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Intrinsische Lesemotivation. Wirkungen und Einsatzmöglichkeiten von bibliotherapeutischen Aktivitäten

©2017 Diplomarbeit 50 Seiten

Zusammenfassung

Lesen ist in unserem Kulturkreis eine Selbstverständlichkeit. Wir lesen täglich Zeitungen, E-Mails, Verkehrszeichen, Rezepte und vieles mehr, ohne darüber nachzudenken. Doch Lesen ist in Wahrheit keine Selbstverständlichkeit, sondern ein komplizierter neurobiologischer Vorgang. Das Lesen und dessen neurobiologische Vorgänge waren für die Menschheit lange Zeit ein großes Rätsel, deshalb hat sich erst seit ca. 30 Jahren eine junge Wissenschaft des Lesens herausgebildet. Das vorliegende Buch befasst sich nicht nur mit diesen wissenschaftlichen Hintergründen des Phänomens Lesen, es geht auch folgenden Fragen auf den Grund: Was passiert im Gehirn eines Kindes bzw. Erwachsenen beim Lesen? Was bedeutet „ intrinsische Lesemotivation“? Welche ganzheitlichen Wirkungen hat das Lesen auf Gesundheit und Wohlbefinden? Was ist Bibliotherapie? Wo und wann wird sie eingesetzt? Wie entstehen Störungen der Lesefähigkeit?
Tauchen Sie in die phantastische Welt des Lesens ein und erfahren Sie die Hintergründe über die bemerkenswerteste Erfindung der Menschheit.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


4
Als weiteren Vorteil muss man natürlich den schnelleren Zugang zu Informationen anführen.
Wofür man früher mühsam in Büchereien gehen und sich durch diverse Themen ackern
musste, so genügen jetzt ein paar Klicks auf dem PC und man bekommt zumindest eine
Erstinformation zu jedem nur erdenklichen Begriff. Obwohl ich diesen Aspekt als eine
Begleiterscheinung unserer heute immer schneller werdenden Leistungsgesellschaft nicht
immer nur als Vorteil bewerten kann. Denn die Bücherei bot auch einen wunderbaren
meditativen Rückzugsort, wenn man sich durch einen Stapel Bücher der gesuchten
Themenbereiche durchwühlen musste, um das Gewünschte zu finden. Nachdem man in der
Bibliothek durch die Publikation sofort Informationen über die Autoren und deren
Bekanntheit bekam, muss man heute die Glaubwürdigkeit der Quellen im Internet schon
kritischer hinterfragen. Aber ganz egal, über welches Medium ich Literatur und Wissen
konsumiere, ich könnte mir ein Leben ohne Bücher nicht vorstellen und für mich wäre ein
Leben ohne sie ein leeres Leben.
Während der Ausbildung zur Dipl. Sozial- und Berufspädagogin bin ich in meinem Praktikum
am FEN ­ Forum Erwachsenenbildung NÖ auf das Projekt ,,Gesund Lesen" gestoßen. Das Ziel
dieses Projektes ist es, in Zusammenarbeit mit den öffentlichen Büchereien in Kranken-
häusern und Altenheimen eigene Büchereien, Bücherecken oder mobile Bücherwägen zu
installieren, um den Menschen die umfassenden Dienstleistungen von modernen
öffentlichen Büchereien zukommen zu lassen. In weiterer Folge soll es ihnen dort auch
ermöglicht werden, in Erzähl- oder Lesecafés gehen zu können, an Vorleserunden oder
Lesekreisen teilzunehmen und sich dort mit anderen Gleichgesinnten auszutauschen, so dass
ihnen ihr Aufenthalt nicht mehr so belastend erscheint. Die Tatsache, dass Büchereien in
vielen Ländern der Erde ein fixer Bestandteil von Krankenhäusern und Pflegeheimen sind,
hat mir Anlass für das Thema dieser Arbeit gegeben. Ich wollte über das Lesen einfach mehr
erfahren, z. B.: Was passiert in unserem Gehirn, wenn wir lesen? Hat intrinsische
Lesemotivation Auswirkungen auf unsere Gesundheit oder sogar auf unser Altern? Was
passiert überhaupt in unserem Gehirn, wenn wir lesen lernen bzw. gut lesen können? Gibt
es einen Unterschied zwischen dem Gehirn eines Lesers und dem eines Analphabeten? Wie
bringt man Menschen dazu, gerne zu lesen?

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Gerade gesundes und aktives kognitives Altern und die Fragestellung, was jeder einzelne
dazu beitragen kann, ist in unserer immer älter werdenden Gesellschaft ein zunehmend
präsentes Thema. Denn es ist unumstritten, dass mit dem Erreichen eines zunehmend
höheren Lebensalters bei vielen Menschen normale bzw. pathologische Veränderungen der
kognitiven Leistungsfähigkeit auftreten. Diese bedrohen nicht nur die körperliche Leistungs-
fähigkeit, sondern vor allem die Aufrechterhaltung einer selbständigen Alltagsbewältigung
bis ins hohe Alter. Die Identifikation der Faktoren, die einen Beitrag zum gesunden und
aktiven kognitiven Altern leisten können, ist deshalb sehr interessant. Ein besonders
vielversprechender protektiver Faktor soll dabei die Aktivität des Lesens, der Auseinander-
setzung mit Literatur allgemein und der Bildung sein.
2
In der vorliegenden theoretischen Arbeit habe ich mich eingehend mit Literatur über
neurowissenschaftliche Prozesse und den unterschiedlichen Gehirnstrukturen von lesenden
Menschen, Analphabeten und Menschen mit Lesefähigkeitsstörungen auseinandergesetzt.
Was ist im Gehirn eines Menschen los, wenn seine Fähigkeit lesen zu lernen gestört ist, wie
z. B. bei Legasthenie? Warum und in welchen Bereichen wird das Lesen als therapeutische
Maßnahme genutzt?
Ziel meiner Arbeit ist es, zu verdeutlichen, welche Meisterleistungen von einem lesenden
Gehirn vollbracht werden und welche Potentiale hinsichtlich lebenslanger Bildung und
Selbstgestaltung bis ins Alter sich darin verbergen, wie wichtig Leseförderung für Kinder ist
und welchen ganzheitlichen Einfluss Lesen auch auf psychische Probleme wie z. B.
Depressionen haben kann.
2
Freiin von Moreau, Intrinsische Lesemotivation und lesebezogenes Selbstkonzept im Alter, Mai 2012, S. 7

6
2.
Lesen
2.1 Theoretischer Hintergrund
In unserem Kulturkreis ist Lesen eine Selbstverständlichkeit. Man liest Zeitungen, Koch-
rezepte, Straßenschilder, Anweisungen, E-Mails, Internetseiten, Produktbezeichnungen und
Literatur, ohne darüber nachzudenken.
Wikipedia beschreibt Lesen folgendermaßen: ,,Lesen im engeren Sinn bedeutet, schriftlich
niedergelegte, sprachlich formulierte Gedanken aufzunehmen und zu verstehen. Das Lesen
eines Textes ist ein durch Übung und Kenntnisse des Lesers bestimmter heuristischer
kognitiver Vorgang".
3
Doch wird man nicht mit dieser Fähigkeit geboren. Lesen ist eine Kulturtechnik, die im
Kindesalter angeeignet wird und die Menschen ab diesem Zeitpunkt ein ganzes Leben lang
begleitet. Beim Prozess des Lesens werden nicht nur Buchstaben wahrgenommen und zu
Wörtern aneinandergereiht, sondern er beinhaltet auch das Verstehen der gelesenen
Wörter und Sätze. Für diesen Vorgang sind viele kognitive Funktionen wie z. B. Wahr-
nehmungsfähigkeit, Lernfähigkeit, Gedächtnis und Assoziation notwendig.
4
Das Gehirn jedes Lesers enthält präzise und effiziente neuronale Mechanismen, die geradezu
prädestiniert für das Lesen zu sein scheinen. Doch über Jahrhunderte waren diese Mechanis-
men ein Mysterium, erst in den letzten zwanzig Jahren ist eine eigene Wissenschaft des Lesens
entstanden. Diese neue Wissenschaft bildet nun langsam eine Theorie des Lesens heraus. Sie
beschreibt die Funktion der Schaltkreise der Großhirnrinde, wie diese sich im Laufe der
Evolution entwickelt haben und sich, so gut es geht, auf das Lesen eingestellt haben.
5
Die Erfindung des Lesens gehört zu den bemerkenswertesten Einzelerfindungen der Ge-
schichte, zu der unsere Vorfahren nur deshalb in der Lage waren, weil das menschliche
3
https://de.wikipedia.org/wiki/Lesen, dl. 18. Jänner 2017
4
Hametner, Lesen im Alter: Leseverhalten und Lesemotivation bei ,,Silver Surfern" und die Entwicklung eines
Fragebogens, Mai 2013, S.1
5
Dehaene, Lesen ­ Die größte Erfindung der Menschheit ..., 2012, S.10

7
Gehirn die außerordentliche Fähigkeit besitzt, zwischen bestehenden Strukturen neue
Verbindungen zu knüpfen und weil es durch Erfahrungen formbar ist. Mit dieser Erfindung
begann eine Umstrukturierung des menschlichen Gehirns, die die geistige Evolution in neue
Bahnen lenkte.
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Die menschliche Fähigkeit des Lesens stellt die Wissenschaft vor ein merkwürdiges Rätsel,
das Stanislas Daheane, führender Neurowissenschaftler auf dem Gebiet des Lesens, als
,,Paradox des Lesens" bezeichnet. Er befasst sich in seiner Arbeit mit der Erforschung der
Ursachen, weshalb ausgerechnet das Gehirn des homo sapiens so präzise an das Lesen
angepasst zu sein scheint, obwohl es diese erfundene Tätigkeit erst seit ein paar tausend
Jahren gibt. Die Schrift wurde erst vor etwa 5400 Jahren von den Babyloniern entwickelt und
das Alphabet ist gerade erst mal 3800 Jahre alt. Diese Zeitspannen sind im Vergleich zu den
Jahrmillionen der Evolution nur einigen Augenblicken gleichzusetzen. Das Genom des
Menschen hat eigentlich gar nicht die Zeit gehabt, sich so zu verändern, dass es zum Lesen
geeignete Schaltkreise bilden konnte. Das lesende Gehirn eines Menschen ist noch immer
nach jenem genetischen Bauplan gestaltet, der es unseren Jäger- und Sammlervorfahren
ermöglicht hat, zu überleben. Nichts in unserer Evolution hätte die Menschen darauf
vorbereitet, sprachliche Informationen auch visuell aufzunehmen, dennoch verfügt der
erwachsene Leser über hoch entwickelte Mechanismen, die perfekt an die zum Lesen
erforderlichen Abläufe angepasst sind.
Die ursprüngliche Sicht von zahlreichen Theoretikern des kulturellen Relativismus im 20.
Jahrhundert beschrieb, dass die Grundlage für die Lesefähigkeit nicht biologischer Natur sei,
sondern viel mehr rein durch die kulturelle Prägung der Menschen geschaffen würde.
Demzufolge hätten Kinder, die in einer Kultur der Inuit, in einem südamerikanischen
Indianerstamm oder in einer Familie der New Yorker Upper East Side zur Welt kämen, kaum
etwas gemeinsam. Farbwahrnehmung, Wertschätzung von Musik oder moralisches
Empfinden können von Kultur zu Kultur natürlich unterschiedlich geprägt sein, aber allein die
Lernfähigkeit ist ein übergreifendes Merkmal unserer menschlich biologischen Natur.
Demnach ist die Frage nach den zerebralen Grundlagen kultureller Prägung, wie z. B. der
Sprache nicht relevant.
6
Wolf, Das lesende Gehirn, 2009, S.1

8
Dieses simple Modell der Beziehung zwischen Kultur und Gehirn wird auch von den
neuesten Erkenntnissen der Neuropsychologie widerlegt. Stanislas Dehaene untermauert
mit seiner Hypothese des Modells des ,,neuronalen Recyclings" diese neuen Forschungen.
Demzufolge sind den biologischen Gehirnstrukturen durch starke genetische Zwänge enge
Grenzen gesetzt, die aber den Schaltkreisen der Sehrinde einen bestimmten Spielraum
lassen, um sich an die Umwelt anzupassen. Man spricht dann davon, dass sie von der
Evolution mit einer gewissen Plastizität ausgestattet worden sind. Das ermöglicht Neuronen,
die ursprünglich dafür angelegt waren, Gesichts- oder Handformen zu erkennen, ihre
Präferenzen umlegen und sogar auf künstliche Objekte, Formen oder sogar Buchstaben
reagieren können.
Dehaene stellt somit die Hypothese auf, dass sich die kulturelle Erfindung wie das Lesen in
den Spielraum des plastischen Gehirns einfügt und sich somit seiner kulturellen Umwelt
anpasst. Es verwendet dafür aber nicht jungfräuliche neue Schalkreise, sondern verwendet
bereits vorhandene zerebrale Gegebenheiten des Gehirns. Das Gehirn des Menschen ist
somit keine Tabula rasa, also ein unbeschriebenes Blatt, auf dem sich kulturelle Konstrukte
ansammeln, sondern es ist ein stark strukturiertes Organ, das mit alten Strukturen neue
Wege geht. Wenn Menschen also neue Fertigkeiten erlernen, so recyceln sie ihre alten
Primaten-Schaltkreise, soweit diese die Veränderung tolerieren. Versteht man die Prozesse,
die beim Lesen im Gehirn ablaufen, kann man auch leichter nachvollziehen, wie es zu
pathologischen Störungen kommen kann und wie man diese beheben kann (z. B. nach einem
Schlaganfall oder bei Legasthenie).
7
Lesefähigkeit ist eine Basisqualifikation in unserem gesellschaftlichen Leben. Je mehr und je
häufiger man liest, umso leichter fällt es einem und die Lesekompetenz entwickelt sich
weiter.
8
Der Grundstein für eine hohe oder niedrige Lesemotivation bis ins hohe Erwachsenenalter
wird in den ersten fünf Jahren der Kindheit gelegt.
9
Jeder weiß, dass es nicht ganz einfach ist,
7
Dehaene, Lesen ­ Die größte Erfindung der Menschheit ..., 2012, S.9-16
8
Bundesministerium für Unterricht und Kunst, Förderung der Lesemotivation, 2008, S.1
9
Wolf, Das lesende Gehirn, 2009, S.23

9
lesen zu lernen. Dabei stoßen alle Kinder auf Probleme und Schwierigkeiten, ungeachtet der
jeweiligen Muttersprache. Schätzungen zufolge werden noch 10 Prozent von ihnen auch als
Erwachsene nicht in der Lage sein, einen Text zumindest ansatzweise zu verstehen. Es
erfordert jahrelanges Training bis das Räderwerk des Lesens so gut eingespielt ist, dass es
nicht mehr bewusst wahrgenommen wird.
10
2.2 Was passiert im Gehirn eines Kindes, das lesen lernt?
,,Von den vielen Welten, die der Mensch nicht von der Natur geschenkt bekam, sondern sich
aus dem eigenen Geist erschaffen hat, ist die Welt der Bücher die größte. Jedes Kind, wenn es
die ersten Buchstaben auf seine Schultafel malt und die ersten Leseversuche macht, tut damit
den ersten Schritt in eine künstliche und höchst komplizierte Welt, deren Gesetze und
Spielregeln ganz zu kennen und vollkommen zu üben kein Menschenleben ausreicht. Ohne
Wort, ohne Schrift und Bücher gibt es keine Geschichte, gibt es nicht den Begriff der
Menschheit. Hermann Hesse".
11
Im Gehirn eines Kleinkindes sind bereits zwei entscheidende Fähigkeiten, die für das spätere
Lesen neu verwendet und verschaltet werden, genetisch angelegt: das Verständnis für die
gesprochene Sprache und invariantes visuelles Erkennen.
12
Der Begriff des invarianten
visuellen Erkennens bezeichnet die phänomenale Fähigkeit des Gehirns, dass es in die Lage
versetzt, ein und dasselbe Objekt immer wiederzuerkennen, egal aus welchem Blickwinkel es
betrachtet wird. Es ist auch weitgehend unabhängig davon, wie stark sich dieses Objekt in
der Zwischenzeit verändert hat. Diese Eigenschaft sind spezialisierten Nervenzellen des
Temporallappens zu verdanken und nennen sich Jennifer-Aniston-Zellen.
13
Schon in den ersten Lebensmonaten zeigt das Kind außerordentliche Fähigkeiten, um unsere
Sprache zu analysieren. Bereits in den ersten Tagen nehmen Säuglinge sprachliche Kontraste
zwischen ,,ba" und ,,ga" wahr und achten besonders aufmerksam auf die Rhythmik der
10
Dehaene, Lesen ­ Die größte Erfindung der Menschheit ..., 2012, S.10-11
11
Wolf, Das lesende Gehirn, 2009, S.95
12
Dehaene, Lesen ­ Die größte Erfindung der Menschheit ..., 2012, S.223
13
Visuelle Invarianz, https://www.dasgehirn.info/glossar/visuelle-invarianz, dl. 12.2.2017

10
Muttersprache. Wenn ein Kind lesen lernt, so verbinden ich diese beiden Gehirnsysteme,
nämlich die Sehrinde, die für die Formenerkennung zuständig ist und die Sprachareale.
Dabei durchläuft der Prozess drei Phasen:
Die kurze bildliche Phase, in der das Kind einige Wörter bildlich wahrnimmt,
dann die phonologische Phase, in der das Kind versucht, die Laute aus den Buch-
staben herauszufiltern bzw. sie zu entschlüsseln,
und schließlich die orthografische Phase, in der die Worterkennung automatisiert wird.
In bildgebenden Verfahren, wie z. B. einem MRT, zeigt sich schön, dass während dieses
Prozesses mehrere Hirnschaltkreise verändert werden (besonders in der Hirnrinde des linken
hinteren Schläfenbereichs). Im Laufe der Jahre nimmt die Hirnaktivität, die durch das Lernen
von Wörtern hervorgerufen wird, zu, wird selektiv und bündelt sich.
Bereits bei einem drei Monate alten Säugling wurde festgestellt, dass die linke obere
Schläfenregion Sprachlaute analysiert, während die linke obere Schläfenfurche bereits eine
hierarchische Organisation aufweist. Diese dient vermutlich dazu, Phoneme (,,Lautzeichen"),
Wörter und Sätze zu analysieren. Sogar die linke untere Stirnregion, das sogenannte ,,Broca-
Areal", in der üblicherweise fortgeschrittene Sprachproduktion und grammatikalische
Fähigkeiten angesiedelt sind, wird schon aktiv, wenn er Sätze hört.
Im ersten Lebensjahr spezialisieren sich die Sprachareale auf die Muttersprache. Vom
sechsten Monat an verändert sich die Repräsentation der Vokale so, dass sie in der
jeweiligen Muttersprache besser dargestellt werden kann. Nach elf oder zwölf Monaten
wandeln sich auch die Konsonanten hinsichtlich des passenden Repertoires der Mutter-
sprache. Am Ende des zweiten Lebensjahres wächst der Wortschatz des Kindes explosions-
artig und es übernimmt gleichzeitig schon Grundregeln der Grammatik.
Wenn ein Kind mit fünf oder sechs Jahren lesen lernt, sind die großen Abläufe des visuellen
Erkennens bereits etabliert, es beherrscht bereits eine detaillierte Repräsentation der Laute
seiner Sprache und verfügt über einen Wortschatz von mehreren tausend Wörtern. Außer-
dem beherrscht es die wichtigsten Strukturen der Grammatik und weiß, wie man Sinngehalt

11
vermittelt. Allerdings sind diese Regeln größtenteils unbewusst, d.h. das Kind weiß nicht,
dass es über diese Fähigkeiten verfügt und kann sie auch nicht benennen. Die untere Seh-
rinde befindet sich aber noch in einer Periode erheblicher Plastizität, d.h. dass dieser
Zeitraum besonders günstig für den Erwerb neuer visueller Objekte, etwa von Buchstaben
und Wörtern ist.
Durch diese Erkenntnisse entstehen neue Wege, die man auf den Leseunterricht umlegen
kann und man versteht auch, warum die vor einigen Jahren vielzitierte ,,Ganzwortmethode"
so viele Lehrer und Psychologen in die Irre geführt hat, da diese durch den Aufbau unserer
Sehrinde gar nicht bewältigt werden kann.
14
2.3 Wie funktioniert das Lesen beim erwachsenen Leser?
Seit ca. dreißig Jahren untersucht die kognitive Psychologie die Funktion des Lesens und
welche Regeln oder ,,Algorithmen" ein guter Leser anwendet, wenn er Wörter erkennt. Auf
den ersten Blick erscheint der Vorgang des Lesens fast wie Zauberei: Man richtet den Blick
auf ein Wort und ohne erkennbare Anstrengung ermöglicht das Gehirn den Zugang zu
dessen Sinn und Aussprache. Aber im Gegenteil, dieser Vorgang ist keineswegs eine einfache
Sache, die besten Schrifterkennungsprogramme haben damit nach wie vor ihre Probleme.
Die Verarbeitung der Schrift beginnt im Auge, genau im Zentrum der Retina. Nur die dort
befindliche Fovea (Sehgrube) besitzt entsprechende Photorezeptoren mit sehr hoher
Auflösung, um Details der Buchstaben erkennen zu können. Dieser Bereich, der nur etwa 15
Grad des Sehfeldes der Retina abdeckt, ist die einzige Zone, die für das Lesen wirklich
nützlich ist und die die Buchstaben so detailliert erfasst, dass sie erkannt werden können.
Aus diesem Grund ist es notwendig, beim Lesen unablässig die Augen zu bewegen, damit
man bei jedem kurzen Innehalten ein bis zwei Wörter identifizieren kann. Fehlt dieser
Bereich, z. B. aufgrund einer Schädigung der Retina oder der visuellen Regionen des Gehirns,
wird Lesen unmöglich.
14
Dehaene, Lesen ­ Die größte Erfindung der Menschheit ..., 2012, S.221-225

12
Anschließend werden die Wörter von den Neuronen der Retina in viele tausend Teile zerlegt:
Jeder dieser Bildbestandteile wird dabei von einem eigenen Fotorezeptor erkannt. Bevor die
Buchstabenkette aber erkannt wird, muss sie erst wieder zusammengesetzt werden. Die
Schwierigkeit dabei ist, die Fragmente wieder so zusammenzusetzten, dass die ent-
sprechenden Buchstaben, deren Reihenfolge und somit das fragliche Wort entschlüsselt
werden kann. Dieses Zusammensetzen erfolgt Schritt für Schritt in Form von Graphemen
(kleinste grafische Einheiten eines Schriftsystems), Silben, Vorsilben, Nachsilben und
Wortstämmen.
Dann laufen zwei große parallele Verarbeitungsstränge ab: der phonologische und der
lexikalische Weg.
Der phonologische Weg ermöglicht es dem Gehirn, die Buchstabenketten in
Sprachlaute umwandeln zu können (die Phoneme) und
der lexikalische Weg eröffnet den Zugang zum individuellen ,,mentalen Wörterbuch",
in denen deren Sinn verzeichnet ist.
15
In modernen bildgebenden Verfahren zeigt sich, dass das Sehareal in der linken Gehirnhälfte
(siehe Abbildung 2) eine entscheidende Rolle bei diesem Prozess spielt. Dieses Areal liegt bei
allen Individuen an der gleichen Stelle und reagiert automatisch auf geschriebene Wörter.
Selbst wenn diese nur kurz gezeigt werden und gar nicht bewusst erkannt werden können. In
weniger als einer Fünftelsekunde wird dort die Identität des Wortes herausgefunden, ohne
dass es von oberflächlichen Änderungen von Form, Größe oder Position der Buchstaben
irritiert wird.
Das Ergebnis dieser virtuellen Analyse wird dann an zwei große Großhirnregionen weiter-
geleitet, die die Laute und die Bedeutung der Wörter koordiniert.
16
15
Dehaene, Lesen ­ Die größte Erfindung der Menschheit ..., 2012, S.21-23
16
Dehaene, Lesen ­ Die größte Erfindung der Menschheit ..., 2012, S.69

13
Abbildung 1 ­ aktivierte Hirnregionen beim Lesen
(Quelle: Stanislas Dahaene, Lesen ­ Die größte Erfindung der Menschen und was dabei in unseren Köpfen
passiert, Oktober 2012, Anhang)
,,Bei jedem, der lesen gelernt hat, ist die Aktivierung der linken Schläfenregion des Hinter-
hauptes problemlos zu beobachten. Für diesen Versuch werden den Teilnehmern zwei
geschriebene oder gesprochene Wörter präsentiert. Sie müssen beurteilen, ob es sich um
identische oder verschiedene Wörter handelt. Bei sieben verschiedenen Probanden aktiveren
die geschriebenen Wörter die linke Schläfenregion des Hinterhauptes, deren Position
ungeachtet der Variabilität von Hirnrindenfaltungen erstaunlich reproduzierbar ist. Ge-
sprochene Wörter wiederum aktivieren diesen Bereich nicht (Dehaene et al., 2002)".
17
17
Dehaene, Lesen ­ Die größte Erfindung der Menschheit ..., 2012, Anhang

14
2.4 Das Gehirn eines Analphabeten
Eine Studie aus 2013 ergab, dass es in Österreich fast eine Million Menschen im Alter von 16
bis 65 Jahren gibt, die völlig unzureichend lesen und schreiben können. Das bedeutet, dass
es auch in unserem Land 17,1 Prozent funktionale Analphabeten gibt. ,,Damit liegt
Österreich bei der Lesekompetenz unter dem Durchschnitt jener OECD-Länder, die an dem
internationalen Vergleich teilgenommen haben", so der Originalwortlaut aus dem Artikel der
Presse. 100.000 Menschen konnten wegen ihrer geringen Lese- und Schreibfähigkeit an der
Studie gar nicht teilnehmen. Diese Form von Analphabetismus darf man sich aber nicht so
vorstellen, dass die Betroffenen überhaupt nicht lesen oder schreiben können. Sie können
Buchstaben, einzelne Wörter und kurze Sätze sehr wohl erfassen, ganze Textstellen aber
nicht verstehen und komplizierte Briefe oder Behördendeutsch schon gar nicht. Die
Auswirkungen auf das weitere Leben im Alltag dieser Menschen ist dramatisch: negative
Schulerfahrungen, Diskriminierung, Scham, Geheimhaltung, Täuschung, Minderwertig-
keitsgefühl. Man zieht sich zurück und es darf niemand von seiner Unfähigkeit zu lesen und
zu schreiben erfahren, oft nicht einmal die eigene Familie.
Bei diesem Ergebnis drängt sich natürlich folgende Frage auf: Wie kann es sein, dass
Menschen, die das Pflichtschulsystem durchlaufen haben, ohne ausreichende Lese- und
Schreibfähigkeit entlassen werden können? Experten der Erwachsenenbildung beantworten
das so: Im heutigen Schulsystem sei eine ausreichende Förderung aller betroffenen Schüler
nicht vorgesehen und möglich. Entweder es werden die individuellen Bedürfnisse und
Schwächen gar nicht erkannt oder es fehlen die Ressourcen für eine individuelle Betreuung.
Außerdem könnten Vernachlässigungen durch das Elternhaus nicht immer ausgeglichen
werden. Und es ist auch sehr schwierig, aus dem Teufelskreis der negativen Schul-
erfahrungen auszubrechen. Das erfordert sehr viel Mut, Aufmerksamkeit und Unter-
stützung.
18
18
Die Presse, 2015, 970.000 funktionale Analphabeten,
http://diepresse.com/home/bildung/schule/4680005/970000-funktionale-Analphabeten, dl. 14.9.2016

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783959935579
ISBN (Paperback)
9783959930574
Dateigröße
1.4 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Vitalakademie – Sozial- und Berufspädagogik
Erscheinungsdatum
2018 (Februar)
Note
1,0
Schlagworte
Bibliotherapie Legasthenie Alexie Lesen Therapie
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