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Blutsauger zwischen Emanzipation und Konservativismus: Umcodierung von Genrekonventionen in den Vampirromanen von Stephenie Meyer und Wolfgang Hohlbein

©2011 Masterarbeit 60 Seiten

Zusammenfassung

Stephenie Meyers 'Bis(s)…'-Reihe befand sich in den vergangenen Jahren mit Millionen verkaufter Exemplare stets an der Spitze der internationalen Buch-Bestsellerlisten.
In dem populärsten Werk der amerikanischen Autorin, das mittlerweile in fünf Spielfilmen auch für das Kino aufbereitet wurde, vermischt sie die literarischen Genres Liebes- und Vampirroman und begeistert mit dieser Mixtur vor allem jugendliche Leser und Zuschauer - und auch immer mehr Erwachsene.
Besonders durch die filmische Umsetzung und den Starkult um die Schauspieler Kristen Stewart, Robert Pattinson und Taylor Lautner sind Meyers Vampire des 21. Jahrhunderts mehr Popstar, Idol und Symbol, als es Graf Dracula jemals war.
Die Vampire sind in der Neuzeit angekommen. Doch was steckt hinter dem Genremix; was ist es, das den Vampir als eine der ältesten Gestalten der Phantastik immer wieder aufs Neue als interessante und faszinierende Figur definiert?
Kristof Beuthner ist der Sache auf den Grund gegangen. Er blickt zurück auf die ständige Veränderung des Vampirs von einer Gestalt aus Sagen und Mythen bis hin zum populärkulturellen Symbol. Im stetigen Vergleich der 'Bis(s)…'-Reihe mit einem deutschstämmigen Pendant, Wolfgang Hohlbeins 'Wir sind die Nacht', untersucht er, inwiefern zeitgenössische AutorInnen durch ein geschicktes Umcodieren der Genrekonventionen den Nachtschwärmer wieder für eine so große Leserzahl spannend und attraktiv machen.
Er deckt die besonderen Genderkonstruktionen in den 'Bis(s)…'-Bänden auf, und sucht auch im philosophischen, vor allem aber im religiösen Subtext nach Erklärungen. Oder ist es gar die Jugend selbst, die durch das Schaffen immer neuer, eigener Subkulturen (wie etwa der sogenannten Emo-Kultur) die Vorlage für die 'neuen Vampire' in der Geschichte von Bella und Edward liefert?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


2. Der Vampir in Literatur und Legende

„In Schlesien, und zwar in einem Dorfe Hozeploz genannt, sollen die Menschen nach dem Tode sehr oft zu den ihrigen zurückkommen, mit ihnen essen und trinken, ja gar mit ihren hinterlassenen Weibern sich fleischlich vermischen. Wenn reisende Leute zu der Zeit, da sie aus den Gräbern herauskommen, durch das Dorf passieren, lauffen sie ihnen nach und hucken ihnen auf ihre Rücken.“

(Tharsander, Schauplatz vieler ungereymter Meinungen, 1736)[1]

Das Lexikon der Phantastischen Literatur definiert den Vampir als "ambivalentes Wesen, das seinen Opfern, deren Blut er nachts aussaugt, um seine unheilige Existenz weiterzuführen, Angst, aber auch Lust einflößt" [2]. Möchte man versuchen, im Genre der Vampirliteratur Genrekonventionen zu bestimmen, erweist es sich als notwendig, das Augenmerk auf die Entwicklung des Genres sowie – weit grundlegender – auf die überlieferten, „tatsächlichen“ Vorkommnisse von Vampiren in der Geschichte zu lenken. Schließlich liegen vor allem die über Dekaden weitergetragenen Mythen und Legenden dem, was wir heute unter der klassischen Vampirgeschichte verstehen, zugrunde. Und nicht nur wir real existierenden Menschen kennen diese Geschichten: auch Bella Swan in der "Bis(s)"-Reihe und Lena aus "Wir sind die Nacht" kennen Dracula und sogar einige seiner Vorreiter.

Das zum Einstieg in dieses Kapitel gewählte Zitat geht zurück auf eine Legende aus dem Jahr 1736 und beschreibt sehr treffend die Ursprünge des Vampirmythos. Zwar hatte es auch zuvor bereits vereinzelt Aufzeichnungen über Wiedergänger oder Untote gegeben; ein zusammenhängendes, verbreiteteres Bild konkretisierte sich jedoch erst in dieser Zeit. Es handelte sich tatsächlich nicht von vornherein um das in fiktionalen Geschichten gezeichnete Bild des Blutsaugers aus der alten Schlossruine, sondern beginnt mit merkwürdigen Ereignissen in Verbindung mit angeblich auferstandenen Verstorbenen. Weiterhin wird in Überlieferungen häufiger von Schmatzlauten berichtet, die aus Gräbern an die Ohren der Vorbeikommenden drangen und im betreffenden Dorf ein großes Sterben nach sich ziehen. Dies wurde auch mit dem Auftreten der Pest in Verbindung gebracht:

„Man hat in Pestilenzzeiten erfahren, daß tote Leute, sonderlich Weibespersonen, die an der Pest gestorben, im Grabe ein Schmätzen getrieben, als ein Saw, wenn sie isset: und das bey solchem Schmätzen die Pest heftig zugenommen, und gemeiniglichen im selben Geschlecht die Leute häufig nacheinander gestorben...“

(Martin Böhm, Predigten, 1601)[3]

Auch Martin Luther berichtet von derartigem aus seinem Geburtsort Wittenberg. Ein Pfarrherr habe ihm davon berichtet, dass „ein Weib auf einem Dorf gestorben wäre, und nun, weil sie begraben, fresse sie sich selbst im Grabe“[4]. Die Leute aus dem Dorf seien daraufhin vor Angst gestorben; vor Angst und Aberglaube.

Der französische Mediävist Claude Lecouteux unterscheidet bei den Vorläufern des in seinen grundsätzlichen Eigenschaften heute bekannten Vampirs gar zehn verschiedene Typen:

- den Rufer[5], der als Toter leibhaftig aufersteht und tötet, indem er die sterbende Person beim Namen ruft;
- den Klopfer[6], der bei den Menschen an die Türe klopft, woraufhin diese dem Wahn verfallen und daran sterben;
- den Besucher[7], der aus seinem Grab steigt um bei den Dorfleuten Todesangst zu schüren;
- den Verschlinger[8], der weniger den Menschen das Blut aussaugt, als sie vielmehr ganz und gar zu verspeisen (was der Vampirthematik auch den Aspekt des Kannibalismus beifügt);
- den Neuntöter[9], dazu auserkoren, genau neun seiner leiblichen Verwandten den Tod zu bringen;
- den Aufhocker[10], der im eingangs verwendeten Zitat bereits beschrieben wurde;
- den Alp[11], als zweites Ich einer Hexe oder als Untoter den Schlafenden angreifend und ihn würgend, ihnen auch das Blut aussaugend;
- den Würger[12], der dem Vampir in seiner Lebensweise (Schlaf im Sarg etc.) am ehesten ähnelt, allerdings eher als untoter Mörder von Schlafenden (ähnlich dem Alp) beschrieben und nicht explizit als Blutsauger bezeichnet wird;
- den Nachzehrer[13], der Legende über das Schmatzen aus Gräbern zuzuordnen, das vom Verzehr des Leichentuchs im Sarg stammt und nicht direkt tötet, sondern vielmehr durch eine Art „sympathetische Magie“[14] den sich nähernden Menschen den Tod bringt; sowie
- den Wiedergänger in Tiergestalt[15], häufig in der von Hunden oder Kälbern und nicht, wie später in der Literatur verwendet, in der von Fledermäusen; zur Mitternachtsstunde Reisende verfolgend und anfallend, die später an den dadurch entstandenen Verletzungen verstarben.

Gemeinsam haben all diese Vampirvorläufer die Wiederauferstehung nach dem Tode; die (mitter)nächtliche Stunde als Zeitpunkt ihrer Angriffe sowie die tödliche Wirkung auf die von ihnen angegriffenen Menschen.

Die ersten Berichte über den Vampir in Form des Blutsaugers, den wir heute kennen, gehen zurück auf das Jahr 1732 und basieren auf den Aufzeichnungen von Feldchirurgen des Alexandrischen Regiments, die im Königreich Servien[16] an der türkischen Grenze auf ein Dorf gestoßen waren, in dem Gerüchte über Personen kursierten, denen das Blut ausgesaugt wurde[17]. Des Mordes verdächtigt wurde ein Dorfbewohner namens Arnod Paole, der zuvor unter Angriffen eines nicht näher definierten Vampirtyps litt und wiederholt bei okkulten Praktiken wie dem Einreiben mit Blut von Toten beobachtet wurde. Nach seinem Tod sei er wiederholt gesehen worden, woraufhin man sein Grab öffnete um festzustellen, dass Paole „gantz vollkommen unverwesen sey, auch ihm das frische Blut zu denen Augen, Nasen, Mund und Ohren herausgeflossen“ [18]. Es soll auch beobachtet worden sein, dass Paole „nicht allein die Leute, sondern auch das Vieh angegriffen, und ihnen das Blut ausgesauget habe.“ [19] Hier wird auch erstmals von dem Töten eines Vampirs durch einen hölzernen Pflock, der ihm durchs Herz getrieben werden müsse, berichtet. Die Leute, die von Angriffen durch Paole berichteten, seien ebenfalls hingerichtet worden, da „alle diejenige, welche von denen Vampirn geplaget und umgebracht würden, ebenfalls zu Vampirn werden müssen.“ [20] , was man durch die Hinrichtung verhindern wollte. Ferner wird der Tod von weiteren Dorfbewohnern mit dem Verzehr des Fleisches der von Paole gebissenen Tiere in Verbindug gebracht[21]. Erwähnt wird in diesen Aufzeichnungen auch der Name Milloe, den Lecouteux ebenfalls bei seiner Abhandlung über den Vampirtyp Würger unter Berufung auf die selbe Quelle als Vampir nennt. Weiter werden in den Aufzeichnungen Befunde von exhumierten Leichen, die in Verbindung mit Vampirangriffen genannt wurden, beschrieben[22]. Stets erwähnt wird immer wieder eine bemerkenswerte körperliche Unversehrtheit; selbst bei Toten, die längst verfallen gewesen sein müssten: „Die Haut an Händen und an Füssen, samt den alten Nägeln fielen von sich selbst herunter, hergegen zeigeten sich nebst einer frischen und lebhafften Haut, gantz neue Nägel.“ [23]

Betrachtet man die historischen Aufzeichnungen zum Vorkommen von Vampiren, fällt auf, dass sich – später in der Literatur reichlich aufgegriffen – als Gebiet mit den meisten überlieferten Vampirangriffen der Balkan und Osteuropa im Allgemeinen herauskristallisiert. Angesichts der vielen unterschiedlichen Auslegungen des Vampirbegriffs wie bei Lecouteux (s.o.) lohnt demnach ein Blick auf die mythologische Herkunft. Der Kulturwissenschaftler Norbert Borrmann nennt vor allem fünf verschiedene Erscheinungen, aus denen sich das heute geläufige Bild des Vampirs zusammensetzt. Dazu gehören neben Wesen, die Werwölfen ähneln (sogenannten Ghoulen) und Hexen (beide selbst mit eigener mythologisch wie faktisch fundierter Historie) auch untote Wiedergänger, nachtaktive Geister von Verstorbenen sowie andere als Blutsauger bezeichnete Wesen[24]. Claude Lecouteux wird bei den Zuordnungen konkreter und nennt elf Einflüsse auf heutige Vampire. Neben den bereits genannten Hexen und Werwölfen erwähnt er unter anderem den russischen Vârkolac[25], sich zusammensetzend aus Leichnam und Dämon, in Gestalt eines kleinen schwarzen Kindes das Blut saugend und Bissmale an der Brust des Opfers hinterlassend. Weiter nennt er den bulgarischen Grobnik[26] ; den Opyr[27], der auf verschiedene Herkünfte zurückgeht (polnisch: upierczyk; nordtürkisch: uber; griechisch: apyros; serbisch: piriti) und vom Namen her so viel bedeutet wie „fliegendes Gespenst“; den im Slawischen bekannten und durch Tolstoi und Puschkin ins Russische übertragenen Vurdalak[28] oder den griechischen Broukolakos[29]. Vom Wortstamm ist durch die in der Literatur durch Bram Stoker in „Dracula“ vorgenommene Verwendung des Begriffs der rumänischstämmige Nosferat[30] geläufig. Der Regisseur F.W. Murnau nannte seine „Dracula“-Verfilmung 1922 „Nosferatu“.

Wolfgang Hohlbein bedient sich in „Wir sind die Nacht“ mehrfach des rumänischen Begriffs des Strigoi[31], projiziert diesen allerdings in einen russischstämmigen Kontext. Dieser ausschließlich männliche Vampir wird in den Aufzeichnungen von Lecouteux in seinem Äußeren eher dämonengleich beschrieben, „barfuß, […] wie ein mit Haut bedecktes Skelett, manchmal wie kräftige Zwerge“ [32]. Auch wird er als Wesen mit Pferdehufen und Gänsefüßen vorgestellt.

Ebenfalls aus dem Rumänischen stammt der weiterhin von Lecouteux genannte Moroiu[33]. Der Stafia[34], ein in Frauen- oder Tiergestalt auftauchender Wiedergänger, wird hier keiner eindeutigen Herkunft zugeordnet.

Lecouteux zufolge vereinen sich die Merkmale dieser unterschiedlichen Vampirbezeichnungen mit den ihnen eigenen, dazugehörigen Legenden zu dem, was wir im Deutschen bzw. im Romanischen als Vampir kennen. Im Laufe der Zeit, so Lecouteux weiter, sind Unterschiede zwischen den einzelnen, je nach Herkunft unterschiedlichen Formen von Wiedergängern durch die Überlieferungen ignoriert und getilgt worden, bis sich im Wesentlichen folgende drei Merkmale als allgemeingültig bewährt haben: das Auftauchen zur Mitternacht, die menschliche Herkunft und das Saugen von Blut.

Das Thema des Untoten, des Wiedergängers, hatte in der Literatur bereits Einzug erhalten bevor von Vampiren als solchen gesprochen werden konnte. Eine Erklärung könnte sein, dass die Thematik durch ihre Überlieferung in diversen Auslegungen von Volksglauben zu Volksglauben variierend, aber dennoch ausgebreitet existent war. Der allumfassende Wandel des Vampirs von einer realen Bedrohung in eine Figur aus der Literatur könnte jedoch auch dadurch erklärt werden, dass die österreichische Kaiserin Maria Theresia den Vampirglauben 1755 offiziell verbieten ließ[35] und zudem die Epoche der Aufklärung anbrach, die keine Angst vor wahrhaftigen Vampiren mehr zuließ – was wiederum dazu führte, dass der Vampir in der fiktionalen Literatur Verwendung fand. Vor allem in der Romantik lassen sich bereits Vorläufer heutiger Vampirromane finden. So griff beispielsweise E.T.A. Hoffmann das Motiv des Wiedergängers in seinen Werken „Die Elixiere des Teufels“ (1815) und „Der Sandmann“ (1817) auf, weniger allerdings verbunden mit einem Glauben an Schauergestalten aus Sage und Legende und auch die zentralen, den Wiedergänger als Vampir kennzeichnenden Aspekte aussparend, sondern den Teufel persönlich fürchtend. Dem Vampirmotiv näher hatte zuvor bereits Johann Wolfgang Goethe gestanden, der mit „Die Braut von Korinth“ (1798) die untote Geliebte des Jünglings als Frau von starrem Blut mit Haut „so kalt wie eis“ [36], Blut trinkend darstellte. Der Vampir passte in seinen Eigenschaften als zwar im Grunde toter, dafür aber ewig junger und schöner Mensch trefflich in die Phantastik dieser Zeit.

Claude Lecouteux versteht als Gründerväter des Vampirromans die englischen Autoren John William Polidori, J. Sheridan Le Fanu sowie Bram Stoker[37]. Polidoris „Der Vampyr“ von 1819 gilt heute als erster Vampirroman überhaupt; Le Fanu brachte mit seiner Erzählung „Carmilla“ (1872) sowohl eine sadistische als auch eine sexuelle und gleichzeitig weiblich-homoerotische Komponente in das Genre und stützte sich damit auf die aus der klassischen Antike geläufigen Goules und Empusen[38], wie es zuvor bereits Alexej Tolstoj in seiner Erzählung „Die Familie des Vurdalak“ (1839), in der eine russische Familie durch die Vampirwerdung des Vaters dezimiert wird, und Théophile Gautier in „La Mort Amoureuse“ (1836) getan hatten. Le Fanu bezog sein Wissen über Vampire aus einer Abhandlung über Vampirologie des Augustinermönches Dom Calmet (1749) und beruft sich auf die überlieferte Legende des polnischen Upyr. Er stellt seine Carmilla als Wesen mit spitzen Eckzähnen und in Gestalt einer riesigen Katze dar, das letztlich durch den bekannten Pflock, der ihr durchs Herz getrieben, vernichtet wird. Durch die Darstellung von Erotik und Sexualität in diesem Roman wird das Treiben eines Pflockes ins Herz des Vampirs sexuell konnotiert[39].

Als das zentralste Werk für das phantastische Subgenre Vampirroman steht allerdings bis heute Bram Stokers „Dracula“ (1897). Stoker prägte mit seinem Roman die heute gängigsten Vampirklischees wie das Leben im Schloss, das Saugen von Blut, die Fähigkeit zur Verwandlung in Tiere und das Schwinden der Kraft des Vampirs bei Tagesanbruch. Und er arbeitete intertextual: seine Informationen über Vampire erlangte er im Vorfeld durch die ausgiebige Lektüre osteuropäischer Überlieferungen zum Auftauchen von Vampiren[40]. Außerdem stellte er mit Abraham Van Helsing dem Vampir erstmals eine bis heute oft variierte, in der Vampirologie bewanderte Nemesis gegenüber, die neue Formen der Vampirbekämpfung einbrachte und Knoblauch als für Vampire schädlich etablierte. Laut Lecouteux war jedoch der Einsatz von Knoblauch in Rumänien schon gang und gebe; er wurde „in den Mund, die Nase und die Ohren des Toten [gesteckt], damit er sich nicht in einen Wiedergänger (strigoi) verwandle.“ [41]

Bis heute gab es in der Literatur unzählige Nachkömmlinge der klassischen „Dracula“-Geschichte. In filmischer Hinsicht sind bei den klassischen Werken vor allem F.W.Murnaus „Dracula“-Verfilmung „Nosferatu“ sowie die ersten Dracula-Filme der Hammer-Studios zu nennen. Der Vampir hat in der jüngeren Filmgeschichte die unterschiedlichsten Darstellungsformen erfahren. Die Bandbreite reicht von grotesk mutierte Kreaturen in Robert Rodriguez’ „From Dusk Till Dawn“ (1996) über den melancholischen Dandy in Neil Jordans Anne-Rice-Verfilmung „Interview mit einem Vampir“ (1994) bis hin zum von Selbstscham und Verzweiflung getriebenen Kindvampir in Tomas Alfredssons „So finster die Nacht“ (2008) nach dem Roman von John Ajvide Lindqvist, in dem das Mädchen Eli sich sogar einem pädophilen Mann anbietet, damit dieser Blut für sie beschafft.

3. Präsentation der verwendeten Primärliteratur

3.1 Stephenie Meyer: Die "Bis(s)"-Reihe

3.1.1 Informationen zu Werk und Autorin

Stephenie Meyer (die Schreibweise des Namens leitet sich vom Namen ihres Vaters Stephen ab und wird von ihr als Vorteil für einen hohen Wiedererkennungswert gesehen) wurde 1973 in Hartford, Connecticut, geboren und studierte an der Brigham Young University in Provo, Utah; einer mormonischen Universität. Meyer selbst ist bekennende Mormonin und Mitglied der "Kirche Jesu Christi der Heiligen Letzten Tage". Sie gibt selbst an, dass ihre Religion sie in Leben und Werk sehr beeinflusst[42]. Bekannt wurde Stephenie Meyer vor allem durch die Veröffentlichung ihrer "Bis(s)"-Reihe[43], die laut eigener Aussage auf einem Traum von ihr basiert[44].

Die „Bis(s)...“-Reihe von Stephenie Meyer besteht bis dato aus vier Bänden: „Bis(s) zum Morgengrauen“[45], „Bis(s) zur Mittagsstunde“[46], „Bis(s) zum Abendrot“[47] sowie „Bis(s) zum Ende der Nacht“[48]. Ferner erschien noch der Roman „Bis(s) zum ersten Sonnenstrahl – Das kurze zweite Leben der Bree Tanner“[49], der aber eher als Nebenroman zu verstehen ist und Geschehnisse aus den Bänden der Hauptreihe aus der Sicht der Protagonistin Bree Tanner schildert. Dieser Band wird für die folgenden Ausführungen nicht weiter berücksichtigt.

3.1.2 Inhalt der Romanreihe

"Es gab drei Dinge, deren ich mir absolut sicher war: Erstens, Edward war ein Vampir. Zweitens, ein Teil von ihm - und ich wusste nicht, wie mächtig dieser Teil war - dürstete nach meinem Blut. Und drittens, ich war bedingungslos und unwiderruflich in ihn verliebt." [50]

Die Hauptfigur der Reihe ist die zu Beginn der Serie 17jährige Isabella Swan, die von ihrer Mutter nebst deren Lebensgefährten in Arizona zu ihrem Vater Charlie in die Kleinstadt Forks zieht, wo dieser Polizeichef ist. Dort trifft sie auf den Jungen Edward Cullen und seine Geschwister und fühlt sich sofort von den offensichtlich andersartigen Jugendlichen angezogen. Als sie Edward näher kennen lernt, entdeckt sie, dass es sich bei ihm und seiner Familie (dazu gehören auch „Vater“ Carlisle und „Mutter“ Esme) um Vampire handelt. Dennoch entwickelt sie eine tiefe Liebe zu Edward, der diese auch erwidert. Obwohl die Familie Cullen es bewerkstelligt, sich nicht von menschlichem Blut zu ernähren, gerät die mit dem Vampirdasein verbundene triebhafte Gier nach Blut Edwards und seiner Familie immer wieder zu einer Gefahr für Bella. Auch, als sie zwischen die Fronten der Familie Cullen und einer anderen Vampirfamilie gerät, hält sie an ihrer Liebe zu Edward fest und plant sogar, sich von Edward selbst zum Vampir verwandeln zu lassen, wogegen dieser sich strikt weigert.

Als Bella fast Edwards Bruder zum Opfer fällt, trennt sich dieser von ihr und verlässt Forks. Bella vertieft in ihrer Trauer die Freundschaft zu dem Jungen Jacob Black; muss jedoch feststellen, dass der in einem Reservat lebende Jacob und seine Freunde bei fortgeschrittenem Jugendalter zu Werwölfen werden, die mit den Vampiren verfeindet sind. Sie hält dennoch an der Freundschaft fest, stirbt jedoch beinahe bei einer Mutprobe. Edward erfährt davon und hält Bella für tot. Er reist daraufhin nach Florenz, um das alte Vampirgeschlecht der Volturi herauszufordern, damit er von ihnen vernichtet wird, da er ein Dasein ohne Bella für unvorstellbar hält. Bella und seine Familie können ihn jedoch in letzter Sekunde von seinem Vorhaben abhalten, geraten dadurch aber in den Fokus der Volturi, die nun von der Beziehung eines Vampirs zu einem Menschen wissen und ankündigen, Bella und die Cullens in Zukunft zu beobachten und zu kontrollieren.

Bellas Wunsch nach Verwandlung in einen Vampir nimmt immer konkretere Formen an, doch Edward weigert sich nach wie vor, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. Beide einigen sich darauf, noch bis zu Bellas Collegeabschluss zu warten und dann erst zu heiraten, bevor Bella zum Vampir wird.

Als der weibliche Vampir Victoria, deren Gefährte einst von Edward vernichtet wurde, mit einem Heer neugeborener Vampire auftaucht, um im Ausgleich Bella zu töten, verbünden sich die Cullens mit den Werwölfen im Reservat, um Bella zu schützen. Dies gelingt; Victoria kann vernichtet werden und Bella ist in Sicherheit.

Im vierten Band kommt es schließlich zur Hochzeit zwischen Edward und Bella, die in der Hochzeitsnacht schwanger wird. Das Ungeborene führt zu neuen Konflikten zwischen Familie Cullen, die Bella zu einer Abtreibung drängen will, und den Werwölfen um Jacob, die Bellas mit der Schwangerschaft zusammenhängende, schwindende Gesundheit besorgt zur Kenntnis nehmen. Es stellt sich heraus, dass das in Bella heranwachsende Kind bereits als Vampir zur Welt kommen wird. Als Bella bei der Geburt dem Tod nahe ist, verwandelt Edward sie schließlich in einen Vampir, um sie zu retten. Die Familie der Volturi kommt hinzu, da sie von dem zwischen einem Menschen und einem Vampir gezeugten Kind eine Gefahr für die Vampire der Welt befürchtet, und droht, die Familie der Cullens zu vernichten. Dies kann jedoch abgewendet werden.

Edward und Bella „leben“ schließlich glücklich als Vampire mit ihrem Kind in einem kleinen Haus.

3.2 Wolfgang Hohlbein: "Wir sind die Nacht"

3.2.1 Informationen zu Werk und Autor

Wolfgang Hohlbein, geboren 1953 in Weimar, ist einer der erfolgreichsten Romanautoren Deutschlands. Sein Schaffen beschäftigt sich vor allem mit den Genres Phantastik, Fantasy, Horror sowie Science Fiction. Hohlbein, der bereits in seiner Jugend phantastische Geschichten verfasste, ist tatsächlich ausgebildeter Industriekaufmann[51].

Der Roman „Wir sind die Nacht“ erschien 2010 im Heyne-Verlag. Anders als die „Bis(s)...“-Reihe von Stephenie Meyer liegt nicht der Roman Hohlbeins dem darauf folgenden Film zugrunde, sondern orientiert sich der Roman am von Jan Berger verfassten, finalen Drehbuch zum von Dennis Gansel inszenierten Film.

Dies ist insbesondere deshalb bemerkenswert, da dies einen „umgekehrten Film-Buch-Vergleich“ erlaubt, und Weglassungen im Film nicht der Fülle der Romanvorlage entsprechen, sondern ganze Handlungsstränge erst nachträglich von Wolfgang Hohlbein hinzugeschrieben wurden. Da sich diese Arbeit lediglich auf die Romane stützt, wird allerdings im weiteren Verlauf der Ausführungen auf wesentliche Unterschiede zwischen Film und Buch nicht maßgeblich vergleichend eingegangen.

Dem Film „Wir sind die Nacht“ von Dennis Gansel verlieh die Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW) das Prädikat „besonders wertvoll“[52] und begründet dies vor allem mit Gansels Spiel mit popkulturellen Klischees[53], das dem Film eine Konkurrenzfähigkeit zum im Kino vorherrschenden Vampirtrend (gemeint ist hier die zu diesem Zeitpunkt sehr erfolgreiche „Twilight“-Reihe, die auf Meyers „Bis(s)...“-Reihe basiert) ermöglicht[54]. Weiterhin wurde der Film 2011 für den deutschen Filmpreis nominiert und bekam ein Jahr zuvor den Sonderpreis der Jury beim 43. Festival de Cinema Fantastique de Sitgés verliehen[55].

3.2.2 Inhalt des Romans

"Ich war nichts. Ein Abschaum. Dreck, den selbst Ratten nicht fressen. Unsichtbar für die Welt. Bis SIE mich sah. Und dann kam der Hunger. Allesverzehrender Hunger. Jetzt übersieht mich keiner mehr."[56]

Es geht in "Wir sind die Nacht" um Lena, die in einem Berliner Problembezirk mit ihrer alkoholkranken Mutter lebt. Sie füllt ihren Alltag mit kleinen Diebstählen und ist bereits vorbestraft, weswegen ihr regelmäßig ein Bewährungshelfer Besuche abstattet. Als sie einen Kreditkartenraub an einem Russen versucht, gerät sie unfreiwillig in einen mit dieser Person verbundenen Polizeieinsatz, lernt den jungen Ermittler Tom kennen und verliebt sich in ihn.

Bei einem Clubbesuch in der Berliner Szene wird sie von dem weiblichen Vampir Louise beim Stehlen erwischt. Diese erkennt in ihr etwas für sie Besonderes, daher beißt sie Lena, woraufhin sich diese nach und nach ebenfalls in einen Vampir verwandelt und sich, zunehmend widerwillig, Louise und ihren Mitstreiterinnen Nora und Charlotte anschließt. Von den dreien wird Lena in das dekadente Nachtleben Berlins eingeführt, das bestimmt ist von Reichtum, Männern, Parties und ewiger Jugend. Doch stets bleibt Lena skeptisch; kann sich nur schwer damit abfinden, dass sie nun töten muss, um selbst zu überleben. Hinzu kommt, dass ihr nicht nur der junge Polizist Tom, der ebenfalls Gefallen an ihr gefunden hat, auf den Fersen ist, sondern sie dem Russen, an dem sie Kreditkartenbetrug verüben wollte, ein Buch entwendete, das für eine Riege männlicher Vampire von großer Bedeutung ist. So gerät Lena zwischen die Fronten eines Vampirkrieges, dem unter anderem ihr Bewährungshelfer und ihre Mutter zum Opfer fallen, und entdeckt die dunklen Seiten hinter der glänzenden Fassade des Vampirtrios: so entwickelt Louise ein besitzergreifendes Liebesverhältnis zu ihr; Charlotte trauert um ihre – mittlerweile zur Greisin gewordene – Tochter und nimmt sich schließlich das Leben, indem sie in die Sonne tritt; Nora stirbt ebenfalls durch die für Vampire tödlichen Sonnenstrahlen. Auch Tom gerät durch seine Sorge um Lena wiederholt in den Fokus von Louise und ihrem Gegenspieler, dem russischstämmigen Vampir Stepan, einem "Strigoi".

Der Roman endet schließlich in einem finalen Kampf zwischen Louise und Stepan, bei dem beide vernichtet werden. Der ebenfalls involvierte Tom wird zuvor schwer verletzt. Bevor er jedoch stirbt, wird er von Lena gebissen und somit in einen Vampir verwandelt, damit die beiden für immer zusammen sein können.

4. Vergleich der beiden Romane

4.1 Lena und Bella: zwei Außenseiterinnen als Hauptfiguren

Blickt man in die Historie der Vampirliteratur, so wird auffallen, dass die Vampire immer auch einen gewissen Reiz auf Menschen ausgeübt haben, die am Rande der Gesellschaft stehen; manchmal mehr noch: die in ihrem Leben nichts mehr zu verlieren haben.

Wenn auch in den folgenden Ausführungen herausgearbeitet werden wird, dass sowohl Wolfgang Hohlbein als auch Stephenie Meyer mit vielen Genrekoventionen brechen - in diesem Punkt folgen beide Autoren der Tradition.

Isabella Swan, die Protagonistin aus der "Bis(s)"-Reihe etwa, steht allein von daher als Außenseiterin da, da sie ihr durchaus luxuriöses, wenngleich auch reichlich selbstständiges Leben in Phoenix, Arizona, abbricht, um bei ihrem Vater Charlie in der Kleinstadt Forks zu leben. Isabella, im Roman wie im Folgenden nur noch Bella genannt, verlässt also nicht nur ihre alte Umgebung und ihre geliebte Stadt, sondern begibt sich in eine Stadt, der sie mit großer Abneigung gegenübersteht[57]. Nicht nur das schlechte Wetter dort drückt ihr aufs Gemüt; der kleine Ort Forks ist auch der Schauplatz der Trennung ihrer Eltern, die sie schmerzhaft erinnert. Bella nimmt ihre Situation selbst von Anfang an als die einer Außenseiterin wahr ("Alle hier waren zusammen aufgewachsen, schon ihre Großeltern kannten sich aus dem Sandkasten. Ich würde die Neue aus der großen Stadt sein, eine wandelnde Kuriosität, ein Freak" [58] ). Sie begründet das aber nicht nur damit, dass sie als Fremde in ein in sich stimmiges Universum eindringt, sondern auch mit einer generellen Unfähigkeit im Umgang mit Menschen ("Ich kam nicht gut klar mit Leuten meines Alters. Und vielleicht kam ich in Wahrheit mit Leuten generell nicht klar" [59] ). Auch ist sie merkbar unzufrieden mit ihrem Äußeren; gibt zwar zu erkennen, dass sie sich grundsätzlich für durchaus hübsch hält[60], dennoch aber den in ihrer Vorstellung gängigen Schönheitsidealen nicht entspricht ("Nicht nur äußerlich würde ich nirgendwo reinpassen" [61] ). Sie fühlt sich unwirklich, aus der Art geschlagen und weltfern ("Manchmal fragte ich mich, ob ich mit meinen Augen dieselben Dinge sah wie der Rest der Welt. Möglicherweise funktionierte ja mein Gehirn nicht richtig." [62] )

Bellas Selbstbild, so stellt es sich im Verlauf der Reihe heraus, trügt sie jedoch. So gehen speziell die männlichen Mitschüler wiederholt und offensichtlich aus ehrlichem Interesse auf sie zu und sind um ihre Eingliederung in die Klassengemeinschaft bekümmert. Auch findet sie durchaus Anschluss zu zwei Mädchen in der Klasse, wenngleich sie mit deren Formen der Freizeitgestaltung (Abschlussball; Kino; Treffen mit Jungen etc.) nicht viel anzufangen weiß und derlei Unternehmungen eher widerwillig und vor allem, um sich nicht selbst auszugrenzen, begleitet.

Vielmehr sind es Edward Cullen und seine Geschwister, die sich später als Vampire entpuppen, die ihr Interesse entfachen. Zwar fallen sie ihr ebenfalls in ihren Rollen als Außenseiter auf[63] (sie sitzen in der Cafeteria ausschließlich zusammen; niemand kennt sie wirklich; sie sind in keiner Weise in die Schulgemeinschaft integriert); dennoch ist Bella fasziniert von ihrer Schönheit:

"Ich starrte sie an, weil ihre so verschiedenen und doch gleichen Gesichter umwerfend und überirdisch schön waren. Es waren Gesichter, die man normalerwei­ se nur auf den Hochglanzseiten von Modemagazinen zu sehen erwartete. Oder auf den Gemälden alter Meister, als Engelsgesichter. Schwer zu sagen, wer am schönsten war [...]"[64]

Bellas erste Begegnung mit Edward in der Biologiestunde[65], in der er sich ihr gegenüber äußerst abweisend verhält und schließlich sogar anstrebt, einen anderen Biologiekurs zu besuchen, bezieht sie ebenfalls schnell auf einen Makel an ihrer Person. Es soll sich jedoch herausstellen, dass sie wiederum auf Edward eine große Faszination ausübt, da seine besondere Gabe, die Gedanken anderer Menschen lesen zu können, bei ihr nicht zum Tragen kommt. Da er jedoch eine freundschaftliche wie amouröse Beziehung zu einem Menschen nicht einzugehen pflegt, ist er selbst über seine Gefühle erschreckt und zieht sich zunächst zurück.

Bellas Sympathie für Außenseiter, die darauf zurückzuführen sein könnte, dass sie in ihrem Denken und Fühlen durch ihr Wissen bzw. ihr Gefühl für ihre eigene Rolle in der Gesellschaft bestimmt ist, äußert sich auch im späteren Verlauf der Reihe nicht nur durch die Freundschaft und Liebe zu den Cullens, sondern auch in der tiefen Freundschaft zu Jacob Black, der durch seine Herkunft - er lebt als "Eingeborener" in einem Indianerreservat - ebenfalls nicht fest in die Gemeinschaft der Kleinstadt integriert ist.

Der Außenseiterstatus Lenas in "Wir sind die Nacht" ist hingegen weniger auf eine menschliche Komponente zurückzuführen, sondern begründet sich vielmehr durch ihre soziale Herkunft. Bereits der Beginn des Romans kennzeichnet sie als erfahrene Diebin[66] ; weiterhin scheint sie bereits eine immense kriminelle Vergangenheit aufzuweisen ("Die Behörden - und allen voran die Polizei - waren so etwas wie ihr natürlicher Feind, solange sie denken konnte" [67] ). Der Polizist Tom, der sie nach dem Zugriff auf den russischen Zuhälter jagt, bezeichnet sie als "kleiner Straßenköter, mehr nicht" [68]. Weiterhin wird Lena von einem Bewährungshelfer überwacht, der sie augenscheinlich sexuell begehrt[69] und ihr demzufolge - wenn überhaupt - nicht uneigennützig bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft hilfreich ist. Lena wird außerdem von ihm erpresst und muss seine Hilfe mit erbeutetem Geld bezahlen. Ihre Beobachtung eines Kindes löst in ihr zugleich ein Gefühl von Zärtlichkeit und Schmerz aus, da sie ihr eigenes Schicksal nicht mit einem eigenen Kind teilen wollen würde ("Sie liebte Kinder, auch wenn sie sich fest vorgenommen hatte, niemals selbst Kinder in eine Welt zu setzen, in der es schon den meisten Erwachsenen schwerfiel, über die Runden zu kommen." [70] ).

Lena stammt aus einer Familie aus der sozialen Unterschicht. Besonders deutlich wird dies, als sie von ihrem in den ersten zwei Kapiteln thematisierten Beutezug nach Hause kommt. Es wird beschrieben, dass Lena mit ihrer Mutter in einer "hundert Jahre alten Bruchbude" [71] lebt, die augenscheinlich in einem ärmlichen Berliner Stadtteil liegt (der Name dieses Stadtteils wird jedoch zu keinem Zeitpunkt genannt; genausowenig wie irgendein anderer Platz in Berlin tatsächlich als solcher aufgeführt wird). Lena bezeichnet das Viertel als eine "Gegend [...], in der Hartz-IV-Familien eindeutig zu den Besserverdienenden" [72] gehören. Ferner wird deutlich, dass besagte Behausung trotz des heruntergekommenen Zustandes (Graffiti an den Wänden; übler Geruch; mangelhafte Bauweise etc.) nicht den Tiefpunkt ihres bisherigen Lebensstandards markiert ("Ihre Mutter und sie hatten schon in schlimmeren Schuppen gehaust" [73] ). Auch ist zu entnehmen, dass Polizei und Gerichtsvollzieher regelmäßig in dem Haus ein und aus gehen, was ebenfalls auf eine Verortung von Lenas Familie in der sozialen Unterschicht schließen lässt. Ihre Mutter ist arbeitslos und offensichtlich alkoholkrank; ferner ergeht sie sich in dubiosen Selbstständigkeitsjobs, wenn auch erfolglos. Die Lebensart der Mutter führt dazu, dass Lena sie zwar liebt, sich aber im Grunde als selbstständig fühlt und von ihr keinen Schutz erwarten kann.

Lena verfügt - im Gegensatz zu Bella - jedoch über ein durchaus ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Es ist möglich, dies durch das Durchsetzungsvermögen zu erklären, das sie benötigt, um in ihrer harten Welt zurecht zu kommen. Sie weiß zudem nicht nur um ihre weiblichen Reize, sondern auch um ihr scheinbar grundsätzlich gutes Aussehen ("Sie war einundzwanzig, hundertmal hübscher, als ihre Mutter es jemals gewesen war, und sogar sie selbst wusste, dass sie in dem dünnen roten Nichts von Kleid einen atemberaubenden Anblick bieten musste." [74] ). Zudem fühlt sie sich grundsätzlich zu Höherem berufen; fühlt sich in dieser Welt aus Armut, Schmutz und Ausgegrenztheit nicht zuhause und am rechten Fleck ("Mit alledem hätte sie leben können... aber nicht mit dem Gefühl, einfach nicht hierher zu gehören. Nicht in dieses Haus, und nicht einmal in diese Welt. Sie war für etwas anderes bestimmt, etwas Besseres." [75] ).

Dieses "Bessere" ist es, was sie an den ersten Begegnungen mit den Vampiren Louise, Nora und Charlotte fasziniert, wenngleich der erste Berührungspunkt von Lena mit den drei Frauen - wie auch bei Bella - über ihre Schönheit, ihre Anmut, ihre Ausstrahlung zustande kommt. Als sie sich in einem Nobelclub auf einem Beutezug befindet, entdeckt sie zunächst Nora, die auf einer Box zur Musik tanzt. Lena ist nicht nur von ihrer Ausstrahlung und ihrem Tanzstil fasziniert, sondern fühlt sich sogar auf seltsame Art erotisch angezogen ("Sie hatte sich nie für Frauen interessiert - nicht so -, aber da war etwas im schmalen Gesicht des dunkelhaarigen Mädchens [...] was sie sofort in den Bann schlug." [76] ). Wenig später trifft sie auch auf Louise und bezeichnet sie sogar als "blonde Göttin" [77].

Weiter ist es das dekadente Leben, das die drei weiblichen Vampire Lena nach ihrer "Verwandlung" bieten, das im Grunde als das "Bessere" verstanden werden könnte, das Lena in ihrem Leben bisher vermisst hatte - bzw. als die Welt, in der sich Lena nie zuvor hat wiederfinden können und in der Einfluss, Beziehungen, Geld, Macht und Sex vorherrschend sind. Nora fasst recht treffend in Worte, dass es dieses Dasein als Vampir ist, das hier mit dem "Besseren", zu dem Lena sich berufen fühlte, gemeint ist: "[...] aber ich denke, wir spüren einfach tief in uns, dass da noch mehr ist. Dass wir für etwas größeres bestimmt sind. Und deshalb sind wir mit unserem Leben unzufrieden und neigen dazu, zu scheitern." [78] Nora gesteht Lena auch, dass auch sie, Charlotte und Louise vor ihrer Verwandlung unglückliche Leben führten.

So unterschiedlich die beiden Mädchen Lena und Bella sind, so unterschiedlich gestalten sich auch die weiteren Entwicklungen in ihren Persönlichkeiten und in ihren Rollen als Außenseiterinnen: beide erleben durch ihre Bekanntschaften mit den Vampiren eine Art Gruppenzugehörigkeit, die sie vorher nicht kannten. Bella stellt die Familie Cullen - nicht nur Edward, den sie liebt, sondern auch seine "Geschwister" und "Eltern" - über ihre "menschlichen" Freunde, selbst teilweise über ihren Vater Charlie, wenngleich sie stets aus dem Wunsch handelt, ihn zu schützen und keiner Gefahr auszusetzen. Auch Lena hält sich nun vorwiegend an ihre Bekanntschaften, wird allerdings bereits zu Anfang der Handlung in einen Vampir verwandelt und muss sich somit gezwungenermaßen - der Genrekonvention folgend, dass Vampire bei Sonnenlicht bzw. Tageslicht nicht überleben können - im Nachtleben oder in ständiger Dunkelheit bewegen. Sie kann ihr altes Leben in der Wohnung ihrer Mutter in der alten Form nicht weiter fortsetzen, sondern muss sich an Louise, Nora und Charlotte orientieren, um zu lernen, mit ihrem neuen Zustand unbeschadet zu existieren.

Während Lena, die zwar die materiellen und menschlichen Neuordnungen in ihrem Leben - immerhin hat sie nun einen Platz und feste Bezugspersonen - genießt, jedoch den Preis für all den Reichtum und die Schönheit - das Töten von Menschen - nicht zahlen möchte, sich standhaft dagegen wehrt, ein vollkommener Vampir zu werden, ist dies genau das, wonach Bella strebt. Die Beweggründe Bellas liegen dafür auf der Hand: da sie natürlich altert, wird die Liebesbeziehung zu Edward scheitern müssen. Irgendwann wird sie eine alte Frau, er immer noch derselbe junge Mann sein. Um eine Zukunft mit ihm haben zu können, muss sie also ein Vampir werden. Zudem erfährt sie von den Cullens, dass es nicht unbedingt notwendig ist, sich von Menschenblut zu ernähren - was auch Lena zur Kenntnis nehmen muss, allerdings erst wesentlich später. Dennoch ist Lena von dem Ungeheuren, das Louise, Nora und Charlotte verkörpern, abgeschreckt, und würde lieber in ihr altes Leben zurückkehren, in dem sie zwar von sozialen und gesellschaftlichen, nicht mehr aber von "vampirischen" Zwängen anhängig sein würde. Schließlich erlebt auch sie das Altern geliebter Personen anhand des Besuchs von Charlotte bei ihrer mittlerweile greisen Tochter. Nach dem Tod von Lenas Mutter bliebe jedoch lediglich der Polizist Tom als ihr einziger geliebter und normal sterblicher Mensch, den sie - bevor er am Ende durch die durch Louise zugefügte Verwundung sterben müsste - in einen Vampir verwandelt.

Es lässt sich also sagen, dass im Grunde weder Lena noch Bella ihren Außenseiterstatus grundsätzlich abzulegen anstreben; mehr noch: sie fügen sich, teils freiwillig, teils gezwungenermaßen, in dieses Schicksal. Bella erwartet im Kreise der Cullens kein glamouröses Leben, keine Dekadenz - dafür aber der Mann, den sie liebt und der sie liebt, und eine - im Gegensatz zu ihrer eigenen - intakten Familie, in der sie sich geborgen fühlt. Dafür nimmt sie in Kauf, häufig den Wohnort wechseln zu müssen, damit nicht auffällt, dass sie nicht altert. Zudem wird sie sich bei Sonnenlicht nicht mehr frei bewegen können. Lena hingegen möchte zurück in ihr altes Außenseiterleben, das sie zwar auch zu verlassen bestrebt war, dies jedoch nicht auf diese ihr aufgezwungene Weise tun will.

[...]


[1] siehe Sturm / Völker (Hrsg.) (1973), S. 11, Z. 12ff

[2] siehe Zondergeld (1983), S. 297

[3] siehe Sturm / Völker (Hrsg.) (1973), S. 9, Z. 23ff.

[4] siehe ebd., S.9, Z.6ff.

[5] vgl. Lecouteux (2008), S. 74 ff.

[6] vgl.ebd., S.77ff.

[7] vgl.ebd., S.79ff.

[8] vgl.ebd., S.83ff.

[9] vgl.ebd., S.87ff.

[10] vgl.ebd., S.90

[11] vgl.ebd., S.90ff.

[12] vgl.ebd., S.92ff.

[13] vgl.ebd., S.95ff.

[14] siehe ebd., S.95, Z.24

[15] vgl. ebd., S.100ff.

[16] heute: Serbien

[17] vgl. Sturm / Völker (Hrsg.) (1973), S.17

[18] siehe ebd., S.18, Z.11ff.

[19] siehe ebd., S.18, Z.26ff.

[20] siehe ebd., S.18, Z.22ff.

[21] vgl. ebd., S.18. Z.38

[22] vgl. ebd., S.19ff

[23] siehe ebd., S.19, Z.21ff.

[24] vgl. Borrmann (1999), S. 47

[25] vgl. Lecouteux (2008), S.103

[26] vgl. ebd., S.104

[27] vgl. ebd.

[28] vgl. ebd., S.105

[29] vgl. ebd., S.106

[30] vgl. ebd., S.110

[31] vgl. ebd., S.111

[32] siehe ebd., S.112, Z.

[33] vgl. ebd., S.113

[34] vgl. ebd., S.114

[35] vgl. Helm (2008), S. 11

[36] Goethe, Johann Wolfgang: Die Braut von Korinth. In: Sturm / Völker (Hrsg.) (1986) S.15-20, Z.111

[37] vgl. Lecouteux (2008), S.18

[38] vgl. ebd., S.21

[39] vgl. Zondergeld (1983), S. 297

[40] vgl. ebd.

[41] siehe ebd., S.27, Z.8ff.

[42] vgl. Thöne (2009)

[43] vgl. Biografie auf der offiziellen Homepage von Stephenie Meyer

[44] vgl. ebd.

[45] OT: „Twilight“, 2005

[46] OT: „New Moon“, 2006

[47] OT: „Eclipse“, 2007

[48] OT: „Breaking Dawn“, 2008

[49] OT: „Bree Tanner – The Short Second Life Of Bree Tanner, An Eclipse Novella”, 2010

[50] siehe Meyer: Bis(s) zum Morgengrauen. Klappentext.

[51] vgl. auch Wolfgang Hohlbein, offizielle Homepage

[52] Deutsche Film- und Medienbewertung: "Wir sind die Nacht"

[53] siehe ebd.

[54] Siehe ebd.

[55] Festival de Cinema Fantastique de Sitgés: Official Fantastic in competition Sitgés 43

[56] siehe Hohlbein: Wir sind die Nacht. Klappentext.

[57] vgl. Meyer (2005), S.8, Z.27 ff.

[58] siehe ebd., S.14, Z.24 ff.

[59] siehe ebd., S.15, Z.24 ff.

[60] vgl. ebd., S.15, Z.16 ff.

[61] siehe ebd., S.15, Z.20-21

[62] siehe ebd., S.15, Z.30-31

[63] vgl. ebd., S.25, Z.21: "Seltsame Namen, dachte ich. Namen von Außenseitern."

[64] siehe ebd., S.24, Z.8-13

[65] vgl. ebd., S.28 ff.

[66] vgl. Hohlbein (2010), S.11ff.

[67] siehe ebd., S.26, Z.2ff.

[68] siehe ebd., S.39, Z.18-19

[69] vgl. ebd., S.54ff.

[70] siehe ebd., S.15, Z.31ff.

[71] siehe ebd., S.48, Z.2

[72] siehe ebd., S.53, Z.19-20

[73] siehe ebd., S.48, Z.8-9

[74] siehe ebd., S.56, Z.32ff.

[75] siehe ebd.: S.49, Z.17ff.

[76] siehe ebd., S.80, Z.29ff.

[77] siehe ebd., S.82, Z.13

[78] siehe ebd., S.138, Z.24 ff.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Erstausgabe
Jahr
2011
ISBN (PDF)
9783863417352
ISBN (Paperback)
9783863412357
Dateigröße
335 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Erscheinungsdatum
2013 (Juli)
Note
1,7
Schlagworte
Twilight Gendertheorien Kulturwissenschaft Genrekonvention Vampirroman Vampir

Autor

Kristof Beuthner, M.Ed., wurde 1983 in Wittmund (Ostfriesland) geboren. Sein Lehramtsstudium (Fächer: Germanistik und Sachunterricht) an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg schloss der Autor im Jahre 2011 mit dem akademischen Grad des Master Of Education erfolgreich ab. Bereits während des Studiums sammelte der Autor umfassende praktische Erfahrungen als freier Journalist für das Online-Kulturmagazin 'Nillson.de'. Seit jeher fasziniert von Phantastik in Film und Literatur, befasste sich der Autor parallel zu seiner Ausbildung ausgiebig mit der Geschichte des Unheimlichen und dessen Bezug zur Populärkultur der jeweiligen Entstehungszeit der Werke.
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Titel: Blutsauger zwischen Emanzipation und Konservativismus: Umcodierung von Genrekonventionen in den Vampirromanen von Stephenie Meyer und Wolfgang Hohlbein
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