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Gendersensible Psychotherapie. Ein Behandlungsansatz in Theorie und Praxis

©2017 Bachelorarbeit 52 Seiten

Zusammenfassung

Der Genderbegriff hat inzwischen zu einer breiten Diskussion innerhalb aller gesellschaftlichen und beruflichen Schichten geführt. Das tradierte Bild vom typischen Mann und der typischen Frau beginnt sich aufzulösen. Menschen fühlen sich aufgrund ihrer empfundenen Geschlechterzugehörigkeit (welche vom biologischen Geschlecht abweichen kann) oft ausgegrenzt und missverstanden, was nicht zuletzt zu seelischen Kränkungen und psychischen sowie körperlichen Erkrankungen führen kann. Krankheitsbilder wie Essstörungen, Persönlichkeitsstörungen, Depressionen und Suchtmittelmissbrauch können die Folge des dauerhaften Empfindens von Zurückweisung durch die Familie und sozialem Umfeld sein und nicht selten in Suizidversuchen münden. Doch ist die Psychotherapie in diesem Bereich sensibel genug, Genderaspekte in der seelischen Bestandsaufnahme eines Menschen zu berücksichtigen?
Der Autor geht in seiner Arbeit der Frage nach, ob es Indikatoren für eine gendersensible Psychotherapie gibt, und für wie signifikant sie für die Praxis in Studien bewertet werden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Dass geschlechtliche Unterschiede sich jedoch nicht nur auf körperliche Merkmale beziehen,
sondern dass durch Rollenverständnis, sozioökonomischem und politischem Umfeld,
Erziehung, Religion, Kultur, Medien, Bildung, Biographie etc. eine geschlechterabhängige
Prägung des erwarteten Verhaltens (,,doing gender") und der psychischen Konstellation
besteht ist bekannt und belegt. Ein stereotypkonformes Verhalten entspricht somit einer
heteronormativen gesellschaftlichen Erwartungshaltung, bei der die Rollenzuschreibungen
engen Denkmustern unterliegen. Geschlecht ist somit nicht nur eine biologische, sondern
auch eine soziale Kategorie und ein grundlegendes Prinzip gesellschaftlicher Ordnung
(Hoebel, 2012). Eine Abweichung von dieser Ordnung wird von Mitgliedern einer Gesell-
schaft nicht selten als Verrat empfunden und mit Verachtung und Ausschluss erwidert.
Die Trennung von Gender und Geschlecht hat seit der sexuellen Revolution gegen Ende der
1960er Jahre eine erweiterte und entspanntere Sichtweise auf nicht geschlechtskonforme
Verhaltens- und Lebensweisen ermöglicht. Individuelle Lebensentwürfe finden mittlerweile
breite gesellschaftliche Unterstützung und Anerkennung und werden nicht mehr, wie vor dem
Paradigmenwechsel, als generell abnormal verurteilt. Der typische Mann und die typische
Frau haben sich durch geschlechterübergreifenden Merkmalsaustausch zu authentischeren
Persönlichkeiten entwickeln können. Attribute, welche dem jeweils anderen Geschlecht
zugeordnet waren, können heute unabhängig vom biologischen Geschlecht angenommen
und mehr oder weniger ausgeprägt sein. Diese Annahme von Eigenschaften geschieht zum
Teil bewusst aus eigenem Interesse, kann aber auch aus diversen Lebensumständen eines
Menschen erwachsen, wenn z.B. männliche Jugendliche bereits früh eine mütterliche Rolle
für jüngere Geschwister übernehmen müssen.
In Fällen einer körperlichen oder psychischen Erkrankung spielen das biologische Ge-
schlecht und Gender eine wichtige Rolle bei der Anamnese, Diagnostik und Therapie. Die
rein biologischen Unterschiede haben unter anderem einen großen Einfluss in der Pharma-
kokinetik. Menschen entwickeln und empfinden Krankheiten wie zum Beispiel Depressionen,
Schizophrenie oder Persönlichkeitsstörungen aufgrund ihrer geistig- emotionalen Konstella-
tion unterschiedlich. Und ebenso unterschiedlich, sensibel und individuell sollte nach
Meinung des Verfassers auch eine Therapie gestaltet werden.
Die WHO listet auf ihrer Internetseite eine Reihe von Risiken und Folgen genderbezogenem
Verhaltens auf, welche einen negativen Effekt auf die Gesundheit von Frauen und Männern
haben:

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Exposure to risk and vulnerability is determined by gender norms and behaviours that
have a negative effect on women's and men's health
In the European Region, men account for more than 80% of young adult fatalities
from road traffic accidents.
Evidence from all over Europe shows that, from the age of 1­2 onwards, reported
injury rates are higher for boys than girls, with boys consistently more likely to report
having had a medically attended injury.
Men are almost five times more likely to commit suicide than women, in all countries
of the European Region while deliberate self-harm is more frequent among women.
Women are between two and three times as likely as men to be diagnosed as suffer-
ing from depression, the most common mental health disorder.
Harmful use of alcohol is a strongly gender-determined behaviour which increases
men's risk to neuropsychiatric disorders and other noncommunicable diseases such
as cardiovascular diseases, cirrhosis of the liver and cancers.
Boys are significantly more likely to be overweight in the majority of countries re-
sponding to the Health Behaviour in School-aged Children (HBSC) survey at age 13­
15. However, more girls aged 13 and 15 in all countries think they are overweight.
Female rates of smoking are on the rise in the Region, while studies show that girls
are more vulnerable than boys to the impact of smoking as to respiratory symptoms
and lung function.
While men still comprises the majority of new HIV cases, women account for an in-
creasing proportion.
(World Health Organization - Europe, 2017)
Im Bereich der Psychotherapie findet der Ansatz einer gendersensiblen Behandlungsstrate-
gie nach eigener Erfahrung des Verfassers bislang kaum Berücksichtigung. Methodik,
Pharmakotherapie und Behandlungsplanung unterscheiden in der Regel nicht nach der
tatsächlichen oder empfundenen Geschlechtszugehörigkeit eines Patienten, sondern
orientieren sich oft ausschließlich am diagnostizierten Krankheitsbild.
Physiologische sowie psychologische Besonderheiten von Patientinnen und Patienten,
welche bereits evidenzbasiert nachweisbar vorhanden sind, finden zuweilen nur peripher
Anwendung. So werden bereits Aufnahmegespräche mit Patienten standardisiert und nach
offensichtlichen Symptomen geführt. Die für eine erfolgreiche Therapie notwendige Biogra-

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phiearbeit entfällt nach eigener Auffassung des Autors häufig, da entweder die zeitlichen
oder personellen Ressourcen auf einer Akutaufnahme-Station sehr begrenzt sind.
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und
weiblicher Sprachformen weitgehend verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen, sofern
nicht eindeutig markiert, gelten gleichermaßen für beiderlei Geschlecht.

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2. Ziele dieser Arbeit
Die vorliegende Arbeit hat das Ziel, sich mit einer gendersensiblen Betrachtungsweise von
therapeutischen Behandlungsansätzen gegenüber vereinheitlichten Therapien in der
Psychotherapie auseinanderzusetzen. Der Ansatz, dass nicht allein das biologische Ge-
schlecht über das Gefühl der Zugehörigkeit zur Gruppe der Männer oder der Frauen ent-
scheidet, beinhaltet die untrennbare Einheit von Körper und der davon unabhängigen,
psychosexuellen Orientierung eines Menschen.
Die in der Forschungsfrage verwendeten Begriffe sollen definiert und erläutert werden:
Was ist mit Gender gemeint?
Was bedeutet gendersensibel?
Wie lässt sich Therapieerfolg definieren?
Welche Arten von Psychotherapie werden in die Überlegung einbezogen?
Im Methodenteil dieser Arbeit wird die Vorgehensweise bei der Informationsbeschaffung und
deren Selektion dargestellt. Das wissenschaftliche Arbeiten mit Fachtexten ist eine grund-
legende Kompetenz, welche im Laufe des Studiums vermittelt worden ist.
Welche Bedeutung und welchen Einfluss Geschlecht und Gender innerhalb einer Psychothe-
rapie haben, soll anhand der verfügbaren Literatur herausgearbeitet werden. Hierbei soll
deutlich werden, in welchem Umfang und in welchen Bereichen der Psychotherapie das
Thema Gender bereits Berücksichtigung findet.
Ein Blick auf vorhandene und geeignete gendersensible Ansätze in der Psychotherapie soll
beleuchten, bei welchen Formen der Therapie die empfundene Geschlechtszugehörigkeit
eines Patienten einen Einfluss auf den Behandlungserfolg erkennen lässt, und welche
Therapiefelder als geeignet für einen gendersensiblen Ansatz erscheinen.
Ein Einblick in die Pharmakotherapie soll grundsätzliche Unterschiede bei der Wirkweise und
Wirksamkeit von Medikamenten auf den männlichen und weiblichen Organismus deutlich
machen. Da in diesem Abschnitt die Bedeutung der empfundenen Geschlechtszugehörigkeit
hinter den physiologischen Gegebenheiten und den biochemischen Vorgängen im männ-

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lichen und weiblichen Organismus zurückstehen, ist dieser Exkurs eher als geschlechtsspe-
zifische denn als gendersensible Informationssammlung zu bewerten.
Der Abschnitt über die Sensibilisierung der Pflegeprofessionen beschäftigt sich mit Möglichkei-
ten der Aus-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen für Pflegende, welche zu einem sensitive-
ren Umgang mit dem Thema genderspezifische Psychotherapie führen können. Es sollen
Empfehlungen und Expertenmeinungen dargestellt werden, wie spezifisches Wissen im
Umgang mit der Sexualität von Patienten wirksam vermittelt und angewendet werden kann.
Für die Übertragung von Forschungsergebnissen in die Praxis werden Ideen formuliert, mit
denen der Wissenstransfer von evidenzbasierten Erkenntnissen an die Basis pflegerischen
Denkens und Handelns optimiert werden kann. Der häufig unpopulären Informationsweiter-
gabe von ,,oben nach unten" (,,top-down") sollen geeignete, den Anwendenden partizipieren-
de Verfahren gegenübergestellt werden.
Letztendlich soll das Fazit eine mögliche Antwort auf die Forschungsfrage aufzeigen und
dem Leser einige Denkimpulse vermitteln, um sich auch im eigenen Alltag ein differenziertes
Bild von der Gendervielfalt und seiner Anliegen zu machen. Da die Genderdiskussion durch
die immer stärkere Nutzung sozialer Netzwerke und Medien auf breiter Basis angekommen
ist, scheint es notwendig, eine kritische Auseinandersetzung mit diesem sensiblen Thema zu
suchen.

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3. Erläuterungen zu Gender, Geschlecht und LGBTTIQ
Zum besseren Verständnis des Forschungsfeldes dieser Arbeit soll hier zunächst auf
wichtige Begrifflichkeiten aus dem Bereich der Genderforschung eingegangen werden.
Durch die Vielzahl der in diesem Rahmen entstandenen Beschreibungen geschlechtlicher
Vielfalt wird deutlich, dass sexuelle Identifikation ein sehr differenziertes und vielschichtiges
Phänomen ist, welches in allen gesellschaftlichen, kulturellen, medizinischen, sozialen und
politischen Bereichen Einfluss nimmt.
Von großer Bedeutung ist die Unterscheidung des biologischen Geschlechts (engl. ,,sex")
und dem psychosozialen Geschlecht, auch Gender genannt. Hiermit wurde im angloameri-
kanischen Raum zunächst das grammatikalische Geschlecht bezeichnet. Der Begriff des
Gender entwickelte sich über viele Jahre in Zusammenhang mit Rollenmustern; das heißt mit
dem sozialen Geschlecht, den Verhaltensweisen, die durch die Umwelt und die Erfahrung
geprägt und erlernt, gelebt und weitergegeben werden (Kautzky-Willer & Tschachler, 2012).
Während das biologische Geschlecht eines Menschen, welches durch Chromosomen,
innere und äußere Geschlechtsorgane und Hormone bestimmt ist, in den meisten Fällen
eindeutig erkennbar ist, entwickelt sich das psychosoziale Geschlecht im Laufe des Lebens
durch verschiedene Einflüsse. Merkmale, welche meist mit dem Fortpflanzungssystem des
Menschen in Zusammenhang stehen werden auch geschlechtsspezifisch genannt. Diese
Merkmale sind somit auf das rein biologische Geschlecht bezogen.
Als geschlechtstypisches Verhalten hingegen werden Eigenschaften verstanden, welche
durch ein kulturspezifisches Rollenverständnis definiert werden. Diese Eigenschaften
entsprechen einem dem biologischen Geschlecht angepassten Verhaltensmuster, welche
mit der Erwartungshaltung des sozialen Umfeldes übereinstimmt (Rohde & Marneros, 2007).
Diese Konstruktion von Geschlechtern in ihrer Rollenidentifikation wird auch ,,doing gender"
genannt. Hierbei interessiert es weniger, wie Frauen und Männer sind und was sie unter-
scheidet, sondern vielmehr, was sie tun, um diese Unterschiede im Alltag fortwährend
herzustellen und mit sozialem Sinn auszustatten (Hurrelmann & Kolip, 2002). ,,Doing Gen-
der" entspricht somit der gesellschaftlichen Erwartungshaltung gegenüber der klar abge-
grenzten Rolle als Mann oder Frau.

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Bei der psychosexuellen Entwicklung von Männern und Frauen haben die folgenden Aspekte
eine grundlegende Bedeutung:
Das biologische Geschlecht
Die Geschlechtsidentität
Die Geschlechtsrolle
Die sexuelle Orientierung/ Identität
Darüber hinaus existieren (z.T. durch Subkulturen) noch viele andere, inoffizielle Bezeich-
nungen von Genderidentitäten, wodurch eine Grenzziehung, Darstellung und Kategorisie-
rung nur begrenzt möglich ist (Abbildung 1). Auch ist ein seriöser, wissenschaftlicher
Hintergrund dieser Neologismen als Gesellschaftsphänomen meist nicht nachweisbar.
Die folgende Abbildung verdeutlicht die Aufspaltung des Begriffes LGBT recht plastisch:
Abbildung 1: Tip of the iceberg (Samson, 2016)
Um jedoch die grundlegenden Konstellationen körperlicher und psychischer Variablen der
sexuellen Identität eines Menschen darzustellen, sind im nachfolgenden Modell die vier am
häufigsten vertretenen und bekannten Gruppen sexueller Orientierung abgebildet.

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Abbildung 2: Varianten von Sex und Gender (Quelle: Rohde & Marneros, 2007)
Biologisches Geschlecht, Geschlechtsidentität (G Ident = Gender), Geschlechtsrolle (G Rolle
= Rollenverständnis oder Rollenverhalten) und sexuelle Orientierung bei heterosexuellen
Personen (KG), Homosexuellen Personen (Homo), Personen mit Intersexualität (IS) und
Transsexualität (TS) (Rohde & Marneros, 2007).
Im Zusammenhang mit dem biologischen Geschlecht entwickelt sich die psychosexuelle,
sozial-kulturelle Identität (Gender) von der frühen Kindheit an bis in das Erwachsenenalter.
Sexuelle Präferenzen sowie die Ausprägung geschlechtstypischer Attribute entwickeln sich
durch eine Vielzahl an Einflussgrößen: sozioökonomisches Umfeld, kulturelle Zugehörigkeit,
Medieneinfluss, Offenheit des sozialen Umfeldes und vieles mehr. Besonders hervorgeho-
ben wird bei Rohde und Marneros die Bedeutung der Erziehungsfaktoren und familiäre
Variablen als Einflussgröße auf die psychosoziale Entwicklung. Diese haben nach einer
Studie von Bell et al. von 1981 keinen nennenswerten Einfluss auf die spätere sexuelle
Orientierung. Auch wird hier darauf verwiesen, dass die meisten bi- oder homosexuellen
Erfahrungen typischerweise erst 3 Jahre nach Bewusstwerden der eigenen sexuellen
Orientierung gemacht werden; sich also nicht erst nach den ersten sexuellen (gleich- oder
gegengeschlechtlichen) Kontakten ausbilden (Rohde & Marneros, 2007).

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Besonders hervorgehoben sei an dieser Stelle die Tatsache, dass viele nicht-hetero-
normative Geschlechtsidentitäten unter dem Code F64.- Störungen der Geschlechtsidentität,
F65.-Störungen der Sexualpräferenz oder F66.- Psychische- und Verhaltensstörungen in
Verbindung mit der sexuellen Entwicklung und Orientierung im ICD (International Classifica-
tion of Deseases) geführt werden, und somit den Krankheitscharakter einer psychischen
Störung zugeschrieben bekommen. Es ist weiterhin umstritten, ob diese Pathologisierung
nicht dem Grundrecht auf Selbstbestimmung zuwiderläuft, da bei differenter Geschlechtsi-
dentität meist das Krankheitsmerkmal des Leidens fehlt und somit eine unnötige Stigmatisie-
rung der Betroffenen stattfindet. Die mit der veränderten sexuellen Identität verbundene
Vulnerabilität einer Person gehört zu den auslösenden Komponenten bei der Entstehung von
psychischer Überlastung und Erkrankung.
Nicht nur die Annahme geschlechtsübergreifender Attribute bei gleichzeitiger Akzeptanz des
biologischen Geschlechts einer Person bestimmt die empfundene Geschlechtsidentität,
sondern auch die Kombination aus psychosexuellen Anteilen und der gelebten Sexualität. In
dieser Hinsicht haben sich diverse sexuelle Orientierungen ausgebildet, welche zusammen-
gefasst häufig unter der Abkürzung LGBTTIQ (auch: LGBT) auftauchen. Dieses steht
verkürzt für Lesbian, Gay, Bisexual, Transsexual, Transgender, Intersexual und Queer. Im
Folgenden sollen unter anderem diese Begriffe eingehender erklärt werden.
Als Heterosexualität wird die sexuelle Orientierung beschrieben, welche in unserem
Kulturkreis vom größten Teil der Bevölkerung als ,,normal" angesehen wird (Heteronormativi-
tät). Hier bildet sich am deutlichsten die Erwartungshaltung der Gesellschaft in Bezug auf
eine deutliche Unterscheidung von Männern und Frauen und dem dazugehörigen Rollenver-
halten ab. Doch auch bei heterosexuellen Menschen ist zu erkennen, dass durch Übernah-
me gegengeschlechtlicher Attribute (der weiche, liebevolle Mann oder die harte, kämpferi-
sche Frau) bei gleichbleibender heterosexueller Orientierung eine Aufhebung der
dichotomen Heteronormativität stattgefunden hat. Die alleinige Kategorisierung in ,,typisch
Mann" und ,,typisch Frau" widerspricht dem heutigen gesellschaftlichen Bild eines Menschen.
Homosexualität beschreibt die (u.a. sexuelle) Präferenz zum eigenen Geschlecht, bei der
eine Zuneigung und Partnersuche im gleichgeschlechtlichen Umfeld besteht. Im englisch-
sprachigen Raum mit dem Begriff ,,gay" benannt existiert im Deutschen die Bezeichnung
,,schwul" bei Männern und ,,lesbisch" bei Frauen. Bis 1992 wurde die Homosexualität in der
ICD (International Classification of Diseases) noch als psychische Erkrankung geführt. Diese

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nach der Heterosexualität größte Präferenzgruppe hat sich seit Beginn der sexuellen
Revolution Ende der 1960er Jahre politisch wie gesellschaftlich auf eine breite Basis gestellt.
Durch Vereinigung in Gruppen und Verbänden ist es homosexuellen Menschen gelungen,
sich aus der Anonymität und Pathologisierung ihrer Identität in die Mitte der Gesellschaft zu
stellen. Der Gleichstellung hetero- und homosexueller Paare mit allen Rechten und Pflichten
wird nicht zuletzt durch die ,,Ehe für Alle" (Stand Juli 2017) Rechnung getragen
(Bundesanzeiger Verlag GmbH, 2017). Trotz aller Fortschritte sehen sich homosexuelle
Menschen weltweit noch immer häufig mit Feindseligkeiten, abwertendem Verhalten,
Diskriminierung und gewalttätigen Übergriffen konfrontiert. Diese Belastung kann zu einer
erhöhten Vulnerabilität gegenüber psychischen Erkrankungen wie dem Burn-out Syndrom
oder Depressionen führen.
Im allgemeinen Sprachgebrauch wird Bisexualität (oder Ambisexualität, kurz: bi) als die
sexuelle Orientierung oder Neigung bezeichnet, bei der sich Personen sowohl zu Frauen als
auch zu Männern emotional oder sexuell hingezogen fühlen. Es gibt für die Häufigkeit von
Bisexualität keine verlässlichen Zahlen, da die Ausprägung sowie praktische Umsetzung
bisexueller Neigungen stark differiert und auch in Phasen zeitlich begrenzt sein kann. Ob
diese Zuneigung tatsächlich körperlich ausgelebt wird, oder sich nur auf das Gefühl der
romantischen Hingezogenheit zu beiden Geschlechtern bezieht ist für die Zugehörigkeit zum
Kreis bisexueller Menschen unerheblich.
Bei 97,3 Prozent aller Geburten weltweit kann das biologische Geschlecht anhand der
äußeren, erkennbaren Geschlechtsmerkmale (Penis, Vagina) festgestellt werden. Bei den
verbleibenden 2,7% ist jedoch eine eindeutige Zuweisung zu einem Geschlecht nicht
möglich. Der Begriff Intersexualität, wie er in der öffentlichen Debatte verwendet wird und
dem Auftrag der Bundesregierung an den Deutschen Ethikrat zugrunde liegt, ist allerdings
weder eindeutig noch unstrittig. Die Bezeichnung Intersexualität bezieht sich auf Menschen,
die sich aufgrund von körperlichen Besonderheiten nicht eindeutig als männlich oder weiblich
einordnen lassen. Der Begriff soll ältere Bezeichnungen wie Zwitter oder Hermaphrodit
ablösen, die diskriminierenden Charakter haben können. Der Begriff Intersexualität, manch-
mal auch durch Intergeschlechtlichkeit oder Zwischengeschlechtlichkeit ersetzt, lässt offen,
ob es sich um ein drittes Geschlecht handelt oder ob die Zuordnung nur nicht festgelegt oder
festlegbar ist (Deutscher Ethikrat, 2012).
Besonders kritisch wird bei vorhandener Intersexualität die Durchführung einer geschlechts-
angleichenden Operation bei nichteinwilligungsfähigen Minderjährigen bewertet. Durch
diesen Eingriff wird dem Individuum die Möglichkeit genommen, sich in ein Geschlecht hinein

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zu entwickeln und selber über eine sexuelle Identität entscheiden zu können. Die Entfernung
rudimentärer männlicher Geschlechtsteile (also die Operation zur Frau) stellt die chirurgisch
einfachere Maßnahme dar, und wurde dabei häufiger gewählt, ohne dass sie im Einzelfall
die der Situation des Kindes angebrachtere gewesen wäre. Eine geschlechtsangleichende
Operation stellt, wie jede Operation auch, einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit dar,
der nur nach Einwilligung des jeweiligen Patienten rechtmäßig und straffrei zulässig ist. Das
elterliche Sorgerecht ermächtigt die Eltern prinzipiell dazu, im Namen ihrer minderjährigen
Kinder einem solchen Eingriff zuzustimmen. Bei dieser Regelung wird heute jedoch kontro-
vers diskutiert, ob es im besonderen Fall der Geschlechtsangleichung vertretbar ist, wenn
Eltern diese wichtige Entscheidung für das gesamte Leben ihrer Kinder treffen (Deutsche
Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V., 2017).
Zum Teil bilden sich aber auch bei Heranwachsenden geschlechtstypische Körpermerkmale
nicht, oder nicht ausreichend aus, so dass erst im späteren Verlauf der Entwicklung die Frage
nach der Geschlechtszugehörigkeit aufkommt. Auch ist von ,,Hermaphrodismus" (gr. von
Hermes und Aphrodite) die Rede; Betroffene nennen sich selbst Zwitter oder Drittes Ge-
schlecht, um durch die nicht korrekte Bezeichnung selbstironisch gegen die Pathologisierung
ihres Geschlechts durch Gesellschaft und Wissenschaft zu protestieren (Gendertreff, 2017).
Transgender (oder auch Transident) sind Menschen, welche sich mit ihrem biologischen
Geschlecht nicht identifizieren und dem anderen Geschlecht zugehörig fühlen. Nach aktuell
zugänglichen Statistiken sollen in der Bundesrepublik ca. 170.000 transidente Menschen
leben. Die tatsächliche Zahl dürfte jedoch aufgrund der Anonymität vieler transidenter
Personen wesentlich höher liegen. Während in der Öffentlichkeit beim Begriff ,,Transgender"
vielfach die Assoziation zum ,,Mann in Frauenkleidern" besteht, ist die Transgender-
Eigenschaft in Wahrheit unabhängig vom körperlichen Geschlecht. Das bedeutet: Es gibt
sowohl Frauen, deren psychologisches Geschlecht männlich ist als auch Männer, deren
psychologisches Geschlecht weiblich ist. Demnach spricht man im ersten Fall von Frau-zu-
Mann-Transgendern (FzM) bzw. Transmännern. Ist das körperliche Ursprungsgeschlecht
männlich, das psychologische Geschlecht dagegen weiblich, spricht man von Mann-zu-Frau-
Transgendern (MzF) bzw. Transfrauen.
Die Transgender-Eigenschaft ist unabhängig von der sexuellen Orientierung. Es ist somit ein
Irrglaube, dass Transgender homosexuell wären. Die Unterscheidung zwischen homosexuell
und heterosexuell setzt ohnehin ein bipolares Geschlechtermodell voraus, das es jedoch de
facto nicht gibt. Überspitzt formuliert ist die Beantwortung der folgenden Frage demnach gar
nicht so einfach: Ist ein Mann-zu-Frau-Transgender ein heterosexueller Mann mit einer

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783959935562
ISBN (Paperback)
9783959930567
Dateigröße
4.9 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Fachhochschule Münster – Pflege und Gesundheit
Erscheinungsdatum
2018 (Februar)
Note
1,3
Schlagworte
Gender genderspezifisch Psychologie Depression Therapie Vulnerabilität
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