ist also die Kunst des Verstehens
kultureller Ereignisse" (Rittelmeyer/Parmentier, 2001: 12) in Relation auf meine eigenen
Erlebnisse und in Antizipation auf die der anderen.
Nach Giurchescu gibt es drei Beschreibungsniveaus: ,,There are three levels of description:
the perceivable reality, information and comments elicited from the participants and personal
commentaries". (Giurchescu, 1999: 47) Hierauf basiert sich im Wesentlichen meine Methode.
Ich beziehe mich auf die für mich zugängliche Realität, die ich mit den Informationen, die ich
von den anderen Teilnehmern habe, mit ihren Kommentaren und Diskussionen vergleiche. Als
weitere Informationsquelle kommen hierzu die Auskünfte und Kommentare des
Festveranstalters: ,,Conseil de Bureau du Festival", wie sie in den Broschuren, Programmheften
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und Annoncen zum Festival zugänglich sind und wie sie mir in einer persönlichen
Korrespondenz mitgeteilt wurden und eine Auswahl von Fachliteratur der Anthropologie,
Ethnochoreologie, Musikwissenschaft und Flamencologie.
Da es mir in erster Linie um den inneren Prozess der Rezeption geht, habe ich Filmen und
Fotografieren vermieden. Dies geschah auch mit Rücksicht darauf, die besondere
Feststimmung und das originale Milieu des Kunsterlebnisses nicht zu zerstören. Das ist ein
Problem, auf das auch Giurchescu hinweist: ,,A basic requirement for realizing an ,observation
card' is not to disturb the normal order of the event, especially in the case of the researcher's
direct involvement (dancing, playing, acting). Of course, a fieldworker may not have opportunity
or licence to take notes or record on the spot; a diary, written up almost immediately, is a good
solution here." (Giurchescu, 1999: 47)
Das galt auch für Mont de Marsan. Filmen, Aufzeichnungen mit Videogeräten und
Fotografien waren während der Vorstellungen verboten. Auch während der Tanzkurse hätte
ich damit die anderen Teilnehmer gestört, während ich selber die Konzentration verlieren
würde. Manchmal versuchte ich, während der Vorstellungen Notizen zu machen, die aber nur
einen begrenzten Wert haben. Auch Gore weist darauf hin, dass solche Notizen subjektiv und
von einem zweifelhaften wissenschaftlichen Wert seien. (Vgl. Gore, 1999: 208)
Während der Pause war ich damit beschäftigt, Diskussionen, Gespräche, Bemerkungen und
das Geschehen um mich herum zu verfolgen. Das verlangte meine Mobilität, ich musste dahin
gehen, wo sich die anderen befanden. Das war am Büffet, vor den Eingängen oder auf den
Toiletten. Alle Notizen erfolgten dann im Nachhinein. Durch die Situation bedingt, habe ich
auch bei Gespräche und Diskussionen keine Aufzeichnungen gemacht und nur in wenigen
Fällen Namen und Adressen notiert. Alle Gespräche fanden auf Französisch statt. Die von mir
zitierten Aussagen dürfen darum nicht als direkte Rede der Informanten verstanden werden,
auch nicht als meine Übersetzung hiervon, es handelt sich hierbei um im Sinne der Aussage
wiedergegebene Versionen, die zu einem späteren Zeitpunkt schriftlich festgehalten wurden.
Um einen ,,untenable subjectivism" (Farnell, 1999: 150) zu vermeiden, bin ich gezwungen,
alle individuellen Eindrücke und Ansichten durch eine objektiv zugängliche Dokumentation zu
unterstützen. Das Einsammeln dieses Materials zwingt mich in die Situation des pragmatischen
Abwägens zwischen dem sozialen, politischen, ethnischen, kulturellen und künstlerischen Wert
dieser Fakten, das heißt, die eingesammelte Dokumentation ist auch wieder der Gegenstand
einer individuellen Interpretation und hermeneutischen Auslegung.
Zu diesem Objektivierungsprozess der Faktenaufarbeitung und Faktenverarbeitung kommen
noch weitere Probleme. Einerseits kann ich aus den Aussagen der Kursusteilnehmer und
Zuschauer auch ihren sozialer Status und ihre Motivation, an einem Flamencofestival
teilzunehmen ermitteln. Doch der eigentliche Rezeptionsprozess geht hieraus nicht hervor.
Andererseits haben meine eigenen Notizen, Reflexionen und Interpretationen nur einen
relativen Wert, da sie immer auch Ausdruck einer vorgefassten Meinung sind: ,,a form of
closure, thus circumscribing the other within a set of paradigms which do not necessarily
represent that other's concept of his or her own culture." (Gore, 1999: 208)
Um das Kulturkonzept des anderen zu erfassen, versuche ich mit der teilnehmenden
Beobachtung in die Realität der Rezipienten hineinzugehen und die Kunst und Kultur vom
Standpunkt der Teilnehmer aus zu betrachten. Die Frage ist jedoch, ob ich mit meiner
Teilnahme an den künstlerischen Ereignissen und an den Kursen die gleiche Realität erfasse wie
die anderen Teilnehmer. Teilnehmende Beobachtung beinhaltet, dass ,,'seeing' is a means to
get an objective idea of reality". (Saukko, 2003: 117) Die teilnehmende Beobachtung soll mir
diese ,,objektive" Version der Realität sichern und absichern, denn ich begebe mich hiermit auf
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die Seite des zu untersuchenden Objekts, ich sehe die Wirklichkeit vom Blickwinkel des
"Insider". Glaube ich. Ob der "Insider" das auch glaubt, ist eine andere Sache. Die gesehene
Wirklichkeit ist immer auch ganz anders. Mein Erfassen der gesehenen Wirklichkeit, meine
Sichtweite kann die von einem fremden Planet sein. Nichts kann ich als gegeben voraussetzen.
Jede Wahrheit hat ihre Basis in einer konstruierten Welt, ,,such as scientific, truths are historical
constructs that have their roots in specific social and political agendas." (Saukko, 2003: 133)
Von hierher ergeben sich aber noch andere Probleme, denn indem ich beobachte, festhalte,
auswähle, berichte, abwäge und werte, begebe ich mich in eine überlegene Position gegenüber
dem zu untersuchenden Objekt. Ich bestimme, definiere und lege den anderen fest.
Gleichgültig wie ich diesen Blickwinkel definiere, so ist dies ein Zugriff auf die persönliche
Integrität des Anderen, der in seinem So-Sein seine eigene Verletzbarkeit mit sich trägt. Ich
befinde mich hier in der Ambivalenz zwischen einer mitmenschlichen Loyalität und dem
wissenschaftlichen Interesse. Ich muss auf der einen Seite das Forschungsobjekt in Relation zu
einen sozialen Raum und zur menschlichen Handlung bringen. Ich muss andererseits eine
methodologische Analyse zurechtlegen, die die Betonung auf einem gewissen ,,decentrage"
(Thede, 2000: 324) gegenüber dem Untersuchungsobjekt beinhaltet. ,,Decentrage" bedeutet
Hinabsteigen im übertragenen Sinne auch Anständigkeit, ich würde es aber eher im Sinne einer
Form von Identifikation mit dem anderen bezeichnen, ich gehe dahin, wo er ist und versetze
mich in seine Situation. (Vgl.Thede, 2000: 324)
Hierzu kommt in der Rezeption des Flamencos noch ein weiteres Problem. Denn sowohl für
die Aussagen der Informanten als auch für meine eigenen Reflexionen gilt, was Gómez
allgemein als die größte Schwierigkeit der Kritik und Wissenschaft des Flamencos bezeichnet
und das ist der Transformationsprozess. In der Rezeption des Flamencos muss ich Erlebtes und
Emotionen in Sprache formulieren: ,,El gran empeño, por ser la gran dificultad, de la crítica
flamenca, como de la flamencología, es traducir en palabras las vivencias y emociones
producidas por el fenómeno flamenco". (Gómez, 1993: 27)
Giurchescu weist darüber hinaus auf den subjektiven Prozess hin, die Erfahrung von Worten,
Tönen und Bildern zu objektivieren: ,,while aware of the high degree of subjectivity inherent in
any attempt to translate an experience into word, sound and image, the researcher aims to
draw his or her construct as near to that first-order reality as possible. Paradoxically, then, this
subjective activity focuses on the production of `objective' and authentic' documents."
(Giurchescu, 1999: 41) Die subjektive Erfahrung wird in eine objektive, schriftlich fixierte
Version transformiert. Nach Giurchescu ist in diesem Prozess meine ganze Lebenserfahrung
involviert: ,,Socio-cultural and political contexts, the stage in a discipline's development, and the
researcher's own scholarly background, ideology and interests." (Giurchescu, 1999: 41) Der
Forscher wird damit zu einem Gegenstand des zu untersuchenden Objekts: "being an integral
part of social reality" (Giurchescu, 1999: 47)
Dieser Prozess, die subjektive Erfahrung in eine objektiv sprachliche Form zu transformieren,
beinhaltet noch andere Schwierigkeiten. Eine ist die Präzision des sprachlichen Ausdrucks. Nach
Gómez (1993: 28) gibt es in der Fachsprache der Musik Ausdrücke, die eine andere Bedeutung
in der Musikwissenschaft haben als in der Kunstwissenschaft, in der Flamencowissenschaft
oder in der Journalistik. So konnte er zum Beispiel keinen Konsensus darüber finden, was die
verschiedenen Disziplinen unter ,,Rhythmus" verstanden oder unter einem ,,aire" (Gómez,
1993: 30) oder unter musikalischen Bewegungen. (Vgl. Gómez, 1993: 30) Jedes Kunstwerk hat
seinen eigenen Rhythmus. Das kann das Sichtbare sein wie der Takt, das Volumen, die Farbe,
eine Bewegung der verschiedenen Teile, Momente der Ruhe und Momente der Bewegung. Er
kommt von hierher zu der Konklusion, dass der Gesang gehört werden muss. Ich kann die
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Produktionsbedingungen des Gesanges wiedergeben, aber nicht den gelebten Augenblick:
,,porque el cante es para escucharlo y comentarlo en la circunstancia en la que se produce,
porque cada momento de un cante es un mundo." (Gómez, 1993: 32) In gleicher Weise muss
das Kunstwerk auf der Bühne gesehen, erlebt und gelebt werden, denn jeder Augenblick ist
auch hier eine Welt. Die sprachliche Objektivierung ist damit eine subjektiv fingierte
Wirklichkeit, die mit der sprachlichen Klarheit den Anspruch einer eigenen Objektivität erhebt.
Ein weiteres Problem des Objektivierungsprozesses ist der Blickwinkel. Nach Saukko bin ich
im Auswerten der Ergebnisse genötigt, die Wirklichkeit von verschiedenen Standpunkten aus
zu betrachten. Hiermit komme ich zu einer methodologischen Annäherung an die Wirklichkeit,
die ich nach Saukko entweder als ,,Prisma"- Methode (vgl. Saukko, 2003: 34) bezeichnen kann.
Bei der ,,Prisma"-Methode betrachte ich die gegebene Realität aus verschiedenen Blickwinkeln.
Ich kann aber auch einen Dialog zwischen unterschiedlichen Methoden bei der Betrachtung
des Sujets benutzen. (Vgl. Saukko, 2003: 34f.) Die Vorraussetzungen für eine dialogische
Gültigkeit sind nach Saukko die Momente, auf die schon Guirchescu hinwies: ,,truthfulness to
different lived realities, critical self-reflection on one's own commitments, and attentiveness to
multiple lived realities or voices (polyvocality)." (Saukko, 2003: 56) Auf diesen Aspekten liegt
meine Aufmerksamkeit. Ich versuche einerseits, die Wahrhaftigkeit gegenüber der gelebten
Realität des Anderen zu erfassen und zu respektieren. Andererseits muss ich in kritischer
Selbstreflexion meine eigenen Reaktionen diskutieren. Dabei kann ich die Reaktionen des
Anderen in Relation an meinen Reaktionen messen. (Vgl. Saukko, 2003: 57) Ich kann von
hierher auch versuchen, die verschiedenen Situationen in Antizipation zu erfassen.
Wenn ich jedoch in die Vielfalt dieser unterschiedlichen Realitäten hineingehe, komme ich
in die Gefahr, ,,that any perspectiv is as good as any other." (Saukko, 2003: 67) Da aber alle
Menschen Realität immer nur in Ausschnitten erfassen und da die Totalität als Gleichzeitigkeit
empirisch unmöglich scheint, muss es nach Saukko Prinzipien geben, verschiedene Realitäten
einem kritischen Raster zu unterwerfen. Diese Prinzipien richten sich nach Saukko nach
ethischen Gesichtspunkten. Das ist eine Frage der Verantwortlichkeit gegenüber dem Einzelnen
und der Menschheit insgesamt. (Vgl. Saukko, 2004; 69) In der Sprache der Philosophie begebe
ich mich hier in die Position der Metaphysik, um ,,die Darstellung der Objekte in ihrem
Zusammenhang" (Fischer, 1998: 53) in einen ethisch verantwortlichen Kontext zu bringen.
Was ich hierbei zunächst registrieren kann ist, dass in unterschiedlichen Kontexten Kunst als
Musik und Tanz unterschiedliche Funktionen erfüllen. Sie stellen unterschiedliche Bedürfnisse
zufrieden. Sie wecken unterschiedliche Effekte im Menschen. Der Mensch wird in
unterschiedlichen Dialogen mit Musik und Tanz konfrontiert. Jeder dieser Aspekte ist wahr in
dem gelebten Augenblick, jeder ist notwendig aus der gelebten Situation, jede trägt einen Wert
in sich selbst. Wichtig ist hierbei für mich die Frage, wie sich diese Wahrheiten konstituieren?
Auf welcher Grundlage sind diese Wahrheiten aufgebaut? Welche Konsequenzen dieses
Relationsnetzwerk von Konstruktionen von Wahrheiten, Wirklichkeiten, Vorstellungen, Ideen,
Wahnvorstellungen und Ideologien ergeben sich für den Menschen?
Um die Basis dieses Netzwerkes von Wahrheiten und Wirklichkeiten verstehen zu können,
muss ich nach Saukko den historischen Kontext erfassen. Allerdings komme ich dabei in Bezug
auf die Gewohnheiten von Zuschauerhaltungen in einen interdisziplinären Dschungel von
Analysen, Forschungen, Wahrheiten und Glaubensbekenntnissen. Denn ob ich den Zuschauer
soziologisch erfasse, als politisches Wesen begreife, als eine physisch-psychische Einheit, als
einen intellektuell denkenden Menschen, als einen emotional reagierenden Menschen, als
einen physiologisch strukturierten Menschen oder als ein psychisch somatisch reagierendes
Wesen, so werde ich immer neue Antworten erhalten. Dieser gesamte Komplex ist ein
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Netzwerk von Beziehungen. Dieses Beziehungsgeflecht kann ich nur in einzelnen Aspekten
erfassen. Das heißt aber, da ich eingrenzen und auswählen muss. Ich muss auf bestimmte
Disziplinen und Probleme fokussieren. Dabei muss ich allerdings die Einzelergebnisse immer
wieder in einen größeren Zusammenhang zurückstellen und betrachten.
Ich konzentriere mich auf das Problem der Wiedererkennung. Bei der Definition der
Wiedererkennung gehe ich von Aristoteles aus und wende dieses Modell in zweifacher Weise
an. Das ist einerseits das Problem der Wiedererkennung als Identifikation des Künstlers mit
,,seiner" Kunst. Das ist andererseits das Problem der Wiedererkennung als Identifikation des
Zuschauers mit sich selbst in dem gelebten Augenblick der Konfrontation mit der Kunst. Eine
abschließende Frage hierzu wäre natürlich, wie sich das eine Problem zum anderen verhält.
Wenn ich das konkret auf das Flamencofestival in Mont de Marsan beziehe ergeben sich
folgende Fragen: In welcher Art und Weise identifizieren sich die Künstler auf der Szene mit der
hier produzierten Kunst? Was erwartet demgegenüber der Zuschauer? Was erlebt er? Was
erfasst er? Womit identifiziert er sich? Wie verhält sich das eine zum anderen?
Die Hypothese
Der Ausgangspunkt dieser Arbeit ist Aristoteles These der Wiedererkennung. Aristoteles
bezieht die Wiedererkennung auf das Erkennen von emotional und real gelebten Ereignissen
in dramatischen Prozessen und Handlungen als paradigmatisch menschliche Verhaltensweisen.
Das ist ein Zurückführen des Menschen auf sich selbst im Rahmen einer kollektiven
Gemeinschaft. Dabei ist ,,meine" Schuld gleichzeitig ,,unsere" Schuld und ,,meine" Probleme
sind ,,unsere" Probleme.
Aristoteles bezeichnet die Wiedererkennung als die größte Verführung des theatralischen
Erlebnisses: "la plus grand seduction dans la tragédie, ce sont de parties de l'histoire: les coups
de théâtre et les reconnaissances." (Aristote, 1980: 55 und 57) Die größte Verführung der
Tragödie geschieht durch den Verlauf der Geschichte und in den Wiedererkennungen. Die
Seele der Tragödie ist die Geschichte. (Vgl. Aristote, 1980: 57) Sie wird in der Tragödie durch
die Verwicklung bewirkt, die zu einem Wendepunkt führt. Aristoteles unterscheidet einfache
und komplexe Handlungen. Einfach sind die Handlungen, wo der Wendepunkt ohne einen
,,coup de théâtre" (Aristote, 1980: 69) und ohne Wiedererkennungen geschieht. Komplex sind
die Handlungen, wo der Wendepunkt entweder durch die Wiedererkennung geschieht oder
durch den Theatercoup. (Vgl. Aristote, 1980: 69) Der "coup de théâtre" (Aristote, 1980: 71) ist
der Wendepunkt, der Umschwung vom Guten zum Schlechten in der Tragödie. Er muss
wahrscheinlich und notwendig sein.
Die Wiedererkennungen sind der Umsturz von der Unschuld des Nicht-Wissens zur
Erkenntnis der Wahrheit. Sie bringen ein Bündnis oder die Feindschaft zwischen denen, die zum
Glück oder Unglück bestimmt sind. (Vgl. Aristote, 1980: 71) Die Wiedererkennungen sind
immer eng mit der Struktur des Dramas verbunden. Im theatralisch kollektiven Ereignis werden
durch die Komposition der dramatischen Strukturen diese Verschüttungen und Verdrängungen
aufgedeckt. Der Mensch wird hier mit sich selbst konfrontiert.
Theatralische Ereignisse fanden im antiken Griechenland an heiligen Opferstätten statt. Es
waren religiöse und rituelle Reinigungsprozesse. Der Mensch wurde im Angesicht einer
göttlichen Übermacht auf sich selbst zurückgeworfen. Die dramatischen Strukturen sind in
diesem Sinne eine Weiterführung und Verfeinerung religiöser und ritueller Strukturen.
Aristoteles Poetik ist von hierher die Erkenntnis der Macht der Strukturen, die wie die ,,moira",
das Schicksal des menschlichen Lebens bestimmen können.
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Die griechischen Dramen waren aber nicht ausschließlich sprachlich strukturierte
Dichtwerke. Die griechischen Dramen waren keine Dramaturgie in Satzverknüpfungen. Sie
waren kein Enthüllen von Schicksalsverknüpfungen in logisch verbalen Prozessen wie in Ibsens
Dramatik, die griechischen Dramen waren auch Musik und Tanz und festliche Begehung als
Wiederkunft des göttlichen Ereignisses. Das Erfassen, Verstehen und Erkennen von
dramatischen Strukturen muss hier als ein Erkennen und Verstehen von musikalischen und
rhythmisch räumlichen Bewegungsabläufen verstanden werden. Das hat der Flamenco mit der
antiken Tragödie gemeinsam. Auch im Flamenco kommen im Rhythmus alle divergenten
Elemente wie Musik, Gesang, Poesie und Tanz zusammen. Dabei formt der Rhythmus die
Einheit. Er ist der Kristallisierungspunkt und die Seele des Flamencos: ,,tous réalisent la
représentation au moyen du rythme, du langage ou de la mélodie, (...) c'est au moyen du rythme
seul, sans la mélodie, que l'art des danseurs représente (en effet, c'est en donnant figure à des
rythmes qu'ils représentent caractères, émotions, actions." (Aristote, 1980, 33) Im und mit dem
Rhythmus repräsentiert bei Aristoteles der Tänzer die verschiedenen Charaktere, Emotionen
und Handlungen.
Es gibt bestimmte Wiedererkennungsformen in musikalischen Strukturen (vgl. Jourdain,
1998) und es gibt bestimmte Wiedererkennungsformen in Tanzstrukturen (vgl. Bakka, Aksdal,
Flem, 1992: 14f.). Nach Jourdain antizipieren wir Harmoniesysteme, Melodien und melodische
Konturen und Rhythmen in Relation zu unseren eigenen durch Vererbung, Gewohnheit und
Ausbildung vorgeformten Gehirnstrukturen. In einer positiven Wiedererkennung empfinden
wir Freude, Befriedung und Genuss an der Musik. Die positive Wiederkennung findet dann
statt, wenn die Strukturen der rezipierten Musik in Übereinstimmung mit dem musikalischen
Vorverständnis in unserem Gehirn sind. Wenn hier eine Unstimmigkeit besteht, wenn wir mit
einer uns fremden Musik konfrontiert werden, bereitet dies Unbehagen, unsere Erwartungen
werden nicht erfüllt.
Wieso soll aber nach Aristoteles eine Tragödie durch Furcht und Mitleid zur Katharsis führen
und damit zur Erlösung von Furcht und Mitleid? Weil, wenn ich Jourdain folge, Disharmonien
bewusst in die musikalischen Kompositionen eingelegt werden, um ,,die Auflösung
harmonischer Erwartungen hinauszuzögern" (Jourdain, 1998: 387), die eingelöste Erwartung
wird damit umso größer. Genau dasselbe geschieht in der Tragödie. Je größer die
Spannungskurve der dramatischen Handlung ist, umso größer ist die eingelöste Erwartung.
Wiedererkennung als Antizipation des Bekannten und im glücklichen Finden die Erfüllung
führen zu Befriedigung und Genuss oder zur Katharsis wie Aristoteles es formuliert.
Jourdain schreibt, ,,Musik erhebt Emotionen zur Kunst". (Jourdain, 1998: 390) Um Emotionen
aber geht es auch in Furcht und Mitleid. Um Emotionen geht es in der Wiedererkennung des
Ich in der Musik und in der Identifikation. Um Emotionen handelt es sich auch beim Nicht-
Zigeuner, der Flamenco hört und sieht. Das kann als Identifikation mit Bekanntem geschehen
oder auf der Suche nach dem Anderen in Angst vor dem Unbekannten. Das ist eine Suche nach
Kommunikation und Verständnis: ,,Musik hilft dabei, diese Reaktionen zu vervollkommnen, sie
zu verschönern, (...) Es ist die Kraft unserer eigenen Existenz, die musikalische Erwartungen
antreibt, und es sind die Freuden und Schmerzen in uns selbst, die durch musikalische
Auflösungen bedient werden." (Jourdain, 1998: 390)
Aristoteles spricht von den Wiedererkennungen als Resultat des dramatischen Prozesses.
(Vgl. Aristote, 1980) Der dramatische Prozess bewirkt nach Aristoteles in und mit den
Strukturen die Wiedererkennungen von Ereignissen aus dem Leben der Zuschauer. Das gleiche
behauptet Jourdain von musikalischen Erlebnissen. In Bezug auf Tanzstrukturen können wir von
den gleichen Grundvoraussetzungen ausgehen, auch hier werden bestimmte
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Bewegungsmuster erkannt, ausgewählt, dem Bewegungsvermögen des Körpers angeglichen
und als ein bestimmter Tanz definiert. (Vgl. Bakka, Aksdal, Flem, 1992: 14f.) In jeder
Flamencovorstellung wirken alle diese drei Komponenten zusammen. Wiedererkennungen
geschehen innerhalb eines ganzheitlichen Erlebnisses. Sie beziehen sich auf die musikalischen
und bewegungsgebenden Strukturen, die im Zusammenhang einer Bedeutungsgebung zu einer
dramatischen Strukturierung, das heißt, einer Inhaltsgebung mit Anfang, Höhepunkt und Ende
führen.
Eine andere Frage ist, wieweit die Wiedererkennungen als Erkennung ererbter und
erworbener Strukturen eine Bestätigung des ,,Ich" darstellen und wieweit die Grenzen des
Strukturierungsvermögens hierüber hinaus erweitert werden können. Das aber ist die
Herausforderung in jeder Begegnung mit einer ,,fremden", das heißt, einer andersartig
strukturierten Kunst und Kultur. Das andere, dem wir gegenüberstehen, ist immer das, was
nach anderen Gesetzen strukturiert ist. Wieweit kann dieses Andere erlernt werden? Wo gehen
die Grenzen des Möglichen? Sind sie genetisch festgelegt?
Das Problem
Die Wiedererkennungen können sich in unterschiedlichen Prozessen vollziehen. Einerseits
kann ich die Identifikation des Künstlers mit ,,seiner" Kunst als einen Wiedererkennungsprozess
bezeichnen. Da die Künstler des Flamencos zu 75 Prozent (vgl. Thede, 2000: 242) aus dem
Zigeunermilieu kommen, ist dieser Identifikationsprozess mit einer ethnischen Identifikation
verbunden. Ich bezeichne diesen Prozess als: ,,Leben als Kunst". Andererseits kann ich das
Erkennen von musikalischen Strukturen und Bewegungsstrukturen im Zuschauer als
Wiedererkennungsprozess bezeichnen. Ich nenne dies ,,Kunst als Leben": Der Zuschauer lebt
diese Kunst im Rezeptionsaugenblick. Das eine Problem steht in einem bestimmten Verhältnis
zu dem anderen, denn die Beziehung, die der Künstler zu der Kunst hat, die er einem Publikum
präsentiert, wird zu einem Teil dieser Kunst, prägt die Aussage der Kunst und damit auch den
Rezeptionsaugenblick.
Um diese beiden Themen behandeln zu können, muss ich von unterschiedlich empirischem
Material ausgehen und mich auf verschiedene wissenschaftliche Methoden stützen. Die
Identifikation der andalusischen Zigeuner mit ihrer Kunst ist in der wissenschaftlichen Debatte
als anthropologisches Problem erfasst und behandelt. (Vgl. Thede, 2000; Pasqualino, 2002) Von
Steingress wurde es als soziologisches Problem diskutiert. (Vgl. Steingress, 2002 und 2004)
Leblon (1990), Lefranc (1998), Torres Cortés (2002), Cruces Roldán (2003) u. a. haben die
Identifikation der Zigeuner mit ihrer Musik vom musikwissenschaftlichen Blickwinkel
beleuchtet. Valdes (1998), Gelardo Navarro (2002), Torres Cortés (2002), Steingress (2002) und
(2004) haben diese Debatte in eine historische Perspektive gesetzt. Diese Debatte ist
gekennzeichnet durch eine unüberbrückbare Kontroverse. Um diese Kontroverse zu erfassen,
kann ich auf die existierende Diskussion und die wissenschaftliche Literatur hinweisen.
Die Kontroverse über die Identifikation der andalusischen Zigeuner mit dem Flamenco
beinhaltet das Problem der Authentizität und Echtheit des Flamencos als Kunst: Wem gehört
die Kunst? Wer hat einen Anspruch auf eine echte, authentische Vermittlung? Diese
Kontroverse hat Folgen für die Ausübung, für die Präsentation und für die Rezeption der Kunst.
Ich werde zunächst versuchen, die Kontroverse über die Authentizität und Reinheit des
Flamencos zu erfassen. Dabei beziehe ich dieses Problem immer darauf, welche Bedeutung es
auf dem Flamencofestival in Mont de Marsan für die Präsentation des Flamencos hatte, wie es
sich in der Programmgestaltung wiederspiegelte und wie dies in den Vorstellungen zum
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Ausdruck kam. Als Material benutzte ich hierzu die mir zugängliche Fachliteratur,
Programmhefte, Ankündigungen, die Internettseiten zum Flamencofestival von Mont de
Marsan, die Tagespresse von Mont de Marsan, Flamencozeitschriften, zum Flamencofestival
herausgekommene Festschriften, Hinweise aus meiner Privatkorrespondenz mit dem
Festkomitee (Conseil général des Landes) in Mont de Marsan und eigene Notizen.
Hierin zeigt sich eine bestimmte Auswahl und Präsentation der Kunst des Flamencos: Das
Flamencofestival wurde unter einem Motto ins Leben gerufen. Es wird präsentiert auf der
Grundlage einer Ideologie. Die Präsentation der Kunst aus einem bestimmten Gesichtswinkel
hat Folgen für die Rezeption der Kunst. Was der Zuschauer erwartet, wird von dem offiziellen
Festarrangement vorherbestimmt. Es wird von den Ankündigungen und in der Auswahl des
Programms vermittelt. Es wird in der Darbietung der Kunst in den unterschiedlichen Lokalen
und in den Festansprachen präsentiert. Was der Zuschauer hiervon erfasst und erfassen kann,
ist von seiner individuellen Beschaffenheit abhängig.
Das Programm, die Darbietung der Kunst, die Atmosphäre in den verschiedenen Lokalen und
die Festansprachen kann ich zu beschreiben versuchen. Der individuelle Zuschauer in seiner
intellektuellen und psychischen Beschaffenheit in einem abhängigen Relationsnetzwerk von
politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen, in Relation zu Alter, Geschlecht und
anderen Faktoren, kann ich immer nur in Analogie und auswahlweise erfassen. Ich kann mich
hier auf Gespräche und Diskussionen beziehen, auf Beobachtungen und meine eigenen Notizen
und Reflexionen. Das aber, was der Zuschauer wirklich erfasst, was er erlebt und womit er sich
identifiziert, erfordert eine fachspezifisch experimentelle Forschung, die ich in diesem Rahmen
nicht leisten kann. Ich kann mich aber auf diese Forschung beziehen, um meine eigenen
Beobachtungen zu unterstützen. Wichtig sind dabei die Untersuchungen über
Publikumstheorien allgemein (vgl. Martin, 1997), über Publikumsverhalten und von
Publikumsreaktionen speziell (vgl. Pitts, 2005), und über die Bedeutung des Kontextes für die
Kunst. (Vgl. Grau, 1995; Bachtin, 1995) Über die Rezeption von musikalischen Strukturen hat
Jourdain (1998) geschrieben und über Bewegungen und Tanzbewegungen Martin (1996).
Das Beziehungsgeflecht des individuellen Zuschauers in seiner politischen, sozialen,
ideologischen und ökonomischen Abhängigkeit (vgl. Shepherd, Wicke, 1997; Lockard, 1998)
muss ich in Relation zu den gegebenen Ereignissen mit der dargebotenen Kunst in diesem
speziellen Augenblick und unter den gegebenen Bedingungen setzen. Dies kann ich mit den
Aussagen und Bemerkungen der Festivalteilnehmer analysieren. Anhand meiner eigenen
Beobachtungen und auf der Grundlage dessen, was ich erlebt habe, kann ich die Aussagen und
Bemerkungen der Festivalteilnehmer relativieren. Als Supplement hierzu reflektiere ich auf
meine eigenen Reaktionen, um das eine mit dem anderen in Relation zu setzen. Von hierher
kann ich wieder Schlüsse ziehen, wie alle anderen Festteilnehmer die Kunst des Flamencos in
Mont de Marsan erlebt haben und erleben konnten, beziehungsweise, wie wir gemeinsam
Kunst erlebt und gelebt haben.
Praktisch werde ich dabei immer von dem gegebenen Kontext ausgehen. Ich habe andere
Rezeptionsbedingungen im ,,Espace Francois Mitterrand", im ,,Café cantante", in der Bodega,
in der Halle von Nahuque, in den Diskotheken und in der Halle mit dem Ochsen. An jedem
dieser Orte wird Kunst unter bestimmten Voraussetzungen produziert. In jeder Umgebung hat
die Kunst eine bestimmte Funktion. Von jedem Ort erwarte ich ein anderes Kunsterlebnis.
Rezeptionsmodus, Wiedererkennung und Identifikation mit der Kunst gestaltet sich an jedem
Ort und in jedem gelebten Augenblick anders. Ich muss diese Voraussetzungen zu erfassen
versuchen, um die Rezeption, Wiedererkennung und Identifikation hieraus erschließen zu
können. Ich muss in jede dieser Situationen hineingehen, mich in den Augenblick verlieren, um
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den Augenblick erfassen zu können und die Relationen zu finden zwischen Zeit, Ort, der Kunst
in der gegebenen Umgebung und dem Menschen, der diese Situation schafft und für den diese
Situation geschaffen wurde.
Zusammenfassungg
Das erste Kapitel ist eine Einführung in die allgemeine Problematik. Der
Diskussionsgegenstand ist ein Flamencofestival in Mont de Marsan in Südfrankreich. Das
Problem, das ich hier behandle, ist die Identifikation des Menschen mit der Kunst. Einerseits
zeigt sich hier eine Opposition: Die Identifikation der ausübenden Künstler mit ,,ihrer" Kunst im
Gegensatz zu einem Publikum, das sich mit der präsentierten Kunst identifiziert. Andererseits
wird Kunst vom Publikum auf dem Flamencofestival nicht nur rezipiert, sondern in den
Diskotheken und Tanzkursen auch produziert.
Um diese Probleme zu erfassen, wählte ich die teilnehmende Beobachtung. Meine Rolle als
teilnehmender Beobachter ist in dem Abschnitt ,,Methode" problematisiert und diskutiert. Ein
Hauptthema ist hierbei, welche allgemeinverbindliche ,,Wahrheit" ich von meinen subjektiv
empfundenen Ansichten und Beobachtungen in Konfrontation mit unterschiedlichen
Wirklichkeiten gewinnen kann.
Um dieses Problem einzugrenzen, gehe ich von einer Hypothese aus: Was erlebt der Mensch
im Augenblick der Konfrontation mit Kunst? Womit identifiziert er sich? Die Identifikation mit
der Kunst bezeichne ich als einen Wiedererkennungsprozess. Hierbei gehe ich von Aristoteles
Definition der Wiedererkennungen aus, wie er sie in der ,,Poetik" formuliert hat. Dieses
Problem des Wiedererkennungsprozesses im theatralischen Ereignis bringe ich in
Zusammenhang mit den Wiedererkennungen in musikalischen Strukturen und in
Bewegungsstrukturen im Tanz.
In dem abschließenden Abschnitt gehe ich auf die konkrete Behandlung der zuerst
theoretisch vorgelegten Fragestellung ein: Welches Material habe ich zur Verfügung, um das
kognitive Problem der Wiedererkennung und Identifikation in der Kunst adäquat zu erfassen?
Die Wiedererkennung als Identifikation des Künstlers mit ,,seiner" Kunst
Im Flamenco kommen die Künstler nach Thede zu 75 Prozent aus Zigeunerfamilien. (Vgl.
Thede, 2000: 242) Wenn ich von den Ankündigungen in den Programmen des
Flamencofestivals von 2004 und 2005 in Mont de Marsan ausgehe, würde ich eher vermuten,
dass hier etwa 80 bis 85 Prozent der Flamencoartisten aus dem Zigeunermilieu rekrutiert
worden sind, vielleicht auch mehr.
Nach Thede (2000: 48) stellen die andalusischen Zigeuner ihre ethnische Identität im
täglichen Leben selten zur Schau. Anders ist dies während der offiziellen Feste und Feiertage
wie auch auf Flamencofestivals. In den Ankündigungen zum Flamencofestival in Mont de
Marsan, in Programmheften und den Kritiken der Presse wird oft die Herkunft der Künstler aus
Zigeunerfamilien und dem Zigeunermilieu hervorgehoben, besonders, wenn es sich um junge
Künstler handelt. So wird im Programmheft zum Flamencofestival von 2004 Mercedes Ruiz als
junge und vielversprechende Künstlerin beschrieben und als ,,Gitano de Jerez". (Programmheft,
2004: 12) José Manzano wird angekündigt als ,,Né à Séville au sein d'une famille gitane de
Triana" (Programmheft, 2004: 15). José Manzano wurde in Sevilla geboren in einer
Zigeunerfamilie von Triana. José Valencia wird als ,,cantaor gitan" (Programmheft, 2005: 8)
bezeichnet. Joselitto Romero wird als ,,jeune prodige du baile né d'une famille gitane"
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(Programmheft, 2005: 10) angekündigt, das heißt, als ein junger aufgehender Startänzer, der
aus einer Zigeunerfamilie kommt.
Wenn die Laufbahn eines Zigeuners beschrieben wird, werden oft Worte wie ,,clan, tribu,
primo, dynastie, sang, héritage, race, patriarche" (Thede, 2000: 242) verwendet. Die Zigeuner
werden als Mitglieder eines Clans präsentiert (vgl. Ríos Vargas, 2002), als eine Gemeinschaft
und Erben einer Tradition (vgl. Thede, 2000: 243). Auch Ríos Vargas (2002) betont in seiner
Anthologie des Flamencotanzes die Bedeutung der Familienaristokratie und Clans der Zigeuner
für die Kunst des Flamencos: ,,la enorme importancia que para el flamenco han tenido las casas
y los clanes familiares" (Ríos Vargas, 2002: 88).
Auf dem Flamencofestival in Mont de Marsan kommt das einerseits darin zum Ausdruck,
dass in jedem Jahr eine bestimmte Stadt mit einer Gruppe Zigeuner eingeladen wird, die auf
der Szene die charakteristische Kunst ihres Gebietes präsentiert. ,,Après Triana en 2003, Jérez
en 2004, les artistes d'Utrera". (Internett:
http://www.landes.org
/, 04. 08. 2005) Nach Triana
in 2003, Jérez in 2004 wurden am Freitag, dem 8. Juli 2005 die Künstler aus Utrera im ,,Espace
Francois Mitterrand" vorgestellt mit ihrem ,,cante gitano andaluz". (Programmheft, 2005: 14)
Auf die Erbschaft der noblen Dynastien der Zigeuner, dieser großen Familien von Künstlern,
wird immer ausdrücklich hingewiesen. (Vgl. Programmheft, 2005: 15) Auch werden ganze
Familienclans auf die Szene gebracht. Am Samstag, dem 9. Juli 2005 wurde in der Halle von
Nahuque ,,Las Tres Mil" präsentiert. ,,Las Tres Mil" wird als eine Zigeunerfamilie aus Triana
beschrieben, einem Vorort von Sevilla. Sie präsentieren die kulturelle Erbschaft ihrer Vorväter
wie einen Schatz: ,,ces familles gitanes ont conservé, comme un trésor, l'héritage culturel
flamenco de leurs ancêtres." (Programmheft, 2005: 16) Am 6. Juli 2004 war Antonio Rey im
,,Café cantante" auf der Szene. Antonio Rey stellte die anwesenden Künstler vor: Am Klavier
saß sein Vater. Sein Vater wurde von seinem Bruder auf der Gitarre begleitet. Seine Mutter
tanzte den Flamenco. Seine Onkel gaben die rhythmische Begleitung (palmas y compás).
(Eigene Notizen, 07. 07. 2004) Am Freitag, dem 8. Juli 2004 präsentierte die Familie Santiago
aus Marseille ihren Flamenco auf der Szene der Bodega: ,,Marseille héberge quelques familles
gitanes qui participent á la sauvegarde du patrimoine flamenco francais. La famille Santiago,
qui compose en majorité le groupe Habiyelar, s'attache á cette demarche." (Programmheft,
2004: 19), das heißt, in Marseille wohnen einige Zigeunerfamilien, die dazu beitragen, die
Erbschaft des französischen Flamencos zu bewahren. Das ist auch das Anliegen der Familie
Santiago.
Demgegenüber ist es selten, dass die ethnische Herkunft von Nicht-Zigeunern besprochen
wird. Wenn dies geschieht, dann darum, um eine Verbindung zur Identität der Zigeuner
herzustellen. (Vgl. Thede, 2000: 242) So geschah es am Mittwoch, dem 7. Juli 2004, wo im
,,Espace Francois Mitterrand" ,,5 mujeres 5" von Eva la Yerbabuena gezeigt wurde. Eva
Yerbabuena wird als eine Deutsche aus Frankfurt am Main vorgestellt, ,,mais originaire de
Grenade" (Programmheft, 2004: 13). Woher sie kam, aus Granada oder Frankfurt am Main,
bleibt dabei unklar. Die Zeitschrift ,,Flamenco" ist präziser, wenn sie schreibt, sie sei Deutsche,
wäre aber mit einem Zigeuner verheiratet, der sie als Gitarist begleite. Sie wohnen in Granada.
(Nicolaou, 2005: 26ff.)
In der Flamencodiskussion ist die ethnische Identität der Zigeuner ein umstrittenes Thema.
Einerseits wird die Reinheit des Flamencos aus dem Blut der Zigeuner emotionell verteidigt.
Andererseits werden Fakten serviert, wonach eine Reinheit des Blutes nicht existiert. Von den
,,aficionados", den Liebhabern und Kennern des Flamencos, wird die Reinheitsideologie
verteidigt, gehegt und gepflegt. Demgegenüber distanziert sich die wissenschaftliche
Forschung. Ethnisch reine Gruppen gäbe es nicht. (Vgl. Thede, 2000; Ashcroft, Griffiths, Tiffin,
18

2003: 118; Hylland Eriksen, 2003: 78ff.) Thede weist anhand von Statistiken nach, dass schon
im 18. Jahrhundert 90 Prozent der Zigeuner sich mit Nicht-Zigeunern verheiratet haben. (Vgl.
Thede, 2000: 35)
Für den ,,aficionado" kommt der Flamenco aus dem Volksbrauch und aus den Riten der
andalusischen Zigeunerfamilien. In Flamencoshows, Filmen und Videos wird der Mythos des
Zigeuners beschworen. Dies ist ein durchgehendes Thema in den Filmen von Carlos Saura
,,Bodas de sangre" (1981), ,,Carmen" (1983), ,,El amor brujo" (1986) und ,,Flamenco" (2004) bis
Jorge Mazzini mit ,,Master of Gitanos" (1998) und Joaquín Cortés mit ,,Gypsy Passion".
Steingress (2004) konstatiert demgegenüber, dass dieser Mythos in der Mitte des 19.
Jahrhunderts geboren wurde. Er sei das Resultat der Spätromantik. Es gibt das ethnische
Glaubensbekenntnis als psychische Wahrheit und es gibt die nüchterne Gegenargumentation
beruhend auf wissenschaftlichen Faktoren. Danach basiert die Reinheit und Echtheit des
Flamencos auf zweifelhaften Interpretationen. Sie sei mit schwachen Argumenten abgesichert.
Die Argumentation über die Authentizität und Reinheit des Flamencos ist immer ambivalent.
Zuerst stellen die Verteidiger des Zigeunermythos eine These über die Exklusivrechte der
Zigeuner am Flamenco auf. (Vgl. Leblon, 1990 und 1995; Pohren, 1990; Lefranc, 1998) In der
Verteidigung dieser Rechte beweisen sie dann das Gegenteil. Natürlich gibt es auch die
musikalischen Traditionen der islamischen Vergangenheit von Andalusien, das bestreitet
keiner. Natürlich gab und gibt es eine andalusische Volkskultur. Das kann nicht wegdiskutiert
werden. Natürlich kommt der Fandango nicht aus der Zigeunertradition, das weiß offensichtlich
jeder. Doch Flamenco wurden und werden alle diese Elemente erst durch die Zigeuner, heißt
es dann als abschließende Konklusion. (Vgl. Leblon, 1990)
Demgegenüber konstatiert Steingress: Der Flamenco kommt nicht aus dem geschlossenen
Milieu einzelner andalusischer Familien. Der Flamenco ist auch nicht die Erbschaft der aus
Indien vertriebenen Zigeuner. Genauso wenig ist der Flamenco das Ergebnis der Begegnung
der spanischen Zigeuner mit der islamischen Kultur von Andalusien. (Vgl. Steingress, 2004: 47)
Dem setzt Leblon (1990 und 1995) den Mythos von der geheimnisumwobenen Herkunft der
Zigeuner aus Indien entgegen. Die Vertreibung der Zigeuner aus Indien ist mythenumsponnen.
Die Irrungen und Wirrungen der Zigeuner in Asien und Europa können historisch an den Spuren
ermittelt werden. Aber dass sich aus dieser Wanderung der Zigeuner über mehrere Kontinente
aus einer Konfrontation mit allen Musiktraditionen eine eigene musikalische Kultur entwickelte,
ist eine reine Spekulation. Dass diese eigene musikalische Kultur der Zigeuner in Spanien ihren
Höhepunkt erreichten, ist eine reine Hypothese.
Der Flamenco sei das Ergebnis eines jahrhundertlangen Suchens, Findens und Leidens, wird
gesagt. Der Flamenco drückt dieses Leiden aus. Nur die Zigeuner können es fühlen, weil nur die
Zigeuner leiden. Der Flamenco ist reserviert für die Zigeuner. Man singt, wenn man unter sich
ist. Nur eine ausgewählte Minorität ist in diesem exklusiven Kreis zugelassenen. (Vgl. Lefranc,
1998: 26; Pohren, 1990) Der Eingang in dieses geschlossene Gebiet ist das Blut, das Leiden und
der Rhythmus. Der Rhythmus ist komplex und variiert. Er sei unerreichbar für Nicht-Zigeuner.
Der Flamenco sei nicht intellektuell, darum könne er nicht erlernt werden. Die Nicht-Zigeuner
sind von dieser Exklusivsphäre ausgeschlossen. (Vgl. Thede, 2000: 99ff.)
Diese gesamte These der Herkunft und Exklusivität des Flamencos wird von Steingress in
Frage gestellt. Der Flamenco sei nicht der Schrei und die Verzweiflung der andalusischen Rasse
oder sonst einer rassischen Mischung. (Vgl. Steingress, 2004: 43)
Die Atmosphäre des Flamencofestivals schafft aber seine eigene Realität. Gleichgültig
welche wissenschaftliche Grundlage der Flamenco hat, wir leben den Augenblick der Kunst, die
19

Enklave des Festes und die Umkehr der Wirklichkeit. (Vgl. Bachtin, 1995) Das Motto des
Flamencofestivals ist eine Hommage an die Authentizität der Zigeunerkultur aus Andalusien.
Ich werde versuchen, die Bildung der ethnischen Identität der andalusischen Zigeuner zu
beschreiben und die Vermittlung dieser Identität durch das Festarrangement, wie dies in der
Programmauswahl zum Ausdruck kommt und wie die künstlerische Darbietung hiervon geprägt
wird. Wie die Ideologie der ethnischen Identität auf uns, das heißt die Festteilnehmer
zurückschlägt, ist das Thema des abschließenden Kapitels.
Die ethnische Identität
Eine ethnische Identifikation ist nach Ashcroft, Griffiths und Tiffin eine positive Identifikation
mit einer Gruppe. (Vgl. Ashcroft, Griffiths, Tiffin, 2003: 81f.) Die ethnische Zugehörigkeit ist eine
relative Größe, abhängig von Zeit und Raum. ,,Ethnie" vom griechischen ,,Volk, Stamm" (Duden,
1971) wurde umdefiniert als kulturelle und/oder genetische Zugehörigkeit. (Vgl. Hylland
Eriksen, 2003: 12f.) Die Zugehörigkeit zu ethnischen Gruppen signalisiert eine Form von
individueller Machtlosigkeit, die innerhalb der Gruppe politischen oder sozialen Einfluss oder
Macht absichert. Wichtige Elemente zur Gruppenbildung sind nach Ashcroft, Griffiths und
Tiffin: ,,kinship patterns, physical contiguity, religious affiliation, language or dialect forms, tribal
affiliation, nationality, physical features, cultural values, and cultural practices such as art,
literature and music." (Ashcroft, Griffiths, Tiffin, 2003: 84) Bei der ethnischen Identität handelt
es sich also um ein menschliches Kollektiv, das sich durch seinen Glauben charakterisiert. In der
Regel berufen sich die Mitglieder auf eine gemeinsame Vorgeschichte und gemeinsame Ahnen.
Die Größe der Gruppe ist unterschiedlich, die Grenzen und Abgrenzungen sind schwankend.
Thede weist speziell auf das Problem der Absteckung der Grenzen hin. (Vgl. Thede, 2000:
296ff.) Die ethnische Identität sei innerhalb der Gruppe, wenn die Mitglieder der Gruppe unter
sich sind, stärker als zur Randzone hin. Demgegenüber gäbe es andere Theorien, wonach die
ethnische Identität stärker wäre in Kontakt mit anderen. (Vgl. Thede, 2000: 296ff.). Dann gäbe
es wieder Theorien, wonach die Grenzen der Identität sich ändern, abhängig vom Zeitpunkt,
von der Situation und der Veränderung des Selbst. Thede fragt, ob diese Grenze
konzeptualisiert werden kann als einen Ort der Aufteilung oder eine Einteilung in Sektionen am
Grenzpunkt der Unterschiede, die durch die Grenze Bedeutung erlangt? (Vgl. Thede, 2000: 297)
Derart konzeptualisiert ist die Grenze der ethnischen Front das ausschlaggebende Gewicht und
das Resultat eines symbolischen Sich-Verschließens. Das gibt die Dynamik der Grenzen
zwischen den Gruppen, innerhalb dessen der Staat eine Schlüsselrolle spielt. (Vgl. Thede, 2000:
298; Hylland Eriksen, 2003: 127, 142ff.)
Die Tatsache der Rassenmischung ist hierbei wichtig, da sich historisch gesehen alle
menschlichen Gruppen in einem Prozess der Vermischung konstituieren. Es gibt von hierher
gesehen keine ethnisch reinen Gruppen. (Vgl. Hylland Eriksen, 2003: 13) Trotzdem kann man
nach Thede von ethnischen Gruppen sprechen, weil sie sich symbolisch konstituieren. (Vgl.
Thede, 2000: 300; Hylland Eriksen, 2003: 79, 91, 127) Alle Identität ist eine Art, die
Unterschiede zu organisieren und die Bedeutungsgebung zu aktualisieren. Wie Thede bestätigt,
ist hierbei das Ritual ein wichtiges Mittel, die Einheit und die Identität symbolisch zu bestätigen,
dessen Fragwürdigkeit immer ein Problem der Reproduktion der Gruppe herstellt.
Die rituelle Handlung selbst kommt hierbei ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Nach Thede ist
der Ritus eine Form der Vermittlung der doppelten Polarität der Identität ,,l'expression
symbolique de la fonte, défonte et refonte des identités." (Thede, 2000: 301), das heißt, der
Ritus ist ein symbolischer Ausdruck der Verschmelzung, der ,,Entschmelzung", der Trennung,
20

des Umschmelzens und der erneuten Bearbeitung. Auch das Ritual muss als eine soziale Praxis
betrachtet werden. Die ethnische Identität hat nach Thede einen veränderlichen Charakter.
Dieser Charakter ist flüchtig und kaum greifbar. (Vgl. Thede, 2000: 302) Die ethnische Identität
ist ein zerbrechlicher Konsensus. Sie ist vieldeutig und kann unterschiedlich interpretiert
werden. Die ethnische Identität ist das Produkt der Kräfteverhältnisse sowohl im Innern der
Gruppe als auch in Relation zu anderen. (Vgl. Thede 2000: 290)
Von hierher gesehen ist der Flamenco ein ritueller Akt. Er ist kulturell und sozial konstituiert
und wird ästhetisch vermittelt. Dieser rituelle Akt gewährt die Identifikation mit dem Anderen
in der Kunst. Im Augenblick der Wiedererkennung ist er die Identifikation mit sich selbst im
anderen.
Dieser Prozess realisiert sich in Polarisation zum Fremden, zum Außenseiter, zu dem, was
nicht zur Insider Gruppe gehört. Die ethnische Identität etabliert sich in, mit und durch diese
Abgrenzung zum anderen. (Vgl. Hylland, Eriksen, 2003: 28ff.) Jedes Eindringen des Fremden ist
eine Drohung. Das ist die Zerstörung der Identität. Das ist die Zerstörung einer Ideologie als
Lebensgrundlage. Wenn aber die Kunst, der Flamenco das Mittel und die Basis der ethnischen
Identität darstellt und damit zum Zentrum der rituellen Handlung wird, muss sie vor dem
Fremden abgesichert werden, da sie die Exklusivität des Eigenen sichert. Jeder Zugriff eines
Nicht-Zigeuners auf den Flamenco ist eine Bedrohung der Existenzgrundlage der ideologischen
Basis.
Gleichzeitig ist der Flamenco ein Produkt, er hat einen Marktwert. Für die Zigeunerartisten
ist er die ökonomische Absicherung ihrer Lebensexistenz. Hier kommen die Zigeuner als
Künstler in eine zwiespältige Situation. Von ihrer Identität her sind sie gezwungen, die Kunst als
die ,,ihre" abzuschirmen und vor dem Zugriff von Fremden zu sichern. Von ihrer physischen
Existenz her sind sie gezwungen, ihre Kunst zu verkaufen. Ihre Lebensphilosophie, ihre
ideologische Existenzgrundlage und ihre Identität als Angehörige einer ethnischen Gruppe
werden damit öffentlich exponiert und zur Schau gestellt. Mehr noch, diese Identität, das, was
sie abschirmen wollen und was sie vor jedem Zugriff schützen müssen, wird zu einem
Verkaufsobjekt. Damit wird es den Bedingungen des Marktes angepasst. Es wird dem Zugriff
eines Netzwerkes der Vermarktung preisgegeben. Dieses Netzwerk wird von den
Produktionsbedingungen dirigiert. Das sind die Publikation, der Vertrieb und die globale
Verbreitung.
Die ,,Reinheit" des Flamencos ist von hierher der Mythos, sich auf ein obskures Gebiet
zurückzuziehen, um die eigene Identität zu schützen. Aber diese Identität, die es zu schützen
gilt, wird immer auch öffentlich zur Schau gestellt ist. Hier kommt nach Thede die Bedeutung
der Grenzen hinein, denn dieser Mythos der Reinheit des Flamencos ist umso
undurchdringlicher, dunkler und unzugänglicher je stärker der Zugriff der Umwelt ist. Eine ganz
besondere Bedeutung bekommt dies in der öffentlichen Ausübung vor Fremden, vor Nicht-
Zigeunern wie auf Flamencofestivals, auf Tourneen im Ausland und in der Vermarktung der
Kunst in Filmen, Video und auf CD. Dieser Mythos ist aber gleichzeitig auch das, was vermarktet
wird, er ist in sich selbst ein Verkaufsobjekt. Das heißt aber, der Mythos, der die Kunst vor dem
Zugriff von Fremden schützen soll, ist in sich selber ein Objekt und Produkt der Vermarktung.
Das Milieu, das sich um diesen Mythos bildet, ist darum ambivalent. Der Kern konstituiert
sich aus dem Künstlermilieu selbst. Hierum versammelt sich der Kreis der Liebhaber des
Flamencos, der ,,aficionados" und der Fanclubs, der ,,peñas". Das Ganze wird finanziell von
einem Netzwerk der Vermarktung getragen, von den Produktionsmöglichkeiten und -
bedingungen und von der globalen Verbreitung, der den Mythos selbst als Verkaufsobjekt
ausbeutet. (Vgl. Cortés, J., 1996, Mazzini, 1998, Saura, C., 1981, 1983, 1986 und 2004) Das, was
21

beschützt werden soll, wird damit doppelt exponiert. Einmal wird das Kunstobjekt zum Verkauf
angeboten, zum anderen wird das Bollwerk, das dieses Kunstwerk beschützten soll, der Mythos
des Zigeuners, auch zur Schau gestellt und für den Verkauf zurecht gemacht.
Die Ideologie des Mythos vom Flamenco hat von hierher eine doppelte Basis und
Ausgangsposition. Jede Reflexion auf und jede Diskussion über den Mythos von der Reinheit
des Flamencos bewegt sich in einer Ambivalenz zwischen zwei verschiedenen
Ideologiegrundlagen und Wirklichkeitsmodellen. Wir haben immer die Wirklichkeit der
ethnischen Identität der spanischen Zigeuner und gleichzeitig die Wirklichkeit der Kunst als
Verkaufsobjekt.
Dieses Zusammenspiel von der Abschirmung der ethnischen Identität bis zu den
Mechanismen der Vermarktung hat Folgen für die Ausübung des Flamencos und für die
Darbietung und die Rezeption der Kunst. Wie kommt dies auf dem Flamencofestival in Mont
de Marsan zum Ausdruck?
Der Flamenco als ethnisch ,,reine" Kunst
Nach Thede werden Flamencofestivals oft vom Bürgermeisteramt der Stadt organisiert. Sie
gehören zur Strategie der Entwicklung des Tourismus. (Vgl. Thede, 2000: 257) Die Festivals sind
hier ein Teil der offiziellen Kulturpolitik. In Mont de Marsan wurde das Flamencofestival 1989
durch eine Initiative von Antonia Emmanuelli gestiftet: ,,L'équipe organisatrice se constitua
autour du service départemental des Affaires Culturelles et d'une "afficionada" d'exception,
Antonia Emmanuelli." (Puga, 1996: 35) Antonia Emmanuelli wird ausdrücklich als ,,aficionada"
bezeichnet, als Liehaberin und Kennerin des Flamencos. Diese Bezeichnung wird als
Begründung für die Stiftung angegeben wird. Gleichzeitig wird damit auch das Motto des
Flamencofestivals angekündigt.
Dieses Motto wird von Puga (1996) wie ein Glaubensbekenntnis formuliert, denn nach Puga
passt die zerbrechliche Chemie des Flamencos kaum noch in unsere aseptische und
entmenschlichte Welt hinein. Er sieht den Flamenco nicht nur als Kunst, sondern auch als eine
Kultur, die der Liebhaber wie einen Schatz beschützen muss: ,,Etre flamenco, c'est une facon de
vivre, c'est une conception de l'existence, une relation différente entre la vie et le monde. C'est
l'acte de résistance ancestral d'une minorité qui savoure la vie et prend le temps de perdre du
temps dans l'attente de l'inspiration." (Puga, 1996: 85), das heißt, "Flamenco" zu sein, ist eine
Lebensweise, ein Konzept der Existenz, eine verschiedene Relation zwischen Leben und Welt.
Flamenco ist eine Art des Widerstandes einer Minorität, die das Leben genießt, in dem sie sich
Zeit nimmt, um Zeit zu verlieren und Inspiration zu gewinnen. Das Credo der Liebhaber bezieht
eine klare Position: Flamenco ist die Kunst und eine Lebensweise der andalusischen Zigeuner.
Zu welchen Resultaten auch immer die wissenschaftliche Forschung kommen mag, hier ist die
Welt aus einem Blickwinkel betrachtet und dies ist der liebevolle Blick des ,,aficionado", des
Liebhabers und Kenners des Flamencos, der den ,,echten", den authentischen Flamenco
verehrt und auf den Piedestal hebt.
So beschreibt es auch Peña Fernández (1996). Für ihn liegt die Bedeutung des
Flamencofestivals in Mont de Marsan darin, dass sich hier 1989 eine Bewegung etablierte, die
den ,,echten" Flamenco kennen lernen und präsentieren wollte. (Vgl. Peña Fernández, 1996:
204) Diese Echtheit und Reinheit des Flamencos wird von den einen geliebt und verehrt, für die
anderen ist er ein immerwährender Stein des Anstoßes. Die Puristen verteidigen ihn glühend,
die Rationalisten und wissenschaftlichen Vorkämpfer ziehen dagegen zu Felde. Wir befinden
uns hier in einer unlösbaren Kontroverse, denn während die einen mit Fakten auf den Gegner
schießen, verschanzen sich die anderen in dem undurchdringlichen Gestrüpp eines
Nibelungenhortes. Das ist ein Bollwerk von Emotionen, Mythos und rituellen Absicherungen
22

auf einer philosophisch ideologischen Grundlage. Jede Seite schießt immer ins Leere, denn die
Argumentationsbasen liegen jeweils auf verschiedenen Ebenen.
Steingress argumentiert mit Fakten. Nach ihm wurde von Antonio Chacon an eine
Opposition etabliert zwischen dem ,,Cante jondo" oder dem Gesang der Zigeuner als ,,echt"
und ,,authentisch" und dem ,,flamenca folklórico o de payos" (Steingress, 2002: 31), das heißt,
dem folkloristischen Flamenco oder dem Flamenco der Nicht-Zigeuner. Dieses ,,echt" Zigeuner
im Gegensatz zum Nicht-Zigeuner, das Authentische im Gegensatz zu dem Nicht-
Authentischen beinhaltet nach Steingress eine qualitative Einteilung des Flamencos, eine
Wertung nach echt und unecht und damit nach wahr und nicht-wahr, sprich unwahr. Nach
Steingress ist dies eine Entwertung ,,descalificación de sus compañeros de profesión"
(Steingress, 2002: 32), sie bezeichnet eine Deformation des historischen Flamencos.
Dieses Phänomen bildete sich in der romantischen Epoche heraus. Es war eine kulturelle
europäische Bewegung einer Boheme, die Steingress als vagabundierend, liederlich, tragisch
und dramatisch bezeichnet. (Vgl. Steingress, 2004: 79f.) Der Flamenco ist der Ausdruck dieses
avantgardistisch romantischen Europas (vgl. Steingress, 2004: 65) und das nomadische
Zigeunertum ist sein Phantasieprodukt. Es handelt sich hier um ein eingebildetes, idealisiertes
Volk. Steingress bezeichnet den Romantizismus als eine oberflächliche, demagogische Kultur.
Er sei ein Instrument einer erzwungenen sozialen Integration und Ideologie.
Die Ideologie des Zigeunertums passte perfekt in die nationalistische Vision, bis zu dem
Punkt, wo man von einem Aufhetzen einer ganzen Kultur und kulturellen Identität sprechen
konnte. (Vgl. Steingress, 2004: 72) Das Erscheinen des Flamencogesanges kann nicht auf die
kreative Kraft einiger Künstler reduziert werden, es muss hierbei das romantische Zigeunertum
und der spanische Nationalismus in der Entwicklung des ideologischen Klimas in Betracht
gezogen werden. Denn die ethnische Kunst ist ein Triumph dieser Entwicklung. Diese Debatte
von authentisch und nicht-authentisch verweist nach Steingress auch auf eine andere
Dimension: die Kunst als ideologische Manifestation von Fundamentalismus, Ethnocentrismus
und Nationalismus: ,,me refiero al fundamentalismo, etnocentrismo y proto-nacionalismo como
manifestaciones ideológicas." (Steingress, 2002: 32) Die Authentizität wird konstruiert, indem
sie von einem vorher bestimmten Modell exkludiert wird. (Vgl. Steingress, 2002: 32) Es werden
bekannte Kategorien aktualisiert, die außerhalb der Tragweite der Rationalität liegen. Der
Inbegriff dieser Kategorien sind Konnotationen der Begriffe von Seele, Erde, Schmerz, inkludiert
Rasse und Blut. ,,el recurso a las conocidas categorías fuera del alcance de la racionalidad, a
una ,,esencia", sea el ,,alma", la ,,tierra", la ,,pena" e incluso la ,,raza" y la ,,sangre". (Steingress,
2002: 32) Vereinfacht gesagt etablierte sich hier das Mysterium von der ,,Unsrigen": ,,lo
nuestro: como algo de ,,nuestra tierra" (Steingress, 2004: 62; vgl. Hylland Eriksen, 2003: 28ff.).
Die Mystifikation des Flamencos steht von hierher gesehen im Dienste der künstlichen
Konstruktion einer andalusischen Identität als politisches Interesse der Ideologie eines
stereotypen Nationalismus. (Vgl. Steingress, 2004: 104f.) Dieser Mythos des Nationalstaates
verwandelte sich in einem geeinten Europa ,,como multicultural y multiétnico". (Steingress,
2004: 105) Denn das geeinte Europa steht im Interesse einer ökonomischen, finanziellen und
politischen Elite. (Vgl. Steingress, 2004: 105) In diesem geeinten Europa bereitet sich nach
Steingress ein neuer Faschismus aus. Der Ethnonationalismus Andalusiens kompensiert nach
Steingress die Abwesenheit einer modernen politischen Definition der Nationalität. (Vgl.
Steingress, 2004: 109) In dieser Reorganisation und Reorientation auf das geeinte Europa
erscheinen die verschiedenen ethnischen Konzepte der europäischen Regionen als eine
natürliche Verteidigungsreaktion. (Vgl. Steingress, 2004: 110)
23

Die Reinheit der Kunst als ein nationales Kennzeichen ist ein ideologischer Reflex. Er ist mit
dem Phänomen der Macht verknüpft. Im Zuge der Globalisierung hat sich dieses Phänomen
von einem national-kulturellen Ausdruck in ein marktwirtschaftliches Instrument verändert.
Nach Steingress sind hier Politik, machtpolitische Interessen, Ideologie und eine globalisierte
Marktwirtschaft unlösbar miteinander verbunden. Sie sind unlösbar ineinander verfilzt. Politik
und Marktwirtschaft produzieren den Mythos von der Reinheit des Flamencos und von der
nationalen und ethnischen Identität, um ihn gleichzeitig auszunutzen und zu verkaufen.
Leblon (1990 und 1995) und Pohren (1990) argumentieren demgegenüber vom Mythos her.
Leblon bringt die Zigeuner in Verbindung mit der musikalischen Entwicklung von Indien über
Persien, Kleinasien, die Balkan Länder bis nach Russland. ,,Ce récit plus ou moins légendaire a
au moins le mérite de nous rappeler l'existence de contacts culturels entre l'Inde et l'Iran à
l'époque sassanide (entre le IIIe et le VIIe siècle.)" (Leblon, 1990: 10f.; vgl. auch Leblon, 1995:
13ff.) Mit dieser Erbschaft im Gepäck tauchten die Zigeuner vom 15. Jahrhundert an in Spanien
auf. (Vgl. Lebon, 1990: 39f.) Doch Leblon verfolgt die Spuren der Zigeuner durch Europa in der
Entwicklung der Laute und ,,cithare" (Leblon, 1990: 19). Demgegenüber betonen aber Puristen
wie Rationalisten einstimmig, dass die Musik des Flamencos ihren Ursprung und ihre Grundlage
im Gesang habe. (Vgl. Lefranc, 1998; Cruces Roldán, 2003: 15ff.) Die Gitarre als
Begleitinstrument wurde erst im 17. Jahrhundert hinzugefügt. (Vgl. Cruces Roldán, 2003: 17;
Torres Cortés, 2002: 16ff.)
Dagegen argumentiert Leblon, dass der Gesang und die Musik der Gitarre viele Elemente
gemeinsam haben "rythme ternaire cadence descendante, aspect strophique et syllabique très
marqué." (Leblon, 1990: 113) Cruces Roldán behauptet demgegenüber, dass es in der
arabischen Musik keine Harmonie gäbe. Die Gitarre sei aber harmonisch. Als die Gitarre als
Begleitinstrument zum Gesang eingeführt wurde, musste sie sich dem andalusischen Gesang
unterordnen, der einem punktuierenden System folgt. (Vgl. Cruces Roldán, 2003: 19)
Wenn Leblon auf die einzelnen Flamencostile zu sprechen kommt, bezieht er sich immer
wieder auf andere Quellen, aber nicht auf die Herkunft der Zigeuner aus Indien. So geht er zum
Beispiel in Bezug auf die ,,Alegrías" auf Juvenal zurück auf das Jahr 206 vor Christus. (Vgl. Leblon,
1990: 107) Für die ,,Siguiriya" lässt er einen byzantinischen Einfluss gelten. (Vgl. Leblon,1990:
108) Der ,,Farruca" kommt aus Galizien, der ,,Garrotin" aus Asturien, ,,Guajiras", ,,Colombianas",
,,Milongas", ,,Vidalitas" und ,,Rumbas" sind aus Südamerika. (Vgl. Leblon, 1990: 106) Leblon
diskutiert den Einfluss der arabischen Musik aus dem maurischen Spanien vom 8. bis zum 15.
Jahrhundert auf die andalusische Volksmusik (vgl. Leblon, 1990: 111ff.) und die Bedeutung, die
dies für die ,,Siguiriyas", die ,,Bulerías", die ,,Bulerías por soleá" und den ,,Soleá" hat. (Vgl.
Leblon, 1990: 114) Auch die Fandangos sind nach Leblon eine hybride Mischung aus arabischen
und folkloristisch andalusischen Einflüssen. (Vgl. Leblon, 1990: 115) Ganz allgemein konstatiert
er für den Flamenco die Relation zwischen der arabischen Musik und der andalusischen
Volksmusik, die schon von alten Zeiten her existierten. (vgl. Leblon, 1990; 117)
Was aber hat dies alles mit den Zigeunern zu tun? ,,Et les Gitanes?" (Leblon, 1990: 119), wie
Leblon selber fragt. Die Antwort auf diese Frage ist nach Leblon kurz: Der Flamenco erreichte
das Licht der Öffentlichkeit in der Interpretation der Zigeuner erst im 19. Jahrhundert : ,,C'est
bien parmi les Gitans de la Basse Andalousie que le flamenco est apparu d'abord, à une époque
où ils en étaient apparemment les seuls interprètes." (Leblon, 1990: 120)
Hier kommen wir wieder in die romantische Epoche von Europa. Hier beginnt wieder die
Kontroverse zwischen der Ideologiebildung auf der Grundlage von sozialen, politischen und
ökonomischen Bedingungen im Gegensatz zum Mythos vom autonomen Genie. Hier beginnt
das Zeitalter vom geborenen und sagenumwobenen Künstler und dem Zigeuner als
24

Repräsentanten dieses Künstlertums. Dieser Mythos wird dadurch unterstützt, dass sich die
Flamencokünstler zu fünfundsiebzig Prozent aus dem Zigeunermilieu rekrutieren. (Vgl. Thede,
2000: 84) Die Rekrutierungsgrundlage ist dann auch das Hauptargument von Leblon: ,,Jusqu'à
l'apparition des cafés de cante et l'intervention massive des Andalous, au milieu du XIXe siècle,
l'évolution du flamenco reste très mystérieuse." (Leblon, 1990: 128) Dieses Mysteriöse heftet
sich aber auch wieder an die Zigeuner, die hier aus der ,,clandestinité" (Leblon, 1990: 128) und
aus dem Untergrund ans Licht der Öffentlichkeit stiegen. Die Konklusion von Leblon ist ,,une
Osmose Gitano-Andalouse". (Leblon, 1990: 169) Das heißt, hier wird eine Osmose von
Zigeunern und andalusisch folkloristischen Elementen geboren. Aber selbst in dieser
Konklusion bezieht sich Leblon auch wieder auf die arabischen, hebräischen und andalusisch
folkloristischen Einflüsse. Als Bezug auf die Zigeuner verbleiben einige Anspielungen auf Triana
und ,,Carmen" (vgl. Leblon, 1990: 180) und eine eigene Interpretation des Wortes Flamenco:
,,Tout comme mozarabe voulait dire ,,arabisé", flamenco signifiet ,,gitanisé" (Leblon,1990: 180),
das heißt, so wie ,,mozarabe" arabisiert bedeutet, so kann man den Flamenco als
,,zigeunerisiert" bezeichnen.
Pohren bezieht sich auf den Mythos vom ewigen Zigeuner: ,,The fool ,payos' does not
understand that we are the last of god's children." (Pohren, 1990: 21) Er bemüht keine
wissenschaftlichen Erklärungen, sondern bewegt sich in romantischen Beschreibungen.
Allerdings zeigt sich in diesen Beschreibungen das Bindeglied zwischen Leblon und Lefranc,
denn wenn die Zigeuner von ihren Leiden, ihren Prüfungen, Schwierigkeiten und
Enttäuschungen sprechen, so kommt dieses Leiden in ihren Liedern zum Ausdruck. Dieses
Leiden ist bodenlos und morbid, ,,almost like an orgy of despondency." (Pohren, 1990: 22), und
hierin wird es zu einem unbewussten Vergnügen an dem Leiden. Von hierher wird der Gesang
,,a cry of despair, a release of tortured emotions, to be found in it's true profundity only in real
life situations, not in the make-believe world of theatres and night clubs and commercial caves
as a product that can be bought and sold and produced as will." (Pohren, 1990: 23)
Den gleichen Ton schlägt Lefranc an, auch er setzt das Leiden, die Seele und die Tiefe des
Gemüts ins Zentrum seiner Interpretation. Hier wird die Reinheit und Authentizität des
Flamencos genauso unerreichbar und unangreifbar wie im Mythos. Nach Lefranc ist der "Cante
jondo" die älteste und reinste Form des traditionellen Flamencos. (Vgl. Lefranc, 1998: 7) Im
Französischen wird er auch als ,,chant profond" bezeichnet und im Englischen als ,,deep song".
(Fairley, 1994: 139) Seine Tiefe bezieht sich nach Lefranc auf das Leiden oder die Revolte
dagegen, manchmal gegen beides. Der Gesang ist die Tiefe der Gefühle, der Seele und des
Herzens. Der Gesang ist die Tiefe des Leidens der Existenz. Im Gesang werden die Schatten
sichtbar, die sich im Gelebten ansammeln und die manchmal ans Tageslicht kommen. Im und
mit dem Gesang versucht der Mensch, diese Schatten zu bewältigen. (Vgl. Lefranc, 1998: 7) Der
,,Cante jondo" ist tragisch, ernsthaft und ergreifend. Es sind die Lieder der Gefühle, die man
teilt und die man gibt. Das sind die Lieder, die in eine Sphäre gehören, die keine Beziehung zur
rein künstlerischen Darbietung und zur Unterhaltung hat. (Vgl. Pohren, 1990: 23ff.) Diese
Erbschaft enthüllt eine vergessene kulturelle Geschichte.
López Ruiz (1994) teilt den Flamenco in drei Gruppen ein: in die ,,a) cante de base et leurs
dérivés (...) b) Fandango et leurs dérivés (...) c) cante flamenquisés d'origine folklorique régionale
ou hispano-américaine" (López Ruiz, 1994: 42) Dieses Gebiet des Flamencos umfasst nach
Lopéz Ruiz ungefähr 50 verschiedene Stile. In einem weitergefassten Sinn kann man sich bis auf
über 500 Stile beziehen. (Vgl. López Ruiz, 1994: 41) Von diesem umfassenden Gebiet des
Flamencos lässt Lefranc für den ,,Cante jondo" folgende Flamencostile gelten: Die ,,Tonás" mit
den entsprechenden Untergruppen (Lefranc, 1998: 73-98), die ,,Siguiriyas" mit den
25

Untergruppen (Lefranc, 1998: 99-150) und die ,,Soleares" mit den Untergruppen (Lefranc,
1998: 151-202). Diese drei Gruppen mit ihren Untergruppen gelten als der ,,Cante jondo", als
der ,,echte" und ,,authentische" Flamenco. Auch Salini und Bosseur weisen darauf hin, dass der
,,Cante jondo" nur ein begrenztes Repertoire von einem bestimmten Gebiet in Andalusien
umfasst, dem nur einige Dutzend Zigeunerfamilien zugehören. (Vgl. Salini/Bosseur, 1998: xvi)
Dieses begrenzte Repertoire ist der Streitapfel, um den sich die Köpfe erhitzen.
Als wissenschaftliche Argumentation für den ,,Cante jondo" führt Lefranc an, dass es für die
Rhythmen der Seguiriyas und Soleares keine Beispiele im arabischen Raum gibt. Sie müssen
daher aus Indien kommen. (Vgl. Lefranc, 1998: 35) Hier wird wieder auf den Mythos angespielt,
wonach die Zigeuner aus Indien vertrieben wurden und ihre Kultur mit sich nahmen. (Vgl.
Leblon, 1990) Diese Erbschaft kam erst in der Begegnung mit der andalusischen Kultur zur
vollen Entfaltung. Wenn sich Lefranc aber auf die wissenschaftliche Argumentation stützt,
bekommt auch er Schwierigkeiten. So zitiert Lefranc Estéban Calderon, wonach die Romances
aus dem Maurischen kommen. Die gleichen Rhythmen finden sich im ,,Soleá bailable" (Lefranc,
1998: 40), das ist der Soleá, der getanzt wird. Auch sind nach Lefranc die Vorfahren des ,,Cante
jondo" die moslemischen Gebete und die Traditionen der ,,Romances". (Vgl. Lefranc, 1998: 73)
Die ältesten sind hierbei die ,,Tonás" wie die ,,Martinetes" und die ,,Carceleras" (Lefranc, 1998:
74). Die dritte Gruppe des ,,Cante jondo", die ,,Siguiriyas" sind nach Lefranc ,,d'origine
folklorique" (Lefranc, 1998: 101).
Die ,,Tonás", die ,,Siguiriyas" und die ,,Soleares" bilden nach Lefranc den Kern des ,,Cante
jondo", doch wenn Lefranc die einzelnen Gattungen diskutiert, bezieht er sich auch hier immer
nur auf andere Quellen, nicht aber auf die mystische Herkunft aus Indien. So verweist Lefranc
auf das maurische Spanien, auf die Gebete der Moslems und auf den folkloristischen Ursprung.
Trotzdem kommen sie nach Lefranc alle aus einer mystischen Vorzeit der spanischen Zigeuner.
Hier zeigt sich die gleiche Argumentationstaktik wie in der Mystifizierung der spanischen
Zigeuner bei Leblon (1990 und 1995) und Pohren (1990).
Der Flamenco als ,,hybride" Kunst
Weder Puristen noch Rationalisten bezweifeln, dass der Flamenco ein hybrides
Kunstprodukt einer jahrhundertlangen historischen Entwicklung ist. Was diskutiert wird ist, wie
dieser Prozess der Hybridisierung sich entwickelte und von wem er gesteuert wurde. Mich
interessiert, wie dieser Hybridisierungsprozess die künstlerischen Produkte formte, die wir
heute als Flamenco kennen. Mich interessiert aber auch das Wechselspiel, das sich zwischen
den verschiedenen Formen und Stilen des Flamencos mit den ausübenden Künstlern
herausgebildet hat.
Der Ausdruck ,,hybrid" bezieht sich auf transkulturelle Formen: ,,Hybridization takes many
forms: linguistic, cultural, political, racial, etc." (Ashcroft, Griffiths, Tiffin, 2003: 118) Nach Bhaba
sind alle kulturellen Systeme in einem System konstruiert: "Third Space of enunciation"
(Ashcroft, Griffiths, Tiffin, 2003: 118). Nach Ashcroft, Griffiths und Tiffin kommt kulturelle
Identität immer in einem derartigen ,,contradictory and ambivalent space" (ebenda, 2003: 118)
vor, das heißt, in einem widersprüchlichen und doppeldeutigen Raum. Eine hierarchische
Reinheit ,,hierachical ,purity'" (Ashcroft, Griffiths, Tiffin, 2003: 118) ist von hierher nicht
erreichbar. Ashcroft, Griffiths und Tiffin Stellen auch den ,,cross-cultural ,exchange'" (Ashcroft,
Griffiths, Tiffin, 2003: 119) in Frage, da in dieser Interpretation die hierarchische Vermittlung
des kulturellen Austausches nicht aufgefangen wird: ,,the imbalance and inequality of the power
26

relations it references." (Ashcroft, Griffiths, Tiffin, 2003: 118). Sie nennen es ein ,,whitewashing"
(Ashcroft, Griffiths, Tiffin, 2003: 118) der kulturellen Unterschiede.
In Bezug auf den Flamenco ist dieses Argument von Bedeutung, denn die Musik und der Tanz
der spanischen Zigeuner war immer auch eine ausübende Kunst. Dies wird schon von Cervantes
in ,,La Gitanilla" (Cervantes, 1996: 31-113) von 1608 berichtet. Der Tanz und die Musik der
spanischen Zigeuner war nicht nur ein Volksbrauch, sondern auch Unterhaltung für die
Bevölkerung und speziell für den spanischen Adel. Vom 19. Jahrhundert an wurde der Flamenco
in immer größerem Umfang einem internationalen Publikum präsentiert. (Vgl. Ortiz Nuevo,
1998) Offensichtlich hat sich bereits im 19. Jahrhundert die ganze Welt in Spanien ein
Stelldichein gegeben: ,,Si, personajes moros, africanos, hermanos árabes antes de que volvieran
a ser enemigos mortales por mor de las guerras. Y periodistas, colegas italianos de excursión
por la vieja Iberia, invitados, !cómo no! a descubrir in situ la prestancia admirable y aún
desconocida del flamenco" (Ortiz Nuevo, 1998: 12). Hier werden Mauren, Afrikaner und die
arabischen Brüder genauso begrüßt wie die italienischen Journalisten, die einen Ausflug zum
alten Spanien machten, um den Flamenco zu bewundern. In anderen Artikeln werden die
Prinzen, Fürsten, Honoratioren und die Reichen der Welt willkommen geheißen. (Vgl. Ortiz
Nuevo, 1998: 10, 12): ,,!oh, los príncipes!" (Ortiz Nuevo, 1998: 10) Auch werden die
Auslandstourneen der Flamencotruppen besprochen (vgl. Ortiz Nuevo, 1998: 18, 22, 25), um
mit dem Ausruf abzuschließen: ,,?Por qué el flamenco les gusta AHORA tanto a las extranjeros?"
(Ortiz Nuevo, 1998: 56): Warum gefällt der Flamenco allen Ausländern so gut?
Wenn aber die Anpassung an die Kultur des Publikums ein integrierter Bestandteil der Kunst
ist, wieweit findet hier ein gleichgewichtiger Austausch statt und/oder wie weit werden
hierarchische Strukturen einer dominanten Kultur übernommen? (Vgl. Ashcroft, Griffiths, Tiffin,
2003: 121)
Ich unterscheide hier erstens zwischen politisch dominanten Strukturen, zweitens zwischen
kulturell dominanten Strukturen und drittens die Anpassung der Flamencopresentationen an
ein zahlendes Publikum. Diese Frage kann nur in einer vergleichenden Analyse zwischen den
politischen Strukturen, den Zuschauerstrukturen und Zuschauerhaltungen und den
präsentierten Kunstgattungen beantwortet werden. Bestimmte Kunstformen waren immer für
ein bestimmtes Publikum zurechtgelegt. Dieser Zusammenhang war von den politischen
Machtstrukturen abhängig. Die Mimikry und Ambivalenz (vgl. Ashcroft, Griffiths, Tiffin, 2003:
139) von kulturell und künstlerisch hybriden Mischungen steht in einem
Abhängigkeitsverhältnis zu diesen Faktoren. Lockard (1998) teilt nach Wallis und Malon den
kulturellen Austausch von Musikformen in vier Gruppen ein: Erstens kulturelle Interaktion,
zweitens kulturelle Dominanz, drittens kultureller Imperialismus und viertens
,,transculturation" (Lockard, 1998: 50).
Wenn ich den Prozess der Hybridisierung des Flamencos mit den historischen Fakten
vergleiche, so gehörte das andalusische Spanien vom 8. bis zum 15. Jahrhundert ganz oder
teilweise zum maurischen Herrschaftsbereich. (Vgl. García de Cortázar, 2003: 49-88, und Watt,
2004: 10-125) Ich kann hier davon sprechen, dass die politischen Machtstrukturen die
Ausformung von Kultur und Kunst prägten. Das bedeutet aber, dass das arabische Musiksystem
eine Dominanz gegenüber der einheimischen Volkskunst einnahm. Nach Lockard (1998: 50)
kann ich für diese Zeit von einem islamisch kulturellen Imperialismus sprechen.
Vom 16. Jahrhundert an veränderte sich dieses Bild radikal. Die politisch und militärisch
dominanten maurischen Machtstrukturen wurden zerstört. Hier ergab sich aber eine
ambivalente Situation, denn einerseits hatte das katholische Spanien die politische und
militärische Macht, andererseits war die maurische Kunst, Kultur und Wissenschaft auf vielen
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Gebieten der abendländischen überlegen. Darum wurden viele Elemente der Baukunst, des
Rechtssystems, der Wissenschaft, Literatur, Poesie (vgl. Watt, 2004: 182-193) und Musik von
den katalanischen Herrschern übernommen. Die musikalischen Formen blieben erhalten und
mischten sich mit religiösen Riten und volkstümlichen Bräuchen, teilweise offiziell in religiösen
Zeremonien (vgl. Steingress, 2004: 208f.) und auf den öffentlichen Festen (vgl. Estéban
Calderon, 1985; Gelardo Navarro, 2002: 191ff.) und teilweise im Untergrund (vgl. Leblon, 1990:
128f.) als Ritus, Brauch und Ausdrucksform der Parias der Gesellschaft. (Vgl. Curses Roldán,
2003: 111; Gelardo Navarro, 2002: 212)
Dieser Prozess der Hybridisierung der musikalischen Formen vollzog sich im katholischen
Spanien in den verschiedenen sozialen Schichten unterschiedlich: Wahrscheinlich können wir
in den untersten sozialen Schichten der Parias der Gesellschaft von einer kulturellen Interaktion
sprechen. In der Ausübung der Kunst an den Höfen der Adligen würde ich vermuten, dass die
kulturelle Dominanz der maurischen Kunst im Verlauf der Jahrhunderte in einen
transkulturellen Hybridisierungsprozess überging. Diese unterschiedlichen kulturellen
Hybridisierungen beeinflussten alle den Flamenco. Sie machten aber die Situation auch
undurchsichtig. Diese Undurchsichtigkeit kann im Nachhinein als mystisch bezeichnet werden.
Aus der Vernebelung und Mystifizierung der Situation kam plötzlich der Flamenco als ein
fertiges Produkt aus der ,,clandestinité" (Leblon, 1990: 128) ans Tageslicht.
Diese Situation veränderte sich wiederum im 19. Jahrhundert in der Formierung der
Nationalstaaten. Die Nationalstaaten waren von der Ideologie her durch einen kulturellen
Imperialismus geprägt. (Vgl. Steingress, 2002 und 2004) In der heutigen Situation der globalen
politischen und sozialen Machtveränderungen und mit einer globalen Marktstruktur haben wir
ganz andere Probleme zu bewältigen, hier können wir von einer ,,transculturation", (Lockard,
1998: 50) also von einem transkulturellen Hybridisierungsprozess sprechen.
Die Reaktion der Puristen in Bezug auf diesen Prozess der kulturellen und künstlerischen
Hybridisierung ist ambivalent. Der Einfluss der maurischen Kultur und die Grundlage des
Flamencos im orientalischen Musiksystem werden einerseits anerkannt. Andererseits
entwickelte sich und existierte der Flamenco im Untergrund, in der ,,clandestinité" (Leblon,
1990: 128; vgl. auch Lefranc, 1998: 207). Diese Interpretation setzt voraus, dass ich diese
Entwicklung im Untergrund als ,,unberührt" von den offiziellen Machtstrukturen zu verstehen
habe. Denn als der Flamenco im 19. Jahrhundert das Licht der Welt erblickte, wurde er von der
dominierenden Kultur verpestet, darum musste er künstlich hiervon abgeschirmt werden.
Die Relationen zu der globalen Machtpolitik können aber auch wieder als ein Herr und
Knecht Verhältnis bezeichnet werden, denn die Anforderungen des Marktes bestimmen die
Wünsche des Publikums. Dementsprechend wird das Publikum der ideologischen Machtpolitik
indoktriniert, beeinflusst und geformt. Es handelt sich hier um ein unberechenbares
Relationsnetzwerk, wo der Markt den Käufer durch die Produktionsbedingungen, den Vertrieb
und die Verkaufspraxis hervorbringt, wo andererseits aber der Käufer auch den Markt definiert.
Das Ganze ist von den politischen, ökonomischen und ideologischen Machtstrukturen
abhängig. Im 19. Jahrhundert wurde diese Marktsituation von der kulturellen und politischen
Dominanz der abendländischen Welt bestimmt. Ich kann hier wieder von einer
imperialistischen Kulturpolitik sprechen. Im Nachhinein wurde diese Epoche in Bezug auf den
Flamenco als dekadent bezeichnet. (Vgl. Martinez de la Peña, 2002: 153)
Die Anpassung an globale hybride Musikstrukturen ist heute ein ambivalenter Prozess. Hier
gibt es verschiedene Richtungen wie den ,,nuevo" Flamenco und Flamenco als Pop, Rock und
Rap. Der ,,nuevo" Flamenco, wurde nach Steingress zuerst als Abweichung bezeichnet oder gar
als Verrat von dem Flamencomodel, der zum ,,reinen" oder ,,authentischen" Flamenco erklärt
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Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2006
ISBN (PDF)
9783959935401
Dateigröße
2.8 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Norwegian University of Science and Technology – Musikwissenschaft
Erscheinungsdatum
2016 (November)
Note
1,0
Schlagworte
Kunst Identität Soziologie Ethnologie Anthropologie Politik Wirtschaftswissenschaften
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Titel: Kunst als Leben - Leben als Kunst
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