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Sergej Michailowitsch Eisensteins Montagetechnik und -theorie: Im Stummfilm "Panzerkreuzer Potemkin"

©2006 Diplomarbeit 54 Seiten

Zusammenfassung

Anders als die Filmpioniere seiner Zeit wollte Eisenstein in seinen Filmen nicht nur Geschichten erzählen, sondern das Publikum auch zum Mitdenken und gesellschaftlich verantwortlichen Handeln anregen. Durch seine Montagetheorien und seine daraus entstehenden Filme will der Regisseur sein Publikum in einen Zustand versetzen, in dem es die dargestellte Handlung interpretiert und sie weiterdenkt.
Um dieses Ziel und damit das Publikum zu erreichen, sprach Sergej Eisenstein sowohl die emotionale als auch die intellektuelle Ebene an. In der vorliegenden Arbeit werden die wichtigsten Montagekenntnisse und -techniken Sergej Eisensteins dargestellt. Dabei spielt auch die ständige Weiterentwicklung seiner Theorien eine Rolle. Diese sorgt dafür, dass die Montagetechniken beliebig miteinander verknüpft werden können und trotzdem am Ende eine geschlossene Einheit bilden. So steht eine Analyse der Montagetechnik und der bildkompositorischen Gesetze und Regeln im Stummfilm ‚Panzerkreuzer Potemkin’ im Zentrum dieses Buches.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2. Sergej Eisensteins ,,Panzerkreuzer Potemkin"
2.1 Der Regisseur Sergej Eisenstein
,,Eisenstein ist
ein großer Filmregisseur, der vor allem wegen des bildgewaltigen
Meisterwerks PANZERKREUZER POTEMKIN
nie vergessen wird,
ein fruchtbarer
Filmtheoretiker, der seine Theorien in lebendigem Wechselprozess mit seinen Filmen
entwickelte,
ein begnadeter Filmlehrer, [...] ein vielseitig gebildeter Wissenschaftler,
der auf die verschiedensten Bereiche Einfluss genommen hat,
und nicht zuletzt ein
literarisch begabter Autor, der auch noch heute mit viel Genuss zu lesen ist."
1
Sergej Michailowitsch Eisenstein wurde am 23. Januar 1898 in Riga geboren und starb im
Alter von 50 Jahren am 11. Februar 1948 in Moskau. Seine Kindheit verlebte er unter der
Obhut seiner Eltern, welche der Kolonisationsgruppe der russischen Beamten im lettischen
Landesteil angehörten. Auch durch diese Tatsache fiel es ihm schwer Freunde in der
Schule zu finden, da die lettische Urbevölkerung den größten Teil der Mitschüler in seiner
Klasse stellte und diese nicht besonders gut auf die Gesellschaftsschicht, aus welcher er
stammte, zu sprechen war. Hinzu kam, dass Eisenstein ein regelrechter Musterschüler war.
Er selbst schätzte seine Kindheit als eine Zeit ein, die charakterisiert ist durch das Fehlen
typisch kindlicher Handlungen. ,,Ich war ein schlimmes Kind [...]. Ich habe keine einzige
auseinandergenommene Uhr, keine einzige gequälte Fliege und keine einzige böswillig
zertrümmerte Vase auf dem Gewissen. Und das ist natürlich sehr schlimm. Denn
wahrscheinlich musste ich eben deshalb gerade Filmregisseur werden."
2
Diesem Zitat
Sergej Eisensteins liegt wahrscheinlich der Gedanke, als Regisseur alles zertrümmern zu
können und alles machen zu können was man will, zugrunde. Hinzu kommt, dass er schon
im kindlichen Spiel immer stark der Inszenierung verbunden war, in Rollenspielen plante
er bis ins kleinste Detail den Spielverlauf und Nebenhandlungen.
3
1915 begann er auf
Wunsch seines Vaters Michail Ossipowitsch Eisenstein, welcher ein bekannter
Staatsarchitekt war, das Studium der Zivilingenieurwissenschaft. Die dabei erworbenen
analytischen Fähigkeiten waren ihm später in seiner Tätigkeit als Regisseur sehr behilflich,
Gedanken, Einstellungen, Sequenzen und schließlich den gesamten Film mit der
Genauigkeit eines Ingenieurs zu ordnen. 1918 tritt Eisenstein freiwillig in die Rote Armee
1
Diederichs H. H.: Editorische Vorbemerkung. In: Eisenstein, S.: Jenseits der Einstellung. Frankfurt a. M.
2005, S. 7
2
Eisenstein S.: Yo ich selbst: Memoiren, Bd. 1. Berlin 1988, S. 56
3
Vgl. Eisenstein S.: Yo ich selbst: Memoiren, Bd. 2. Berlin 1988, S. 733
4

ein, um das damalige zaristische Regime zu bekämpfen. Während der Armeezeit von
1918 - 1919 wird er unter anderem an die Ostfront abkommandiert, wo er aufgrund seiner
Kenntnisse der Ingenieurswissenschaften als Bau- und Sprengmeister eingesetzt wurde.
Hier kommt er erstmalig mit der japanischen Kultur in Berührung, welche später einen
großen Einfluss auf sein Leben und vor allem seine Arbeit haben wird. Nach der
Armeezeit bricht Eisenstein sein Studium für Zivilingenieurwissenschaft ab und arbeitet
als Bühnenzeichner am ,,Proletkult ­ Theater"
4
in Moskau, was ihm später noch von
großem Nutzen sein wird. Fast gleichzeitig, im Jahre 1920, entschließt sich Eisenstein, ein
Studium für Orientalistik und Japanische Schrift ­ beziehungsweise Bildzeichen, die
sogenannten ,,Kabuki", zu beginnen. Darauf aufbauend wird er seine erste Montagetheorie,
die dialektische Montage, erarbeiten. Außerdem wirkte er in jener Zeit bei einem
,,Agitpropzug"
5
als Karikaturzeichner mit, um politische Werbung für die kommunistische
Partei zu machen. Sergej Eisenstein war Zeit seines Lebens stets ein linker Künstler und
stand hinter dem kommunistischen Grundgedanken.
Sein Filmdebüt gab der junge Regisseur mit ,,Streik"
6
, einem Film, der die
Niederschlagung eines Arbeiteraufstandes thematisiert. Bereits hier findet man die für
Eisenstein typische Symbolik wieder, indem er am Höhepunkt des Filmes die Streikenden
mit einer Viehschlachtung gegen schneidet und somit einen starken Kontrast erschafft. Der
Erfolg von ,,Streik", welcher auch im Ausland aufgeführt wurde, brachte ihm einen neuen
Auftrag ein: ,,Panzerkreuzer Potemkin". Mit diesem Werk hatte der Regisseur dann seinen
ersten richtigen internationalen Durchbruch. Weitere Filme wie ,,Oktober"
7
und ,,Die
Generallinie"
8
folgten. Seine späteren Filme wie zum Beispiel ,,Iwan der Schreckliche
Teil 2"
9
fielen oft der Zensur zum Opfer. Eisenstein arbeitete für zwei Filme, ,,Alexander
Newski"
10
und ,,Iwan der Schreckliche ­ Teil 1"
11
, der später auch mit dem Stalinpreis
ausgezeichnet wurde, mit dem Komponisten Sergej Prokofjew zusammen. Nachdem er
4
Kurzform für Proletarische Kultur; linksradikalistische Richtung innerhalb der sozialistischen
Kulturrevolution in Sowjetrussland; Proletkult verneinte das Kulturerbe und wurde von Lenin 1920 scharf
kritisiert. (Vgl. Meyers Handlexikon, Bd. 2, Leipzig 1977, S. 253)
5
Setzt sich zusammen aus den Begriffen Agitation und Propaganda und bezeichnet in diesem Fall die
kommunistische Werbung.
6
,,Streik" (1925)
7
,,Oktober" (1927)
8
,,Die Generallinie" (1929)
9
,,Iwan der Schreckliche
Teil 2" (1946)
10
,,Alexander Newski" (1939)
11
,,Iwan der Schreckliche
Teil 1" (1945)
5

1930 einen Vertrag mit Paramount abgeschlossen hatte, reiste er für einige Jahre durch die
USA . Dort hielt er unter anderem Vorträge an verschiedenen Universitäten über seine
Filmtheorien. In Hollywood traf er Charles Chaplin, Upton Sinclair und Walt Disney. Als
von Paramount eine antikommunistische Kampagne durchgeführt wird, kommt es zum
Bruch zwischen Eisenstein und dem Filmkonzern. Er verließ daraufhin die USA und reiste
nach Mexiko, wo er einen Film über dieses Land drehen wollte. Leider gab es seit Beginn
der Produktion Finanzierungsprobleme, so dass dieser Film vorerst ein Fragment blieb. Ein
weiterer, sicher auch bedeutenderer Grund für den Künstler in seine Heimat zurück zu
kehren, war die Haftandrohung Stalins für die Mutter des Regisseurs, womit er Eisenstein
zur Rückkehr nach Russland zwingen wollte. Stalin hatte sich inzwischen von der
revolutionären Avantgardekunst abgewandt und propagierte den Sozialistischen Realismus
in der Kunst. Er erwartete von Eisenstein eine Rechtfertigung der ersten Werke und den
Nachweis der Verbindung zum Sozialistischen Realismus, da ihm die frühen Filme zu
intellektuell, künstlerisch und vor allem freiheitlich erschienen. Zurückgekommen drehte
Sergej Eisenstein schließlich seinen ersten Tonfilm ,,Bezin Wiese"
12
, welcher jedoch
aufgrund fadenscheiniger Begründungen und eines gewissen parteilichen Unmutes nicht
angenommen und aufgeführt wurde. ,,Seit acht Jahren hatte er keinen Film fertiggestellt.
Für Amerika war er zu kritisch, für die UdSSR zu experimentell, und Europa erstickte im
Faschismus. Für Eisenstein gab es 1937 keinen Platz mehr."
13
Obwohl er eine kommunistische Grundhaltung vertrat, konnte er die ständige Gängelei
durch den Staat, sein filmisches Schaffen betreffend, kaum ertragen. Fast hätte er
öffentlich seinen Unmut darüber bekundet, was mindestens das Ende seiner beruflichen
Karriere bedeutet hätte, schrieb aber, um weiterhin seiner Passion nachgehen zu können,
einen Reuebrief an Stalin. Mit dem Heldenepos ,,Alexander Newski" konnte er dann
endlich einen Tonfilm mit Hilfe von Sergej Prokofjew vollenden und zur Aufführung
bringen, wobei die Dreharbeiten allerdings streng von parteilicher Seite überwacht wurden.
Nach diesem Film begannen die Dreharbeiten zu ,,Iwan der Schreckliche", welcher in drei
Teilen entstehen sollte. Als der erste Teil vollendet war, erhielt er viel Lob von Stalin.
Dieser war mit der Darstellung des Tyrannenherrschers im zweiten Teil jedoch nicht mehr
zufrieden und lehnte seine zwiespältige Darstellung im Film ab, forderte sogar eine
12
,,Bezin Wiese" (1935- 1937, unvollendet)
13
Lenz F. : Kontinuität und Wandel in Eisensteins Film- und Theoriewerk. In: Eisenstein, S.: Jenseits
der Einstellung. Frankfurt a. M. 2005, S.437
6

Überarbeitung. Dieser kam Eisenstein aber nicht nach, da er zum einen nach Beendigung
der Montage zum zweiten Teil einen schweren Herzanfall erlitt und sich anschließend
seinen Memoiren widmete, zum anderen wollte er sich nicht mehr der Diktatur des
Systems beugen. Am 11. Februar 1948 starb er schließlich in Moskau an den Spätfolgen
des Herzinfarktes.
,,Die Welt seiner großbürgerlichen Kindheit ist untergegangen und dem Keim einer neuen
Welt gewichen. Diese Welt erhoffter Brüderlichkeit hat sich zusammen mit allen Utopien,
in deren Dienst seine Stummfilme standen, vor Eisensteins Augen zersetzt. Zwei Welten
hat er untergehen sehen und ist an den Ursprungspunkt blinder Unterdrückung
zurückgekehrt."
14
Die Erkenntnis dieser Parallele machte es ihm wahrscheinlich
unmöglich, sein filmisches Schaffen fortzusetzen, womit ihm letztendlich die
Lebensgrundlage entzogen wurde. Sergej Eisenstein arbeitete mit vielen bekannten
Persönlichkeiten wie Eduard Tisse´, Charlie Chaplin, Alexej Tolstoi und Sergej Prokofjew
zusammen und wird bis heute zu den größten Regisseuren und Filmtheoretikern gezählt.
2.2 Zum Inhalt des Films und seine historischen Hintergründe
,,Ich habe erlebt, wie neben mir selbst die Ausbeuter ergriffen wurden von jener Bewegung
der Zustimmung angesichts der Tat der revolutionären Matrosen: auf solche Weise
beteiligte sich sogar der Abschaum an der unwiderstehlichen Verführung des Möglichen
und den strengen Freuden der Logik."
15
Der Stummfilm ,,Panzerkreuzer Potemkin" erzählt die Geschichte der Ereignisse des 13.
und 14. Juni 1905
es ist die Zeit der Russischen Revolution von 1905, welche vor allem
durch den Russisch-Japanischen Krieg und den Petersburger Blutsonntag ausgelöst wurde
und sich von 1905 bis 1907 mit andauernden revolutionären Unruhen durch das damals
vom Zaren regierte Russland zog. Die Bevölkerung litt in jenen Jahren besonders unter
Arbeitslosigkeit und einer schlechten wirtschaftlichen Lage, welche hauptsächlich auf den
verlorenen Krieg gegen Japan zurückzuführen war. Japan gewann durch diesen Sieg die
vorherrschende Stellung im fernen Osten und das russische Zarenreich hatte mit einem
starken Prestigeverlust nach außen und einem Autoritätsverlust nach innen zu kämpfen.
Hinzu kamen die wachsende Unzufriedenheit seitens der Bevölkerung, welche sich
14
Lenz F. : Kontinuität und Wandel in Eisensteins Film- und Theoriewerk. In: Eisenstein, S.: Jenseits
der Einstellung. Frankfurt a. M. 2005, S.439
15
Brecht, B. In: Eisenstein, S.: Schriften 2. Panzerkreuzer Potemkin. München 1973, S. 7
7

besonders unter Intellektuellen, Studenten, Kommunisten und Anarchisten bemerkbar
machte, weswegen diese Gruppierungen auf Befehl des Zaren brutal verfolgt wurden. Am
17. März 1925 entschied das Zentralkomitee der kommunistischen Partei, einen Film in
Gedenken an den Aufstand im Jahr 1905 zu drehen, ein Abriss des Films wurde zuvor
bereits von Nina Agadshanova basierend auf Archivaufnahmen und Augenzeugenberichten
verfasst. Sergej Eisenstein wurde engagiert, das Script mit Agadshanova zu vollenden und
letztendlich den Film zu drehen. Seitens der Regierung wurde festgelegt, dass
,,Panzerkreuzer Potemkin" als patriotischer Propagandafilm eingesetzt werden sollte. Trotz
dieser engen politischen Vorgaben fühlte sich der Regisseur nicht in seiner künstlerischen
Freiheit eingeschränkt, wohl hauptsächlich deswegen, weil er überzeugter Kommunist und
Verfechter der linken Kunstfront war und zudem das Thema des Matrosenaufstandes von
1905 bereits ins Auge gefasst hatte. Im Film verzichtete er bewusst auf professionelle
Schauspieler und besetzte fast alle Rollen durch Laiendarsteller. Allein die Frau, die im
Film ihr Kind über die Treppe trägt, war als Balletttänzerin einer kleinen Wanderbühne
tätig. Dadurch wird Eisensteins Anliegen deutlich, der Zuschauer solle sich auf die
Entwicklung des Filmes konzentrieren und nicht durch irgendwelche (Schau
)Spielereien
ablenken lassen. Für ihn stellte das Schauspiel nur eine weitere Form der Montage dar,
welche sich der Gesamtheit des Filmes unterzuordnen habe.
16
Insbesondere für die
Besatzung des Potemkin wählte er nur junge, muskulöse Männer als Darsteller aus, im
Gegensatz dazu finden sich auf der Seite der Bevölkerung auch ein paar gebrechliche und
alte Menschen wieder. Diese Gegenüberstellung der beiden verschiedenen
Menschengruppen soll auch die Stärke der Genossen auf dem Schiff, die Stärke der Partei
und ihre helfende beziehungsweise beschützende Rolle gegenüber dem schwachen Volk
verkörpern. Ohne die Unterstützung der KPdSU, welche besonders für die Massenszenen
und Beschaffung von Requisiten verantwortlich war, wäre der Film sicherlich nicht zu dem
Meisterwerk geworden, als welches er bis heute noch gilt. Vor allem musste ein geeignetes
Schiff gefunden werden, welches den damaligen Kriegsschiffen und somit dem Potemkin
ähnelte. Die Dreharbeiten fanden dann schließlich auf einem halb auf dem Strand
liegenden Schiff, der ,,Zwölf Apostel", statt, welche ein Schwesterschiff des Potemkin war.
Seit der Revolution war dieses Schiff als Minenlager genutzt worden, wodurch ständig
Explosionsgefahr herrschte. Die Tatsache, dass die ,,Zwölf Apostel" halb an Land lag,
16
Vgl. Eisenstein, S.: Montage (1938). In: Eisenstein, S.: Ausgewählte Aufsätze. Berlin 1960, S. 244
8

erschwerte zusätzlich die Dreharbeiten beziehungsweise die Kameraeinstellungen, da diese
damit praktisch nur von der Landseite möglich waren, um nicht den Eindruck der Weite
des Ozeans zu verlieren. Damit die Massenszenen auf der Odessaer Treppe
schnellstmöglich gedreht werden konnten, wurde kurzerhand eine beachtliche Menge
Rotarmisten abkommandiert und als Statisten verpflichtet. Hinzu kam der enorme
Zeitdruck von nur drei Monaten, da der Film pünktlich zur Jubiläumsfeier der Revolution
des Jahres 1905 fertig sein sollte. Am 21. Dezember 1925 hatte der Film unter dem
russischen Originaltitel ,,
/ Bronenossez Potjomkin" seine
Uraufführung im Moskauer Bolschoi- Theater und wurde als offizieller Film zur Feier des
20 jährigen Jubiläums der Revolution präsentiert. Die Geschichte wurde im Film so
dargestellt, wie sie von Augenzeugen berichtet worden war. Die im folgenden kurz
beschriebene Rahmenhandlung wurde von Eisenstein im ,,Panzerkreuzer Potemkin"
umgesetzt. Die Matrosen an Bord der ,,Fürst Potemkin von Taurien", so der offizielle
Name des Schiffs, empören sich über die unmenschlichen Arbeitsbedingungen und
schlechtes Essen auf dem Panzerkreuzer. Den Meuterern wird daraufhin vom Kapitän die
Erschießung angedroht. Unter dem Exekutionskommando befinden sich auch Kameraden
der Verurteilten, welche den Schießbefehl verweigern und sich den Meuterern anschließen.
Es kommt zum Kampf zwischen den Befehlshabern des Potemkin und der Besatzung.
Schließlich gewinnen die Aufständischen die Oberhand, allerdings wird ihr Anführer
Wakulintschuk getötet. Mit der Gewalt über das gekaperte Schiff nimmt die Mannschaft
Kurs auf Odessa um anzulegen. Sie bestatten ihren Anführer und finden gleichzeitig
Beistand und Solidarität bei der Bevölkerung. Diese versorgt die Matrosen mit
Lebensmitteln und setzt sich gleichzeitig für die Genossen ein. Daraufhin wird die Menge
von der regierungstreuen Armee vor den Augen der Besatzung des Potemkin, welche in
dieser Situation nicht fähig ist sofort einzugreifen, niedergemetzelt. Der Panzerkreuzer
eröffnet das Gegenfeuer und wird deshalb von der zaristischen Flotte gejagt. Als die
Regierungsflotte den Befehl zum Feuern gibt, verweigern die eigenen Matrosen jedoch den
Befehl und lassen den Panzerkreuzer Potemkin passieren. Dieser letzte Teil des Film
wurde allerdings nicht authentisch wiedergegeben, da in der wahren Geschichte die
Matrosen des Panzerkreuzers festgenommen und unter Arrest gestellt wurden. Eisensteins
Aufbau des Films kommt dem einer Tragödie gleich und teilt sich entsprechend in fünf
Akte, wobei jeder Akt einen selbstständigen Titel trägt.
9

1. Akt ,,Menschen und Maden"
17
­ Einleitung der Handlung. Die Lage auf dem
Panzerkreuzer. Aufruhr unter den Matrosen, da sie madiges Fleisch vorgesetzt bekommen.
2. Akt ,,Das Drama auf dem Schiff"
18
­ Alle Mann an Deck! Die Weigerung der
Matrosen, die Suppe mit dem madigen Fleisch zu essen. Die Matrosen werden mit einer
Zeltbahn abgedeckt, bereit zur Exekution. Das Exekutionskommando weigert sich auf die
Genossen zu schießen. Der Aufstand. Die Abrechnung mit den Offizieren. Wakulintschuk,
der Anführer der Aufständischen, kommt bei den Kämpfen zu Tode.
3. Akt ,,Ein Toter ruft auf"
19
­ Die Leiche des Genossen Wakulintschuk im Odessaer
Hafen. Trauer und Tränen über den Toten. Die Aufständischen sammeln sich. Die rote
Fahne wird gehisst.
4. Akt ,,Die Treppe von Odessa"
20
­ Verbrüderung zwischen Festland und Panzerkreuzer.
Einheimische überbringen Lebensmittel an den Potemkin. Das Blutbad auf der
Hafentreppe. Der Panzerkreuzer feuert zurück auf den Generalstab.
5. Akt ,,Die Begegnung mit dem Geschwader"
21
­ Eine Nacht gespannter Erwartung. Die
Begegnung. Die Weigerung des Geschwaders zu schießen. Der Panzerkreuzer fährt
siegreich durch das Geschwader.
Trotz der Teilung in diese fünf Akte wirkt der Film als ein in sich geschlossenes,
zusammenhängendes Kunstwerk. Dies ist hauptsächlich auf das von Eisenstein hochgradig
strukturierte und geplante Konzept zurückzuführen. Obwohl er genaue historische
Recherchen durchführte, um dem Film die Authentizität jener Tage zu verleihen, stand für
ihn doch die Darstellung der Gefühlswelt der Beteiligten und das Hervorrufen solidarischer
Gefühle mit den Aufständischen beim Zuschauer im Vordergrund, denn ,,(w)ichtig ist die
emotionale Überzeugungskraft und nicht die dokumentarische Genauigkeit"
22
.
Die erste öffentliche Aufführung fand am 19. Januar 1926 im Moskauer Filmkunsttheater
statt
.
Der im Stil der kommunistischen Propaganda gehaltene Film wurde in den nächsten
Jahren mehrfach in verschiedenen Ländern verboten beziehungsweise zensiert, da er der
Meinung der jeweiligen zensierenden Gewalt nach zu aufrührerisch und anarchistisch
wirkte. Zur Weltausstellung in Brüssel im Jahre 1958 wird ,,Panzerkreuzer Potemkin" von
17
Film ,,Panzerkreuzer Potemkin"
18
Ebd.
19
Ebd.
20
Ebd.
21
Ebd.
22
Eisenstein, S.: Schriften 2. Panzerkreuzer Potemkin. München 1973, S. 17
10

der internationalen Filmkritik nahezu einstimmig mit dem Prädikat des besten Filmes aller
Zeiten ausgezeichnet.
11

3. Sergej Eisensteins Theorien der Montagetechniken und
kompositorische Kernzüge
3.1 Warum Montage ?
Unter dem Begriff ,,Montage" versteht man ganz allgemein den Filmschnitt, welcher eine
Strukturierung des Filmes ermöglicht. Einzelne Einstellungen werden bei der Montage in
der vom Regisseur vorgegebenen Reihenfolge aneinander ,,montiert" und ergeben am Ende
eine filmische Realität, die vom Zuschauer erlebt wird.
23
Warum gibt es die Montage? Zur Beantwortung dieser Frage lassen sich zwei Gründe
beziehungsweise filmorganisatorische Bedingungen anführen. Erstens steht dem Regisseur
nur ein endlicher Filmstreifen zur Verfügung, dessen Aufnahmekapazität dementsprechend
beschränkt ist. Zweitens muss der Film selbst auf eine gewisse Länge begrenzt werden, um
die Geduld und Aufmerksamkeit des Zuschauers nicht über Gebühr zu strapazieren. Zur
Erfüllung dieser beiden Bedingungen ist der Regisseur gezwungen verschiedene Stücke
Film aneinander zu montieren.
24
Die Epoche, in welcher Sergej Eisenstein seine
Filmtheorien aufstellte, war die Zeit der Anfänge des Films und damit insbesondere auch
die Zeit der Anfänge der Montage. Schon bevor sich der Regisseur mit den Theorien der
Montage beschäftigte, wurde erkannt, dass durch das Aneinanderfügen von zwei
beliebigen Stücken Film zwangsläufig ein neues, drittes und unabhängiges Stück entsteht.
Dieses Gegenüberstellen der verschiedenen Stücke Film galt für den Regisseur Eisenstein
als die eigentliche Kunst des Filmemachens. ,,Hier höre ich schon deutlich die Frage
meiner unvermeidlichen Gegner: ,Was aber nun, wenn wir ein fortlaufendes längeres Stück
Film mit dem Spiel eines Schauspielers ohne alle Montageunterbrechungen vor uns
haben?'"
25
In diesem Fall solle man sich von der Vorstellung, die Montage sei immer nur
im Schnitt zu suchen, trennen. Auch das Spiel des Schauspielers ist eine Art von Montage,
da der Akteur auf der Bühne oder im Film zum Beispiel verschiedene emotionale Zustände
darstellt. ,,Teil A, der den Elementen des zu entwickelnden Themas entnommen ist, und
Teil B, der aus der gleichen Quelle stammt, erzeugen in der Gegenüberstellung jene
bildliche Verallgemeinerung, in der der Inhalt des Themas am markantesten verkörpert ist.
[...] denn das durch sie entstehende, im Voraus erdachte, einheitliche verallgemeinerte Bild
23
Vgl. Böhringer, J.: Kompendium der Mediengestaltung. Berlin 2003, S. 208
24
Vgl. Eisenstein, S.: Montage (1938). In: Jenseits der Einstellung. Frankfurt a. M. 2005, S. 158 ff.
25
Ebd., S. 170
12

ist entscheidend, während die Zugehörigkeit seiner einzelnen Komponenten zum einen
oder anderen Ausdrucksbereich keine entscheidende Rolle spielt."
26
Eisenstein, der
ursprünglich vom Theater her stammte, war der festen Überzeugung, dass der Film eine
neue Kunstform neben dem Theater darstelle. Besonders die Theorie der Montage, welche
im Film wesentlich stärker als künstlerisches Mittel eingesetzt werden kann als im Theater,
beschäftigte ihn über mehrere Jahrzehnte. Die Tatsache, dass er erkannte, dass sich die
Montage nicht nur auf den Filmschnitt beschränkt, sondern in vielen anderen Bereichen
wie zum Beispiel der Musik und Synchronisation wiederzufinden ist, war enorm wichtig
für sein filmisches Schaffen
und verhalf ihm zu einem besseren Überblick über diese
Thematik. Fest steht, dass er seine Montagetechniken und alle damit verbundenen Faktoren
zu jeder Zeit neu überdacht und verbessert hat.
Im folgenden wird nun anhand der wichtigsten Faktoren, welche den eigentlichen Stil
Eisensteins ausmachten, erläutert, wie und unter welchen Gesichtspunkten der Regisseur
seine Filme schuf und mit welchen Mitteln er sie zu den Kunstwerken entwickelte, die sie
bis heute zweifellos sind.
3.2 Sergej Eisenstein und die Montage der Attraktionen
,,Eine Attraktion ist jedes aggressive Moment des Theaters, das heißt jedwedes seiner
Elemente, das den Zuschauer einer sinnlichen oder psychologischen Einwirkung aussetzt,
welche ihrerseits experimentell erprobt und mathematisch auf bestimmte emotionale
Erschütterungen des Rezipierenden hin durchgerechnet wurde, wobei diese in ihrer
Gesamtsumme einzig und allein die Möglichkeit einer Wahrnehmung der ideell
inhaltlichen Seite des Vorgeführten ­ der letztendlich ideologischen Aussage bedingen.
[...]"
27
Schon in seiner ersten Schrift ,,Montage der Attraktionen", welche sich aber noch
hauptsächlich mit dem Theater befasst, erklärte Eisenstein den Zuschauer zum Grundstoff
des Theaters. Dazu schrieb er: ,,Die Formung des Zuschauers in eine gewünschte
Zielrichtung (Stimmung) ist Aufgabe"
28
. Die Attraktionsmontage, wie sie von Eisenstein
später genannt wurde, soll dieses Ziel erreichen, indem sie mit Hilfe verschiedener
26
Eisenstein, S.: Die Vertikalmontage (1940- 41). In: Jenseits der Einstellung. Frankfurt a. M. 2005,
S. 238
27
Eisenstein, S.: Montage der Attraktionen (1923). In: Jenseits der Einstellung. Frankfurt a. M. 2005,
S. 10
28
Eisenstein, S.: Das dynamische Quadrat. Leipzig 1988, S. 11
13

Elemente den Zuschauer psychologisch beeinflusst. Als er 1945 seinen Werdegang als
Regisseur beschreibt, äußert er sich dazu folgendermaßen: ,,Hätte ich damals mehr über
Pavlov gewusst, ich hätte die Theorie der Montage der Attraktionen als Theorie der
künstlichen Reizerreger bezeichnet" und fügt hinzu: ,,es ist interessant, dass hier der
Zuschauer in der Eigenschaft eines entscheidenden Elements in den Vordergrund trat."
29
Der Regisseur setzt also für den Zuschauer im Film oder Theater bestimmte Reize, die
Eisenstein`schen ,,aggressiven Momente"
30
, und erwartet ein von ihm eingegrenztes
Spektrum an Reaktionen des Zuschauers. Die Zielgruppe eines Films oder Theaterstücks
ist also tatsächlich mitbestimmend für die Art der Montage der einzelnen Teile. Die
hauptsächlich für das Theater geschaffene Attraktionsmontage sollte den Zuschauer durch
,,aggressive", man könnte sagen spannende oder auch bedrohliche Momente wach rütteln,
ähnlich einer in einem Zirkus dargebotenen artistischen Nummer, in der zum Beispiel ein
Trapezkünstler sein Gegenüber fangen muss. In solchen Momenten spannt jeder
Beobachter, egal ob nun bewusst oder unbewusst, seinen Körper an und versetzt sich in die
Lage des Darstellers, er versucht gewissermaßen, dem Trapezkünstler beim Fangen zu
helfen. Diese Attraktion wurde von Sergej Eisenstein als ein selbstständiges und primäres
Element einer Aufführung bezeichnet ­ als ein Bestandteil. ,,Als ,Bestandteil' deshalb, weil
schwer die Grenze festzustellen ist, wo die Anziehungskraft des Edelmuts eines Helden
(ein psychologisches Element) aufhört und das persönliche Moment seines Charmes (das
heißt seine erotische Wirkung) einsetzt [...]"
31
.
Durch diese Erkenntnisse war es dem Regisseur möglich, völlig neu an die Konzeption
eines Theaterstücks oder Films heranzugehen. Es muss nicht mehr nur statisch erzählt und
wiedergegeben werden, das heißt eine Geschichte muss nicht nur einen linearen Verlauf
mit einer fest zu Grunde liegenden Geschichte haben, welche man dann nur in Bilder
überträgt. Das neue daran ist, dass man die Geschichte mit Hilfe von Wirkungen gestalten
und diese Wirkungen beziehungsweise Attraktionen logisch mit der Handlung verknüpfen
kann. Allerdings sollte dieser gesamte Komplex ein Ziel haben und auf einen thematisch
festgelegten Endeffekt zuarbeiten. Wichtigstes Element für die Attraktionsmontage ist aber
die Psyche des Menschen, denn nur durch sie kann der gewollte Effekt in Form von
29
Eisenstein, S.:
Schriften 2. Panzerkreuzer Potemkin. München 1973, S. 17
30
Monaco, J.: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Medien.
Mit einer Einführung in Multimedia. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 430
31
Eisenstein, S.: Montage der Attraktionen (1923). In: Jenseits der Einstellung. Frankfurt a. M. 2005,
S. 11
14

Assoziationsketten entstehen, welche sich durch visuelles und akustisches Verfolgen einer
bestimmten Szene im Kopf des Zuschauers entwickeln. Dieser Vorgang bringt allerdings
die Konsequenz mit sich, dass zum Beispiel bei einer Szene, in der ein Dieb von einem
Offizier verfolgt wird und dieser auf ihn feuert, im Kopf eines Offiziers, welcher den Film
betrachtet, etwas völlig anderes vorgeht als bei einem Dieb, welcher auch zufällig an der
Vorstellung teilnimmt. Eine gute Kenntnis menschlicher Denkmuster sollte also für einen
Regisseur unumgänglich sein, wenn er tatsächlich den gewünschten Effekt beim Zuschauer
erreichen will. Hier schließt sich wiederum der Kreis zu Eisensteins Interesse an Pavlov
und dessen ,,Theorie des Klassischen Konditionierens".
32
3.3 Sergej Eisenstein und die Intellektuelle Montage
Diese aus der Attraktionsmontage abgeleitete Theorie soll den Zuschauer nicht nur
emotional ansprechen, sondern auch intellektuell weiterführen. Das Ziel dieser neuen
Montageform Eisensteins ist es, den Zuschauer beim Betrachten des Stückes oder Filmes
zu neuen Erkenntnissen zu führen, welche einher gehen sollen mit dem Bewusstsein, dass
Handeln im Sinne der Gesellschaft und ihrer Bedürfnisse in der Verantwortung eines jeden
Menschen liegt. Der Regisseur stellt also mit der Intellektuellen Montage zugleich auch
eine moralische Forderung an den Zuschauer. Der Film gibt dabei keineswegs eine Lösung
oder ein konkretes Ziel vor, wie dies bei der Attraktionsmontage der Fall war, sondern
erwartet vom Kinobesucher, dass dieser sich selbständig und kritisch ein eigenes Urteil
fällt, welches die Grundlage für eine mögliche Lösung der Handlung bildet. Gerade dieses
Anregen des Publikums zu kritischem Nachdenken über Bestehendes war es, was
Eisenstein später bei Stalin in Ungnade fallen ließ. Im ,,Panzerkreuzer Potemkin" wird
diese Montageform kaum angewandt, da sich die Attraktionsmontage weitaus besser für
den Propagandafilm eignet und Eisenstein zu diesem Zeitpunkt erst beginnt, über
Intellektuelle Montagetechniken nachzudenken.
32
Der russische Psychologe Pavlov hat in seiner Theorie des klassischen Konditionierens mit Hilfe von
Experimenten nachgewiesen, dass ein Mensch durch das Zusammenspiel verschiedener Reize neue
Verhaltensweisen und damit Gewohnheiten ausprägt. (Vgl. Hobmair, H.: Psychologie. Köln 1997,
2. Auflage, S. 209 ff.)
15

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2006
ISBN (PDF)
9783863416829
ISBN (Paperback)
9783863411824
Dateigröße
6.3 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
SAE Institute Leipzig
Erscheinungsdatum
2013 (Juli)
Note
1
Schlagworte
Filmkomposition Schnitttechnik Regie Bildkomposition Filmtheorie
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