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Havanna als Großstadt in der Literatur - Eine beispielhafte Analyse von Guillermo Cabrera Infantes "Tres tristes tigres"

©2006 Magisterarbeit 102 Seiten

Zusammenfassung

Seit jeher fasziniert Havanna, die Hauptstadt Kubas, durch ihren schillernden Charakter. Wegen ihrer afrikanischen und europäischen Wurzeln, die sich in einer einzigartigen Kultur äußern, wegen ihrer bewegten Geschichte, aber auch wegen ihrer vielseitigen Architektur, ihres eigenen Lichts und ihrer besonderen Lage übt Havanna eine spezielle Anziehungskraft aus. Als eine der ältesten Städte Lateinamerikas und der Karibik wurde sie schon früh mythisch verklärt: Galt sie unter den spanischen Kolonisatoren als ‚Schlüssel zur neuen Welt‘, wurde sie später zum glitzernden ‚Montecarlo der Karibik‘ und zur ‚Krone der Antillen‘ (Grau 1988).
Havanna wurde schon früh literarisch reflektiert: Erste kubanische Autoren begannen Anfang des 19. Jahrhunderts, in Sittenschilderungen das städtische Leben zu beschreiben, aber auch ausländische Schriftsteller interessierten sich schon früh für das ‚exotische‘ Havanna (Álvarez-Tabío 2000).
Im Rahmen dieser Arbeit sollen Romane analysiert und kontrastiert werden, die sich auf das Havanna in den letzten Jahrzehnten vor der kubanischen Revolution von 1959 beziehen. Im Zentrum der Analyse soll Guillermo Cabrera Infantes Tres tristes tigres stehen, da dieser als kubanischer Roman eine spezielle Innensicht der Stadt bietet, die sich von den Darstellungen der nichtkubanischen Autoren abhebt. Die Vergleichsbasis stellen Oscar Hijuelos´ The Mambo Kings Play Songs of Love und Graham Greenes Our Man in Havanna dar, jedoch sollen auch Ernest Hemingways To Have and Have Not und Islands in the Stream sowie die Havannapassage in Max Frischs Homo Faber in die Analyse einbezogen werden, wenn sich aus diesen Romanen ein interessanter Vergleich ergibt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


4
Weitere wichtige Elemente des Romans sind das Spiel mit Sprache, das sich be-
reits im Romantitel manifestiert
3
, aber auch die Parodie und die Auseinanderset-
zung mit dem trügerischen Charakter von Sprache, Literatur und Übersetzung. Be-
sonders die Kapitel ,,Rompecabeza", ,,La muerte de Trotzky referida por varios es-
critores cubanos, años después ­ o antes" und ,,Los visitantes" sind im Hinblick auf
diese Punkte ausgiebig untersucht worden.
4
Our Man in Havana erschien 1958 als Versuch Greenes, die ,Totenmaske` seiner
früheren Reputation abzuschütteln und sich auf einem neuen literarischen Gebiet
zu versuchen (Smith 1986: 138). Der Roman zeichnet sich durch komische ebenso
wie thrillerartige Elemente aus: Das Genre des Spionageromans wird hier erstmals
nicht als ernste Form präsentiert, sondern die mysteriösen Ereignisse und Gewalt-
taten werden mit ironischer Distanz und schwarzem Humor dargestellt (Sharrock
1984: 220f.). Hinter der parodischen und komischen Fassade liegen jedoch auch
ernstere Themen verborgen. Das essenzielle Subjekt des Romans ist der Konflikt
zwischen Individuum und organisierter Macht, zwischen persönlicher Freiheit und
Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft. In Our Man in Havana greift Greene also
das Thema des unschuldigen Einzelnen im Minenfeld der großen Politik, das in
The Quiet American auf ernste Weise betrachtet wird, wieder auf (Pendleton 1996:
144ff.). Die Ausgestaltung des Themas erfolgt differenziert: Der politischen Macht
wird nicht einfach die menschliche Imagination als positiv gegenübergestellt, son-
dern auch deren destruktives Potenzial veranschaulicht. Die Imaginationskraft ist
also ambivalent besetzt ­ sie kann konstruktiv und destruktiv wirken, was Greene
anhand der Entwicklung der Figur Wormold zeigt (Böker 1982: 160).
The Mambo Kings Play Songs of Love
5
erschien erst 1989 und gewann im selben
Jahr den Pulitzerpreis. Der Roman war einer der ersten hispano-amerikanischen
Romane, die eine breite Leserschaft jenseits der Minoritätenliteratur fanden und
von einem großen Verlag herausgegeben wurden (Kanellos 1990: 113). Vorder-
gründig erzählt Mambo Kings eine typische Immigrantengeschichte, die einhergeht
mit der für dieses Genre charakteristischen Nostalgie und der Idealisierung des
Herkunftslandes, das der harschen Realität der neuen Heimat gegenübergestellt
wird (Bruce-Novoa 1995: 11f.). Während sich der Roman also einerseits auf traditi-
onelle Komponenten des Migrantenromans stützt, bezieht er sein Rohmaterial aus
vielfältigen Medien, ist von Bruchstücken populärer Kultur ­ Lieder, Fernsehshows
3
Die drei traurigen Tiger sind nicht auf drei Hauptfiguren des Romans zurückzuführen, wie es nahe läge,
sondern auf einen spanischen Zungenbrecher.
4
Zur Parodie vgl. Amícola (1997); zur Sprache vgl. Volek (1981) und Hartman (2001), zur Problematik
des Lesens/ Übersetzens/ Schreibens in TTT vgl. Álvarez-Borland (1987) und Hammerschmidt (1997).

5
etc. ­ durchsetzt, was ihn in die Nähe der Postmoderne rückt (Bruce-Novoa 1995:
17). Daneben steht Mambo Kings aber auch in der Tradition des pikaresken Ro-
mans, was ihn mit Loveiras Juan Criollo und Cabrera Infantes La Habana para un
Infante difunto verbindet (Pérez-Firmat 1994: 148).
Mit Ausnahme von Hemingways To Have and Have Not, das bereits 1937 er-
schien, spielen alle Romane in den 1940er und 1950ern. Der Fokus der Arbeit auf
diesen Zeitraum erfolgt aus zweierlei Gründen: Einerseits setzen sich internationale
Schriftsteller hauptsächlich mit dieser Epoche auseinander, da Havanna zu diesem
Zeitpunkt durch sehr partikuläre Merkmale geprägt war. Andererseits hat sich durch
die Revolution der Charakter der Stadt so grundlegend geändert, dass es sich als
schwierig erwiese, anhand einer begrenzten Anzahl von Romanen die Großstadt-
darstellung im Wandel darzustellen. In einem Ausblick soll die literarische Verar-
beitung dieses Wandels jedoch kurz vorgestellt und Forschungsansätze im Hinblick
auf eine diachrone Betrachtung der Stadtidentität dargestellt werden.
Obwohl Havanna auch zum Sujet der Lyrik geworden ist, soll in dieser Arbeit die
Darstellung der Stadt ausschließlich im Romangenre betrachtet werden,
6
denn in
der außereuropäischen Literatur werden Städte, ebenso wie in der europäischen,
überwiegend durch Prosatexte charakterisiert (Daus 1987: 36f.). Zwischen Roman
und Stadt besteht eine Affinität, eine wechselseitige Anziehung des Gegenstands
Stadt und der Gattung Roman, da die Komplexität und der Rhythmus der Stadt im
Roman, der eine parallele Form begünstigt, besser wiedergegeben werden können
(Klotz 1969: 10f.).
Im Rahmen dieser Arbeit geht es nicht darum, herauszufiltern, ob oder inwieweit
die untersuchten Romane den Definitionskriterien der Großstadtliteratur entspre-
chen,
7
sondern um das in den Romanen erzeugte Bild Havannas und um die Iden-
tität Havannas in ausgewählten vorrevolutionären Werken. Auf inhaltlicher Ebene
soll deshalb einerseits die Darstellung der Stadt als räumliches Phänomen unter-
sucht werden. Andererseits soll, anhand der Darstellung der Stadtgesellschaft im
Roman, untersucht werden, in welchen Punkten der einheimische und der fremde
Blick auf die Stadt voneinander abweichen. Dabei soll die Analyse der räumlichen
5
Im Weiteren werde ich den Kurztitel Mambo Kings verwenden, um diesen Roman zu bezeichnen.
6
Einen Überblick über die literaturhistorische Entwicklung des Gegenstands Havanna in der Lyrik bietet
die von A. Augier herausgegebene Anthologie Poesía de la ciudad de la Habana (2001).
7
Nicht jeder Roman, der in einer Großstadt spielt, ist ein Großstadtroman. Für V. Klotz ist dies nur ein sol-
cher, der sich voll und ganz der Stadt verschreibt, dessen Aufbau, Sicht und Stil von der Stadt geprägt ist
(1960: 10f.).

6
und gesellschaftlichen Stadtdarstellung nicht darauf abzielen, anhand der Romane
sämtliche Facetten des realen vorrevolutionären Havannas zu reproduzieren. Viel-
mehr soll versucht werden, herauszufiltern, welches die Besonderheiten der Dar-
stellung der einzelnen Autoren sind, und inwiefern diese miteinander kontrastieren:
Was für eine Textstadt wird entworfen? Wie unterscheidet sich der Havannaentwurf
des Kubaners Cabrera Infante von den Entwürfen der nichtkubanischen Autoren?
Und durch welche literarischen Mittel geschieht dies?
Das ,Großstadtgefühl` in Havanna ist durch andere Merkmale geprägt als jenes in
europäischen Metropolen. Da ein Wissen um die lokalen Begebenheiten und den
historischen Kontext Havannas nicht vorausgesetzt werden kann, wird der Ge-
genstand des nächsten Kapitels eine knappe Darstellung der Geschichte und der
Besonderheiten des vorrevolutionären Havannas als lateinamerikanische Metro-
pole sein, um die Stadtdarstellung in den Romanen durch einige Hintergrundinfor-
mationen zu untermauern. Daneben werden auch die dieser Arbeit zugrunde lie-
genden Analysekriterien erläutert und ein Überblick über die literarische Verarbei-
tung der Großstadt in der nichteuropäischen Literatur geboten.
2. Havanna als Großstadt in der Literatur: Theoretische Vorüberlegungen
2.1. Charakteristika der kolonialen Großstadt
Seit Anfang des 20. Jahrhunderts unternehmen Soziologen, Anthropologen und
Kulturhistoriker Versuche, die Stadt als physisches und kulturelles Phänomen zu
erklären und die essenziellen Charakteristika der Großstadt zu definieren (Wirth-
Neschner 1996: 5f.). Die traditionelle Städteforschung ist jedoch eine eurozentri-
sche Wissenschaft. Die Stadt wird als europäisches Gebilde klassifiziert, über das
Wesen der Stadt reflektiert, ,,um die Eigentümlichkeiten des menschlichen Lebens
in großen Gemeinschaften auf sehr gedrängtem Raum erkennen, interpretieren
und systematisieren zu können" (Daus 1987: 17). Dabei wurden bislang europäi-
sche Besonderheiten gesetzmäßig verallgemeinert und auf alle Städte bezogen
(ebd.: 18). Um von einer eurozentrischen Perspektive abzurücken, sollen die Cha-
rakteristika außereuropäischer - im Speziellen lateinamerikanischer ­ Metropolen
erläutert werden, die sie von einer ,klassischen` europäischen Metropole unter-
scheiden.
Der Großteil der außereuropäischen Metropolen sind ehemalige Kolonialstädte. Sie
wurden als Beweise der Macht, als Stätten des ökonomischen, administrativen, kul-
turellen und militärischen Einflusses der Kolonialherren gegründet und waren in er-

7
ster Linie Aktionsraum des Fremden. Ihr Schicksal war bestimmt von fremdge-
lenkten Entwicklungen, von wirtschaftlichen und politischen Zielen des Eroberer-
staats, weiterhin auch vom Weltmarkt und der Weltpolitik. In den Kolonialstädten,
allesamt Subzentralen der Kapitale im Mutterland, bündelten sich alle Staatsfunk-
tionen der Kolonialmacht. Sie waren in sozioökonomischer, architektonischer, geo-
graphischer und topographischer Hinsicht Stellvertreterstädte ihrer Metropole. Ein-
heimische Denk- oder Bauweisen etc. wurden zunächst nicht beachtet; das Modell
der Kolonialstädte war stets Europa. Als ihr Gegenstück wurde nicht der umlie-
gende rurale Raum, sondern die weit entfernte europäische Metropole gesehen
(Daus 1987: 22f.).
In den lateinamerikanischen Kolonialstädten, Schnittstellen der Kulturen, bündelten
sich zunächst die Gegensätze zwischen den autochthonen und den fremden, den
traditionellen und den modernen Elementen (Bernal 1980: 5). Mit der Zeit kam es
jedoch auch zu kulturellen Mischphänomenen der Kolonialkultur mit derjenigen der
ursprünglichen Bevölkerung und der der herbeigeschafften Sklaven.
8
Im Erschei-
nungsbild der Metropole, in Lebensstil, Verhalten und Kultur der Einwohner mani-
festierte sich zunehmend die Überlappung der Kulturen, die ,,Assemblage" (Daus
1987: 25). Aus der Fusion verschiedener Elemente konnte in Religion, Musik,
Tanz, Sprache, Architektur etwas synkretistisches Neues aus den alten Teilen ent-
stehen (Kühnapfel 1989: 11).
Dennoch ist der Referenzpunkt der Kolonien auch nach der politischen Unabhän-
gigkeit meist noch Europa: Der Umgang mit der aus den verschiedenen Kulturen
hervorgegangen eigenen nationalen Identität ist ambivalent. Indigene oder von
Sklaven beigesteuerte afrikanische Elemente der Kultur werden abgewertet. Dage-
gen wird die europäische Lebensart mit zivilisiertem Verhalten gleichgesetzt, was
sich in der Imitation von Verhaltensweisen und in Statussymbolen nach europäi-
schem Vorbild abzeichnet (Bernal 1980: 68f.).
Im Laufe des 20. Jahrhunderts wird der europäische Einfluss fast in allen entkolo-
nialisierten Metropolen durch den US-amerikanischen ersetzt. Es entsteht eine un-
spezifische, kosmopolite Kultur in den Städten. Durch die Massenmedien getragen,
entsteht in allen Gesellschaftsschichten ein Lebensstil, dessen angestrebtes Ziel es
ist, international zu sein (ebd.: 70f.). Ab den 1940er Jahren zieht die Moderne in
Lateinamerika ein. Die Hauptstädte wandeln sich rasant von einst friedlichen Kolo-
nialstädten zu riesigen ,megapolis`, in denen sich Kontradiktionen bündeln (ebd.:
8
Havanna ist in dieser Hinsicht ein Sonderfall. Zwar gab es auch hier Prozesse der Assemblage, der sich
aber durch das Fehlen von Urbevölkerung ­ die kurz nach der spanischen Eroberung ausgerottet war ­
auf die Vermischung der kolonialen Kultur mit der der Sklaven beschränkte.

8
1). Verglichen mit dem Anwachsen und dem Strukturwandel der europäischen
Städte nach der Industrialisierung ist der Wandel in Lateinamerika deutlich rasanter
und größer im Ausmaß (ebd.: 53).
Neue Elemente wie Werbetafeln, internationale Hotels, Banken und multinationale
Konzerne halten Einzug in die Stadt und erweitern das Spektrum der Stilmischung
in ihr. Die Städte werden zur Collage der Spuren der Einflüsse, die die ausländi-
sche Präsenz hinterlässt. Es wird immer schwieriger, die komplexe Atmosphäre der
lateinamerikanischen Großstadt zu entziffern (ebd.: 71f.). Mehrere gesellschaftliche
Normen, Traditionen, Sprachen und Einflüsse existieren neben- und gegeneinan-
der (Daus 1995: 11).
2.2. Die Großstadt in der Literatur
Da in dieser Arbeit die Auseinandersetzung mit Havanna in der Literatur im Mittel-
punkt steht, soll hier ein Überblick darüber gegeben werden, wie die Stadt in der la-
teinamerikanischen Literatur bis jetzt dargestellt wurde, und wie sie durch euro-
päische oder nordamerikanische Augen betrachtet wurde. Zwangsläufig muss des-
halb die Betrachtung der europäischen Großstadt in der Literatur in den Hinter-
grund treten.
9
Europäische Bilder der Stadt interessieren in diesem Zusammen-
hang nur als Kontrast zum Bild der lateinamerikanischen.
Metropole und Moderne sind, diesseits und jenseits des Atlantiks, zwei nicht von-
einander trennbare Phänomene (Scherpe 1988a: 8).
10
Die moderne Großstadt gilt
­ überall auf der Welt ­ als die ,,gravierendste Revolution für die Struktur der Erfah-
rung" (Fisher 1988: 106). Uneinigkeit herrscht lange Zeit lediglich darüber, ob die
Großstadt eine ungesunde Reizüberforderung darstellt, vor der sich der Großstäd-
ter durch die Ausbildung von ,,Blasiertheit" schützen muss, oder ob aus den verän-
derten Wahrnehmungsmustern auch ein Gewinn für die Kunstproduktion resultie-
ren kann. Die bedeutendsten Vertreter dieser beiden konträren Pole sind Georg
Simmel einerseits und Walter Benjamin andererseits.
11
Während sich das Wesen der europäischen Städte schon mit der Industrialisierung
grundlegend wandelte, erreichte der Transformationsprozess der lateinamerikani-
schen Städte erst Mitte des 20. Jahrhunderts seinen Höhepunkt. Aus den alten Ko-
9
Für eine ausführliche Darstellung der literaturhistorischen Entwicklung sei auf Corbineau-Hoffmanns
Kleine Literaturgeschichte der Großstadt (2003) verwiesen.
10
Der griechische Terminus ,metrópolis` bezeichnete ursprünglich die Mutterstadt, von der aus Tochter-
städte gegründet wurden. Erst später kam es zu einer Überlagerung dieses Bedeutungsinhalts durch die
Idee der Zentralität (Moser 2005: 11).
11
Zu den konträren Sichtweisen Simmels und Benjamins vgl. Hauser (1990) und Smuda (1992).

9
lonialstädten wurden, in einem gewaltigen und abrupten Wandel, moderne Metro-
polen. Traditionelle Zentren wurden zerstört, die Bevölkerungszahlen explodierten,
das Stadtgebiet wuchs rasant an (Álvarez-Tabío 2000: 318f.). Die ,neuen`, mit den
alten nicht mehr vergleichbaren Städte entwickelten sich allmählich zum Ort und
zum Sujet der Moderne (ebd.: 15).
In Europa setzte der Prozess der Auseinandersetzung mit der neuen Realität früher
ein, da die Städte bereits früher ihr Wesen geändert hatten. Die Möglichkeiten der
Stadt als Objekt der Fiktion wurden Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckt. Es ent-
standen im Realismus die ersten Romane, die die neue industrialisierte Stadtreali-
tät schilderten und nach innovativen Ausdrucksformen suchten (Bernal 1980: 27f.).
Da die Erzählbarkeit der Großstadt abhängig vom Gegenstand ist, müssen Inhalt
und Form der Literatur im Versuch der Mimesis dem neuen Gegenstand der mo-
dernen Großstadt angepasst werden (Scherpe 1988a: 8). Der Versuch, die Stadt
zu erfassen, stellt Autoren nicht nur vor inhaltliche, sondern auch vor formale Pro-
bleme. Die neue Stadtrealität braucht neue Ausdrucksformen, die Schriftsteller ein
neues literarisches Inventar. Dabei sind Technik und Themen eng mit der (Sozial-)
Geschichte der Stadt verbunden (Bernal 1980: 29). Während sich die heutigen Me-
tropolen herausbildeten, entwickelte sich auch die Literatur in der Ausei-
nandersetzung mit dem Gegenstand Stadt weiter (Corbineau-Hoffmann 2003: 7f.).
Bei den Schriftstellern der Moderne wurde die Stadt nicht mehr bloß als ein Sujet,
sondern als eine Bewusstseinsstruktur gesehen (Fisher 1988: 112). Autoren wie
Döblin, Dos Passos oder Joyce ließen bereits seit den 20er Jahren die mediale und
funktionale Brechung der Großstadtwahrnehmung in ihre Texte einfließen (Scherpe
1988b: 141).
In Lateinamerika fanden ähnliche Prozesse ab Mitte des 20. Jahrhunderts statt. Die
nueva novela brach mit vorherigen literarischen Traditionen und machte die Stadt
als Ort der Gegensätze und der gravierenden sozioökonomischen Veränderungen
zum literarischen Stoff (Bernal 1980: 45). Da die lateinamerikanischen Metropolen
ein neues und unvergleichbares Phänomen waren, so wie auch die europäischen
Metropolen zu Beginn der Industrialisierung, verlangten sie einen Stil der Wieder-
gabe, der mit ihrer Essenz korrespondierte (ebd.: 37f.). Der Aufstieg des Stadtro-
mans war eng verbunden mit neuen narrativen Techniken, die der lateinamerikani-
schen Großstadt als Gegenstand angepasst waren (Carpentier 1981: 14f.).
Lateinamerikanische Hauptstädte bündeln die komplexe Gesamtheit der sich wan-
delnden Realität. Sie sind charakterisiert durch eine enorme demographische Ent-
wicklung, anonymes Leben, aggressiven Verkehr, exzessives Konsumverhalten.
Ihre Charakteristika machen sie eher mit anderen Großstädten der Dritten Welt als

10
mit europäischen oder nordamerikanischen Metropolen vergleichbar: Für Carpen-
tier, der sich mit der lateinamerikanischen Stadt und deren literarischer Darstellung
intensiv auseinander setzte, war dies eine Tatsache, die sich im lateinamerikani-
schen Großstadtroman reflektieren musste (Dill 1992: 167). Carpentier kritisierte,
dass lateinamerikanische Schriftsteller dem naturalistischen Entwurf Zolas zu lange
so getreu gefolgt waren, dass sie es verpassten, eine Technik zu entwickeln, die
den Eigenheiten der lateinamerikanischen Städte entsprach (Bernal 1980: 34).
Nach Carpentier bestand die Schwierigkeit darin, eine spezifische literarische Form
zu finden, durch die die lateinamerikanische Großstadt repräsentiert werden kann,
ohne die europäischen Realisten zu kopieren oder andere europäische oder nord-
amerikanische Modelle des Stadtromans, wie James Joyce´ Ulysses oder Dos
Passos´ Manhattan Transfer, zu übernehmen (Dill 1992: 167).
Die außereuropäische Großstadt konnte lange, anders als die europäische, keine
in der eigenen Literatur verfestigte Physiognomie vorweisen, was es den Autoren
erschwerte, die Essenz einer solchen Stadt einzufangen (Bernal 1980: 55). Der
neue großstädtische Lebensraum musste noch beschrieben und definiert, den
Städten ,,vida verbal" eingehaucht werden (Carpentier 1981: 14), der Typus des la-
teinamerikanischen ,,hombre-ciudad-del-siglo-xx", den die nach dem zweiten Welt-
krieg rasant anwachsenden Städten hervorgebracht haben, noch literarisch re-
flektiert werden (ebd.: 80).
Dagegen hatte die klassische europäische und nordamerikanische Städteliteratur
traditionell die eigenen Metropolen ins Zentrum gerückt und bisweilen nostalgisch
verklärt (Projektgruppe Neue Weltstadt: 7), sodass Europas Metropolen zu unver-
wechselbaren Markenzeichen geworden waren, die für bestimmte Charakteristika
oder menschliche Regungen ihrer Bewohner standen (Daus 1987: 18). Neben der
literarischen Formierung einer unverkennbaren individuellen Stadtidentität ergaben
sich auch verallgemeinerbare Kennzeichen der Großstadt und der Großstädter.
Georg Simmels Thesen über Die Großstädte und das Geistesleben (1903) prägen
die vorherrschenden Vorstellungen über den europäischen Großstädter. Die Stadt
ist, dem Entwurf Simmels folgend, literarisch immer wieder als Stätte des Über-
maßes, der Vereinsamung und der Isolation dargestellt worden (Corbineau-Hoff-
mann 2003: 9f.). Zu wiederkehrenden Themen der europäischen Städteliteratur
wurden der Kampf gegeneinander, der den Kampf gegen die Natur ersetzt, die
Großstadt als Ort der Sinnesüberforderung, die Nachbarschaft als anonymes und
indifferentes Kollektiv, in dem der Großstädter als indifferenter, einsamer, entfrem-
deter Mensch lebt (Klotz 1969: 436f.). Es entstand ein feststehendes Repertoire an
Leitmotiven, die die europäischen Städte teilen. Das Leben in nichteuropäischen

11
Großstädten ist jedoch durch andere Faktoren geprägt. Die europäischen Leitmo-
tive müssen nicht zwangsläufig auch auf lateinamerikanische Städte zutreffen
(Daus 1987: 20). Zwar werden mitunter auch in der lateinamerikanischen Literatur
mit der Entfremdung und der Einsamkeit Aspekte des Großstadtlebens zum Thema
gemacht, die keine Lateinamerika-spezifischen Phänomene darstellen.
12
Trotzdem
weisen lateinamerikanische Städte, wie dargestellt, Eigenheiten auf, die sie von eu-
ropäischen Städten unterscheiden, und die auch literarisch verarbeitetet werden.
Ein ausschließlicher Vergleich mit europäischen Tendenzen der Stadtdarstellung
würde diese Besonderheiten ,untergehen` lassen.
Was aber veranlasst einen Europäer oder Nordamerikaner dazu, über nichteuro-
päische Großstädte zu schreiben? Andersartige Großstädte außerhalb Europas
werden häufig als Negative der eigenen Metropolen gesehen, da ihre Ordnung un-
verständlich wirkt (Daus 1987: 19). Werden die Großstädte in ihrer Andersartigkeit
akzeptiert, werden sie oft auf ein bestimmtes Kennzeichen der Stadt reduziert und
stereotypisiert (Daus 1992: 15). Mit der subjektiven Erfahrung des Reisens verbin-
den sich häufig Versuche, Exotisches und Fremdes einordnen und kategorisieren
zu können. Oft geht es den Schriftstellern in der Fremde um ein synästhetisches
Gesamtbild der neuen Umgebung. Durch alle Sinnesorgane soll das bislang Unbe-
kannte bewältigt und erobert werden. Dieser Versuch des Einvernehmens der neu-
en Welt stellt ,,die höchste denkbare Expansion menschlicher Sehnsucht dar"
(Daus 1990: 105). Die literarische Verarbeitung dieser Aneignung des Fremden ist
vor allem zwischen 1850 und 1950 Sujet von Autoren, die selbst durch ausge-
dehnte Reisen oder lange Aufenthalte in Kolonien Auslandserfahrung gesammelt
haben (ebd.: 114). Oft wird in den literarischen Entwürfen ein Ausländer, der in der
fremden Gesellschaft ebenso wie in der eigenen Gesellschaft eine Außenseiterpo-
sition einnimmt, zum Hauptprotagonisten der Fiktion (ebd.: 117).
Dabei sind die Schriftsteller nicht immer positiv dem Kolonialismus gegenüber ein-
gestellt. Graham Greene, für Daus ,,Musterbeispiel für den kritischen weltenbum-
melnden Romancier", wählt in seinen frühen Romanen immer wieder kontrastie-
rende kolonialstädtische Schauplätze, um gerade die negativen Seiten des Koloni-
alismus aufzuzeigen (ebd.: 124). Auch Hemingway kann in diese Tradition der rei-
senden Schriftsteller eingereiht werden.
12
So gilt beispielsweise Onettis Tierra de nadie als klassischer lateinamerikanischer Entfremdungsroman
­ die Romanfiguren sind anonyme, entwurzelte Gestalten, die das ,Niemandsland` Buenos Aires bevölkern
(Ainsa 2002: 24f.).

12
2.2.1. Darstellungstendenzen der Großstadt im lateinamerikanischen Roman
In der Städteliteratur wird die Stadt oft als Antithese zur Natur konstruiert, wobei die
Natur als zeitloses und zyklisches Phänomen das ,,Modell des Bewährten, Richti-
gen und Guten" verkörpert, während die Stadt für Perversion, ,,Unüberschaubarkeit
und Wucherung, Masse, Lärm, Schmutz, Verbrechen, Entfremdung, Entwurzelung,
Funktionalisierung, Zersplitterung, Chaos, Künstlichkeiten, Intellektualismus" steht
(Gotzmann 1990: 11). Die lateinamerikanische Literatur ist hier keine Ausnahme,
denn in der Stadt-Land-Dualität manifestiert sich ein universeller mythischer und
ambivalenter Kontrast: Kultur gegen Natur, Moderne gegen Tradition, Neues gegen
Archaisches, Zivilisation gegen Barbarei (Bernal 1980: 17).
In der lateinamerikanischen Literaturgeschichte steht zunächst die Auseinander-
setzung mit der immensen, feindlichen Natur im Vordergrund, wie in den ,novelas
de la tierra` (Arroyo 1980: 259f.). Nach der industriellen Revolution und mit zuneh-
mender Verstädterung rückt die Stadt-Land-Dichotomie in den Vordergrund, die
sich in einer literarischen Polarisierung zwischen urbanismo und regionalismo aus-
drückt (Bernal 1980: 15). Die Städte werden von Verfechtern des regionalismo als
,,cosmopolitas y extranjerizantes" abgetan, während der rurale Raum als Hüter der
wahren Traditionen und Werte der ,wahren` nationalen Identität gesehen wird (Ar-
royo 1980: 260f.). Die künstliche Umgebung, die Korruption und der Verderb in der
Stadt werden als Negativ des Einklangs mit der Natur und der Reinheit des einfa-
chen, tugendhaften Landlebens bewertet. Der rurale Raum wird mit zunehmender
Verstädterung idealisiert und zum Arkadien oder verlorenen Paradies verklärt (Ain-
sa 2002: 19). Anhänger des urbanismo stellen hingegen dem kulturellen Leben der
Stadt die ,,idiotez rural" und der Dynamik der Großstadt die statische Realität der
ländlichen Gebiete gegenüber (Bernal 1980: 15). Das Anwachsen der Städte erfor-
dert schließlich die Abkehr von Dorf, Landschaft und Natur als Schauplatz oder
Thema der Literatur. Carpentier befindet das Festhalten an regionalismo, criollismo
und nativismo, die bis in die 1920er und 1930er die lateinamerikanische Literatur
prägen, als obsolet (Dill 1992: 167).
Schriftsteller wie Roberto Arlt, Manuel Puig, Mario Onetti, Ernesto Sábato oder Car-
los Fuentes beginnen zu dieser Zeit, sich den ,neuen` Städten des lateinameri-
kanischen Kontinents zu widmen.
Die neue Literatur beschäftigt sich mit der gesellschaftlichen Stadtrealität und bietet
el condensado reflejo de las tensiones políticas, económicas y culturales de la ciudad. En
su crecimiento arbitrario, ruidoso y confuso, ya no se reconoce el sosegado pasado colo-
nial o el entusiasmado ingreso a la modernidad finisecular simbolizado por el trazado de
grandes paseos y bulevares [...] (Ainsa 2002: 26).

13
Der Verfall, die schnelle Verstädterung, das Anwachsen zur ,Megapolis`, die Wider-
sprüche und Kontraste innerhalb der Stadt und das daraus resultierende chaoti-
sche Leben sind wiederkehrende Topoi, aber auch gesellschaftliche Aspekte wie
politische Repression, Spannungen oder Gewaltherrschaften, die das städtische
Leben in Lateinamerika prägen, werden reflektiert (ebd.). Andere Autoren proble-
matisieren dagegen die charakteristische Präsenz des Fremden/ Ausländischen in
der Kolonialstadt und die daraus resultierende Hybridisierung der Kultur oder die
sozialen Probleme in den Elendsvierteln, die im Zuge der Verstädterung an den
Stadträndern wachsen (Bernal 1980: 57f.). Durch ihr rasantes Wachstum büßen
die Städte ihr Zentrum bzw. ,,las visiones jeraquizadas y concentricas del centro"
ein und verändern ihre Struktur. Die Literatur folgt dieser Entwicklung ebenso wie
die europäische Literatur nach der Industrialisierung. Nach und nach werden einst
,marginale` Viertel ­ Armenviertel, Slums etc. zum Zentrum der Literatur. Straßen-
kinder, Obdachlose, und Betrunkene werden zu Protagonisten, im Mittelpunkt steht
das Überleben in der Großstadt (Ainsa 2002: 30f.).
13
Die Tendenz der europäischen Literatur, die Stadt als ein negatives Bedeutungs-
zentrum zu begreifen, findet sich auch in der lateinamerikanischen Literatur wieder:
Die Stadt wird gezeichnet als Ort der Laster, des Körpers, der Macht, des Besitzes,
wird symbolisch zu Hure, Dschungel oder Schlachthof (Scherpe 1988b: 130). Da-
bei greifen die Autoren auf ein Archiv negativ kodierter Großstadtmythen zurück,
,,das in die Moderne tradiert und dort neu formuliert wird" (Scherpe 2005: 35). Mit
den Urbanisierungsprozessen finden Vorstellungen der städtischen Apokalypse
Eingang in die lateinamerikanische Städteliteratur (Gómez García 1996: 44).
14
2.2.2. Literaturwissenschaftliche Ansätze zur Analyse von Großstadtliteratur
In der Forschungsliteratur herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass ein ,wirkli-
cher` Großstadtroman nicht nur das mit bloßem Auge Wahrnehmbare, sondern
auch abstrakte Funktionssysteme zeigen (Scherpe 1988a: 8), nicht nur ,,den Stadt-
raum teilweise und womöglich insgesamt vorführen", sondern auch ,,das Widerspiel
von Ereignissen und deren Reflexen" in der Gesellschaft beschreiben soll (Klotz
1969: 419).
13
Roberto Arlt reflektierte in seinem Werk die durch die Verstädterung entstehenden sozialen Probleme,
so in El juguete rabioso (1929), Los siete locos (1930) oder Los lanzallamas (1931) (Gómez García 1996:
41).
14
Obwohl pessimistische literarische Entwürfe fast alle Städte treffen, wird keine andere Stadt so apoka-
lyptisch dargestellt wie Mexiko-Stadt. Hier prallen die Kontraste zwischen Tradition und Moderne und an-
dere Extreme besonders stark auf einander (Ainsa 2002: 27).

14
Nicht jeder Roman, der in einer Stadt spielt, kann als Großstadtroman klassifiziert
werden. Sowohl in der europäischen als auch in der lateinamerikanischen Literatur
dient die Stadt in manchen Werken lediglich als Schauplatz der Handlung, histori-
scher Hintergrund oder als Werkzeug, Lokalkolorit zu erzeugen (Chamberlain
1980: 2). Letztendlich entscheidet also erst die Integration der Stadt in den Ge-
samtkontext des Romans über das strukturelle Hervortreten der Stadt und deren
thematische Bedeutsamkeit und somit darüber, ob ein Roman als Großstadtroman
klassifiziert werden kann (Kreutzer 1985: 73).
Die Komplexität der Großstadt wird vom jeweiligen Autor auf andere Art und Weise
zusammengeschnitten (Scherpe 1988a: 8). Der Autor ist selbst ein ,Leser` der
Stadt, der ihre Komponenten, abhängig von seiner sozialen und kulturellen Posi-
tion, unterschiedlich stark gewichtet, manche Elemente betont oder andere aus-
spart (Wirth-Neschner 1996: 7). So kann der Roman die Stadt sowohl plastisch
hervorheben, als auch nur umrisshaft Großstadtverhältnisse reflektieren (Kreutzer
1985: 15). Die Darstellung derselben realen Begebenheiten kann, abhängig auch
vom literaturhistorischen Kontext, durch unterschiedliche Techniken, Denkweisen,
Sprache oder Humor gekennzeichnet sein. Verschiedene Intentionen, Motivationen
und Interessen können sich hinter der Darstellung der Stadt verbergen (Bernal
1980 60f.). Dementsprechend kann die Repräsentation einer Stadt im Roman di-
vergieren.
Man kann zwischen unterschiedlichen Funktionstypen von Textstädten unterschei-
den: es können Städte des Realen entstehen oder Städte des Imaginären, die Dar-
stellung kann prototypische oder mythische Elemente betonen oder die Stadt zur
Allegorie werden lassen (Mahler 1999: 25).
15
Während Städte des Imaginären ei-
nen traumhaften, mentalen, metaphorischen Raum, der an eine personale Sicht-
weise gebunden ist, anstelle des Abbilds einer realen Stadt treten lassen, werden
in einem Text, der eine Stadt des Realen produziert, Aspekte der wirklichen Stadt
rekonstruiert (ebd.: 32f.). Die Darstellung intendiert eine mimetische Illusion ­ wich-
tige Merkmale realer Städte werden in den Roman importiert, indem Autoren z. B.
auf reale Straßennamen, wirkliche Gebäude, bekannte Merkmale zurückgreifen.
Außer der Evokation der realen Stadt durch reale Merkmale kann ein Autor sich
auch auf ein Repertoire literarischer und außerliterarischer Vorstellungen beziehen
(Wirth-Neschner 1996: 10). Die literarische Großstadtdarstellung kann sich auch
15
Die allegorische Funktionalisierung der Stadt überwog bis zum 19. Jahrhundert. Die Stadt war oft nur
der Anlass für die Ausfaltung einer anderen Idee ­ die Stadt stand für Tugend oder Laster, Katastrophe,
Chaos etc (Mahler 1999: 26ff.). In der Moderne steht diese Funktionalisierung jedoch zur Disposition, die
symbolische Anziehungskraft der Stadt schwindet (Scherpe 1988b: 138, 145).

15
auf einige wenige Bedeutungskomponenten reduzieren, so dass prototypische
Merkmale oder Eigenschaften zum prägnanten Gesicht der Stadt werden. Durch
eine solche prototypische Darstellung kann die Literatur zu einer Formierung oder
Verfestigung eines stereotypen Stadt-Images beitragen (Weich 1999: 37; 45). Im
Gegensatz dazu werden in einer mythischen Darstellung ,,heterogene Elemente zu
einem homologen Ganzen akkumuliert und kollektiv verankert", so dass die städti-
sche Wirklichkeit hinter einem größeren Bild der Stadt zurücktritt. Paris würde z.B.
in einer solchen Darstellung ausschließlich über seine Bedeutung als Stadt der
Liebe gezeichnet (ebd.: 50).
In der Forschungsliteratur, die sich mit dem Gegenstand Großstadt in der Literatur
auseinander setzt, lassen sich grob zwei Linien ausmachen. Kritiker, die sich spe-
ziell mit der außereuropäischen Großstadt in der Literatur beschäftigen, verfolgen
meist einen gesellschaftlichen, oft sozialkritischen Ansatz. Die äußere Form der
Romane, ihre Darstellungsweise und Ästhetik werden meist hinter die Analyse re-
aler sozialer Konflikte und des Problematischen in der Gesellschaft zurückgestellt.
Anhand der Texte sollen ,,tieferliegende[n] Meinungen und Empfindungen der Men-
schen eines Ortes und einer Zeit" erfasst werden (Daus 1987: 33). Dieser literatur-
soziologische Ansatz geht von der Annahme aus, dass man von dem fiktionalisier-
ten Abbild der Realität in der Literatur auf reale Begebenheiten zurückschließen
kann. Die Analyse der Stadttexte soll dazu beitragen, ein Bild der Stadt und deren
Lebensgefühl herauszuarbeiten, das nicht durch eine eurozentrische Sichtweise
verfärbt ist. Hier geht es darum, ,,das entscheidende Fundament des spezifisch Ur-
banen" herauszufiltern (ebd.: 33f.).
Auf der anderen Seite steht ein literarisch-orientierter Ansatz der Analyse der
Großstadtliteratur. Literaturwissenschaftler, die sich eher auf die Ästhetik der Dar-
stellung konzentrieren, interessieren sich meist weniger für die idiosynkratischen
Eigenheiten einer spezifischen Stadt, sondern für das ,Großstädtische`, den ,Geist
der Großstadt` und dessen literarische Evokation. Vertreter dieser Linie gehen von
der Annahme aus, zwischen der Stadt im Text und der realen Stadt bestünden kei-
ne Kausalitäten. Ein extremes Beispiel ist hier Álvarez-Tabío:
Cada construcción textual del lugar implica, en gran medida, la representación simbólica
de un territorio interior. Por eso, no vale la pena intentar comparar un lugar real con su re-
presentación textual porque, literalmente, no hay lugar para otra cosa que no sea una in-
terpretación subjetiva (Álvarez-Tabío 2000: 21).

16
Für die Analyse der Romane wird hier ein Mittelweg zwischen den beiden extremen
Polen gewählt. Der Analyse liegt die Annahme zugrunde, dass die reale Stadt exis-
tiert, aber im Roman künstlerisch bearbeitet wird. Somit ist sie gleichzeitig in der
Realität und in der Imagination verankert. Die Literatur soll nicht auf ,,eine doku-
mentarische oder illustrative Funktion verkürzt" werden, sondern auch die spezi-
fisch literarischen Darstellungsprinzipien und die durch sie vermittelten Stadtbilder,
also ,,die narrative Fiktion und deren Struktur, die Konkretisierung und Reflexion ur-
baner Realität in ihrem sozialen, historischen Kontext" sollen untersucht werden
(Kreutzer 1985: 15).
3. Die Stadt Havanna in ihrer geschichtlichen Entwicklung
Kolumbus ,entdeckte` am 27. Oktober 1492 Kuba für die europäische Hemisphäre
und befand die Insel als ,,das schönste Land, das Menschenaugen je erblickten"
(Stanley 2001: 106). Bereits 1511 wurde Kuba als eine der ersten Kolonien der
spanischen Krone unterstellt. Gleichzeitig war die Insel auch die letzte Kolonie, die
Spanien in Lateinamerika verlor. Für Kuba stellte dies jedoch keine erfolgreiche
Durchsetzung seiner Unabhängigkeitsbemühungen dar. Nachdem bereits der erste
Unabhängigkeitskrieg von 1868 gescheitert war, griffen die USA 1898 in den zwei-
ten Unabhängigkeitskampf ein, nachdem Separatisten und Spanier geschwächt
waren (Grau 1988: 27ff.). 1901 wurde eine erste kubanische Verfassung verab-
schiedet, die allerdings den USA ein Interventionsrecht einräumte, von dem diese
bis 1919 mehrfach Gebrauch machten (Strosetzki 1994: 38). Soziale Unruhen und
gewaltsame Machtwechsel prägten die Zeit bis 1959. Diktatorisch regierende Prä-
sidenten wie Machado und Batista wechselten sich als Marionetten der USA im
Amt ab. Über sechs Jahrzehnte prägen Korruption, Repressionen und Einfluss-
nahme der USA die politische Lage. Nur kurz unterbricht die Regierungszeit Grau
San Martíns mit wirtschaftlichen und sozialen Reformen die Abfolge diktatorischer
Herrschaft. Schon seit den 1920er Jahren organisiert sich jedoch aus Studenten-
und Arbeiterorganisationen eine oppositionelle Bewegung heraus, die untergründig
operiert und der 1959 mit der kubanischen Revolution der endgültige Umsturz ge-
lingt (Hoffmann 2002: 41-62).
Havanna spielte von Beginn der spanischen Eroberung an eine bedeutende Rolle.
Bereits ab 1519 siedelten die Spanier auf dem Gebiet der heutigen Stadt. Die Sied-
lung hieß zunächst ­ nach dem Schutzheiligen der Reisenden ­ San Cristóbal de

17
La Habana (Segre 1997: 13)
16
. Während andere koloniale Hauptstädte als Zentren
der politischen, militärischen und geistlichen Macht der spanischen Kolonisatoren
an Orten gegründet wurden, an denen sich zuvor die Zentren der indigenen Kultu-
ren befunden hatten, wurde Havanna gegründet, weil es durch seine geographi-
sche Lage begünstigt war (Bähr/ Mertens 1995: 10f.). Die Bucht von Havanna bot
optimale Bedingungen für einen geschützten Hafen, und die Lage am Golfstrom
ermöglichte den Schiffverkehr in Richtung Spanien (Segre 1997: 14).
Die Siedlung dehnte sich, dank der zunehmenden strategischen Bedeutung des
Hafens, bereits Mitte des 16. Jahrhunderts rasch aus und wurde als ,,Schlüssel der
Alten zur Neuen Welt" zum Verwaltungszentrum der Spanischen Krone. Havanna
sollte nicht nur als Ausgangspunkt der Erschließung der Insel Kuba dienen, son-
dern vor allem auch als Ausgangspunkt der Kolonisierung Mittel- und Südamerikas
(Grau 1988: 15f.). Die Stadt wurde zum zentralen Umschlagplatz aller Waren von
und in die Kolonien; außerdem wurden von Havanna aus die blühenden Sklaven-
märkte Mittelamerikas beliefert. Havanna prosperierte durch seine Rolle als Han-
delszentrum, wurde aber gleichzeitig zum Angriffsziel von anderen europäischen
Seemächten sowie Freibeutern, weshalb bis ins 17. Jahrhundert Befestigungsanla-
gen wie das Castillo del Morro und die Batería de la Punta gebaut wurden, um die
Hafeneinfahrt zu schützen (ebd.: 17ff.).
Die Blüte Havannas hielt auch im 18. Jahrhundert an. Die Stadt baute ihre Stellung
als eines der Haupthandelszentren der Neuen Welt aus, wurde zum Stützpunkt der
spanischen Flotte in den Kolonien und 1728 zur Universitätsstadt. 1763 okkupierte
England die Stadt, gab sie aber 1763 im Austausch gegen Florida schwer zerstört
an die Spanier zurück. Aus der Phase des Wiederaufbaus datiert die noch heute
das Stadtbild prägende barocke Kolonialarchitektur (ebd.: 20f.).
Der Zuckerboom Mitte des 19. Jahrhunderts löste die Epoche Havannas als Um-
schlagplatz für Kolonialwaren ab. Die wirtschaftliche Blüte, die mit der Zuckerpro-
duktion einherging, führte in den folgenden Jahrzehnten zu Reichtum und erneu-
tem Aufschwung Havannas. Technische Erfindungen des frühen Kapitalismus, wie
Straßenbeleuchtung, Wasserleitungen, Kanalisation und die erste Eisenbahn-
strecke hielten Einzug (ebd.: 23ff.). Kulturelle Einrichtungen wie das Teatro Tacón,
Cafés und der botanische Garten wurden eingerichtet, Vozeigeboulevards wie der
16
Während die Frage nach dem Namenspatron zweifelsfrei geklärt ist, divergieren die Meinungen über die
ursprüngliche Bedeutung von `Habana´. Historiker Hugh Thomas führt den Namen auf den Begriff und die
Bedeutung von `Savanne´ zurück (Thomas 1971: 22), Segre verweist auf den Kaziquen Habaguanex oder
auf eine Ableitung von ,haven` als Namensgeber (Segre 1997: 12f.).

18
Paseo de Prado und Prachtstraßen wie die Avenida Carlos III angelegt und mit den
für Havanna so typischen überdachten Säulengängen gesäumt (Segre 1997: 33ff.).
Trotz fallender Zuckerpreise und fehlgeschlagenen Unabhängigkeitsbestrebungen
verfestigten sich bis Ende des 19. Jahrhunderts Eigenheiten der Stadt, die sie auch
später noch prägten. Dazu gehört das Image als Stadt des lasterhaften Vergnü-
gens, der Leichtlebigkeit und der Lebensfreude. Havanna wandelte seinen Cha-
rakter: Die Stadt wurde zur schillernden Metropole, der ein Ruf als eine der ele-
gantesten Städte Lateinamerikas vorauseilte (Grau 1988: 25). In der Stadt gab es
eine Vielzahl an Hotels, Restaurants, Cafés und anderen Vergnügungseinrichtun-
gen: 1885 existierten 200 registrierte Bordelle (Thomas 1971: 145; 287). Die Kehr-
seite des leichten Lebens waren gesellschaftliche Probleme wie Schmuggel, Ban-
denunwesen und Verelendung großer Teile der Bevölkerung (Grau 1988: 25).
Nach den Unabhängigkeitskriegen war Havanna stark heruntergekommen, die In-
frastruktur in Mitleidenschaft gezogen, arme Bevölkerungsschichten lebten in
slumartigen Yaguas am Stadtrand. Die US-Besatzer versuchten dem entgegenzu-
wirken und trieben das Wachstum einer modernen Stadt nach US-amerikanischem
Vorbild voran (Segre 1997: 51f.). Die Stadt dehnte sich stark aus, so dass Havanna
geographisch 1909 seine Größe im Vergleich zu 1899 verdoppelt hatte (Thomas
1971: 497). In den einst vornehmen Zentren Havannas wie Habana Vieja oder
Centro Habana machte sich die Prostitution breit; vom Land drängten sich neue
Einwohner in diese ehemals gutgestellten Viertel. Aus dem Wegzug der Reichen
resultierte der soziale Abstieg der Altstadt Havannas. Einstige Familienhäuser wur-
den in kleinere Einheiten unterteilt, und dienten fortan Dutzenden von Familien als
erste Unterkunft in Havanna (Eguren 1992: 161). Bessergestellte sehnten sich
nach einem Viertel ohne soziale Spannungen, weshalb neue Viertel wie der Ve-
dado entstanden, der im Gegensatz zur historischen Altstadt als Gartenstadt mit in
sich geschlossenen, geräumigen Villen angelegt wurde (ebd.). Die Bourgeoisie
versuchte, den Einfluss des ,,verstaubten" Spaniens abzuschütteln und ,,alle archi-
tektonischen und sonstigen Sitten des spanischen Festlands zu vermeiden", was
sich auch in der Durchnummerierung und schachbrettartigen Anlage der Straßen
nach amerikanischer Manier manifestierte (Schwarzwälder 2001: 113).
Havanna war zwar noch immer eine spanisch geprägte Stadt, der nordamerikani-
sche Einfluss machte sich aber zunehmend bemerkbar (Thomas 1971: 497).
Machado, scharfzüngig betitelt als ,,Mussolini tropical" und seit 1925 an der Macht,
wollte Havanna endgültig von seinem kolonialen Image lösen. Die Stadt sollte zu
einem ,Paris der Tropen`, einem ,Nizza Amerikas` werden und erhielt einige der
prototypischen Merkmale, die sie bis heute prägen. Das Washingtoner Kapitol wur-

19
de, als Symbol politischer Macht, in Havanna nachgestaltet, die Uferpromenade,
der Malecón, zu seiner heutigen Form ausgebaut (Eguren 1992: 161f.). Der Glanz
Havannas wuchs, Tourismus- und Werbeindustrie brummten, während die Altstadt
weiter zum Armenviertel verkam und die Bevölkerung unter den Repressionen Ma-
chados litt. In Folge der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre setzte sich außerdem
eine interne Migration in die Metropole in Gang, was eine verstärkte Slumbildung
zur Folge hatte (Phaf 1986: 68). Trotz Abschaffung der Sklaverei verschlechterte
sich in dieser Zeit auch die Situation der afrokubanischen Bevölkerung. Die Sphä-
ren der weißen und der schwarzen Bevölkerung waren strikt getrennt (Phaf 1983:
250).
Die Gesamtsituation änderte sich auch während der auf Machado folgenden Regie-
rungen nicht. Mit dem ersten Putsch Batistas 1933 machte ein zuvor unbekanntes
Maß an Repressionen Andersdenkenden und Künstlern das Leben schwer, Folte-
rungen waren an der Tagesordnung. Gleichzeitig wurde Havanna zunehmend zu
einer vom US-Kapital regierten Stadt (Eguren 1992: 163).
Das Havanna der 40er und 50er Jahre
Das Havanna der 40er und 50er Jahre war von Extremen geprägt: Extremer Luxus
und extremes Elend, Vergnügenssucht und Terroranschläge existierten in dersel-
ben Stadt. Auch die Jahre unter der zweiten Batistaherrschaft waren geprägt von
Brutalität, Verhaftungen, Morden und Bombenanschlägen (Thomas 1971: 972).
Daneben trugen auch Rivalitäten zwischen kriminellen Mafiabanden zu einer latent
gewalttätigen Atmosphäre bei (Cortanze 1999: 38). Unter der Oberfläche brodelte
es, Gewerkschafts- und Studentenbewegungen strebten danach, ,,das falsche Ge-
sicht der Metropole, die glitzernde Fassade, auf[zu]reißen" (Grau 1988: 34).
In den letzten beiden Jahrzehnten vor der Revolution war Havanna eine ,,small ,big`
city that had come to dominate an underdeveloped island" (Segre 1997: 87). Die
Kontraste zwischen ruralem und urbanem, zwischen innenstädtischem und subur-
banem Raum waren groß. Durch Landflucht schritt die Verstädterung Havannas
schnell voran, die Einwohnerzahl stieg von 250.000 im Jahre 1899 auf über eine
Million im Jahre 1953 an (Thomas 1971: 1095ff.). Damit war Havanna zu der Zeit
sechs Mal größer als Santiago, die zweitgrößte Stadt Kubas (Segre 1997: 95).
Die Verstädterung brachte gravierende Probleme wie Arbeitslosigkeit (Pérez 1999:
456), aber auch Umweltprobleme wie Verkehrsbelastung und Luftverschmutzung
mit sich (Segre 1997: 96). Die Kontraste innerhalb der Stadt wurden immer stärker,

20
Slums und luftige Wohngegenden am Meer existierten nebeneinander (Thomas
1971: 1099).
Rassensegregation und undurchlässige soziale Schichtung prägten die gesell-
schaftliche Lage (Segre 1997: 53). Die Stadt war räumlich in verschiedene soziale
Sektoren aufgespalten, durch die die bestehenden soziokulturellen Unterschiede
,,optisch wahrnehmbar reproduziert" wurden (Phaf 1986: 68f.). Der Eindruck einer
Stadt mit verschiedenen Gesichtern entstand. Dies ging einher mit dem Zerfall der
Stadt in mehrere Subzentren, der durch Batista gezielt vorangetrieben wurde. Das
Zentrum der Stadt wurde immer weniger lokalisierbar (Álvarez-Tabío 2000: 332).
Statt soziale Probleme anzugehen, ließ Batista nach seinem zweiten Putsch 1953
die Infrastruktur Havannas modernisieren. Im Rahmen eines Plans zur Dezentrali-
sierung der Stadt wurden Tunnel unter dem Almendares-Fluss und unter der Bucht
gebaut, um das Gebiet westlich und östlich der Stadt erschließen zu können. Au-
ßerdem wurde der alte Stadtkern remodelliert, Gebäude abgerissen, um dort mehr
freie Flächen zu schaffen und den Autoverkehr zu erleichtern (ebd.: 326f.). Wäh-
rend der Vedado als Zentrum des literarischen, kulturellen und intellektuellen Le-
bens und die neuangelegten Stadtteile Miramar und Country Club erblühten, sank
der Lebensstandard im einstigen Zentrum Habana Vieja weit unter Mittelklas-
seniveau, und auch die besten Zeiten des Stadtviertels als kommerzieller Bezirk
waren vorbei (Segre 1997: 97, 123).
Die Stadt sollte, als Fortführung der Ideen Machados, in eine ,capital mundial del
tiempo libre` verwandelt werden (Álvarez-Tabío 2000: 326). Bei diesen Vorhaben
wurde Batista von der US-amerikanischen Mafia unterstützt, die schon zu Ende der
Amtszeit Machados in den 30er Jahren großen Einfluss in Havanna hatte. Durch
Bestechung erhielten sie auch in den staatlichen Casinos die Rechte am legalen
Glücksspiel in der Stadt (Cirules 2004: 5). Unter Batistas Regierung arbeiteten Po-
litiker, Mafia, Gangster, Zuhälter und Polizei Hand in Hand: Profigangster kontrol-
lierten ab Mitte der 50er Jahre das Nachtleben der Stadt und investierten Millionen
in Bauprojekte (Cortanze 1999: 36). Im Vedado war der Bauboom unter Batista am
deutlichsten zu bemerken. Als Teil des Plans, Havanna zur Welthauptstadt des
Vergnügens werden zu lassen, wurden zahllose Hotels wie das Havana Riviera
oder das Hotel Nacional gebaut, zahllose Restaurants, Clubs, Villen errichtet.
Hochhäuser sollten das Gesicht der Stadt moderner werden lassen. Havanna be-
kam seine Skyline, das FOCSA und andere Wolkenkratzer entstanden entlang der
Küste. Die architektonische Moderne hielt Einzug in Havanna, was einherging mit
einer schleichenden ,Floridarisierung` der Baukunst (Álvarez-Tabío 2000: 329f.).

21
Der Tourismus wurde zu einem Hauptpfeiler der Wirtschaft. Havanna wurde als
tropisches Paradies und Spielhölle, als ,Monte Carlo der Karibik` vermarktet, in dem
der Tourist sich angeregt fühlen sollte ,,to sin in the sun" (Segre 1997: 76). Das
Tropicana, Kabarett unter freiem Himmel im exotischen tropischen Garten ­seinem
Slogan gemäß ,,un paraiso bajo estrellas" ­ und seine ,,mulatas de fuego" wurden
zum Symbol für das Havanna dieser Zeit (ebd.: 110). Im Austausch gegen Devisen
sollte den US-Touristen die Illusion dessen geboten werden, was sie erwarten ­
Tropen, Tanz und unzivilisierte Wildheit (Pérez 1999: 218). Graham Greene erin-
nert das Havanna der 50er als einen Ort der respektablen Nachtclubs und Caba-
rets ebenso wie des Glücksspiels, der Bordelle, der Erotikshows und Pornokinos
(Sunday Telegraph, 25.09.1963, zit. n. Cirules 2004: 17). Die zwielichtigeren Etab-
lissements konzentrierten sich in der Altstadt und in dem am Rande der Altstadt ge-
legenen Barrio Chino (Thomas 1971: 1097ff.).
Ausländer, überwiegend US-Amerikaner, Kanadier und Engländer, übten in diesem
Havanna großen gesellschaftlichen Einfluss aus und setzten die Standards des
upper class social life (ebd.: 1101f.). Kubanische Nationalität wurde von Auslän-
dern und zunehmend auch von den Kubanern selbst mit etwas Minderwertigem as-
soziiert. Ab den 40er Jahren gehörte es unter bessergestellten Kubanern in Ha-
vanna zum guten Ton, US-amerikanische Verhaltensweisen zu imitieren und engli-
sche Wörter in die Sprache einzustreuen. Die amerikanische Lebensweise, Ess-
gewohnheiten und Freizeitbeschäftigungen galten als zivilisierter, die Produkte als
hochwertiger, das gesellschaftliche und politische System als moralisch überlegen.
Die USA wurden zur Messlatte, an der sich die vermeintlichen eigenen Fehler und
Unzulänglichkeiten ablesen ließen (Pérez 1999: 419, 426ff.). Erst Ende der 50er
Jahre schlug die Stimmung langsam um: Die kulturelle Anpassung an den Nach-
barn USA wurde zunehmend als störend wahrgenommen, ein neues Nationalge-
fühl griff um sich, dass letztendlich in der Revolution mündete (ebd.: 473f.).
4. Havanna als Textstadt
4.1. Die Beziehung der Autoren zu Havanna
Bevor in diesem Kapitel die Textstadt Havanna in den Romanen unter erzähltech-
nischen und inhaltlichen Dimensionen untersucht wird, muss zunächst auch die
Beziehung der verschiedenen Autoren zu Havanna betrachtet werden, denn das
persönliche Verhältnis der Autoren zur Stadt prägt den jeweiligen fiktionalen Ansatz
entscheidend (Kreutzer 1985: 72). Später wird sich dies noch darin zeigen, dass

22
die Autoren ihre eigenen Standpunkte und Interessen, ihr eigenes ethnisches und
kulturelles Milieu auch in die Stadtdarstellung einfließen lassen.
Unter den in dieser Arbeit untersuchten Autoren ist es Cabrera Infante, der die
stärkste Bindung an die Stadt hat. Auf der anderen Seite steht Max Frisch, von
dem nicht bekannt ist, dass er ein besonderes Verhältnis zu Kuba oder speziell zu
Havanna hatte. Strukturell und inhaltlich hebt sich die Havannapassage in Homo
Faber nicht von den anderen Reiseimpressionen Fabers ab. Es ist zu vermuten,
dass Frisch, genau wie sein Romanheld, nur einen kurzen Havannaaufenthalt er-
lebt hat.
Guillermo Cabrera Infante wurde 1929 in Gibara, einem kleinen Dorf im Osten Ku-
bas geboren, zog dann mit seiner Familie 1941 nach Havanna. Die Ankunft in Ha-
vanna beschreibt er als einschneidendes Ereignis in seinem Leben:
El gran descubrimiento de mi vida fue la ciudad de La Habana. No solamente descubrí la
ciudad sino descubrí un cosmos, descubrí un habitat y descubrí un mundo particular. Para
mí eso fue decisivo. Yo tenía doce años, venía de un pueblo de campo. El deslumbra-
miento que me produjo La Habana no me lo ha producidido ninguna otra ciudad [...]. Por-
que era la explosión de la vista la explosión del olfato, del oído, del gusto. Todo eso yo lo
recordaré toda mi vida (Machover 1996: 111).
Havanna ist für den heranwachsenden Cabrera Infante eine solch prägende Erfah-
rung, dass ihn die Stadt nie wieder loslassen wird. Im Exil, in das er sich nach der
kubanischen Revolution gezwungen sieht, wird die Erinnerung an Havanna und die
Verarbeitung des Verlustes zum Grundmaterial seiner Literatur, was ihn mit ande-
ren kubanischen Exilschriftstellern wie Severo Sarduy oder Reinaldo Arenas ver-
bindet (Machover 2001: 12). Die Exilerfahrung prägt seine Literatur: Erst der Ab-
stand zu Havanna lässt ihn ,seine` Stadt literarisch verarbeiten:
No me perjudica la distancia de Cuba sino me beneficia [...] Me hacía falta no sólo la leja-
nía, sino la convicción de que esa luz de la vela estaba apagada, que solamente por la lite-
ratura podría recobrar ese pasado (Torres Fierro 1977: 26).
Das Havanna, das immer wieder zum Topos seiner Romane wird, ist eine vergan-
gene, aus dem Exil projizierte Stadt. Es ist die Erinnerung, an der er festhält, nicht
das heutige, real existierende Havanna: ,,Ahora la que existe es otra. Y La Habana
del recuerdo es más física, es más real para mí que La Habana verdadera" (Ma-
chover 1996: 112f.). Vielleicht ist es diese Spannung zwischen Realität und Imagi-
nation, die ihn immer wieder literarisch zu Havanna zurückkehren und ihn in ande-
ren Städten nach dem Glanz Havannas suchen lässt (Cabrera Infante 1999: 13f.).
Die Erinnerung wird zur vierten Dimension im Werk Cabrera Infantes, Havanna
zum besonderen Ort der Erinnerung, zum Herz des Universums (Davis 1987: 512).
Havanna wird zu seiner Obsession, die er durch unablässiges Um-, Neu- und Wei-
terschreiben zu befriedigen versucht (Hammerschmidt 2002: 33). Die Stadt ist die
Achse, um die sich die verschiedenen Werke des Autors drehen ­ ein ,,universo

23
cerrado con sus propios códigos, sus propios mitos y sus propias vías de com-
prensión que se ofrece como metáfora del propio mundo" (Pereda 1978: 28).
17
Während in Tres tristes tigres das Havanna der Nacht, sowohl touristisch als auch
nicht-touristisch, zum Zentrum des Romans wird, entsteht in den anderen hier be-
sprochenen Romanen ein andersartiges Bild, das wiederum auf den jeweiligen Au-
torenhintergrund zurückgeführt werden kann.
Graham Greene kannte das Havanna der 50er Jahre gut, war mit dem gesell-
schaftlichen und politischen Hintergrund der Stadt vertraut und ließ sich auch die
Abenteuer in der nächtlichen Vergnügungsszene nicht entgehen (Sunday Tele-
graph, 25.09.1963, zit. n. Cirules 2004: 17). Er war an Kuba sehr interessiert und
setzte sich auch aktiv mit der politischen und gesellschaftlichen Lage auseinander.
Während mehrerer Kubareisen traf er sich heimlich auch mit Rebellen und Castro-
Anhängern und sah dem kubanischen Sozialismus sehr positiv entgegen (Böker
1982: 162ff.). Greenes Blick auf die Stadt ist weder ein touristischer noch ein In-
siderblick, was sich auch in Our Man in Havana bemerkbar macht. Von Cabrera In-
fante unterscheidet ihn die Motivation des Romans. In Our Man in Havana setzt er
seine Idee, eine Komödie über den britischen Geheimdienst zu schreiben, in die
Tat um. Erst nachdem er den Roman geplant hatte, wurden Greene die Grausam-
keiten und die Ungerechtigkeit des Batistaregimes bewusst: Auch deshalb be-
schäftigt sich der Roman eher mit der Absurdität der globalen politischen Konflikte
als mit der lokalen Politik (O´Prey 1988: 110f.). Nach der Revolution wurde der
Roman von kubanischer Seite aus kritisch betrachtet. In den Augen der Revolutio-
näre war die Situation unter Batista zu ernst, als das man einen komödienhaften
Plot mit ihr verbinden könnte. Greene stellte dem entgegen, sein Anliegen sei nicht
gewesen, die reale politische Lage auf Kuba abzubilden, sondern den Geheim-
dienst zu verulken: ,,Havana was merely a background, an accident" (ebd.: 112).
Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass das Gewicht des Romans nicht auf der
Stadtdarstellung liegt, weder auf einer sozioökonomischen oder architektonischen
noch auf einer atmosphärischen wie bei Cabrera Infante.
Hemingways Verbindung zu Kuba ist gemeinhin bekannt. Zwischen 1932 und 1933
entdeckte er Kuba für sich und hielt sich ab 1939 vorwiegend dort auf (Fuentes
1994: 26).
18
Er fühlte sich von Havanna magisch angezogen, denn er suchte den
17
Tres tristes tigres ist Cabrera Infantes bekanntester, aber nicht sein einziger Havannaroman; Así en la
paz como en la guerra (1960), Vista del amanecer en el trópico (1974) und La Habana para un infante di-
funto (1979) beschäftigen sich ebenfalls mit der Stadt, betonen aber jeweils ganz andere Facetten.
18
Sein Hauptquartier war zunächst das Hotel Ambos Mundos in der Altstadt, häufig hielt er sich in der Flo-
ridita-Bar oder in der Bodeguita del Medio auf: Noch heute sind dies Attraktionen für diejenigen, die auf
den Spuren Hemingways Havanna erkunden.

24
Kontrast, den die Insel zu seiner Heimat bot. Für ihn lagen Welten zwischen der
,,künstlich sterilen amerikanischen Gesellschaft" und Havanna (Cortanze 1999: 24).
Hemingway lehnte es stets ab, sich mit seinem Vaterland zu identifizieren, reiste
viel und verlagerte auch seine Romanschauplätze meist ins Ausland. Kuba diente
ihm als Handlungsort für Islands in the Stream, To Have or Have Not und The Old
Man and the Sea (ebd.: 12). Hemingways Blick auf Havanna ist ebenso wie der
Greenes weder ein Insiderblick noch ein neutraler Außenseiterblick: Hemingway
identifizierte sich stark mit Kuba, er wollte als Kubaner, nicht als ,,Yankee" wahrge-
nommen werden (ebd.: 54). Seine emotionale Verbundenheit zeigte er dadurch,
dass er den Nobelpreis für The Old man and the Sea der kubanischen Nationalhei-
ligen, der Virgen de la Caridad del Cobre, stiftete. Dennoch gelangte er nie zu ei-
nem wirklichen Verständnis der kubanischen Andersartigkeit (Dill 1992: 174). Er
schien nur das vorab gefertigte, im Kontrast zu den USA gestaltete Bild, bestätigen
zu wollen, das an die Stelle eines tieferen Interesses trat. Havanna war die ideale
Projektionsfläche für seine Wünsche und Abenteuergelüste.
Trotz seiner kubanischen Wurzeln begreift sich Hijuelos dagegen als US-
amerikanischer Autor. Als Sohn kubanischer Eltern, der 1959 in den USA geboren
wurde, schreibt er ,,from the point of view of a hyphenated but anglophone Ameri-
can" (Pérez-Firmat 1994: 13). Von den Exilschriftstellern der ersten Generation wie
Cabrera Infante unterscheidet sich sein Werk sowohl durch die größere Distanz zu
Kuba und zur Revolution als auch durch die Wahl der englischen Sprache. Seine
Literatur richtet sich also nicht primär an ein kubanisches, sondern an ein US-ame-
rikanisches Publikum (Álvarez-Borland 1998: 8).
Dennoch ist Kuba sein erzählerischer Ausgangspunkt. Wie seine Romancharaktere
ist er noch stark mit Kuba verbunden, aber der Blick auf die Heimat seiner Eltern ist
bereits ein Blick von außen. In Hijuelos Werk ist Kuba unerreichbar, jedoch nicht
aus politischen, sondern aus kulturellen Gründen: Kuba ist für ihn ,,fiction, a fantasy
island known primarily from the stories of parents and relatives [...]. The Cuban
feeling is a mix of secondhand nostalgia and firsthand curiosity." (Pérez-Firmat
1994: 136f.). Die Fiktion von kubanischen Einwandererkindern kann deshalb auch
als Antwort auf die Frage nach der eigenen Ethnizität gesehen werden (Christian
1993: 171). Hijuelos selbst bestätigt in Interviews, er versuche in Mambo Kings ei-
ne nicht selbst erlebte Vergangenheit, seine kulturellen und ethnischen Wurzeln
aufzuspüren (Cincotti 2005). In seinem Roman manifestiert sich so der Kultur- und
Identitätskonflikt der zweiten Einwanderergeneration, der ,,mit dem unverzichtbar
erscheinenden Rückgriff auf die identitätsstiftende oder auch identitätsverwei-
gernde Erinnerung an die Heimat" verbunden ist (Gewecke 2001: 585). Hijuelos

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2006
ISBN (PDF)
9783863417321
ISBN (Paperback)
9783863412326
Dateigröße
456 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Erscheinungsdatum
2013 (Juli)
Note
1,7
Schlagworte
Kuba vorrevolutionär Lateinamerika Karibik kubanischer Schriftsteller Metropole
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Titel: Havanna als Großstadt in der Literatur - Eine beispielhafte Analyse von Guillermo Cabrera Infantes "Tres tristes tigres"
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