Zeit als Thema und Strukturgeber in der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts
Zusammenfassung
Unter Vorlage ausgewählter Beispiele untersucht der Autor, über welche narrativen Verfahren implizite inhaltliche Zusammenhänge in einer analeptischen, nicht linearen Erzählung dargestellt werden können und wie eine Narration in gewisser Freiheit von zeitlicher Logik möglich ist. Ferner soll gezeigt werden, wie die Darstellung einer eine Lebenszeit umspannende Erzählung möglich ist, während ein offensichtlicher Konflikt zwischen der Erzählzeit und der erzählten Zeit vorliegt. Angelehnt an die Frage der erfahrenen Zeit und der tatsächlichen Zeit stellt diese Arbeit das soziale Zeitverständnis, wie es in der Literatur als kulturelles Ausdrucksmittel zu finden ist, heraus. Literaturwissenschaftliche Fachbegriffe werden in dieser Arbeit weitestgehend aufgeschlüsselt und an Beispielen belegt.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
2.1. Verlust des zeitlichen Zusammenhangs als strukturgebendes Prinzip
Wie im vorherigen Abschnitt angedeutet, ist die Narration in Alle Tage keine synthetische Erzählung, bei der Ereignisse gemäß ihrer natürlichen zeitlichen Reihenfolge erzählt werden, sondern eine analytische Erzählung, weil die Ereignisfolge der Erzählzeit von jener der erzählten Zeit abweicht. Fröhlich (2007: 70-71; 2006) konstatiert intertextuelle Anleihen von Alle Tage bei Ovids Metamorphose und Homers Odyssee in der Erzählstruktur und auch in hier nicht näher zu erwähnenden inhaltlichen Aspekten. Ähnlich diesen antiken Erzählungen ist in Alle Tage die Struktur, so Fröhlich (2007: 68), brüchig, mit Sprunghaftigkeit und Rissen, „als wäre der Raum aus der Zeit geraten“ (AT: 379). Erika Hammer (2007: 86f) beschäftigt sich näher mit dem Bezug zwischen der Odyssee und Alle Tage und stellt dabei fest, dass Alle Tage „nur als Persiflage dieses Musters gelesen werden [kann]“ (eadem: 86), da das „alte Schema […] nur als Negativfolie vorhangen“ (ibid.) ist. Während Odysseus Bezugspunkte wie Heimat und Familie kennt, gibt es in Alle Tage „nur Scheinehen, Scheinfamilien und Ersatzmütter oder –väter, Umzüge und keinen Bezugspunkt“ (eadem: 87), woraus es zu einer gesteigerten Labyrinthartigkeit der Erzählung kommt[1].
Es soll nun darum gehen, das kohärenzstiftende Verfahren hinter Alle Tage zu erfassen und in einem im Rahmen dieser Arbeit zulässigen Ausmaß die erzählte Zeit soweit zu rekonstruieren, dass die vorliegenden Brüche geschlossen werden. Darüber hinaus sollen über den Weg einer zeitlich orientierten Interpretation Rückschlüsse auf die Erzählinstanz gemacht werden.
Gloy (2006: 91) beschreibt die Erzählweise in der Odyssee als eine durch die Handlungslogik sich entfaltende Erzählung, in der Einzelhandlungen ohne Zusammenhang erzählt werden. Diese sogenannte präsentische Erzählweise stellt sie der neuen Geschichtsschreibung gegenüber, in der es üblich ist, dass Ereignisse „exakte Zeitstelle (Datum), […] Abstand zueinander (Dauer), sowie ihre Ordnung (nacheinander oder zugleich sein) erhalten" (ibid.). Dass ein derartiges Prinzip der präsentischen Erzählweise auch auf Alle Tage anwendbar ist, zeigt sich an verschiedenen Stellen. Beispielsweise wird sehr häufig auf genauere Zeitangaben, als kalendarische Relata, die eine Orientierung über den Verlauf von Abels Geschichte erlauben könnten, verzichtet, wie auch Orte und verschwiegen werden. So wird selbst Abels Namensherkunft getilgt („Und Nema. So wie das Nichts? Nein, sagte Abel und errötete. […] Es ist ein …scher Name“, AT: 27). Zwar wird unter der Verwendung von relativen Zeitangaben erzählt, die es erlauben, die Ereignisse grob zueinander in Beziehung zu setzen, wie es mit der Erzählung über Abels bis dato ereignislose Kindheit getan wird: „Damals vor fünfzehn, zwanzig Jahren, lebten sie in einer kleinen Stadt in der Nähe dreier Grenzen.“ (AT: 24) oder „Nach (wie vielen?) Jahren fragte Thanos seinen Stammgast: Wo kommst du her? Darauf antwortete er endlich was.“ (AT: 258) sind weitere Beispiele für das programmatische unterschlagen genauerer Ortsangaben, während einzig die gegenwartsreferentielle Angabe im Bezug zum Origo („vor fünfzehn, zwanzig Jahren“) eine grobe Einordnung in den Erzählkontext erlaubt. Mehr Informationen über Zeit und Ort lassen sich dennoch beiläufigen Ereignissen abgewinnen, welche, als spielten sie keine Rolle, den erzählten Gesprächen der Figuren zu entnehmen sind. So ist der emotionalen Reaktion Andres in einer politischen Debatte abzulesen, dass alle Beteiligten als mutmaßlich Betroffene persönliches Interesse am Jugoslawienkonflikt haben. So bietet
Dusko T. –
Andre: Das Schwein …
– ist in elf von einunddreißig Anklagepunkten für schuldig befunden worden. (AT: 291)
einen Anhaltspunkt, der eine zeitliche Einordnung erlaubt. Das Gespräch der Gruppe ereignet sich am 7. Mai 1997, dem Tag an dem Dusko T. – Duško Tadić – verurteilt wurde:
On 7 May 1997, Dusko TADIC was found guilty of Crimes against humanity (on 6 counts) and of Violations of the laws or customs of war (on 5 counts). The Sentencing Judgment recalls that "the crimes consisted of killings, beatings, and forced transfer by Dusko TADIC as principal or as an accessory, as well as his participation in the attack on the town of Kozarac in opstina Prijedor, in north-western Bosnia". (ICTY 1997)
Anhand der gebotenen Informationen über den Kontext von Abels Flucht lässt sich auch der Zeitpunkt von Abels Abitur relativ genau datieren. Indem Abel nach seiner Abiturfeier seiner Familie offenbart, dass er „den Rest des Sommers auf Reisen sein“ (AT: 61) würde, wird im Zusammenhang mit der Information, dass Abel im Herbst flieht (AT: 30), weil Kämpfe in der Heimat ausbrechen, deutlich, dass Abel zu Beginn des Jugoslawienkriegs im Jahr 1991[2] etwa 18 oder 19 Jahre alt ist. Explizite (kalendarische) Angaben dieser Art werden jedoch nie gemacht.
Diese systematische Unklarheit im Umgang mit Orts- und Zeitangaben spiegelt die Orientierungslosigkeit der Protagonisten Abel („[er] fand sich damit ab, die meiste Zeit nicht mehr als eine Vorstellung davon zu haben, wo er sich gerade befand.“, AT: 159) und Mercedes wieder und projiziert diese auf den Leser. Mercedes, die „nach dem 'nie gesehenen', fremden Ehemann [sucht]“ (Müller-Dannhausen 2006: 199) und sich durch einen Irrgarten hindurch zu arbeiten versucht, reflektiert die Vergangenheit und Geschichte Abels, die sie zu ergründen versucht: „Was auch immer ich erfahre, ein Teil der Geschichte ist immer hinter der nächsten Ecke verborgen. Tolles Spiel. Oder mieses Spiel. Das weiß man noch nicht so richtig“ (AT: 303) und gibt damit gewissermaßen metafiktional Auskunft über die labyrinthartige Beschaffenheit des „gigantische[n] Ehemann-Puzzle[s]“ (AT: 302), dem sie sich mühsam von den Rändern her nähert, welches aus ihrer Sicht Abel und dessen Geschichte sind. Der Leser muss mit dem gleichen Labyrinth ringen, um der Erzählung einen Sinn zu geben, indem ihm, in gleicher Weise wie den Protagonisten, zeitliche und lokale Bezüge zum Geschehen weitestgehend unbekannt bleiben.
Parallelen zu einem Labyrinth lassen sich in der Konstruktion der Narration finden. So sind die Kapitel "0. Jetzt“ und "0. Ausgang" formal per Nummerierung identisch. Inhaltlich schließt sich die Erzählung hier durch das Kopfüberhängen Abels (AT: 10) (vgl. Müller-Dannhausen 2006: 200-202).
Die ‘dazwischen’ liegende Vorgeschichte verläuft wie der Irrgarten durch ein Labyrinth nicht linear. Als zentrale ‘Wegkreuzungen’ und dadurch auch als zeitliche Orientierungspunkte für die Chronologie des Handlungsablaufs fungieren die beiden Ereignisse ‘Hochzeit’ und ‘Scheidungsversucht’, denen man sich immer wieder aus von einer anderen Richtung aus nähert und von denen man jedes Mal wieder in eine andere Richtung weggeht. Auf der Ebene der an einem bestimmten Punkt einsetzenden Gesamthandlung schreitet man in einer Jahren umfassenden ‘Zeitschleife’ die Vorgeschichte ab, bis man wieder an den erzählerischen Ausgangspunkt kommt und in der chronologischen Richtung weitergeht. (eadem: 200-201)
Im Rahmen der großen Zeitschleife befinden sich immer wieder kleinere, analeptische Zeitschleifen, die den Hintergrund zu bestimmten Episoden liefern.
2.2. Eine andere Ordnung: Erfassen des zeitlichen Umfangs
Die Narration vollzieht sich wie gesagt nicht in einer linearen Folge von A à B à … à Z sondern ist brüchig und analytisch. Die Spuren zwischen den vielen unterschiedlichen Episoden aus Abels Leben und den Leben derer, die mit ihm zusammenstoßen, durch welche die Narration zusammengehalten wird, sollen bei näherer Betrachtung Aufschluss über das Arrangement der Narration geben. Schließlich liegt mit Alle Tage eine besondere Biographie vor, die, so wie sie erzählt ist, in Unordnung geraten ist. Diese im chronologischen Sinne „unordentliche“ Biographie ist nicht selbstverständlich, sondern das Symptom der o.g. Orientierungslosigkeit der Protagonisten.
Für die Figuren neben und um Abel herum wird durch seine Fremdheit und das ihn umgebende Geheimnisvolle ein Sinngebungsprozess ausgelöst, im Verlauf dessen Abels Identität erfragt werden soll (Hammer 2007: 95). Die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass Abel Nema an jedem Tag im jetzt bewusstlos und wie eine Fledermaus am Klettergerüst hängt, anstatt sich um die Scheidung seiner Scheinehe zu kümmern (AT: 9-10), liefert den Anlass für den Sprung in die Vergangenheit. Diese Anachronie in Form eine Analepse reicht im Umfang bis zu Abels Kindheit, ungefähr 20 Jahre vor dem als Gegenwart beschriebenen Zeitpunkt des jetzt (AT: 24) und ist als große Pause (vgl. Scheffel/Martinez 2007: 44) in die Gegenwart eingesetzt, welche auf S.10 (AT) aussetzt und auf S.427 unvermittelt einsetzt, „als würde man einen gerade erst vor Stunden fallen gelassenen Faden wieder aufnehmen“ (AT: 333). Das, was sich in der Pause ereignet, in der das Geschehen der Gegenwart stillsteht, ist die in ihrer Gesamtheit scheinbar lineare Erzählung von Abels und Mercedes Vergangenheit, die durch immer neue Hintergründe ein Stück mehr erhellt wird. Damit, dass die Analepse innerhalb der o.g. Pause bis an die gegenwärtige Erzählung heranreicht, ist der Untersuchungsgegenstand eine gemischte Analepse (Genette 2010: 35f), deren Zweck es in diesem Fall ist, über frühere Ereignisse zu berichten, wodurch dieser gemischten Analepse ferner die Merkmale einer externen Analepse zuteil werden (idem: 28). Dass innerhalb der Pause / Analepse weitere Anachronien die Erzählfolge von Vergangenheit bis Gegenwart durchdringen, erfordert eine genaue Betrachtung der Logik, mit der beim Springen zwischen den Zeiträumen verfahren wird. Die Tatsache, dass Anachronien in Alle Tage vorliegen, wird zwar insgesamt in anderer Literatur zum Werk (vgl. Müller-Dannhausen, 2006) angedeutet und umrissen, aber nicht detailliert aufgeschlüsselt.
Die unterschiedlichen Zeitebenen werden ganz exakt aneinandergelegt, indem die in ihrer Reichweite sehr nahen Vorgeschichten von Abels Wochenende, bei dem er seine Papiere verliert und sich an seinem Fuß verletzt, und Mercedes Wochenende, eingeworfen als Tagtraum (AT: bis 45), mit dem Verlassen des Gerichtssaals nur wenige Tage vor dem Angriff der Jugendbande (AT: 49) beschlossen werden. Durch die wortwörtliche Rekurrenz „Sie verließen des Gebäude gemeinsam“ zur vorläufigen Pause hin (ibid.) und zum Beginn der Fortsetzung jener Erzählung der nahen Vergangenheit (AT: 333) ist durch die zeitliche Logik und die möglicherweise implizite Poetik hinter diesem Kohärenzfaden, zu erzählen, „als würde man einen gerade erst vor Stunden fallen gelassenen Faden wieder aufnehmen“ (ibid.), eine Rahmung gegeben, an welche die Inhalte der Pause anknüpfen (siehe Abbildung 1).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Rückblick in die Vergangenheit
In ihrer Reichweite vor den Ereignissen der nahen Vergangenheit liegen die Episoden aus Abels Kindheit, als sein Vater die Familie verlässt, und sein Abitur, als er feststellt, dass er von Ilja, dem Menschen, den er liebt, hintergangen worden ist. Diese Ereignisse werden über das in der o.g. nahen Vergangenheit liegende Telefonat mit der Mutter Mira (AT: 22) in eine kohärente Beziehung zur Erzählung gesetzt werden. Dann, unvermittelt mit dem Beginn der Pause, fügt sich die Hintergrundgeschichte zur genauen Nacht von Abels Abitur an die Ereignisse aus Abels vergangener Jugend und Kindheit an: Dieser Abschnitt soll Auskunft darüber geben, weshalb Abel seine Heimat mit dem Ziel zu reisen verlässt, um sich der Ausgangsfrage, welche die gesamte Erzählung zu begründen scheint, anzunähern. Es ist, und dessen Ausmaß wird sich der Leser erst auf S.342 (AT) vollständig bewusst, die Suche nach Ilia, – „Verschwunden, sieben Jahre später, nach Verlassen einer Abiturfeier […]: Ilia B.. Abel wartete […] dass er oder jemand sich meldete, aber nichts geschah. […] Schließlich ging auch Abel.“ auf S.65 deutet es an – die bis kurz vor Ende der Pause einen großen Einfluss auf Abels weiteres Handeln ausübt („Ich schätze, nun kann ich wirklich aufhören, dich zu suchen.“) und es ist Ilias Präsenz, die Abel so sehr fehlt, dass er eine Panikattacke erleidet (AT: 57).
Dies ist also die erste Episode aus Abels Vergangenheit (AT: 53-61), an die ein analeptischer Einschub anschließt (AT: 61-65), der Abels Weg zu Bora plausibel erscheinen lässt, insofern Abel den letzten Spuren seines Vaters Andor zu folgen scheint. Dieses ist eine partielle Analepse, denn [bei] partiellen Analepsen [endet d]ie analeptische Erzählung [...] einfach mit einer Ellipse, und die Basiserzählung macht da weiter, wo sie aufgehört hatte, sei es implizit als hätte es nie eine Unterbrechung gegeben [...] oder explizit, in dem die Unterbrechung eigens vermerkt wird und [...] die explikative Funktion noch einmal betont wird. (Genette 2010: 37)
Diese folglich implizite, weil sie nicht in der Narration vermerkt wird, partielle Analepse dient als „roter Faden“, sodass die anschließende Erzählung über Abels kurzen Besuch bei Bora mit dem folgenschweren Gasunfall und dem Hinweis der Mutter, er solle vor dem Krieg flehen (AT: 65-74), sinnvoll anschließt. Es setzt nach der kurzen Darstellung über die Suche nach Abels Vater jene Pause ein.
2.3. Verfahren der Einführung neuer Figuren
Ein gemeinsames Strukturprinzip liegt jeweils solchen Textpassagen zu Grunde, in denen Figuren eingeführt werden, die in Abels Leben eine größere Rolle eingenommen haben, die er aber in der Vergangenheit kennengelernt hatte. Es wird, um die Figuren einzuführen, ein Sprung in der Zeit vorgenommen, der den Leser zu einem Punkt führt, der bereits bekannt ist, aber von dem der Leser bisher nicht wusste, dass neue Charaktere in Abels Leben treten. Die Charaktere, deren Bekanntschaft zu Abel sich nicht zeitlich linear anknüpfen lässt wie die zu Tibor, zu dem Abel in Folge des Telefonats mit seiner Mutter reist (AT: 74f) werden anders als über den regulär linearen Handlungsablauf eingeführt. Abel reist im Anschluss an den Besuch bei Bora nach B., um Tibor aufzusuchen, der ihm weiterhelfen soll, dort Fuß zu fassen, weil sie eine gemeinsame Herkunft teilen. Darin steckt eine einfache Kausalität, die zufällig deckungsgleich mit dem linearen zeitlichen Ablauf der Ereignisse ist. Gleiches gilt für das Auftreten von Danko und dessen Bande im Leben Abels (AT: 182ff), der sich zeitlich wie auch unabhängig von einer rein zeitlichen Logik in die Narration einfügt und darum gewissermaßen in die Erzählung eingebettet erscheint.
Demgegenüber werden andere Figuren, die Abel zu einem früheren Zeitpunkt kennenlernt, nicht entsprechend ihres zeitlichen Auftretens in der Narration bekannt gemacht, sondern treten erst dann in Erscheinung, wenn es im Sinne der Kausalität oder der außer-zeitlichen Kohärenz Sinn ergibt, sie zu erwähnen. Die Präsenz der Charaktere ist für die Erzählinstanz aus zeitlicher Sicht nicht bedeutsam, sondern nur in der Art, wie sie die Ereignisse beeinflussen. Dies lässt sich bei Konstantin, Kinga und ihrer Gruppe nachweisen: Konstantin ist zeitlich eigentlich schon in der nahen Vergangenheit ein Bestandteil der Narration, wird aber erst näher erwähnt, als dessen Handlungen bedeutsam für den Werdegang Abels werden. Die Kohärenz zwischen den im Roman unterschiedlich platzierten Textstellen entsteht über die auffallend identische Semantik und damit einhergehende Analogie von „Sie verließen das Gebäude gemeinsam“ (AT: 49) und „Sie kamen gemeinsam aus dem Gerichtsgebäude“ (AT: 79), woran bei letzterem Abschnitt nun Konstantins Einführung anschließt. Es ist möglicherweise auch er – als Indiz dienen dessen finanzielle Probleme (AT: 335) – der als Erzählinstanz fungiert, da er sich als einer der „Penner am Südende“ identifiziert, „die den ganzen Sommer hier sind“ (AT: 79), was durch die Wahl der kollektivierenden Personalpronomina „Wir sammeln uns für einen Moment“ (ibid.) angezeigt wird. Ebenso funktioniert die Einführung von Kinga und ihren Freunden über eine Analogie (vgl. „Ich fuhr alleine los, bummelte mit Unbekannten durch unbekannte Provinzen.“, AT: 134 und „Er nahm den Zug. Bummelte mit Unbekannten durch unbekannte Provinzen.“, AT: 65), durch die gleichermaßen Kohärenz zwischen den in erzählter Zeit gleichzeitigen Ereignissen und den davon zeitlich entfernten Ereignissen (Silvester etwa vier Jahre später, AT: 133ff), die an die Einführung anschließen, hergestellt wird. Die Charaktere und die an unterschiedlicher Stelle erzählten identischen Szenen werden hier durch eine identische Situationszeit (Klein 2009b: 46) in offensichtliche Beziehung zueinander gesetzt.
Während die Einführung im Fall Konstantins im Bezug zur erzählten Zeit eine Prolepse darstellt, insofern von dem Zeitpunkt, an dem man sich in der Narration befindet, als Abel mit etwa 19 Jahren in B. ankommt, zurück in die nahe Vergangenheit gesprungen wird, handelt es sich bei der Einführung der Umstände des Kennenlernens von Kinga um eine kompletive Analepse. Der Hintergrund ihres Kennenlernens liegt etwa vier Jahre vor jenem Silvesterabend (s.o.), an dem Abel bei Kinga in ihrer Wohnung „Kingania“ einzieht. Näheres erfährt der Leser in einer weiteren kompletiven Analepse, die als Erklärung zu Jandas Frage „[w]as […] das für ein Typ“ sei (AT: 139) anschließt und in ihrer Reichweite „etwas mehr als ein Jahr“ (ibid.) vom Silvesterabend zurück liegt, was durch das o.g. deiktische Relatum (vgl. Klein 2009a: 32-35) expliziert wird. Eine Interferenz der Erzählinstanz schließt extradiegetisch und nullfokalisiert (Scheffel/Martinez 2007: 64, 81) jeweils die Anachronie ab, indem explizit das Ende der Episode, wie sich Abel und eine weitere Figur kennenlernen, durch „So hatte Abel Kinga wieder getroffen.“ (AT: 141) oder „So lernte Abel Konstantin T. kennen.“ AT: 95) angezeigt wird. Gleichzeitig stellt dies eine Referenz zum Erzählmoment dar, von welchem aus retrospektiv die gesamte Narration aus erfolgt.
Daran, dass die Figuren in Alle Tage immer darüber eingeführt werden, dass nähere Kenntnisse über sie durch die Handlungslogik bedingt werden, während die rein zeitliche Sukzession, in der Abel auf die anderen Charaktere trifft, nur sekundäre Bedeutung hat, lässt sich erkennen, dass eine andere als die zeitliche Kohärenz für die Erzählstruktur verantwortlich ist. Figuren werden vor allem dann eingeführt, wenn sie inhaltlich bedeutsam werden. Ob sie in Abels Biographie früher oder später als andere Figuren „auftauchen“, ist weniger relevant.
2.4. Strukturgebende Verfahren in der Narration
Die Vorgeschichte in Alle Tage, wie Abel dazu kommt, Mercedes zu heiraten, wieso die beiden sich scheiden lassen und wie Abel an das Klettergerüst gekommen ist, wird dann auf den Seiten 51 bis 426 erzählt. Um im Folgenden den Zweck der Analepsen zu bestimmen, wird die chronologische Abfolge der Ereignisse innerhalb der Pause von Abels Ankunft in B. bis zum Ende am Klettergerüst kurz skizziert: Eine grundlegende zeitliche Abfolge der vergangenen Ereignisse, wie sie auch in der Erzählzeit ohne Anachronie berichtet werden, ist Abels Ankunft in Berlin und sein Einzug bei Konstantin in die Wohngemeinschaft samt vierjähriger Studienzeit. Mit der Razzia der Polizei verlässt Abel die Wohngemeinschaft und zieht bei Kinga ein und beendet sein Studium. Er beschließt, eine Dissertation zu schreiben und zieht als Untermieter in das Gebäude einer Fleischerei. Im weiteren Verlauf gerät er an Danko, das Mitglied einer Jugendbande, und kommt ihm nahe. Der Junge stiehlt Abels Laptop mit der Doktorarbeit und ist danach unauffindbar, weshalb die Jugendbande Abel überfällt. Dies ist der Grund, weshalb Abel sich an Kinga wendet und als Fahrer mit der Band auf Tournee geht, um vorerst aus der Stadt heraus zu sein. Nachdem auf der Tournee ein Mann die Band provoziert und es zum Mord kommt, verlässt Abel die Gruppe und reist auf eigene Faust nach B. zurück, wo er in eine Wohnung in der Nähe seines Lieblingsnachtclubs „Klapsmühle“ einzieht. Abel trifft Mercedes wieder und beide kommen sich näher und heiraten, in erster Linie als Scheinehe, damit Abel eine Aufenthaltsgenehmigung erhält. Mercedes ertappt Abel in seiner Wohnung mit einem nackten Jungen und fordert daher die Scheidung. Weil Abel in einer Nacht vor dem Scheidungstermin seine Papiere verliert und sich neue beschaffen muss, verzögert sich die Scheidung. Abel trifft die Schwester seines Nachbarn, des Physikers Halldor Rose, und nimmt im Anschluss eine hohe Dosis starker Drogen zu sich, was dazu führt, dass er eine unbestimmte Zeit im Rausch verbringt und eine Art Epiphanie, oder allgemeiner eine Halluzination, hat. Der Drogenrausch bewirkt, dass Abel seine Sprachbegabung verliert, aber sich all seine Sinne normalisieren – er kann riechen und schmecken, sein Gehör ist nicht länger hypersensibel. Im Anschluss daran will er die Papiere für die Scheidung besorgen, aber bevor es dazu kommt, trifft Abel erneut auf die Jugendbande, die ihn für Dankos verschwinden verantwortlich macht, wird von ihnen überfallen, zusammengeschlagen und am Klettergerüst aufgeknüpft.
Über diese gesamte Erzählung hinweg sind Analepsen vorzufinden, die in ihrem Zweck immer kompletiv sind. Sie liegen in ihrer Reichweite innerhalb der Erzählzeit, von Abels Jungend bis hin zu dem Moment, an dem er am Klettergerüst aufgefunden wird. Inwieweit die Anachronie in Zusammenhang mit der Einführung neuer Figuren steht, wurde oben bereits geklärt. Darüber hinaus dient die Anachronie noch einem anderen Zweck, dem die Charaktereinführung der o.g. Fälle subsumiert werden kann, was an einigen Beispielen dargestellt werden soll.
So setzt Abel Nemas weitere Vergangenheit auf S.85 (AT) ein, nachdem Konstantin als Figur aus Abels naher Vergangenheit eingeführt wird. Die Erzählung verläuft grundsätzlich linear weiter, indem im Anschluss an seine Flucht vor dem Militärdienst Abels Ankunft in der fremden Stadt und seine Studienzeit im Kapitel II. „Der Besucher – Hysterie, Lamento “ erzählt werden. Dabei wird singulär erzählt, wie Abel und Konstantin sich zu Anfang ihrer gemeinsamen Zeit in der Wohngemeinschaft unterhalten und wird Pal erwähnt; gleichermaßen wird auch alles singulär erzählt, was Abels Art sich einzuleben betrifft (AT: 98-100). Anders ist dies mit den weiteren vier Studienjahren Abels (AT: 100), die nur in einer iterativen Raffung erzählt werden, welche einen generellen Eindruck des Lebens mit Abel in der Wohngemeinschaft in Zügen durch Konstantins Perspektive vermittelt, indem er häufig in seiner Ausdrucksweise in kursiv zitiert wird („ Unser fiktiver Mitbewohner schien kein Interesse an irgend etwas zu haben“, AT: 100 oder „Man weiß einfach nicht, was sie sind!“, AT: 103), wobei auch der Mitbewohner Pal zitiert wird, um ein Bild der Atmosphäre in der Wohngemeinschaft zu zeichnen: „[Konstantin] [s]tand am nicht zu öffnenden Fenster, Gesicht zur Bahn, und lamentierte (Kursive: Pal) stundenlang – über einfach alles. […] Dieses Jahrhundert, das uns hierher getragen hat! “ (AT: 102). Der Hinweis, dass diese kursiv gesetzten Phrasen wortwörtlich von Pal stammen, ist exakt so in der Narration zu finden. Faktisch trifft der Leser in der Narration den Erzähler an, der diese iterative Raffung expliziert und mit den Worten „Das waren die ersten Jahre.“ (AT: 104) beschließt.
Bemerkenswert sind nun in die Analepsen, die immer wieder in der linear erzählten Pause (s.o.) eingestreut sind. Die Pause zwischen dem jetzt soll als linearer Rahmen erachtet werden, wie entsprechend die Ereignisse in der Erzählzeit der Pause auch linear aufeinander folgen. Innerhalb dieser Pause sind Analepsen zu finden, wie jene auf S.121-122 (AT), die dazu dient, eine auf Abels Erfahrung aus seiner Jugend basierende negative, misstrauensvolle Assoziation zur Polizei zu entwickeln, die sich an die Festnahme der Bewohner in Folge Ekas Besuchs anschließt. Der Leser erfährt dabei über einen Hintergrund des Misstrauens, das eine mögliche Gemeinsamkeit der „Exilanten“ darstellt, die vor dem Jugoslawienkonflikt geflohen sind und die keine positive Einstellung den Behörden gegenüber entwickelt haben.
Es folgen mehrere Ellipsen. Sie schildern die Hintergründe, wie Tibor dazu kommt, Abel aus der Haft auszulösen (AT: 123ff), dessen Fahrt zu Abel (AT: 127f), Abels Auslösung selbst (AT: 128) und ein letzter Zeitsprung, der die Fahrt zurück zur Wohngemeinschaft ausspart und zeigt, dass Abel die Bastille für immer verlässt (AT: 128-129). Die Struktur aufzuzeigen soll folgende Abbildung 2 behilflich sein:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Zeitstruktur der Episode „Eka“ und „Fragen“ (S.115-129)
Der Komplex aus Ereignissen während Ekas Anwesenheit als Einheit wird als einmalige Begebenheit singulär erzählt, wobei die Bestandteile dieses Komplexes zwangsläufig iterativ gerafft dargestellt werden, insofern die unterschiedlichen, sich häufiger ereignenden Abläufe nicht so oft erzählt werden, wie sie stattfinden. Durch die Analepse wird in eine der eigentlichen Situation ferne Vergangenheit gesprungen, die somit eine externe Analepse bezüglich zur Pause darstellt. Durch die externe Analepse wird ein Hintergrund geliefert, dann wird in das Verhör zurückgesprungen, wobei die Wiederaufnahme des Handlungsstrangs repetitiv geschieht, indem zu einem Zeitpunkt wieder-erzählt wird, der knapp vor der Razzia liegt (vgl. AT: 120 gegenüber AT: 122), da die Erzählung von Abels Ankunft in der WG (letztere Textstelle) vor der Festnahme, die beschrieben wird (AT: 120), liegt, um dann unmittelbar zum Verhör zu springen. Dadurch entsteht eine Mischung verschiedener Perspektiven; man kann an keiner expliziten Aussage festlegen, wer die Festnahme beschreibt, der Stil und die deutliche Emphase der Ereignisse („sie ließen uns in den Sand knien […] und taten so, als würden sie uns hinrichten.“, ibid.) deuten auf Konstantin hin.
In repetitiven Analepsen werden das Verhör und Tibor am Silvesterabend nochmal referiert, um Abels Motivation zu Kinga zu gehen näher zu bestimmen, weil Abel sonst nur Kinga hat (AT: 150f), und Tibors zwiegespaltenen, distanziert-unpersönlichen Charakter als einerseits hilfsbereiten, andererseits im Umgang mit anderen irritierten Menschen darzustellen (AT:163).
Ähnliche Rückblicke, die zu dem Zweck erzählt werden, die Hintergründe eines Ereignisses zu erhellen oder nähere Informationen über die Charaktere zu liefern, finden sich vielfach in der gesamten Narration. So liegt eine kompletive Analepse auch auf S.192 (AT) vor, als Danko und Abel sich an einer Kreuzung treffen. Diese Analepse unterscheidet sich dabei von der in ihrer Reichweite fernen Analepse des obigen Beispiels, die ohnehin auch nicht kompletiv ist. Diese Analepse erzählt Dankos Tag bis zum Treffen mit Abel. Es wird die Situation des Treffens erzählt, indem über beide Figuren erzählt wird. Erstens über Abel, der einpaar Mal falsch ab[bog], schließlich blieb er an einer kleinen grauen, nach Urin riechenden Kreuzung stehen und rührte sich nicht.
He Danko. Was machst du hier? (AT: 192)
Danach über Danko:
Als er sich von der Tür weg- und der verpissten kleinen Kreuzung zudrehte, stand da der schwarze Typ aus dem Park. Keine Frage, das ist er.
Starrt er mich an oder was? Eine Weile hält er es aus, dann sagt er: He! (AT: 195)
Über die Kookkurrenz des Ortes Kreuzung und der insgesamt identischen Situation wird die Zeitschleife Dankos Erzählung geschlossen und wieder in die lineare Narration eingeleitet, sodass die kompletive Analepse ferner als gemischte Analepse zu klassifizieren ist und zudem interner Natur ist, da sie von ihrer Reichweite her innerhalb der Zeitspanne der Narration von Abels Vergangenheit (der o.g. Pause) liegt.
In gleicher Weise funktioniert die kompletive, gemischte Analepse über Mercedes bisheriges Leben, bis zu dem Zeitpunkt, als sie von dem Taxi angefahren wird, in dem Abel sitzt (AT: 249ff). Während dabei die insgesamt lineare Narration von Abels Vergangenheit den Rahmen darstellt, wird auch Mercedes Leben von der Kindheit an erzählt. Dies geschieht linear, aber in einer viel stärkeren Raffung als im Falle Abels, indem über Mercedes nur ein paar Eckdaten genannt werden: Von „Ihre Kindheit war schön, ihre Eltern waren Hippies, […]“ (AT: 249), über „Später find sie eine Promotion an.“ (AT: 250) und weiter bis zu ihren aktuellen Lebensumständen („Da ist zum einen Omar und die Anstellung an einer Privatschule […]“, AT: 251). Man kann allerdings eine Präferenz zu Gunsten solcher Ereignisse feststellen, die für eine Charakterisierung Mercedes als hilfreich erscheinen. Es wird einerseits iterativ erzählt und gerafft, was beispielsweise die Dauer und groben Fakten von Mercedes Beziehung mit Amir betrifft („Sie waren fünf Jahre zusammen, während derer er immer nur noch schöner, edler und geheimnisvoller wurde.“, (AT: 249), andererseits werden spezielle Begebenheiten singulär erzählt, wie die letzten drei Wochen ihrer Beziehung, die in starker Raffung beschrieben werden (AT: 250). Durch die Mischung iterativer und singuläre Erzählung wird ein Bild von Mercedes als eine Frau gezeichnet, die Beschlagen in Beziehungen mit Männern ist, die kein ernsthaftes, aufrichtiges Interesse an ihr und ihrem Sohn haben.
Die Anbindung eines Ereignisse aus Abels Leben, dass er eine Dissertation schreiben möchte und zu schreiben beginnt, erfolgt über einen Zeitsprung, der durch die Fortsetzung der eingeleiteten idiomatischen Wendung „So kommt man in neue“ (AT: 162) mit dem Titel des Kapitels „Kreise“ (AT: 163) hergestellt wird. An dieser Stelle wird die Kohärenz der Erzählung, also der Zusammenhang, dass Abel „eine Dissertation im Bereich der Komparativen Linguistik“ (AT: 162) schreiben will und dazu der Unterstützung von Tibor bedarf, den er anruft, impliziert und über die Sprache hergestellt, indem das Idiom fortgesetzt wird. Dieses Verfahren dient der Überbrückung einer in ihrer Länge unbekannten Zeitspanne per Ellipse, ohne dabei eine genauere, explizite Erläuterung über die Umstände und Beweggründe Abels zu geben. Dazu dient die vorausgehende singuläre Erzählung (AT: 160f) über einen Sonderfall von Langeweile und Müdigkeit im Museum, durch den Abel sich der Ziellosigkeit seines derzeitigen Daseins bewusst wird. Es ist, wegen fehlender expliziter Ausdeutung innerhalb der Narration, am Leser, die möglichen kausalen Bezüge zwischen den sprachlich via das Idiom aneinandergelegten Erzählteilen herzustellen.
In ähnlicher Weise funktioniert die Verknüpfung der Ereignisse nach Abels Auszug: Die Passage „Später lernte er diesen Jungen kennen. Er sagte, sein Name sei Danko. Er ist mir in den Schoß gefallen, wie ein reifer Apfel.“ (AT:182) stellt eine repetitive Prolepse (Genette 2010: 45) dar, indem ein zukünftiges Ereignis referiert wird, dass an späterer Stelle in Gänze erzählt werden wird. Die repetitive Prolepse stellt, gegenüber dem von Genette definierten allgemeinen Fall, hier einen unmittelbaren Erzählanlass dar. Über den Vergleich des reifen Apfels (ibid.) wird assoziativ, aber der Semantik des o.g. Zitats samt Prolepse folgend, per Ellipse zu dem Moment gesprungen, in dem Danko das erste Mal in der Erzählung auftritt und er auf Abel trifft (AT: 183). Die Assoziation, die erst willkürlich erscheint, erhält ihren Bezug zum Protagonisten Abel nicht nur über dessen Kennenlernen mit Danko, sondern auch indem ein Apfel im Sinne des o.g. Zitats „vor Abels Füße“ rollt (AT: 184).
Es ist ein auffallendes Merkmal der Narration, dass vielerlei Fakten geschaffen werden oder Begebenheiten und Verhältnisse erzählt werden, bevor ihr Ursprung geklärt wird. So wird zum Beispiel Abels Auszug aus „Kingania“, Kingas Wohnung, erzählt (AT: 174), aber erst Hinterher aufgedeckt, dass Abel unmittelbar nach dem vorausgegangenen Besuch bei Tibor (AT: 164-168) auf dem Heimweg auf den Fleischer Carlo trifft, bei dem Abel ein Zimmer mietet (AT: 178). In zeitlicher Folge dann, aber in der Erzählzeit „vorher“, kündigt Abel Kinga seinen Auszug an. Dieser kompletiven Analepse folgt eine Ellipse hin zur iterativen Erzählung gespickt mit besonderen Einzelheiten aus Abels Alltag.
Auch auf dem Familiengeburtstag von Mercedes und ihrem Vater (AT: 318-324) werden die Ereignisse auf diese Art und Weise erzählt. Mercedes kommt von der Haustür zurück und findet eine Situation vor, deren Ursache sie nicht kennen kann („Als sie wieder zurückkam, stand Abel in der Mitte des Zimmers, vor ihm Erik, sein vorgestreckter Bauch berührte ihn fast. Erik schwankte. Er war sehr betrunken.“, AT: 322). Die Entwicklung bis dato wird in einer kompletiven, gemischten Analepse erzählt. Analog zum oben beschriebenen Verfahren wird durch Wiederholung und semantische Identität („Sein vorgestreckter Bauch berührte fast das Gegenüber, er schwankte […]“, AT: 323), wenn nicht explizit des Ortes, so doch aller anderen Faktoren der Situation, das Ende der Analepse angezeigt und in die weitere lineare Erzählung gewechselt. Die näheren Umstände von Abels Verspätung am Abend der Feier werden an späterer Stelle in der Erzählung nochmal näher bestimmt (AT: 341f). Es liegt eine explizite Analepse vor, die eine hypothetische Ellipse über Abels weiteres Ergehen nach dem Verlassen der Band (AT: 244) mit Inhalt füllt, da auf S. 257 (idem) die Lücke in der Narration von Abels Rückkehr nach B. per Zug vermeintlich geschlossen wird. Der Erzähler ist auch an o.g. Stelle, wie an vielen anderen, explizit im Text zu finden: „Ja, fangen wir hier wieder an, bei der Tournee […]“ (AT: 339), nachdem er über die Natur der Dinge resümiert (ibid.).
2.5. Im Rausch, aber nicht der Zeit
Während sich die Erzählung der Zeit vor dem Überfall der Jugendbande auf Abel also in einer linearen Folge von Ereignissen nachvollziehen lässt, deren Hintergründe und Personal Stück für Stück in Analepsen nachgeliefert werden und somit möglicherweise dem fortschreitenden Kenntnisstand eines homodiegetischen Erzählers (siehe Kapitel 2.6) folgen, ist das Kapitel „Zentrum. Delirium “ (AT: 357-410) aus dieser linearen Folge ausgenommen.
Durch Abels Entschluss zur Einnahme halluzinogener Pilze[3] erfolgt zum Ende des Kapitels der Übergang ins “Zentrum. Delirium”, so der Titel des folgenden, einzig nicht nummerierten Kapitels.
Nicht nur durch fehlende Nummerierung weicht dieses Kapitel von den übrigen ab, sondern auch in der Darstellungsweise und der Perspektive: Wurde Abel vorher primär von außen dargestellt - auch aus den Perspektiven anderer Figuren -, so bietet Abels Delirium in Form eines langen inneren Monologs Einblicke in das Innere der Figur. (Müller-Dannhausen 2006: 199)
Das Erzählte aus Abels Delirium wird als Pause eingebettet, die mit Abels Aufwachen aus dem Rausch nach „etwa sechsunddreißig Stunden“ (AT: 414) endet. Die Bedeutung von Abels Drogenphantasie wird angedeutet, indem einerseits in einer Analepse von Halldor Roses Einschätzung seiner Drogenerfahrung erzählt wird (AT:415), die er selbst als „Gotteserfahrung“ bezeichnet. Die Situation des Rausches wird als eine zeitlose Erfahrung beschrieben (AT: 19): „[D]ass Zeit keine Rolle spielte“ und „dass er die ganze Zeit bei klarem Bewusstsein gewesen sei […] ohne die üblichen chaotischen Trübungen seines Denkens und Empfindens“, ist Halldor Roses Beschreibung des Zustandes, in den auch Abel sich mit Hilfe der Drogen aus Roses Bestand versetzt. Anhand der Narration des Drogenrausches aus Abels Perspektive lassen sich schnelle Orts- und Zeitsprünge von einem Sinneseindruck zum nächsten feststellen – so zum Beispiel auf S.379 (AT), wenn von der paradiesartigen Palmenszenerie über eine kurze „ Zwischenzeit “ zu einer Szene gewechselt wird, deren Ort Mercedes Lieblingscafé ähnelt und in der völlig andere Figuren auftreten. Während dieses zeitentrückten Erlebnisses setzt sich Abel mit seiner Schuld gegenüber seinen Mitmenschen auseinander, indem er sich vor einem Gericht (AT: 381f) oder seinen Verwandten (AT: 360ff) und den Geliebten seines Vaters (AT: 373ff) rechtfertigt. Er konstatiert in den Gesprächen seine Unschuld und drückt insbesondere ab S.400 (AT) seine Identität aus, die in der übrigen Erzählung nur per Interpretation und Fremdperspektivierung (un)zugänglich ist. In dieser zeitentrückten Phantasie oder Epiphanie findet Abel zu sich selbst, wodurch die Behauptung fraglich scheint, dass Abel Nema „jeglicher psychologischer Tiefengliederung“ (Willner 2007: 153) entbehre.
[...]
[1] Die Heimatlosigkeit sei hier ein Argument unter anderen, daneben gelten Abels Stummheit und die Unbestimmtheit seiner Identität durch ihn selbst als Faktoren (vgl. dazu Hammer 2007: 88, 94ff).
[2] Für einen Abriss der Geschichte des Jugoslawienkonflikts: http://www.icty.org/sid/322 (zuletzt geprüft am: 25.08.2011)
[3] Siehe AT: 350-356
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Erstausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2011
- ISBN (PDF)
- 9783863417017
- ISBN (Paperback)
- 9783863412012
- Dateigröße
- 590 KB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Universität Duisburg-Essen
- Erscheinungsdatum
- 2013 (Juli)
- Note
- 1,1
- Schlagworte
- Literaturwissenschaft Gegenwartsliteratur zeitgenössische Literatur biografisches Erzählen Zeitverständnis multiperspektivische Erzählung