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Jagen oder gejagt werden? Beziehungsanalyse und Darstellung der psychischen Dynamik der Liebe

©2010 Bachelorarbeit 54 Seiten

Zusammenfassung

Das vorliegende Werk befasst sich mit Martin Walsers Roman Jagd, erschienen 1988, und untersucht die darin beschriebenen zwischenmenschlichen Beziehungen mit Fokus auf die Dynamik der Paarbindungen.
Martin Walsers Roman Jagd ist der mittlere Roman aus der Trilogie um die Familie Zürn. Ihm voraus ging 1980 Das Schwanenhaus und bedeutend später folgte Der Augenblick der Liebe im Jahr 2004. Er beschreibt einige Tage aus dem Leben des Immobilienmaklers Gottlieb Zürn und die Begegnungen mit seinen Mitmenschen in diesem Zeitraum. Im Handlungsverlauf wechselt der Protagonist immer wieder die Rolle zwischen Jäger und Gejagtem.
Der Handlungsschwerpunkt in Walsers Roman Jagd liegt in der gegengeschlechtlichen Interaktion, aber auch der damit verbundenen individuellen Entwicklung des Protagonisten Gottlieb Zürn. In ihrer Analyse geht die Autorin daher von einem psychologischen Deutungsansatz aus, mit dem sie den Figuren entgegentritt. Sie untersucht die situationsbezogenen Verhaltensmuster, wobei im Vordergrund die Paarbeziehung, bzw. die sexuelle Anziehung stehen. Rohland folgt dabei dem tiefen Innenblick, den Walser dem Leser vorgibt um das Gefühlsleben der Charaktere zum Ausdruck zu bringen. Dabei zieht sie vor allem den Psychoanalytiker und Paartherapeuten Wolfgang Schmidbauer zu Rate. Auch ist bedeutend, welche psychischen Zustände der Protagonist durchlebt, auf deren Hinblick das männliche Wesen zu analysieren versucht wird.
Literaturwissenschaftlich wurde der Roman bisher kaum untersucht, bietet aber aufgrund seiner intensiven Darstellung der geschlechtlichen Beziehungen ausreichend Untersuchungsstoff. Das vorliegende Werk nimmt diesen Ansatz auf und bietet so neue Forschungsanstöße.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhalt

1. Einleitung
1.1. Inhaltlicher Überblick

2. Anna Zürn
2.1. Charakterdarstellung
2.2. Das Eheleben Anna und Gottliebs – Rollentausch als misslungene Konfliktlösung

3. Gisela Ortlieb
3.1. Charakterdarstellung
3.2. Das Prinzip der heimlichen Liebschaft

4. Gottlieb Zürn
4.1. Verlauf einer Krise

5. Liebesspiel zu Dritt

6. Liliane Schönherr - eine weibliche Komposition

7. Familienleben der Zürns – Reibungspunkte und Familienbande

8. Die Rolle der Julia
8.1. Das Motiv der Jagd

9. Resümee

10. Literaturverzeichnis
10.1. Literarische Quellen
10.2. Online Quellen

1. Einleitung

Der Roman „Jagd[1] “ ist der mittlere Roman aus der Trilogie um die Familie Zürn. Ihm voraus ging 1980 „Das Schwanenhaus“ und bedeutend später folgte „Der Augenblick der Liebe“ im Jahre 2004.

Wie in allen mir bekannten Romanen Martin Walsers ist der Protagonist männlich. Hier ist es der Familienvater und Immobilienmakler Gottlieb Zürn, der sich in den mittleren Jahren befindet. Durch die ihn begleitende Perspektive erhalten wir eine subjektiv gefärbte Darstellung der Ereignisse, insbesondere innerhalb seiner Familie. Durch den Einblick in sein Seelenleben können wir seinen Gedankengängen und Gefühlsbewegungen folgen. Diesem psychischen Teil Gottliebs werde ich mich widmen, um seine Darstellung im Roman und seine persönliche Entwicklung zu untersuchen. Das Hauptaugenmerk möchte ich dabei auf seine Auseinandersetzung mit den bedeutendsten Frauenfiguren lenken. Es handelt sich dabei um seine Ehefrau Anna Zürn und seine Tochter Julia, die vorwiegend im Zusammenhang zum Familienleben auftreten. Desweiteren sind Gisela Ortlieb, ein Feriengast, und Liliane Schönherr, eine Kundin, wichtige Figuren, die auf Gottlieb durch ihren weiblichen Reiz Einfluss nehmen. Gottlieb wird von diesen Frauen in verschiedene Richtungen bewegt, wodurch auch die Handlung von ihm als Protagonisten vorwärts getragen wird. Er selbst ist zwar der Handelnde, wird aber von den weiblichen Figuren in seinen Entscheidungen und seiner Entwicklung beeinflusst. Gleichzeitig sind die Aktionen der Frauen auf Gottlieb, bzw. ihre jeweiligen Partner, gerichtet. Es geht also um die Interaktion der Partner in Beziehungen und ihren Umgang miteinander. Die dargestellten Frauen sind starke Persönlichkeiten, die aber unter ihren Beziehungen zu Männern leiden. Das Agieren und Funktionieren der Familie selbst stehen vordergründig.

Ich habe mich für die psychologische Herangehensweise entschieden, da ich diese für die geeignete Basis halte, um die Handlungsmotivationen der Charaktere zu untersuchen. Zudem erfährt der Leser in dem Roman selbst einiges über die seelischen Zustände der einzelnen Personen, wodurch sich eine psychologische Untersuchung anbietet. Dabei gehe ich auf die unterschiedlichen Verhaltensweisen und psychischen Strategien von Männern und Frauen ein. Ich arbeite in meiner Untersuchung nah am Text, da ich die psychischen Entwicklungen der Figuren analysieren möchte.

Zunächst stelle ich einen kurzen Abriss der Handlung voran, um dem Leser einen Überblick über das Geschehen zu geben. Im weiteren Verlauf werde ich mich den einzelnen Frauenfiguren annähern und ihre Wirkung auf Gottlieb projizieren. Die Dynamik im Familienleben werde ich separat darstellen, da diese zu den Haupthandlungspunkten gehört.

Abschließend möchte ich auf das Motiv der Jagd und seine metaphorische Anwendung eingehen.

Menschen sehnen sich nach dem besten Freund, dem Seelenzwilling, der Person, mit der sie Erlebnisse teilen können. […] Dieses Glück der Abhängigkeit ist teuer erkauft.

Wolfgang Schmidbauer

1.1. Inhaltlicher Überblick

Der Roman erzählt eine Passage aus dem Familienleben der Zürns und der persönlichen Erlebnisse des Protagonisten Gottlieb. Anna und Gottlieb Zürn sind bereits seit Jahrzehnten verheiratet und haben insgesamt vier Töchter. Die beiden jugendlichen Töchter Regina und Julia wohnen noch zu Hause, Magda und Rosa sind erwachsen und leben in Köln und Hamburg.

Anna und Gottlieb führen zusammen ein Immobiliengeschäft, wobei Gottlieb die Objekte einkauft und Anna diese weitervermittelt. Gottlieb hat das Unternehmen vor Jahren aufgebaut, ist allerdings heute nicht mehr in der Lage, den Verkauf zu besorgen.

In den Sommerferien nehmen die Zürns Urlauber in ihrem Eigenheim am Bodensee auf. Anna besteht darauf, dass am ersten Abend ein Umtrunk stattfindet, um die Gäste zu begrüßen, sie kennenzulernen und für ihr Wohlbefinden zu sorgen. Gottlieb nimmt widerwillig an diesen Gesellschaften teil, während Anna alles Nötige vorbereitet.

Dieses Jahr sind die ersten Feriengäste das Ehepaar Gisela und Stefan Ortlieb. Gisela ist eine attraktive Frau mit einer ausgeprägten Persönlichkeit. Vom ersten Augenblick an zeigt sie reges Interesse an Gottlieb und beginnt, mit ihm zu flirten. Gottlieb ist zunächst scheu, fühlt sich aber auch geschmeichelt.

Die Zusammenkunft zieht sich unerwartet bis in die späte Nacht hinein und alle Beteiligten kommen sich näher. Diese Begegnung endet weniger friedlich nach einem gemeinsamen Bad im an das Grundstück angrenzenden See, da das sexuelle Interesse von Gisela und Gottlieb aneinander sich hier deutlich darbietet. Dadurch wird die Eifersucht des jeweiligen Ehepartners geweckt.

Am nächsten Morgen sind die Ortliebs vorzeitig abgereist und auch Anna hat die Nacht nicht daheim bei ihrem Gatten verbracht. Von da an vermeidet sie jede Begegnung mit Gottlieb und das Eheleben ist offenkundig zerrüttet. Umso mehr bemüht sich Gisela um den Kontakt mit Gottlieb und ruft ihn fast täglich an. Bei jedem Telefonat drängt sie auf ein Treffen für ein Stelldichein. Gottlieb weicht aus, scheut zurück und findet immer wieder Gründen aus denen er nicht zu ihr kommen kann.

In diese Situation platzt Julia, zurzeit das Problemkind der Familie, mit einem aufgeschobenen Konflikt zwischen ihr und ihrer Mutter. Die häufigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Frauen bewegen sich auf der Ebene der typischen Reibepunkte zwischen Eltern und pubertierenden Jugendlichen. Es wird keine Lösung gefunden und so kehrt Julia eines Nachmittags nicht mehr aus der Schule nach Hause zurück.

Die Eltern vermuten Julia im nahegelegenen München und Gottlieb macht sich auf den Weg, um seine Tochter zu suchen. Er nutzt diese Gelegenheit, um sich mit der in München wohnhaften Gisela zu treffen. Diese hat eine sexuelle Begegnung zu Dritt geplant, die aber erfolglos endet, da es zu keiner befriedigenden Lösung kommt.

Zwischenzeitig verlässt Gottlieb München, um ein Geschäft in Frankfurt am Main mit der Kundin, Liliane Schönherr, abzuschließen, die ihm die sexuelle Erfüllung bietet.

Als er nach München zurückkehrt, hat Gottlieb einen sicheren Hinweis auf den Verbleib seiner Tochter. Diese ist aber bereits selbstständig, in Begleitung ihrer neuen Bekannten Lissi, abgereist und so folgt Gottlieb ihr zurück in die Heimat.

Die Freundin Julias stört allerdings eine harmonische Wiedervereinigung der Familie und Anna fordert ihr Verschwinden. Bei einem Unfall, an dem Lissi beteiligt ist, wird das Kaninchen der neuen Gastfamilie getötet und der Störenfried verlässt von selbst das zu Hause der Zürns.

2. Anna Zürn

2.1. Charakterdarstellung

Anna Zürn, und sie wird im gesamten Roman immer nur Anna genannt, begegnet uns zuerst mit ihrer Liebe und Hingabe zu den Blumen. Sie widmet sich ihrem Garten jeden Tag für ein paar Stunden und lässt ihn von April bis November erblühen. Dieser prachtvolle Garten ist es, der das Haus umschließt. Es scheint, als wäre dies ein Sinnbild für die Liebe und Fürsorge, mit der sie sich auch um die Familie und die Geschäfte kümmert.

In dem gemeinsamen Immobilienunternehmen hat sie den Verkauf der Objekte übernommen und ist dabei sogar erfolgreicher, als ihr Ehemann zuvor. Ihr Vorgehen ist dabei immer kundengerecht. Sie würde nie ein Haus an eine Familie verkaufen, das nicht zu ihnen „[…] finanziell, psychologisch, biologisch, sozilogisch[2] “ passt. Sie hat die Baubiologie[3] für sich entdeckt und „[…] als ihre Überlegenheit offenbar geworden war, in Einsiedeln einen Kurs im Pendeln gemacht.[4] “. Auch hiermit zeigt sich ihre Verbundenheit zu der Natur. In dieser Hinsicht hat sie ihr Gespür für die Bedürfnisse anderer in ihren Beruf hineingetragen.

Eine äußerliche Beschreibung von Anna ist nicht gegeben. Sie wirkt zwar auf Gottlieb durchaus anziehend, doch es werden keine Details genannt. Dies wird wohl darauf zurückzuführen sein, dass es sich um Gottliebs Ehefrau handelt, die er jeden Tag sieht und die er in- und auswendig kennt. Wir erfahren jedoch, dass sie 48 Jahre alt ist.

Sie ist eine selbstständige, starke Frau, die nicht nur ihr berufliches Vorankommen, sondern auch das Familienleben und die alltäglichen Pflichten im Haushalt bewerkstelligt. Anna organisiert dabei alles bewusst, um die Herausforderungen meistern zu können. Es wird allerdings deutlich, dass sie mit den vielen verschiedenen Aufgaben überfordert ist.

Hiermit stellt sich die Frage, ob Anna ein Opfer der Emanzipation ist. Sie hat das Immobiliengeschäft zur Hälfte übernommen, wobei nach Gottliebs Darstellung der Verkauf noch die aufwändigere Tätigkeit ist. Zudem kümmert sie sich um das Haus, die Feriengäste und hält die Familie zusammen. Sie ist demnach eine emanzipierte Frau und hat sich von der traditionellen Rollenvorstellung gelöst. Doch wie viele Frauenaufgaben hat Gottlieb übernommen? Ihr Mann ist mit all diesen Angelegenheiten überfordert und zieht sich still zurück.

Er bietet Anna keinen Halt mehr, „sie wisse ja, daß sie keine Hilfe habe, daß hier niemand begreife, was sie mache … Es ging oft um Hauswirtschaftliches, das ihr, weil sie soviel außer Haus zu tun hatte, durch Gottlieb und die Kinder hätte erleichtert werden müssen.[5] “.

Besonders deutlich wird dies in den Auseinandersetzungen mit ihrer Tochter Julia, die sie ebenfalls alleine lösen muss. „Und Anna hatte ebenso oft und laut geschrien, daß sie keine Hilfe habe, daß sie es nicht mehr aushalte, daß sie so nicht mehr weiterleben wolle.[6] “. Hier tritt Anna als eine sensible Frau hervor, die sich von ihrer Familie, insbesondere Gottlieb, allein gelassen fühlt. Ihre Verzweiflung wird sichtbar, obwohl sie jeden Tag aufs Neue kämpft. Es mag diese Verzweiflung sein, die uns keinen Eindruck ihrer Lebensfreude erlaubt.

Eine mögliche Gefahr einer solch misslungenen Emanzipation mag sein, dass sie sich selbst nicht mehr bewusst als Frau wahrnimmt. Gottlieb findet seine Frau sexuell anziehend, doch „Anna begriff offenbar überhaupt nicht, wie sie wirkte. In der vollen Morgensonne, nackt in ihrem schwarzdurchsichtigen Nachthemd.[7] “. Die Ursache ist, dass sich die übernommenen männlichen Rollenelemente nicht mit der weiblichen Identität vereinbaren lassen. Ich orientiere mich hier an der Auffassung von Wolfgang Schmidbauer[8], wonach Identität eine Emanzipation nach innen ist, die ein Gefühl der inneren Kontinuität und des Eins-sein mit sich bedeutet. Es ist ein Bewusstsein für die eigene Persönlichkeit und die sozialen Rollen, in denen sich die Persönlichkeit selbst verwirklicht. Anna ist Mutter, Ehefrau, Hausfrau und zugleich eine erfolgreiche Immobilienmaklerin. Ihr Ehegatte sollte sie entlasten, ihr Hilfestellung geben und sich die Aufgaben mit ihr teilen, doch „[…] Gottliebs Lieblingstätigkeit, so zu sitzen. Nichtstun war seine Lieblingstätigkeit.[9] “. Und Anna ist demgegenüber machtlos.

Ihr wird die Gartenarbeit auch so am Herzen liegen, da sie hier ungestört ihrer Leidenschaft nachgehen kann und somit mehr als nur einen Ausgleich zum Alltagsstress bietet. Ihre Blumenliebe grenzt sich auch deutlich von Gottliebs Wesenszügen ab und zeigt auf, worin sich die beiden im Alltag unterscheiden. Der Garten bietet ihr eine Möglichkeit, ihre weibliche Seite ausleben zu können. Eine Parallelität ist hier verborgen, denn Blumen gelten als feminine Lebewesen in deren Empfindsamkeit sich Anna einfühlt und ihren Bedürfnissen nachkommt. Aber auch hier zeigt sich bereits Annas Bestreben alles zu Organisieren und zu Lenken, „Dann gibt Anna dem Mohn den Einsatz für ein kurzes, aber schmachtendes Gastspiel. […] Die blaue Siedlung Rittersporn wird aufgerufen, die Lupinen entzündet, die Königskerze errichtet, und endlich wird den Lilien der Einsatz gegeben, […].[10] “. Hier weiß Anna ihre Ordnungsbestimmtheit mit den Bedürfnissen ihrer Außenwelt zu vereinen und zaubert so jedes Jahr ein Blumenparadies.

In der Familie und der Ehe ist ihr Einfühlungsvermögen jedoch nicht mehr wiederzufinden. Auch schadet hier ihr Bestreben nach Kontrolle dem Zusammenleben. Sie eignet sich mit Selbstverständlichkeit das Leben der Anderen an, wie sie es auch tut nachdem Tochter Julia verschwunden ist und sie in Sorge ihre privaten Sachen durchsucht. Zu groß scheinen die Belastung und die damit verbundene Frustration über die mangelnde Entlastung zu sein um sich noch die Bedürfnisse der anderen Familienmitglieder vor Augen zu führen.

2.2. Das Eheleben Anna und Gottliebs – Rollentausch als misslungene Konfliktlösung

Anna und Gottlieb sind gegensätzliche Charaktere, was aus psychologischer Betrachtung eine logische Schlussfolgerung in sich trägt. Man trifft die Partnerwahl nach einem Ideal, nach dem was man selbst nicht ist, nicht sein kann. Die Bildung von Idealen ist ein psychologisches Grundmuster, das bereits in unserer Kindheit aufgebaut wird und notwendig ist, um eine stabile Persönlichkeit entwickelt zu können. Wir tragen Ideale unserer Partner- und Beziehungsvorstellungen in uns und übertragen diese auf die Wirklichkeit. Eine Beziehungskriese bedeutet immer auch, dass die Idealisierung nicht mehr mit der Realität vereinbar ist. Gottliebs negative Entwicklung, die der Erzählung im Roman selbst vorausgeht, aber immer wieder angedeutet wird, könnte Annas Idealbild getrübt haben. Es geht aber auch darum die Rollenerwartungen des anderen zu erfüllen, wobei die damit unvereinbaren Teile auffallen und abgelehnt werden.

Gottlieb ist kein bestimmender Ehemann und Vater, er überlässt diese Angelegenheiten gerne seiner Frau.

Er baut auf Anna und ihre Stärke, es ist „[…] eine Hingezogenheit, eine Abhängigkeit, eine Hörigkeit. Die Entfernung die durch Annas Verhalten zwischen ihnen entstanden war, fühlte er als eine Sehnsucht, die in Feindseligkeit umschlagen wollte.[11] “.

An der immer wieder gewählten Vergangenheitsform lässt sich erkennen, dass dieser Entwicklungsprozess zwischen den beiden bereits abgeschlossen ist. Auch das Erwachsenwerden der Kinder führt zu einer Veränderung der Gesamtsituation im Familienleben. Gottlieb und Anna müssen ihre Beziehung neu organisieren, jetzt wo die Kinder nicht mehr als Bedürfnisträger fungieren. Der Rollentausch kann eine Folge dieser Neuordnung sein, scheitert aber in sich, da die Probleme nicht gelöst werden.

Gottlieb ist also Anna in jeder Hinsicht untergeordnet und dies wird auch hier auf der emotionalen Ebene ausgedrückt. Daraus lässt sich erneut die misslungene Emanzipation ableiten. Oft wird die Beziehungsform einfach beibehalten und nur die Rollenverhältnisse gewechselt. Die Position des Unterdrückers und des Unterdrückten werden nur vertauscht. Es kommt letztlich zu einer Rivalität zwischen dem Mann und der Frau um die aktive Rolle[12].

Gottlieb versucht in der Sexualität den aktiven Part zu übernehmen, indem er immer wieder die Nähe sucht und Anspielungen macht. So auch, als er seine Frau in einer erotischen Pose fotografieren möchte, doch „ [d]a sie ihm den Apparat verbot, sollte sie sich sein Interesse eben unverhüllt gefallen lassen. Sie bemerkte, worauf dies zutrieb. Er bemerkte, daß sie es bemerkte. Stand eine Machtprobe bevor?[13] “. Zwar ist Gottlieb von Anna abhängig, doch wünscht er sich auch die Möglichkeit, Nähe und Liebe nach seinen Bedürfnissen ausleben zu können. Sie lässt dies aus Mangel an Einfühlungsvermögen nicht zu, und verhindert es, ihr näher zu kommen. Sie beschäftigt sich weiterhin mit ihren Blumen und nutzt diese, um sich von Gottlieb abzuschirmen. Die Ansprüche des Partners sind oft schwer zu erkennen, wenn sie nicht sexueller Natur sind. Zu den Urbedürfnissen zählen auch „kindliche Wünsche nach Halt, nach Verschmelzung mit etwas Höherem[14] “, die sich oft hinter sexuellen Bedürfnisausdrücken verbergen. Diese erkennt Anna nicht hinter Gottliebs Annäherungsversuchen.

In diesem Zustand muss die Sexualität zwischen den Ehepartnern scheitern. Sexualität ist eine Einheit aus Körper und Psyche und ein Ausdrucksmittel der zwischenmenschlichen Kommunikation, an der das Ehepaar Zürn immer wieder scheitert. Da sich Anna möglicherweise auch nicht mehr bewusst als Frau wahrnimmt, sondern nur noch darauf ausgerichtet ist zu funktionieren, hat sie ihr Interesse an der Sexualität verloren. Gottlieb sucht die Annäherung, wird jedoch von Anna immer wieder abgewiesen, „Wenn sie gut aufgelegt war, lachte sie ihn weg. Das konnte sie auch. Nähere dich später, rief sie dann. Er hätte alle Ablehnungen notieren und zählen sollen.[15] “. Sie vermeidet Situationen, in denen sexuelle Stimmung aufkommen kann und löst so bei Gottlieb Frust und Unbefriedigend aus. Anna bestimmt also das Verhältnis von Nähe und Distanz in der Beziehung. Gottlieb ist machtlos, wobei man den Eindruck hat, er habe sich durch seinen Rückzug aus dem Alltagsgeschäft selbst entmannt. Die derzeitige Situation wird auch Ausdruck früherer Beschädigungen in der Ehe sein, die Annas Verlangen nach Distanz stärken.

3. Gisela Ortlieb

3.1. Charakterdarstellung

Giesela Ortlieb tritt uns auf einer vollkommen anderen Ebene entgegen als Anna Zürn – statt ihres Charakters wird zuerst ihr Körper durch eine recht detaillierte Beschreibung präsentiert,

„[…], sie war so groß und hatte einen so kurzen Rock an, daß ihr Rockrand einen Augenblick noch über dem Tischrand erschien. […] Ihre Brüste und die Würfelform [als Aufdruck ihres T-Shirts] ergaben ein ziemlich aufregendes Durcheinander.[16] “.

Der Erzähler berichtet nah an Gottliebs Wahrnehmung, wobei hier deutlich wird, dass er Gisela genau betrachtet. Ihr Äußeres wird in vielen Details beschrieben, wesentlich detaillierter, als die Beschreibung Annas in ihrem schwarzen Nachthemd. Gisela übt auf ihn eine sexuelle Anziehung aus. Zudem muss er sich eingestehen, dass er den Augenkontakt mit ihr nur schwer aushalten kann. Er fühlt sich von ihrem Blick angezogen, aber auch eingeschüchtert. Daraus erwächst ein Spiel der Blicke, das Gisela regelrecht provoziert und den gesamten Abend fortführt. Sie sucht immer wieder den Blickkontakt, mit dem auch jedes Liebesspiel beginnt, und prüft seine Reaktion auf ihr Handeln. Die Wirkung auf Gottlieb ist ambivalent, „Frau Ortliebs Blick war so, daß Gottlieb jedesmal, wenn er ihm begegnete und nicht gleich wieder wegschauen konnte, seine Augen zusammenkniff als blende ihn ein grelles Licht.[17] “. Es ist eine Mischung aus Faszination und Furcht. Gisela scheint diese Unsicherheit zu spüren und genießt die Wirkung, die sie auf Gottlieb hat.

Sie treibt das Spiel weiter, als sie unter dem Tisch den Körperkontakt sucht, wobei „Gottlieb erschrak, konnte aber nichts tun. Ihr nackter Fuß tastete sich an ihm hoch und nistete sich dann irgendwo bei ihm ein.[18] “. Ihr Verhalten ist eine Herausforderung an Gottliebs Scheu und Schüchternheit. Hier spielt aber auch der Reiz des Fremden, der verbotenen Frucht geradezu, eine Rolle. Schließlich muss sich Gottlieb zurückhalten, da die jeweiligen Ehepartner der Beiden anwesend sind.

Ihre Gesten und ihre Sprache wirken wie eine Inszenierung, wie auch ihr Gatte Stefan bemerkt, „Gisi ist eine verhinderte Schauspielerin.[19] “. Sie spielt an diesem Abend die Rolle der Verführerin. Es wirkt, als folge sie den Regeln eines inszenierten Spiels, da ihr Handeln ruhig und überlegt scheint.

Sie mischt gerne die deutsche mit der englischen Sprache, als wolle sie sich interessanter gestalten, „I like pictures that will make your skin crawl.[20] “. In der Liebe und der Sexualität bedienen sich manche Menschen gern einer fremden Sprache, um ihre Gefühle oder Bedürfnisse leichter artikulieren zu können. Und hier ist die sexuelle Spannung, die im Wesentlichen von Gisela aufgeladen wird, deutlich spürbar.

Wir erfahren aus dem Gespräch, dass Gisela drei Semester Geschichte, Politik und Englisch studierte, während sie nebenbei als Kellnerin arbeitete. Das Studium hat sie schließlich abgebrochen, da sie es als sinnlos für ihren persönlichen Werdegang ansah. Sie hat verschiedene Tätigkeiten ausgeübt, insbesondere im Bereich Verkauf und ist so viel herumgekommen. Ihre Erzählung bricht ab, als Anna aufsteht um nach Julia zu suchen, die an diesem Abend zu spät nach Hause kommt. Daher erfahren wir nicht mehr aus dem Lebenslauf von Gisela. Dieser Ausschnitt zeigt uns jedoch, dass sie eine Frau ist, die auf ihren eigenen Beinen steht und sich immer selbstständig ihren Lebensweg sucht. Sie hat nicht nur Allgemeinbildung, sondern auch Lebenserfahrung, wodurch sie eine vielseitige Persönlichkeit ausstrahlt. Dieses Mehr an Erfahrung macht sie auch gegenüber Gottlieb interessant. Aus ihrem Ruhrdeutsch lässt sich schließlich ihre Herkunft ableiten.

Sie stellt eine Spiegelfigur zu Anna dar, da beide Frauen stark und selbstständig sind. Jedoch ist Gisela weniger an Familienglück interessiert und ist auch nicht im gleichen Maße wie Anna auf die Harmonie und Beständigkeit einer Beziehung fixiert. Wie sie selbst bei der Erzählung aus ihrem Lebenslauf sagt, „Gelegentlich aufbrechende Geborgenheitssucht wird raschestens auf dem nächsten Bahnsteig kuriert.[21] “. Möglicherweise steckt dahinter auch eine Angst vor Nähe und dem Verlust der Freiheit und Unabhängigkeit. Auf diese Vermutung werde ich in Zusammenhang mit ihrer Motivation zum Seitensprung weiter eingehen.

Auffällig ist der Weg, den ihre Beziehung zu Stefan gegangen ist, „Herr Ortlieb, vor sieben Monaten war Hochzeit! Gut, vorher ging er fremd mit mir [Gisela], zwei Jahre. Bis Frau Nummer eins das Handtuch warf.[22] “. Daraus lässt sich ableiten, dass Beide Ehebruch nicht unbedingt als moralisch verwerflich ansehen. Auf dem Motiv des Seitensprungs ist auch die Beziehung zwischen Gisela und Gottlieb zu betrachten.

3.2. Das Prinzip der heimlichen Liebschaft

Gottlieb überlässt, am Abend des Umtrunks, Anna der Gesellschaft Stefans, „Bitte, probieren Sie, ob sie mit ihnen lieber trinkt als mit mir.[23] “. Stefan ist auch von diesem Vorschlag begeistert und nimmt sich ihrer an, „Er rückte sofort näher zu Anna hin. Ihm fielen sogar nicht nur haltlose Komplimente ein für Anna.[24] “. Es scheint, als läge ein nicht abgesprochenes Hinarbeiten auf einen möglichen Partnertausch vor, bei dem nur Anna ahnungslos ist. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, zudem eine weitere Annäherung stattfindet, als sie alle gemeinsam anstoßen und sich auf das Du einigen, „Man hat einander also jetzt offiziell geküßt. Gisi hat auch diese Gelegenheit unverschämt mißbraucht. Spätestens von diesem Augenblick an mußte Anna wissen, was hier vor sich ging.[25] “. Die sexuelle Spannung, die sich aufgebaut hat, wird nun also offen nach außen getragen. Es wird auch darauf hingewiesen, dass Gisela weiterhin nicht nur versucht, die Distanz abzubauen, sondern ihr Verlangen öffentlich demonstriert. Hierbei ist auch das Fallen der Hemmungen durch den steigenden Alkoholkonsum zu berücksichtigen.

Auf die Situation zwischen Stefan und Anna werde ich nicht weiter eingehen, da sie im folgenden Roman nicht weiter relevant ist und auch unklar bleibt, welche Wirkung sie auf Anna oder Stefan hatte.

Bis zum Ende des Abends ist allerdings nicht deutlich, ob es sich für Gisela, der die Regie inne ist, nur um ein Spiel handelt, oder ob sie tatsächlich die Absicht hat, mit Gottlieb intim zu werden. Als weitere Herausforderung, die sich hier an das eher bürgerliche, etwas prüde Ehepaar richtet, schlägt sie das nächtliche Schwimmen im Bodensee vor, bei dem sie und Stefan die Kleider fallen lassen. Anna und Gottlieb schlüpfen in ihre Badesachen, bevor sie sich in die Wellen stürzen. Erneut treibt Gisela die sexuelle Spannung und die Ereignisse des Abends weiter voran. Nachdem sie das Wasser verlassen haben, stehen Gottlieb und Gisela dicht beieinander unter den Bäumen. Stefan und Anna kommen nach. Er sagt, „So, ihr Ausreißer, ihr.[26] “. Giselas Reaktion ist sehr schroff, verärgert, „Arschloch. Und lachte zum ersten Mal nicht. Gisi, sagte Stefan. […] Er weinte wohl. […] Gisi sagte locker und rauh: Nothing ever happens.[27] “. Daraufhin verlässt sie den Garten und Stefan folgt ihr. An dieser Stelle lässt sich ahnen, dass Gisela auf ein sexuelles Abenteuer, womöglich in Form des Partnertauschs, gehofft hatte. Doch nothing ever happens - womit sie einen Vorwurf an Stefan für die verpasste Chance heranträgt.

[...]


[1] Walser, Martin, Jagd, Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt a. Main, 1988.

[2] Jagd, S. 16, Z. 11-12.

[3] Baubiologie, befasst sich mit der Beziehung zwischen dem Menschen und der gebauten Umwelt. Dabei erfolgt eine Betrachtung physiologischer, psychologischer, architektonischer und physikalisch-technischer Zusammenhänge um ein gesundes Bauen und Wohnen zu entwickelt, das umweltfreundlich und schadstofffrei ist.

[4] Jagd, S. 16, Z. 12-14.

[5] Jagd, S. 33, Z. 15-20.

[6] Jagd, S. 34, Z. 6-8.

[7] Jagd, S. 9, Z. 17-19.

[8] Schmidbauer, Wolfgang, Partner ohne Rollen – Die Risiken der Emanzipation, Pfeiffer Verlag, München, 1991, S. 28 ff.

[9] Jagd, S. 23, Z. 22-23.

[10] Jagd, S. 10, Z. 25-30.

[11] Jagd, S. 14, Z. 21-24.

[12] Partner ohne Rollen, S. 49 ff.

[13] Jagd, S. 12, Z. 4-7.

[14] Schmidbauer, Wolfgang, Mobbing in der Liebe – Wie es dazu kommt und was wir dagegen tun können, Gütersloher Verlagshaus, 2007, S. 9.

[15] Jagd, S. 13, Z. 1-4.

[16] Jagd, S. 38, Z. 13-19.

[17] Jagd, S. 39, Z. 26-29.

[18] Jagd, S. 43, Z. 5-8.

[19] Jagd, S. 44, Z. 17-18.

[20] Jagd, S. 45, Z. 11.

[21] Jagd, S. 46, Z. 14-15.

[22] Jagd, S. 45, Z. 19-22.

[23] Jagd, S. 48, Z. 11-12.

[24] Jagd, S. 48, Z. 13-14.

[25] Jagd, S. 50, Z. 22-26.

[26] Jagd, S. 54, Z. 18.

[27] Jagd, S. 54, Z. 19-25.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Erscheinungsjahr
2010
ISBN (PDF)
9783863415891
ISBN (Paperback)
9783863410896
Dateigröße
667 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Erscheinungsdatum
2012 (März)
Note
1,7
Schlagworte
Martin Walser Frauenfiguren Jagd Wolfgang Schmidbauer Beziehungsanalyse

Autor

Regina Rohland, geboren 1985 in Leverkusen, hat ihr Studium zum Bachelor of Arts in Germanistik und Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf abgeschlossen. Während ihres Studiums befasste sich die Autorin eingehend mit den verschiedensten Werken Martin Walsers, sowie der Untersuchung dargestellter Paarbeziehungen im literarischen Kontext. Die dadurch gesammelten Erfahrungen ließ Rohland in der Analyse des Walser Romans Jagd einfließen und geht mit einem psychologischen Deutungsansatz vor.
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